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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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6.

Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle
andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern:
haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veran-
lassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen
die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines
Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die
Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen
zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philo-
logen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector
magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes,
und der Protestantismus eine Philologenbewegung -- wird
man sich entschliessen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr
Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich
bereits entschlossen und spricht nur noch von "Professor
Luther". Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren
Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder
Philologen der Nation 25).

Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich.
Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam.
Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber,
und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen
drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischis-
mus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken?
Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden
wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer
Ueberschwemmung von gottesgelahrten Wortklaubereien,
Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die
von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tat-
sache, dass die Nation auf ein philologisches Pfaffenmanöver
einging und sich von nun an an die Bücher halten wollte,
statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutsch-
land: sie macht "Aufsehen". Da sieht man, wie sie alle
ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken.

6.

Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle
andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern:
haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veran-
lassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen
die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines
Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die
Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen
zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philo-
logen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector
magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes,
und der Protestantismus eine Philologenbewegung — wird
man sich entschliessen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr
Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich
bereits entschlossen und spricht nur noch von „Professor
Luther“. Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren
Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder
Philologen der Nation 25).

Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich.
Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam.
Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber,
und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen
drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischis-
mus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken?
Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden
wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer
Ueberschwemmung von gottesgelahrten Wortklaubereien,
Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die
von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tat-
sache, dass die Nation auf ein philologisches Pfaffenmanöver
einging und sich von nun an an die Bücher halten wollte,
statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutsch-
land: sie macht „Aufsehen“. Da sieht man, wie sie alle
ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken.

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[30/0038] 6. Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern: haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veran- lassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philo- logen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes, und der Protestantismus eine Philologenbewegung — wird man sich entschliessen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich bereits entschlossen und spricht nur noch von „Professor Luther“. Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder Philologen der Nation ²⁵⁾ . Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich. Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam. Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber, und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischis- mus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken? Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer Ueberschwemmung von gottesgelahrten Wortklaubereien, Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tat- sache, dass die Nation auf ein philologisches Pfaffenmanöver einging und sich von nun an an die Bücher halten wollte, statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutsch- land: sie macht „Aufsehen“. Da sieht man, wie sie alle ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/38>, abgerufen am 28.03.2024.