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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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XVII. Chinesische Litteraten.
warfen; in solchen Fällen legten sich aber meist Leute aus den
besseren Ständen in's Mittel und verwiesen die Lümmel nachdrück-
lich zur Ruhe. Verletzt wurde Niemand, obgleich die Mitglieder
der Gesandtschaften täglich zu Fuss und zu Pferde die Stadt
durchstreiften. Auf ihren Ausflügen in die Umgegend wurden sie
überall freundlich aufgenommen, mit zuvorkommender Artigkeit be-
wirthet und bedient. In voller Sicherheit reiste ein Einzelner weit
und breit durch das Land.

Einen näheren Einblick in das chinesische Leben gewannen
die Bewohner der Legationen im Umgang mit Männern aus der
Classe der Studirten, die ihnen als Schreiber, Sprachlehrer und
Gehülfen beim Uebersetzen dienten; auf der englischen Gesandt-
schaft war der damit verbundenen Dolmetscherschule wegen eine
beträchtliche Zahl derselben angestellt. Die ärztliche Hülfe, welche
der zur Gesandtschaft commandirte Dr. Rennie gern überall leistete,
führte ihn vielfach in die Häuser dieser Linguisten, ihrer Ver-
wandten und Freunde; er sah dabei ihr glückliches Familienleben
und erhielt den günstigsten Eindruck von der Gesittung der Mittel-
classen, die ja den maassgebenden Kern jeder Bevölkerung bilden.
Nach seinen Schilderungen wären alle guten Regungen des Men-
schen in seinen Beziehungen zum Nächsten bei ihnen auf das zar-
teste entwickelt; er erzählt, -- nicht als Ausnahmen, sondern als
tägliche Erfahrung, -- Beispiele rührender Krankenpflege, dank-
barer Liebe und Selbstlosigkeit, welche beweisen, dass ihnen die
besten Seiten des menschlichen Daseins aufgegangen sind, dass die
sittlichen Keime ihrer Cultur trotz allem äusseren Verfall und der
Maske sonderbarer Convenienz noch heut die schönsten Blüthen
tragen. An unbegreiflichen Anomalieen, welche deren Lücken auf-
decken, hat unsere eigene Gesittung eine zu reiche Fülle, um mit
der chinesischen rechten zu dürfen.

Der Austausch der Gedanken und Beobachtungen mit den
chinesischen Schriftgelehrten führte oft zu den lustigsten Erörte-
rungen. Sie bekannten täglich offener ihre Ueberraschung, in den
Fremden, an deren Seehunds-Natur sie geständlich noch bis vor
Kurzem glaubten, Männer von Bildung und Zartgefühl zu finden.
Allmälig gewannen sie hohe Achtung vor der europäischen Cultur,
konnten jedoch über gewisse Aeusserlichkeiten nicht hinwegkommen.
So verletzte sie auf's tiefste, dass Herr Bruce, der einen Wagen
mit nach Pe-kin brachte, eigenhändig die Zügel führte: der erhabene

XVII. Chinesische Litteraten.
warfen; in solchen Fällen legten sich aber meist Leute aus den
besseren Ständen in’s Mittel und verwiesen die Lümmel nachdrück-
lich zur Ruhe. Verletzt wurde Niemand, obgleich die Mitglieder
der Gesandtschaften täglich zu Fuss und zu Pferde die Stadt
durchstreiften. Auf ihren Ausflügen in die Umgegend wurden sie
überall freundlich aufgenommen, mit zuvorkommender Artigkeit be-
wirthet und bedient. In voller Sicherheit reiste ein Einzelner weit
und breit durch das Land.

Einen näheren Einblick in das chinesische Leben gewannen
die Bewohner der Legationen im Umgang mit Männern aus der
Classe der Studirten, die ihnen als Schreiber, Sprachlehrer und
Gehülfen beim Uebersetzen dienten; auf der englischen Gesandt-
schaft war der damit verbundenen Dolmetscherschule wegen eine
beträchtliche Zahl derselben angestellt. Die ärztliche Hülfe, welche
der zur Gesandtschaft commandirte Dr. Rennie gern überall leistete,
führte ihn vielfach in die Häuser dieser Linguisten, ihrer Ver-
wandten und Freunde; er sah dabei ihr glückliches Familienleben
und erhielt den günstigsten Eindruck von der Gesittung der Mittel-
classen, die ja den maassgebenden Kern jeder Bevölkerung bilden.
Nach seinen Schilderungen wären alle guten Regungen des Men-
schen in seinen Beziehungen zum Nächsten bei ihnen auf das zar-
teste entwickelt; er erzählt, — nicht als Ausnahmen, sondern als
tägliche Erfahrung, — Beispiele rührender Krankenpflege, dank-
barer Liebe und Selbstlosigkeit, welche beweisen, dass ihnen die
besten Seiten des menschlichen Daseins aufgegangen sind, dass die
sittlichen Keime ihrer Cultur trotz allem äusseren Verfall und der
Maske sonderbarer Convenienz noch heut die schönsten Blüthen
tragen. An unbegreiflichen Anomalieen, welche deren Lücken auf-
decken, hat unsere eigene Gesittung eine zu reiche Fülle, um mit
der chinesischen rechten zu dürfen.

Der Austausch der Gedanken und Beobachtungen mit den
chinesischen Schriftgelehrten führte oft zu den lustigsten Erörte-
rungen. Sie bekannten täglich offener ihre Ueberraschung, in den
Fremden, an deren Seehunds-Natur sie geständlich noch bis vor
Kurzem glaubten, Männer von Bildung und Zartgefühl zu finden.
Allmälig gewannen sie hohe Achtung vor der europäischen Cultur,
konnten jedoch über gewisse Aeusserlichkeiten nicht hinwegkommen.
So verletzte sie auf’s tiefste, dass Herr Bruce, der einen Wagen
mit nach Pe-kiṅ brachte, eigenhändig die Zügel führte: der erhabene

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[153/0167] XVII. Chinesische Litteraten. warfen; in solchen Fällen legten sich aber meist Leute aus den besseren Ständen in’s Mittel und verwiesen die Lümmel nachdrück- lich zur Ruhe. Verletzt wurde Niemand, obgleich die Mitglieder der Gesandtschaften täglich zu Fuss und zu Pferde die Stadt durchstreiften. Auf ihren Ausflügen in die Umgegend wurden sie überall freundlich aufgenommen, mit zuvorkommender Artigkeit be- wirthet und bedient. In voller Sicherheit reiste ein Einzelner weit und breit durch das Land. Einen näheren Einblick in das chinesische Leben gewannen die Bewohner der Legationen im Umgang mit Männern aus der Classe der Studirten, die ihnen als Schreiber, Sprachlehrer und Gehülfen beim Uebersetzen dienten; auf der englischen Gesandt- schaft war der damit verbundenen Dolmetscherschule wegen eine beträchtliche Zahl derselben angestellt. Die ärztliche Hülfe, welche der zur Gesandtschaft commandirte Dr. Rennie gern überall leistete, führte ihn vielfach in die Häuser dieser Linguisten, ihrer Ver- wandten und Freunde; er sah dabei ihr glückliches Familienleben und erhielt den günstigsten Eindruck von der Gesittung der Mittel- classen, die ja den maassgebenden Kern jeder Bevölkerung bilden. Nach seinen Schilderungen wären alle guten Regungen des Men- schen in seinen Beziehungen zum Nächsten bei ihnen auf das zar- teste entwickelt; er erzählt, — nicht als Ausnahmen, sondern als tägliche Erfahrung, — Beispiele rührender Krankenpflege, dank- barer Liebe und Selbstlosigkeit, welche beweisen, dass ihnen die besten Seiten des menschlichen Daseins aufgegangen sind, dass die sittlichen Keime ihrer Cultur trotz allem äusseren Verfall und der Maske sonderbarer Convenienz noch heut die schönsten Blüthen tragen. An unbegreiflichen Anomalieen, welche deren Lücken auf- decken, hat unsere eigene Gesittung eine zu reiche Fülle, um mit der chinesischen rechten zu dürfen. Der Austausch der Gedanken und Beobachtungen mit den chinesischen Schriftgelehrten führte oft zu den lustigsten Erörte- rungen. Sie bekannten täglich offener ihre Ueberraschung, in den Fremden, an deren Seehunds-Natur sie geständlich noch bis vor Kurzem glaubten, Männer von Bildung und Zartgefühl zu finden. Allmälig gewannen sie hohe Achtung vor der europäischen Cultur, konnten jedoch über gewisse Aeusserlichkeiten nicht hinwegkommen. So verletzte sie auf’s tiefste, dass Herr Bruce, der einen Wagen mit nach Pe-kiṅ brachte, eigenhändig die Zügel führte: der erhabene

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/167>, abgerufen am 28.03.2024.