Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
pba_140.001
kommt zucht und ehr derselben maas, pba_140.002
so müßen sie gehn dieselbe straße; pba_140.003
kommt lieb und treu, die wär gern ein, pba_140.004
so will niemand ihr thorwart sein; pba_140.005
kommt wahrheit und klopfet an, pba_140.006
so muß sie lang vor der thür stahn; pba_140.007
kommt gerechtigkeit auch vor das thor, pba_140.008
so findt sie ketten und riegel vor; pba_140.009
kommt aber der pfennig geloffen, pba_140.010
so findt er thür und thor offen.

pba_140.011
Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische pba_140.012
Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form; pba_140.013
auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet, pba_140.014
allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem pba_140.015
Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus pba_140.016
verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form pba_140.017
und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung.

pba_140.018
Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob pba_140.019
gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den pba_140.020
Schiller-Goetheschen Xenien spendet: "Für mich ist es ein herrlicher Genuß, pba_140.021
eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat pba_140.022
zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen pba_140.023
sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne, pba_140.024
dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht, pba_140.025
dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach pba_140.026
dem Jdeale. -- Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das pba_140.027
Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten pba_140.028
Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung, pba_140.029
die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die pba_140.030
widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts pba_140.031
an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe."

pba_140.032
Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben, pba_140.033
worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die pba_140.034
Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann, pba_140.035
was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in pba_140.036
der Behandlung ihrer spezifischen Form.



pba_140.001
kommt zucht und ehr derselben maas, pba_140.002
so müßen sie gehn dieselbe straße; pba_140.003
kommt lieb und treu, die wär gern ein, pba_140.004
so will niemand ihr thorwart sein; pba_140.005
kommt wahrheit und klopfet an, pba_140.006
so muß sie lang vor der thür stahn; pba_140.007
kommt gerechtigkeit auch vor das thor, pba_140.008
so findt sie ketten und riegel vor; pba_140.009
kommt aber der pfennig geloffen, pba_140.010
so findt er thür und thor offen.

pba_140.011
Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische pba_140.012
Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form; pba_140.013
auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet, pba_140.014
allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem pba_140.015
Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus pba_140.016
verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form pba_140.017
und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung.

pba_140.018
Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob pba_140.019
gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den pba_140.020
Schiller-Goetheschen Xenien spendet: „Für mich ist es ein herrlicher Genuß, pba_140.021
eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat pba_140.022
zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen pba_140.023
sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne, pba_140.024
dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht, pba_140.025
dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach pba_140.026
dem Jdeale. — Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das pba_140.027
Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten pba_140.028
Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung, pba_140.029
die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die pba_140.030
widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts pba_140.031
an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.“

pba_140.032
Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben, pba_140.033
worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die pba_140.034
Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann, pba_140.035
was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in pba_140.036
der Behandlung ihrer spezifischen Form.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0158" n="140"/>
        <lb n="pba_140.001"/>
        <lg>
          <l>kommt zucht und ehr derselben maas,</l>
          <lb n="pba_140.002"/>
          <l>so müßen sie gehn dieselbe straße;</l>
          <lb n="pba_140.003"/>
          <l>kommt lieb und treu, die wär gern ein,</l>
          <lb n="pba_140.004"/>
          <l>so will niemand ihr thorwart sein;</l>
          <lb n="pba_140.005"/>
          <l>kommt wahrheit und klopfet an,</l>
          <lb n="pba_140.006"/>
          <l>so muß sie lang vor der thür stahn;</l>
          <lb n="pba_140.007"/>
          <l>kommt gerechtigkeit auch vor das thor,</l>
          <lb n="pba_140.008"/>
          <l>so findt sie ketten und riegel vor;</l>
          <lb n="pba_140.009"/>
          <l>kommt aber der pfennig geloffen,</l>
          <lb n="pba_140.010"/>
          <l>so findt er thür und thor offen.</l>
        </lg>
        <p><lb n="pba_140.011"/>
Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische <lb n="pba_140.012"/>
Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form; <lb n="pba_140.013"/>
auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet, <lb n="pba_140.014"/>
allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem <lb n="pba_140.015"/>
Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das <hi rendition="#g">Ethos,</hi> daraus <lb n="pba_140.016"/>
verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form <lb n="pba_140.017"/>
und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung.</p>
        <p><lb n="pba_140.018"/>
Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob <lb n="pba_140.019"/>
gelten, welches <hi rendition="#g">Körner</hi> in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den <lb n="pba_140.020"/>
Schiller-Goetheschen Xenien spendet: &#x201E;Für mich ist es ein herrlicher Genuß, <lb n="pba_140.021"/>
eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat <lb n="pba_140.022"/>
zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen <lb n="pba_140.023"/>
sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne, <lb n="pba_140.024"/>
dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht, <lb n="pba_140.025"/>
dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach <lb n="pba_140.026"/>
dem Jdeale. &#x2014; Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das <lb n="pba_140.027"/> <hi rendition="#g">Spiel</hi> im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten <lb n="pba_140.028"/>
Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung, <lb n="pba_140.029"/>
die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die <lb n="pba_140.030"/>
widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts <lb n="pba_140.031"/>
an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.&#x201C;</p>
        <p><lb n="pba_140.032"/>
Sehr schön ist in diesem Urteile das <hi rendition="#g">Wesentliche</hi> hervorgehoben, <lb n="pba_140.033"/>
worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die <lb n="pba_140.034"/> <hi rendition="#g">Trefflichkeit des Ethos,</hi> welches ihr Gegenstand ist, und sodann, <lb n="pba_140.035"/>
was sie freilich ebensowenig entbehren können, <hi rendition="#g">die Virtuosität in <lb n="pba_140.036"/>
der Behandlung ihrer spezifischen Form.</hi></p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0158] pba_140.001 kommt zucht und ehr derselben maas, pba_140.002 so müßen sie gehn dieselbe straße; pba_140.003 kommt lieb und treu, die wär gern ein, pba_140.004 so will niemand ihr thorwart sein; pba_140.005 kommt wahrheit und klopfet an, pba_140.006 so muß sie lang vor der thür stahn; pba_140.007 kommt gerechtigkeit auch vor das thor, pba_140.008 so findt sie ketten und riegel vor; pba_140.009 kommt aber der pfennig geloffen, pba_140.010 so findt er thür und thor offen. pba_140.011 Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische pba_140.012 Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form; pba_140.013 auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet, pba_140.014 allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem pba_140.015 Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus pba_140.016 verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form pba_140.017 und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung. pba_140.018 Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob pba_140.019 gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den pba_140.020 Schiller-Goetheschen Xenien spendet: „Für mich ist es ein herrlicher Genuß, pba_140.021 eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat pba_140.022 zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen pba_140.023 sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne, pba_140.024 dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht, pba_140.025 dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach pba_140.026 dem Jdeale. — Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das pba_140.027 Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten pba_140.028 Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung, pba_140.029 die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die pba_140.030 widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts pba_140.031 an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.“ pba_140.032 Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben, pba_140.033 worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die pba_140.034 Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann, pba_140.035 was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in pba_140.036 der Behandlung ihrer spezifischen Form.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/158
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/158>, abgerufen am 25.04.2024.