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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Reise auf dem Pei-ho. XVII.
schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen ab-
gefahren werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Boots-
leute an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Ver-
richtungen; erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang
fuhr man zwischen den Vorstädten von Tien-tsin und mehreren
Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen.
Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im Pei-ho geankert, theils
benutzten sie die einsetzende Fluth zur Fahrt flussaufwärts. Die
grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschen-
menge giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass
die Bevölkerung der Provinz Tsi-li vierzig Millionen betragen soll.

Eine rechte Erlösung war es, den Dünsten von Tien-tsin
zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die
Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher
Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne
Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra,
Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick
den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss
säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle
weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die "frem-
den Teufel" ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe
Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen.

In der Nähe von Tien-tsin förderte die Fluth mehrere
Stunden lang die Reise; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch
die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Ufer-
damm, bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im
Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten,
mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn
Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein
Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und
Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als
Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum
darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass
und durch Planken oben verschlossen wurde, so dass man schwer
begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plau-
derten und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit
und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge
Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des
vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen.

Reise auf dem Pei-ho. XVII.
schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen ab-
gefahren werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Boots-
leute an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Ver-
richtungen; erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang
fuhr man zwischen den Vorstädten von Tien-tsin und mehreren
Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen.
Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im Pei-ho geankert, theils
benutzten sie die einsetzende Fluth zur Fahrt flussaufwärts. Die
grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschen-
menge giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass
die Bevölkerung der Provinz Tši-li vierzig Millionen betragen soll.

Eine rechte Erlösung war es, den Dünsten von Tien-tsin
zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die
Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher
Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne
Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra,
Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick
den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss
säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle
weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die »frem-
den Teufel« ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe
Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen.

In der Nähe von Tien-tsin förderte die Fluth mehrere
Stunden lang die Reise; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch
die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Ufer-
damm, bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im
Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten,
mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn
Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein
Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und
Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als
Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum
darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass
und durch Planken oben verschlossen wurde, so dass man schwer
begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plau-
derten und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit
und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge
Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des
vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen.

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[100/0114] Reise auf dem Pei-ho. XVII. schon am 10. September Abends an Bord, da vor Tagesgrauen ab- gefahren werden sollte; gegen vier Uhr Morgens fingen die Boots- leute an zu lärmen, hatten dann aber am Lande noch allerlei Ver- richtungen; erst um sechs ging es fort. Fast vier Stunden lang fuhr man zwischen den Vorstädten von Tien-tsin und mehreren Dörfern hin, welche sie in ungebrochener Häuserreihe fortsetzen. Hunderte von Fahrzeugen lagen theils im Pei-ho geankert, theils benutzten sie die einsetzende Fluth zur Fahrt flussaufwärts. Die grosse hier auf dem Wasser und am Lande wohnende Menschen- menge giebt der problematisch klingenden Angabe einige Haltung, dass die Bevölkerung der Provinz Tši-li vierzig Millionen betragen soll. Eine rechte Erlösung war es, den Dünsten von Tien-tsin zu entfliehen, einmal aus voller Brust reine Luft zu athmen. Die Sonne schien hell und klar, friedlich lachte die Landschaft, welcher Weiden-, Apricosen-, Apfel-, Birn- und Pfirsichbäume und grüne Felder ein fast heimisches Ansehn gaben, wenn auch Mais. Durra, Ricinus, die Eierpflanze und andere Gewächse bei näherem Anblick den südlicheren Himmelsstrich bekunden. Wo Dörfer den Fluss säumen, kam gewöhnlich die Jugend an das Ufer gelaufen; alle weiblichen Wesen aber flohen scheu in die Häuser, wenn die »frem- den Teufel« ausstiegen. Streckenweise ist der Blick durch hohe Uferdämme beschränkt, über die nur die Wipfel der Bäume ragen. In der Nähe von Tien-tsin förderte die Fluth mehrere Stunden lang die Reise; auch höher hinauf erleichterte sie periodisch die Arbeit der Schiffer. Diese zogen, bald auf dem festen Ufer- damm, bald bis über die Knie im Schlamm, ja bis an die Brust im Wasser gehend, je zwei ein Boot am Seil hinauf und arbeiteten, mit kaum zweistündiger Pause, von fünf Uhr Morgens bis zehn Uhr Abends bei über 20° Wärme. Ihre ganze Nahrung war ein Schüsselchen Nudeln und ein Stück Teig, den sie aus Mehl und Wasser mengten und über flackerndem Rohrfeuer rösteten. Als Lagerstatt diente ihnen das Verdeck der Boote oder ein Raum darunter, der auf anderthalb Fuss Höhe kaum fünf im Geviert maass und durch Planken oben verschlossen wurde, so dass man schwer begriff, wie dort zwei Menschen nicht stickten. Die Schiffer plau- derten und scherzten den ganzen Tag bei der schwersten Arbeit und schienen die glücklichsten Menschen unter der Sonne. Junge Burschen von vierzehn Jahren zeigten die Kraft und Ausdauer des vollen Mannes, arbeiteten freudig und unverdrossen.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/114>, abgerufen am 28.03.2024.