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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Die öffentlichen Prüfungen.
bevorzugten Stand gehabt als den der Studirten, welcher sich fort-
während aus allen Classen des Volks ergänzt und Jedem die Wege
zu den höchsten Würden öffnet. Die Einrichtung der öffentlichen
Prüfungen soll in China seit etwa tausend Jahren bestehen und
bezweckt, dem Reiche den Dienst seiner besten Kräfte zu sichern.
Zweimal alle drei Jahre findet in jeder Bezirksstadt (Fu) unter
Leitung eines Provinzial-Commissars die erste Prüfung statt, zu
welcher sich Jeder melden kann, während nur eine gesetzlich
bestimmte Zahl Candidaten aus jedem Bezirke das Zeugniss der
Reife, den ersten Grad erhält. Schon diese Prüfung erfordert weit-
greifende literarische Studien, welche erhebliche Früchte für die
Volksbildung tragen. Denn bei der beschränkten Zahl der Aemter
kann nur eine kleine Zahl unter den Fähigsten graduirt werden;
alle übrigen treten in das Privatleben zurück, sie sind der Kern
der gebildeten Bevölkerung. -- Alle drei Jahre findet in der Pro-
vinzial-Hauptstadt unter Aufsicht von zwei aus Pe-kin gesandten
Commissaren die weitere Prüfung der in der ersten graduirten Can-
didaten, der Siu-tsae statt. Von den fünf- bis zehntausend Exa-
minanden pflegen hier nur siebzig zu bestehen; sie erhalten den
Titel Keu-zin. Diese dürfen sich zu den alle drei Jahre in Pe-kin
abgehaltenen Prüfungen melden, aus denen jedesmal zwei- bis drei-
hundert Tsin-tse oder Doctoren hervorgehen.

Alle diese Prüfungen erfordern keine Fachkenntnisse, son-
dern nur Verständniss und Beherrschung der gesammten philoso-
phischen, historischen und schönwissenschaftlichen Literatur. Die
den Examinanden gestellten Aufgaben bedingen aber keineswegs
nur Gedächtniss-Thätigkeit, sondern eigenes Urtheil und Durch-
dringung der geistigen Entwicklung China's seit urältester Zeit. Der
Grad des Siu-tsae berechtigt bloss zur zweiten Prüfung; ein
Keu-zin hat Anwartschaft auf Anstellung, welche bei normalen
Verhältnissen nach wenig Jahren erfolgt. Ein Tsiu-tse erhält
sofort zum geringsten die Verwaltung eines Bezirkes.

Die Mandschu liessen nun die Prüfungen fortbestehen und
beförderten keinen nicht graduirten Chinesen, vergaben aber viele
Aemter ohne Prüfung an ihre Stammgenossen. Da der kaiserliche
Willen absolut ist, so kann auch solche Stellenbesetzung nicht an-
gefochten werden; aber bleibende Erbitterung erzeugte es in allen
Theilen des Reiches beim Volke und vorzüglich bei der einfluss-
reichen Classe der Studirten, dass so viele Aemter ihnen genommen

Die öffentlichen Prüfungen.
bevorzugten Stand gehabt als den der Studirten, welcher sich fort-
während aus allen Classen des Volks ergänzt und Jedem die Wege
zu den höchsten Würden öffnet. Die Einrichtung der öffentlichen
Prüfungen soll in China seit etwa tausend Jahren bestehen und
bezweckt, dem Reiche den Dienst seiner besten Kräfte zu sichern.
Zweimal alle drei Jahre findet in jeder Bezirksstadt (Fu) unter
Leitung eines Provinzial-Commissars die erste Prüfung statt, zu
welcher sich Jeder melden kann, während nur eine gesetzlich
bestimmte Zahl Candidaten aus jedem Bezirke das Zeugniss der
Reife, den ersten Grad erhält. Schon diese Prüfung erfordert weit-
greifende literarische Studien, welche erhebliche Früchte für die
Volksbildung tragen. Denn bei der beschränkten Zahl der Aemter
kann nur eine kleine Zahl unter den Fähigsten graduirt werden;
alle übrigen treten in das Privatleben zurück, sie sind der Kern
der gebildeten Bevölkerung. — Alle drei Jahre findet in der Pro-
vinzial-Hauptstadt unter Aufsicht von zwei aus Pe-kiṅ gesandten
Commissaren die weitere Prüfung der in der ersten graduirten Can-
didaten, der Siu-tsae statt. Von den fünf- bis zehntausend Exa-
minanden pflegen hier nur siebzig zu bestehen; sie erhalten den
Titel Keu-žin. Diese dürfen sich zu den alle drei Jahre in Pe-kiṅ
abgehaltenen Prüfungen melden, aus denen jedesmal zwei- bis drei-
hundert Tsin-tse oder Doctoren hervorgehen.

Alle diese Prüfungen erfordern keine Fachkenntnisse, son-
dern nur Verständniss und Beherrschung der gesammten philoso-
phischen, historischen und schönwissenschaftlichen Literatur. Die
den Examinanden gestellten Aufgaben bedingen aber keineswegs
nur Gedächtniss-Thätigkeit, sondern eigenes Urtheil und Durch-
dringung der geistigen Entwicklung China’s seit urältester Zeit. Der
Grad des Siu-tsae berechtigt bloss zur zweiten Prüfung; ein
Keu-žin hat Anwartschaft auf Anstellung, welche bei normalen
Verhältnissen nach wenig Jahren erfolgt. Ein Tsiu-tse erhält
sofort zum geringsten die Verwaltung eines Bezirkes.

Die Mandschu liessen nun die Prüfungen fortbestehen und
beförderten keinen nicht graduirten Chinesen, vergaben aber viele
Aemter ohne Prüfung an ihre Stammgenossen. Da der kaiserliche
Willen absolut ist, so kann auch solche Stellenbesetzung nicht an-
gefochten werden; aber bleibende Erbitterung erzeugte es in allen
Theilen des Reiches beim Volke und vorzüglich bei der einfluss-
reichen Classe der Studirten, dass so viele Aemter ihnen genommen

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[153/0175] Die öffentlichen Prüfungen. bevorzugten Stand gehabt als den der Studirten, welcher sich fort- während aus allen Classen des Volks ergänzt und Jedem die Wege zu den höchsten Würden öffnet. Die Einrichtung der öffentlichen Prüfungen soll in China seit etwa tausend Jahren bestehen und bezweckt, dem Reiche den Dienst seiner besten Kräfte zu sichern. Zweimal alle drei Jahre findet in jeder Bezirksstadt (Fu) unter Leitung eines Provinzial-Commissars die erste Prüfung statt, zu welcher sich Jeder melden kann, während nur eine gesetzlich bestimmte Zahl Candidaten aus jedem Bezirke das Zeugniss der Reife, den ersten Grad erhält. Schon diese Prüfung erfordert weit- greifende literarische Studien, welche erhebliche Früchte für die Volksbildung tragen. Denn bei der beschränkten Zahl der Aemter kann nur eine kleine Zahl unter den Fähigsten graduirt werden; alle übrigen treten in das Privatleben zurück, sie sind der Kern der gebildeten Bevölkerung. — Alle drei Jahre findet in der Pro- vinzial-Hauptstadt unter Aufsicht von zwei aus Pe-kiṅ gesandten Commissaren die weitere Prüfung der in der ersten graduirten Can- didaten, der Siu-tsae statt. Von den fünf- bis zehntausend Exa- minanden pflegen hier nur siebzig zu bestehen; sie erhalten den Titel Keu-žin. Diese dürfen sich zu den alle drei Jahre in Pe-kiṅ abgehaltenen Prüfungen melden, aus denen jedesmal zwei- bis drei- hundert Tsin-tse oder Doctoren hervorgehen. Alle diese Prüfungen erfordern keine Fachkenntnisse, son- dern nur Verständniss und Beherrschung der gesammten philoso- phischen, historischen und schönwissenschaftlichen Literatur. Die den Examinanden gestellten Aufgaben bedingen aber keineswegs nur Gedächtniss-Thätigkeit, sondern eigenes Urtheil und Durch- dringung der geistigen Entwicklung China’s seit urältester Zeit. Der Grad des Siu-tsae berechtigt bloss zur zweiten Prüfung; ein Keu-žin hat Anwartschaft auf Anstellung, welche bei normalen Verhältnissen nach wenig Jahren erfolgt. Ein Tsiu-tse erhält sofort zum geringsten die Verwaltung eines Bezirkes. Die Mandschu liessen nun die Prüfungen fortbestehen und beförderten keinen nicht graduirten Chinesen, vergaben aber viele Aemter ohne Prüfung an ihre Stammgenossen. Da der kaiserliche Willen absolut ist, so kann auch solche Stellenbesetzung nicht an- gefochten werden; aber bleibende Erbitterung erzeugte es in allen Theilen des Reiches beim Volke und vorzüglich bei der einfluss- reichen Classe der Studirten, dass so viele Aemter ihnen genommen

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/175>, abgerufen am 29.03.2024.