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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Strassenarchitectur. XVII.
der zahlreichsten und nützlichsten Classe seiner Unterthanen einver-
leibt wird und ihre Interessen zu theilen scheint." Der höhere sym-
bolische Sinn des alten Brauches ist wohl, dass der Sohn des Him-
mels den Boden des Reiches bestellt und der Ernte den Segen
des Himmels sichert; er ist ja verantwortlich für das Wohl der
Menschheit. -- Das Grundstück des Ackerbautempels hat von
Norden nach Süden dieselbe Länge, aber geringere Breite als das
des Himmelstempels; sein Umfang beträgt etwa zwei englische
Meilen.

Nei-tsen, die innere oder Tartarenstadt, wird noch immer
als Festung behandelt; Abends schliesst man die Thore, kein Sol-
dat darf die Nacht ausserhalb zubringen. Die erobernden Mand-
schu sollen den ganzen Grund und Boden an stammverwandte
Kriegerfamilien ausgethan haben; jetzt scheinen Kaufleute die
Masse der ansässigen Bevölkerung zu bilden. Sämmtliche Häuser
der Hauptstrassen, -- die auch hier schnurgerade entweder von
Nord nach Süden oder von Ost nach Westen laufen, -- enthalten
Kaufläden, deren Facaden sehr elegant, oft mit verschwenderischer
Pracht ausgestattet sind. Ihre Bauart gleicht weder der süd- oder
mittelchinesischen, noch, soviel dem Verfasser bekannt, irgend einer
anderen; sie scheint Pe-kin allein eigen und sich hier selbstständig,
wahrscheinlich in der letzten Blütheperiode unter dem Einfluss
begabter Meister entwickelt zu haben. -- Das saubere Mauerwerk
der meist einstöckigen Häuser unterscheidet sich kaum von dem
anderer chinesischen Städte, ist aber nur an den Giebelwänden
sichtbar; die Strassenfront bekleidet ein reicher phantastischer
Holzbau. Bei vielen Läden bilden zwei bis vier mastenartige Holz-
säulen von etwa dreissig Fuss Höhe den Rahmen; manche sind
über und über vergoldet, andere roth und schwarz gestrichen, mit
goldenem Zierrath, einige glatt, andere bambusartig abgetheilt; die
Spitze krönt ein birnenförmiger Knopf oder eine Thiergestalt. Ueber
der Thürhöhe verbinden Füllungen von reichem durchbrochenem
Schnitzwerk diese Säulen, bis zum letzten Drittel ihrer Höhe hinan-
reichend; darüber läuft gewöhnlich von Säule zu Säule eine zier-
lich geschwungene Bedachung mit geschnitzten bunt gemalten
Sparren und Stützen. Aus den Säulen treten symmetrisch Drachen-
köpfe hervor, an vergoldeten Ketten eine bunte Reihe sinnbildlicher
Ladenzeichen tragend, die von reich geschnitztem Balken herab-
hangen. Die Ladenschilder sind entweder senkrecht vor den Säulen

Strassenarchitectur. XVII.
der zahlreichsten und nützlichsten Classe seiner Unterthanen einver-
leibt wird und ihre Interessen zu theilen scheint.« Der höhere sym-
bolische Sinn des alten Brauches ist wohl, dass der Sohn des Him-
mels den Boden des Reiches bestellt und der Ernte den Segen
des Himmels sichert; er ist ja verantwortlich für das Wohl der
Menschheit. — Das Grundstück des Ackerbautempels hat von
Norden nach Süden dieselbe Länge, aber geringere Breite als das
des Himmelstempels; sein Umfang beträgt etwa zwei englische
Meilen.

Neï-tšen, die innere oder Tartarenstadt, wird noch immer
als Festung behandelt; Abends schliesst man die Thore, kein Sol-
dat darf die Nacht ausserhalb zubringen. Die erobernden Mand-
schu sollen den ganzen Grund und Boden an stammverwandte
Kriegerfamilien ausgethan haben; jetzt scheinen Kaufleute die
Masse der ansässigen Bevölkerung zu bilden. Sämmtliche Häuser
der Hauptstrassen, — die auch hier schnurgerade entweder von
Nord nach Süden oder von Ost nach Westen laufen, — enthalten
Kaufläden, deren Façaden sehr elegant, oft mit verschwenderischer
Pracht ausgestattet sind. Ihre Bauart gleicht weder der süd- oder
mittelchinesischen, noch, soviel dem Verfasser bekannt, irgend einer
anderen; sie scheint Pe-kiṅ allein eigen und sich hier selbstständig,
wahrscheinlich in der letzten Blütheperiode unter dem Einfluss
begabter Meister entwickelt zu haben. — Das saubere Mauerwerk
der meist einstöckigen Häuser unterscheidet sich kaum von dem
anderer chinesischen Städte, ist aber nur an den Giebelwänden
sichtbar; die Strassenfront bekleidet ein reicher phantastischer
Holzbau. Bei vielen Läden bilden zwei bis vier mastenartige Holz-
säulen von etwa dreissig Fuss Höhe den Rahmen; manche sind
über und über vergoldet, andere roth und schwarz gestrichen, mit
goldenem Zierrath, einige glatt, andere bambusartig abgetheilt; die
Spitze krönt ein birnenförmiger Knopf oder eine Thiergestalt. Ueber
der Thürhöhe verbinden Füllungen von reichem durchbrochenem
Schnitzwerk diese Säulen, bis zum letzten Drittel ihrer Höhe hinan-
reichend; darüber läuft gewöhnlich von Säule zu Säule eine zier-
lich geschwungene Bedachung mit geschnitzten bunt gemalten
Sparren und Stützen. Aus den Säulen treten symmetrisch Drachen-
köpfe hervor, an vergoldeten Ketten eine bunte Reihe sinnbildlicher
Ladenzeichen tragend, die von reich geschnitztem Balken herab-
hangen. Die Ladenschilder sind entweder senkrecht vor den Säulen

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[118/0132] Strassenarchitectur. XVII. der zahlreichsten und nützlichsten Classe seiner Unterthanen einver- leibt wird und ihre Interessen zu theilen scheint.« Der höhere sym- bolische Sinn des alten Brauches ist wohl, dass der Sohn des Him- mels den Boden des Reiches bestellt und der Ernte den Segen des Himmels sichert; er ist ja verantwortlich für das Wohl der Menschheit. — Das Grundstück des Ackerbautempels hat von Norden nach Süden dieselbe Länge, aber geringere Breite als das des Himmelstempels; sein Umfang beträgt etwa zwei englische Meilen. Neï-tšen, die innere oder Tartarenstadt, wird noch immer als Festung behandelt; Abends schliesst man die Thore, kein Sol- dat darf die Nacht ausserhalb zubringen. Die erobernden Mand- schu sollen den ganzen Grund und Boden an stammverwandte Kriegerfamilien ausgethan haben; jetzt scheinen Kaufleute die Masse der ansässigen Bevölkerung zu bilden. Sämmtliche Häuser der Hauptstrassen, — die auch hier schnurgerade entweder von Nord nach Süden oder von Ost nach Westen laufen, — enthalten Kaufläden, deren Façaden sehr elegant, oft mit verschwenderischer Pracht ausgestattet sind. Ihre Bauart gleicht weder der süd- oder mittelchinesischen, noch, soviel dem Verfasser bekannt, irgend einer anderen; sie scheint Pe-kiṅ allein eigen und sich hier selbstständig, wahrscheinlich in der letzten Blütheperiode unter dem Einfluss begabter Meister entwickelt zu haben. — Das saubere Mauerwerk der meist einstöckigen Häuser unterscheidet sich kaum von dem anderer chinesischen Städte, ist aber nur an den Giebelwänden sichtbar; die Strassenfront bekleidet ein reicher phantastischer Holzbau. Bei vielen Läden bilden zwei bis vier mastenartige Holz- säulen von etwa dreissig Fuss Höhe den Rahmen; manche sind über und über vergoldet, andere roth und schwarz gestrichen, mit goldenem Zierrath, einige glatt, andere bambusartig abgetheilt; die Spitze krönt ein birnenförmiger Knopf oder eine Thiergestalt. Ueber der Thürhöhe verbinden Füllungen von reichem durchbrochenem Schnitzwerk diese Säulen, bis zum letzten Drittel ihrer Höhe hinan- reichend; darüber läuft gewöhnlich von Säule zu Säule eine zier- lich geschwungene Bedachung mit geschnitzten bunt gemalten Sparren und Stützen. Aus den Säulen treten symmetrisch Drachen- köpfe hervor, an vergoldeten Ketten eine bunte Reihe sinnbildlicher Ladenzeichen tragend, die von reich geschnitztem Balken herab- hangen. Die Ladenschilder sind entweder senkrecht vor den Säulen

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/132>, abgerufen am 29.03.2024.