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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837.

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Noch merkwürdiger aber ist es, dass umgekehrt das psychische Bedürfniss, die
Jungen zur Entwickelung zu bringen, auch die körperliche Fähigkeit dazu er-
zeugt. Singvögel, denen man die Eier wegnimmt, legen neue, was sie ohne
diese Veranlassung nicht gethan haben würden, und Hühner, denen man ein-
zeln die Eier vor dem Auskriechen der Küchlein wegnimmt, behalten nicht sel-
ten 8 bis 10 Wochen lang die erforderliche Brütwärme, die sie verloren haben
würden, wenn nach 3 Wochen sämmtliche Küchlein ausgeschlüpft wären *).

Doch ich darf hier mich nicht weiter in das Brütgeschäft einlassen, da ich
für das vorgesteckte Ziel nur die Veränderungen des Eies, nachdem es gelegt wor-
den ist, ins Auge zu fassen habe.

b. Verdün-
stung.

Nachdem ein Ei gelegt worden ist, verliert es immer an Gewicht, es mag
bebrütet werden, oder nicht. Im letztern Falle ist der Verlust rascher, nach Been-
digung der Bebrütung hat das Ei nach Prout's Beobachtungen 0,16 seines Ge-
wichtes verloren und es schwimmt jetzt auf dem Wasser, obgleich es, nachdem
es gelegt war, stets untersank **). Es ist also der zum Auskriechen reife Em-
bryo lange nicht so schwer, als der ursprüngliche Inhalt des Eies.

Aber auch ohne bebrütet zu werden erleidet das Ei fortwährend einen Ge-
wichtsverlust, der zwei Jahre hindurch im Durchschnitte täglich 3/4 Gran beträgt,
in der ersten Zeit aber beträchtlicher, über einen Gran täglich, später unbedeu-
tender ist ***). Der Gewichtsverlust zeigt sich auch in unbefruchteten Eiern.

*) Ich kann mich nicht enthalten, hier eine für mich sehr interessante Erfahrung mitzutheilen.
In einem Stalle, der einer brütenden Henne zum Aufenthalte augewiesen war, trieben auch
einige Enten ihr Wesen, die sich häufig im Wasser einer benachbarten Wanne badeten. Der
nicht gedielte Stall wurde dadurch einem Sumpfe gleich, und auch das Stroh, aus welchem das
Nest des Huhnes geformt war, wurde allmählig durchweicht. Das Nest war deshalb auch kalt
und die Entwickelung der Eier ging sehr langsam vor sich. Ich liess nun aus trocknem Stroh
ein neues Nest machen. Als ich wenige Stunden darauf unter den Leib der Henne griff, um
ein Ei wegzunehmen, fuhr ich erschreckt mit der Hand zurück, weil ich im ersten Augen-
blicke das Gefühl hatte, als ob das Stroh brenne. Von der Unmöglichkeit eines Brandes so-
gleich überzeugt, untersuchte ich das Nest nochmals mit der Hand und fand es ganz ungemein
heiss. Die Eier liessen sich anfühlen wie Eier, die in der Brütmaschine eine Hitze von mehr
als 36° R. erlangt haben. Diese übermässige Hitze nahm allmählig ab und in weniger als
24 Stunden hatte das noch völlig trockne Nest die gewöhnliche Wärme.
Ich schliesse hieraus, dass die Wärmeproduction des mütterlichen Körpers sich auf dem
feuchten Neste vermehrt hatte. Diese Vermehrung ist aber gerade dem gewöhnlichen Ein-
flusse der Feuchtigkeit entgegengesetzt, weshalb es mir scheint, dass der Trieb, den Eiern
trotz des Verlustes durch das verdünstende Wasser die gehörige Wärme zu geben, hier die
Wärmeerzeugung des Körpers vermehrt hatte.
**) Nach Prout (Philosophical Transactions 1822) hat das Ei vor der Bebrütung ein specifisches
Gewicht von 1,08 bis 1,09.
***) Ebenfalls nach Prout a. a. O.

Noch merkwürdiger aber ist es, daſs umgekehrt das psychische Bedürfniſs, die
Jungen zur Entwickelung zu bringen, auch die körperliche Fähigkeit dazu er-
zeugt. Singvögel, denen man die Eier wegnimmt, legen neue, was sie ohne
diese Veranlassung nicht gethan haben würden, und Hühner, denen man ein-
zeln die Eier vor dem Auskriechen der Küchlein wegnimmt, behalten nicht sel-
ten 8 bis 10 Wochen lang die erforderliche Brütwärme, die sie verloren haben
würden, wenn nach 3 Wochen sämmtliche Küchlein ausgeschlüpft wären *).

Doch ich darf hier mich nicht weiter in das Brütgeschäft einlassen, da ich
für das vorgesteckte Ziel nur die Veränderungen des Eies, nachdem es gelegt wor-
den ist, ins Auge zu fassen habe.

b. Verdün-
stung.

Nachdem ein Ei gelegt worden ist, verliert es immer an Gewicht, es mag
bebrütet werden, oder nicht. Im letztern Falle ist der Verlust rascher, nach Been-
digung der Bebrütung hat das Ei nach Prout’s Beobachtungen 0,16 seines Ge-
wichtes verloren und es schwimmt jetzt auf dem Wasser, obgleich es, nachdem
es gelegt war, stets untersank **). Es ist also der zum Auskriechen reife Em-
bryo lange nicht so schwer, als der ursprüngliche Inhalt des Eies.

Aber auch ohne bebrütet zu werden erleidet das Ei fortwährend einen Ge-
wichtsverlust, der zwei Jahre hindurch im Durchschnitte täglich ¾ Gran beträgt,
in der ersten Zeit aber beträchtlicher, über einen Gran täglich, später unbedeu-
tender ist ***). Der Gewichtsverlust zeigt sich auch in unbefruchteten Eiern.

*) Ich kann mich nicht enthalten, hier eine für mich sehr interessante Erfahrung mitzutheilen.
In einem Stalle, der einer brütenden Henne zum Aufenthalte augewiesen war, trieben auch
einige Enten ihr Wesen, die sich häufig im Wasser einer benachbarten Wanne badeten. Der
nicht gedielte Stall wurde dadurch einem Sumpfe gleich, und auch das Stroh, aus welchem das
Nest des Huhnes geformt war, wurde allmählig durchweicht. Das Nest war deshalb auch kalt
und die Entwickelung der Eier ging sehr langsam vor sich. Ich lieſs nun aus trocknem Stroh
ein neues Nest machen. Als ich wenige Stunden darauf unter den Leib der Henne griff, um
ein Ei wegzunehmen, fuhr ich erschreckt mit der Hand zurück, weil ich im ersten Augen-
blicke das Gefühl hatte, als ob das Stroh brenne. Von der Unmöglichkeit eines Brandes so-
gleich überzeugt, untersuchte ich das Nest nochmals mit der Hand und fand es ganz ungemein
heiſs. Die Eier lieſsen sich anfühlen wie Eier, die in der Brütmaschine eine Hitze von mehr
als 36° R. erlangt haben. Diese übermäſsige Hitze nahm allmählig ab und in weniger als
24 Stunden hatte das noch völlig trockne Nest die gewöhnliche Wärme.
Ich schlieſse hieraus, daſs die Wärmeproduction des mütterlichen Körpers sich auf dem
feuchten Neste vermehrt hatte. Diese Vermehrung ist aber gerade dem gewöhnlichen Ein-
flusse der Feuchtigkeit entgegengesetzt, weshalb es mir scheint, daſs der Trieb, den Eiern
trotz des Verlustes durch das verdünstende Wasser die gehörige Wärme zu geben, hier die
Wärmeerzeugung des Körpers vermehrt hatte.
**) Nach Prout (Philosophical Transactions 1822) hat das Ei vor der Bebrütung ein specifisches
Gewicht von 1,08 bis 1,09.
***) Ebenfalls nach Prout a. a. O.
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[36/0046] Noch merkwürdiger aber ist es, daſs umgekehrt das psychische Bedürfniſs, die Jungen zur Entwickelung zu bringen, auch die körperliche Fähigkeit dazu er- zeugt. Singvögel, denen man die Eier wegnimmt, legen neue, was sie ohne diese Veranlassung nicht gethan haben würden, und Hühner, denen man ein- zeln die Eier vor dem Auskriechen der Küchlein wegnimmt, behalten nicht sel- ten 8 bis 10 Wochen lang die erforderliche Brütwärme, die sie verloren haben würden, wenn nach 3 Wochen sämmtliche Küchlein ausgeschlüpft wären *). Doch ich darf hier mich nicht weiter in das Brütgeschäft einlassen, da ich für das vorgesteckte Ziel nur die Veränderungen des Eies, nachdem es gelegt wor- den ist, ins Auge zu fassen habe. Nachdem ein Ei gelegt worden ist, verliert es immer an Gewicht, es mag bebrütet werden, oder nicht. Im letztern Falle ist der Verlust rascher, nach Been- digung der Bebrütung hat das Ei nach Prout’s Beobachtungen 0,16 seines Ge- wichtes verloren und es schwimmt jetzt auf dem Wasser, obgleich es, nachdem es gelegt war, stets untersank **). Es ist also der zum Auskriechen reife Em- bryo lange nicht so schwer, als der ursprüngliche Inhalt des Eies. Aber auch ohne bebrütet zu werden erleidet das Ei fortwährend einen Ge- wichtsverlust, der zwei Jahre hindurch im Durchschnitte täglich ¾ Gran beträgt, in der ersten Zeit aber beträchtlicher, über einen Gran täglich, später unbedeu- tender ist ***). Der Gewichtsverlust zeigt sich auch in unbefruchteten Eiern. *) Ich kann mich nicht enthalten, hier eine für mich sehr interessante Erfahrung mitzutheilen. In einem Stalle, der einer brütenden Henne zum Aufenthalte augewiesen war, trieben auch einige Enten ihr Wesen, die sich häufig im Wasser einer benachbarten Wanne badeten. Der nicht gedielte Stall wurde dadurch einem Sumpfe gleich, und auch das Stroh, aus welchem das Nest des Huhnes geformt war, wurde allmählig durchweicht. Das Nest war deshalb auch kalt und die Entwickelung der Eier ging sehr langsam vor sich. Ich lieſs nun aus trocknem Stroh ein neues Nest machen. Als ich wenige Stunden darauf unter den Leib der Henne griff, um ein Ei wegzunehmen, fuhr ich erschreckt mit der Hand zurück, weil ich im ersten Augen- blicke das Gefühl hatte, als ob das Stroh brenne. Von der Unmöglichkeit eines Brandes so- gleich überzeugt, untersuchte ich das Nest nochmals mit der Hand und fand es ganz ungemein heiſs. Die Eier lieſsen sich anfühlen wie Eier, die in der Brütmaschine eine Hitze von mehr als 36° R. erlangt haben. Diese übermäſsige Hitze nahm allmählig ab und in weniger als 24 Stunden hatte das noch völlig trockne Nest die gewöhnliche Wärme. Ich schlieſse hieraus, daſs die Wärmeproduction des mütterlichen Körpers sich auf dem feuchten Neste vermehrt hatte. Diese Vermehrung ist aber gerade dem gewöhnlichen Ein- flusse der Feuchtigkeit entgegengesetzt, weshalb es mir scheint, daſs der Trieb, den Eiern trotz des Verlustes durch das verdünstende Wasser die gehörige Wärme zu geben, hier die Wärmeerzeugung des Körpers vermehrt hatte. **) Nach Prout (Philosophical Transactions 1822) hat das Ei vor der Bebrütung ein specifisches Gewicht von 1,08 bis 1,09. ***) Ebenfalls nach Prout a. a. O.

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1837/46>, abgerufen am 29.03.2024.