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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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stürzen wird, wie er selbst einst seinen Vater Kronos stürzte, weiß ich pba_578.002
ferner, daß mir selbst die Befreiung durch Jos dreizehnten Sproß gewiß pba_578.003
ist, so weiß ich auch, daß zu dieser Zeit die Herrschaft des Zeus pba_578.004
am Boden liegen wird, denn nicht anders ist meine Befreiung möglich. pba_578.005
Diese unzerbrechbar erscheinende Schlußkette gibt ihm den ehernen Trotz pba_578.006
ein, der unerschüttert die zerschmetternden Donner des Zeus über sich pba_578.007
ergehen läßt. Was könnte auch nur annähernd an Macht und Gewalt pba_578.008
dieser äschyleischen Scene an die Seite gestellt werden!

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Die gleiche Überzeugung sucht Prometheus auch in Jos Brust zu pba_578.010
erwecken, die ja wie er "den Sturz des Zeus mit Freuden sehen müßte". pba_578.011
Gelingt es ihm nun auch nicht den in zweifelnden Fragen sich ausdrückenden pba_578.012
Unglauben der Jo ganz zu besiegen, so erreicht er doch ihre pba_578.013
Einstimmung in seine Gesinnung: eine stark betonte Wendung des pba_578.014
Dichters, um durch diese in der Handlung selbst hell hervortretende pba_578.015
Hamartie der Jo die Fortdauer ihrer Leiden, den bald auf offener pba_578.016
Scene wieder ausbrechenden Wahnsinn zu begründen.

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Doch wie könnte je der Spruch der Themis sich erfüllen? Wie pba_578.018
könnte je Zeus den Bund schließen, dessen Frucht verderblich, "gegen pba_578.019
die Themis
", "nicht Themis" sein würde, wie die griechische pba_578.020
Sprache das ungöttlich Gesetzwidrige so schön zu bezeichnen weiß!

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Diese unerschütterliche Gesinnung ist die Grundlage der griechischen pba_578.022
Tragödie, vor allem der Tragödien des Äschylus, der den Chor der pba_578.023
"Schutzflehenden" so sein Lied beschließen läßt:

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Drum wen mag, welches Gottes Beistand pba_578.025
Jch anflehn mit gerecht'rer Bitte? pba_578.026
Der teure Sämann, unsres Stammes Vater ist pba_578.027
Der urgewaltige, wissende -- pba_578.028
Allvater, alllautrer Born des Heils, Zeus!
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Er, niemand pflichtgebannt zu dienen, pba_578.030
Jn Allmacht herrschet Er der Höchsten, pba_578.031
Er hat zu niemand über sich empor zu schaun, pba_578.032
Da steht mit seinem Wort das Werk; pba_578.033
Was still im Geist kaum ihm keimt, vollbracht ist's!
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Wie konnte dem griechischen Sinn die Auflösung jenes Spruchs pba_578.035
der Themis anders erscheinen, als daß Zeus der Themis folgend von pba_578.036
seinem Begehren absteht, daß gewissermaßen von selbst und notwendig pba_578.037
seine Entscheidung mit dem Willen der Themis eins ist! Pindar er-

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Nach Droysens Übersetzung: Hiketides V. 590 ff.

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könnte je Zeus den Bund schließen, dessen Frucht verderblich, „gegen pba_578.019
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Diese unerschütterliche Gesinnung ist die Grundlage der griechischen pba_578.022
Tragödie, vor allem der Tragödien des Äschylus, der den Chor der pba_578.023
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Allvater, alllautrer Born des Heils, Zeus!
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Da steht mit seinem Wort das Werk; pba_578.033
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/596>, abgerufen am 29.03.2024.