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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Der Tempel des Himmels. XVII.
zeichnen die Himmelsgegenden. Den Rumpf des Gebäudes zieren
roth lackirte Holzrahmen, in welchen Füllungen von dunkelblauem
Email mit goldenen Sternen sitzen; darüber läuft ein Fries von hell-
blauen bunt bemalten Kacheln um das untere Dachgesims. Die
Spitze des Daches krönt ein Zierrath von vergoldeter Bronce in
Form einer Straussenfeder. Vier hohe Flügelthore führen in das
Innere, wo riesige wurmzernagte Götzen stehen; es soll dort wüst
und verfallen aussehen. Das Tempelgebäude ruht auf dreistöckigem
Unterbau aus weissem Marmor, drei übereinander geschichteten Ter-
rassen mit Treppenfluchten auf allen vier Seiten; die oberste Plate-
form ist zwischen dem reichverzierten Geländer und der Aussen-
wand des Tempels funfzig Fuss breit. Oestlich von diesem Bau-
werk liegt eine lange steinerne Terrasse, welche zu einem drei-
stöckigen, dem Sockel des Tempels gleichenden Marmorbau führt:
das ist der grosse Altar, wo der Kaiser dem Himmel opfert. Rings-
um stehen broncene Räuchergefässe und in der Mitte fünf Fuss-
gestelle, auf welche die Gedenktafeln der kaiserlichen Ahnen ge-
setzt werden, während der Himmelssohn sein Gebet verrichtet.
Unter den schattigen Wipfeln ringsum liegen mehrere kleine Tempel
und dahinter ein zum Schlachten der Opferthiere eingerichteter
Hof. -- Das Ganze soll den Eindruck stillen erhabenen Ernstes
und heiliger Grösse machen. Man darf den Himmelstempel als den
sinnbildlichen Mittelpunct der chinesischen Cultur ansehn, deren
uralte Grundlage monotheistisch war; nur trat an die Stelle des
persönlichen San-ti, den die ältesten Kaiser anbeteten, das unper-
sönliche Princip des Himmels, Tien, der leitenden Weltordnung,
deren Incarnation der Kaiser ist; auf dieser Gemeinschaft beruht
seit urältester Zeit seine unumschränkte Gewalt. Der Kaiser ver-
mittelt die Beziehungen des Volkes zu der weltleitenden ewigen
geistigen Wesenheit; er allein soll am Altar des Himmels beten, der
zu hoch, zu erhaben ist, als dass das Volk zu ihm aufblicken
dürfte. Das Bewusstsein dieser vermittelten Beziehung zum Him-
mel scheint neben allem Aberglauben der Secten in jedem Chinesen
zu leben.

Der Park des Ackerbau-Tempels soll arg vernachlässigt sein;
dort liegen im Dickicht viel umgestürzte Bäume, die, ohne Nach-
wuchs, merkliche Blössen lassen. Der Tempel selbst gleicht dem
des Himmels, ist nur kleiner und hat ein dreifaches Dach; die
Lack-, Porcelan-, Email- und Metallarbeiten sind besser erhalten;

Der Tempel des Himmels. XVII.
zeichnen die Himmelsgegenden. Den Rumpf des Gebäudes zieren
roth lackirte Holzrahmen, in welchen Füllungen von dunkelblauem
Email mit goldenen Sternen sitzen; darüber läuft ein Fries von hell-
blauen bunt bemalten Kacheln um das untere Dachgesims. Die
Spitze des Daches krönt ein Zierrath von vergoldeter Bronce in
Form einer Straussenfeder. Vier hohe Flügelthore führen in das
Innere, wo riesige wurmzernagte Götzen stehen; es soll dort wüst
und verfallen aussehen. Das Tempelgebäude ruht auf dreistöckigem
Unterbau aus weissem Marmor, drei übereinander geschichteten Ter-
rassen mit Treppenfluchten auf allen vier Seiten; die oberste Plate-
form ist zwischen dem reichverzierten Geländer und der Aussen-
wand des Tempels funfzig Fuss breit. Oestlich von diesem Bau-
werk liegt eine lange steinerne Terrasse, welche zu einem drei-
stöckigen, dem Sockel des Tempels gleichenden Marmorbau führt:
das ist der grosse Altar, wo der Kaiser dem Himmel opfert. Rings-
um stehen broncene Räuchergefässe und in der Mitte fünf Fuss-
gestelle, auf welche die Gedenktafeln der kaiserlichen Ahnen ge-
setzt werden, während der Himmelssohn sein Gebet verrichtet.
Unter den schattigen Wipfeln ringsum liegen mehrere kleine Tempel
und dahinter ein zum Schlachten der Opferthiere eingerichteter
Hof. — Das Ganze soll den Eindruck stillen erhabenen Ernstes
und heiliger Grösse machen. Man darf den Himmelstempel als den
sinnbildlichen Mittelpunct der chinesischen Cultur ansehn, deren
uralte Grundlage monotheistisch war; nur trat an die Stelle des
persönlichen Šan-ti, den die ältesten Kaiser anbeteten, das unper-
sönliche Princip des Himmels, Tien, der leitenden Weltordnung,
deren Incarnation der Kaiser ist; auf dieser Gemeinschaft beruht
seit urältester Zeit seine unumschränkte Gewalt. Der Kaiser ver-
mittelt die Beziehungen des Volkes zu der weltleitenden ewigen
geistigen Wesenheit; er allein soll am Altar des Himmels beten, der
zu hoch, zu erhaben ist, als dass das Volk zu ihm aufblicken
dürfte. Das Bewusstsein dieser vermittelten Beziehung zum Him-
mel scheint neben allem Aberglauben der Secten in jedem Chinesen
zu leben.

Der Park des Ackerbau-Tempels soll arg vernachlässigt sein;
dort liegen im Dickicht viel umgestürzte Bäume, die, ohne Nach-
wuchs, merkliche Blössen lassen. Der Tempel selbst gleicht dem
des Himmels, ist nur kleiner und hat ein dreifaches Dach; die
Lack-, Porcelan-, Email- und Metallarbeiten sind besser erhalten;

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[116/0130] Der Tempel des Himmels. XVII. zeichnen die Himmelsgegenden. Den Rumpf des Gebäudes zieren roth lackirte Holzrahmen, in welchen Füllungen von dunkelblauem Email mit goldenen Sternen sitzen; darüber läuft ein Fries von hell- blauen bunt bemalten Kacheln um das untere Dachgesims. Die Spitze des Daches krönt ein Zierrath von vergoldeter Bronce in Form einer Straussenfeder. Vier hohe Flügelthore führen in das Innere, wo riesige wurmzernagte Götzen stehen; es soll dort wüst und verfallen aussehen. Das Tempelgebäude ruht auf dreistöckigem Unterbau aus weissem Marmor, drei übereinander geschichteten Ter- rassen mit Treppenfluchten auf allen vier Seiten; die oberste Plate- form ist zwischen dem reichverzierten Geländer und der Aussen- wand des Tempels funfzig Fuss breit. Oestlich von diesem Bau- werk liegt eine lange steinerne Terrasse, welche zu einem drei- stöckigen, dem Sockel des Tempels gleichenden Marmorbau führt: das ist der grosse Altar, wo der Kaiser dem Himmel opfert. Rings- um stehen broncene Räuchergefässe und in der Mitte fünf Fuss- gestelle, auf welche die Gedenktafeln der kaiserlichen Ahnen ge- setzt werden, während der Himmelssohn sein Gebet verrichtet. Unter den schattigen Wipfeln ringsum liegen mehrere kleine Tempel und dahinter ein zum Schlachten der Opferthiere eingerichteter Hof. — Das Ganze soll den Eindruck stillen erhabenen Ernstes und heiliger Grösse machen. Man darf den Himmelstempel als den sinnbildlichen Mittelpunct der chinesischen Cultur ansehn, deren uralte Grundlage monotheistisch war; nur trat an die Stelle des persönlichen Šan-ti, den die ältesten Kaiser anbeteten, das unper- sönliche Princip des Himmels, Tien, der leitenden Weltordnung, deren Incarnation der Kaiser ist; auf dieser Gemeinschaft beruht seit urältester Zeit seine unumschränkte Gewalt. Der Kaiser ver- mittelt die Beziehungen des Volkes zu der weltleitenden ewigen geistigen Wesenheit; er allein soll am Altar des Himmels beten, der zu hoch, zu erhaben ist, als dass das Volk zu ihm aufblicken dürfte. Das Bewusstsein dieser vermittelten Beziehung zum Him- mel scheint neben allem Aberglauben der Secten in jedem Chinesen zu leben. Der Park des Ackerbau-Tempels soll arg vernachlässigt sein; dort liegen im Dickicht viel umgestürzte Bäume, die, ohne Nach- wuchs, merkliche Blössen lassen. Der Tempel selbst gleicht dem des Himmels, ist nur kleiner und hat ein dreifaches Dach; die Lack-, Porcelan-, Email- und Metallarbeiten sind besser erhalten;

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/130>, abgerufen am 28.03.2024.