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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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päischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt
und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa stellen will
trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo
fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der
in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert
Jahren Grosstaten wie Sterne aufblühen und in den Ge-
fängnissen, Festungen und Füssiladen Sibiriens lautlos und
glühend versinken liess? Jener Mut zur Fronde, jener Fa-
natismus geistiger Interessen und Kommunion, jener prak-
tische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode,
die Russland zur Grossmacht der Freiheit erheben? Von
den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen
bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und
Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewsky,
Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin,
Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie,
nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender
Hingabe an die Idee der Geringsten und der Ver-
lorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede
Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch be-
rufen, alles Grosse zu vernichten und zu bekämpfen, statt
in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die
Hände auszustrecken?

6.

Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen,
die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben
preussischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin
besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kon-
trolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken
von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an
einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich
enthoben glaubt; auch jene "Heiligung" nicht, die da sagt:
"Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens,

päischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt
und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa stellen will
trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo
fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der
in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert
Jahren Grosstaten wie Sterne aufblühen und in den Ge-
fängnissen, Festungen und Füssiladen Sibiriens lautlos und
glühend versinken liess? Jener Mut zur Fronde, jener Fa-
natismus geistiger Interessen und Kommunion, jener prak-
tische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode,
die Russland zur Grossmacht der Freiheit erheben? Von
den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen
bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und
Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewsky,
Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin,
Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie,
nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender
Hingabe an die Idee der Geringsten und der Ver-
lorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede
Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch be-
rufen, alles Grosse zu vernichten und zu bekämpfen, statt
in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die
Hände auszustrecken?

6.

Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen,
die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben
preussischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin
besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kon-
trolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken
von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an
einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich
enthoben glaubt; auch jene „Heiligung“ nicht, die da sagt:
„Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens,

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[12/0020] päischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa stellen will trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert Jahren Grosstaten wie Sterne aufblühen und in den Ge- fängnissen, Festungen und Füssiladen Sibiriens lautlos und glühend versinken liess? Jener Mut zur Fronde, jener Fa- natismus geistiger Interessen und Kommunion, jener prak- tische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode, die Russland zur Grossmacht der Freiheit erheben? Von den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewsky, Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin, Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie, nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender Hingabe an die Idee der Geringsten und der Ver- lorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch be- rufen, alles Grosse zu vernichten und zu bekämpfen, statt in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die Hände auszustrecken? 6. Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen, die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben preussischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kon- trolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich enthoben glaubt; auch jene „Heiligung“ nicht, die da sagt: „Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens,

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/20>, abgerufen am 29.03.2024.