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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837.

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rische Entwickelungsgeschichte überhaupt gilt und was nur dieser Thierklasse
eigenthümlich zukommt.

Ich werde nun, damit Sie selbst Stoff zum Urtheil erlangen, und nicht die
Ueberzeugungen und allgemeinen Lehren, zu denen wir gelangen, als eine Tra-
dition aufzunehmen haben, sondern nach Ihrer eigenen geistigen Ausbildung zu
modificiren im Stande sind, den Weg einschlagen, der dazu am meisten geeignet
scheint. Ich werde zuerst die Entwickelungsgeschichte der Vögel vortragen,
dann das Wesentlichste aus der Bildungsgeschichte anderer Thierklassen kürzer
gefasst hervorheben und mit der Ausbildung der Vögel vergleichen, um endlich
zur Beleuchtung der Hauptfrage über das Wesen der Zeugung und der Entwicke-
lung des Embryo überzugehen, mit dem Bestreben, das Sichere, Unabweis-
bare, den darauf gegründeten Ansichten voranzuschicken, ohne überall einen streng
chronologischen Weg einzuschlagen, sondern nach einer solchen Anordnung, wie
ich sie für die Verständlichkeit vortheilhaft halte. Aus diesem Grunde werde ich
auch nicht mit der ersten Spur der Eier der Vögel beginnen, sondern mit der Be-
schreibung des gelegten, noch nicht bebrüteten Eies, weil Jedermann die be-
quemste Gelegenheit hat, solche Eier zu untersuchen, um an ihnen die einzelnen
Theile kennen zu lernen *).

Da viele von Ihnen Aerzte sind, so darf ich annehmen, dass es für Sie vor-
zügliches Interesse haben muss, die Entwickelung des Menschen mit der der Vögel
durch die verbindende Brücke der übrigen Säugethiere verglichen zu sehen. Ich
nehme dabei an, dass die meisten von Ihnen die menschliche Frucht so kennen,
wie unsere gewöhnlichsten anatomischen Handbücher sie geben. Ich darf ferner
annehmen, dass Ihr Wunsch nicht allein darauf gerichtet ist, für die Hauptfrage
über die Art und Zeit der Entstehung des organischen Körpers und seines Lebens
sich eine Ueberzeugung zu gewinnen, sondern auch die Bildungsweise der ein-
zelnen Organe kennen zu lernen, weil ihre Bildungsweise so viel Licht auf ihre
physiologische Bedeutung wirft.

*) Meinen Lesern rathe ich auch recht nachdrücklich, beim Lesen der folgenden Paragraphen
ein Paar Eier zu öffnen. Man breche oben einen Theil der Schaale weg und sehe zuerst
den Inhalt des Eies an, dann breche man die gesammte Schaale, wo möglich, in zwei Hälften
aus einander und lasse den ganzen Inhalt des Eies in ein Gefäss mit Wasser fallen, das tief
genug ist, um das Ei darin wenden zu können.
II. B

rische Entwickelungsgeschichte überhaupt gilt und was nur dieser Thierklasse
eigenthümlich zukommt.

Ich werde nun, damit Sie selbst Stoff zum Urtheil erlangen, und nicht die
Ueberzeugungen und allgemeinen Lehren, zu denen wir gelangen, als eine Tra-
dition aufzunehmen haben, sondern nach Ihrer eigenen geistigen Ausbildung zu
modificiren im Stande sind, den Weg einschlagen, der dazu am meisten geeignet
scheint. Ich werde zuerst die Entwickelungsgeschichte der Vögel vortragen,
dann das Wesentlichste aus der Bildungsgeschichte anderer Thierklassen kürzer
gefaſst hervorheben und mit der Ausbildung der Vögel vergleichen, um endlich
zur Beleuchtung der Hauptfrage über das Wesen der Zeugung und der Entwicke-
lung des Embryo überzugehen, mit dem Bestreben, das Sichere, Unabweis-
bare, den darauf gegründeten Ansichten voranzuschicken, ohne überall einen streng
chronologischen Weg einzuschlagen, sondern nach einer solchen Anordnung, wie
ich sie für die Verständlichkeit vortheilhaft halte. Aus diesem Grunde werde ich
auch nicht mit der ersten Spur der Eier der Vögel beginnen, sondern mit der Be-
schreibung des gelegten, noch nicht bebrüteten Eies, weil Jedermann die be-
quemste Gelegenheit hat, solche Eier zu untersuchen, um an ihnen die einzelnen
Theile kennen zu lernen *).

Da viele von Ihnen Aerzte sind, so darf ich annehmen, daſs es für Sie vor-
zügliches Interesse haben muſs, die Entwickelung des Menschen mit der der Vögel
durch die verbindende Brücke der übrigen Säugethiere verglichen zu sehen. Ich
nehme dabei an, daſs die meisten von Ihnen die menschliche Frucht so kennen,
wie unsere gewöhnlichsten anatomischen Handbücher sie geben. Ich darf ferner
annehmen, daſs Ihr Wunsch nicht allein darauf gerichtet ist, für die Hauptfrage
über die Art und Zeit der Entstehung des organischen Körpers und seines Lebens
sich eine Ueberzeugung zu gewinnen, sondern auch die Bildungsweise der ein-
zelnen Organe kennen zu lernen, weil ihre Bildungsweise so viel Licht auf ihre
physiologische Bedeutung wirft.

*) Meinen Lesern rathe ich auch recht nachdrücklich, beim Lesen der folgenden Paragraphen
ein Paar Eier zu öffnen. Man breche oben einen Theil der Schaale weg und sehe zuerst
den Inhalt des Eies an, dann breche man die gesammte Schaale, wo möglich, in zwei Hälften
aus einander und lasse den ganzen Inhalt des Eies in ein Gefäſs mit Wasser fallen, das tief
genug ist, um das Ei darin wenden zu können.
II. B
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[9/0019] rische Entwickelungsgeschichte überhaupt gilt und was nur dieser Thierklasse eigenthümlich zukommt. Ich werde nun, damit Sie selbst Stoff zum Urtheil erlangen, und nicht die Ueberzeugungen und allgemeinen Lehren, zu denen wir gelangen, als eine Tra- dition aufzunehmen haben, sondern nach Ihrer eigenen geistigen Ausbildung zu modificiren im Stande sind, den Weg einschlagen, der dazu am meisten geeignet scheint. Ich werde zuerst die Entwickelungsgeschichte der Vögel vortragen, dann das Wesentlichste aus der Bildungsgeschichte anderer Thierklassen kürzer gefaſst hervorheben und mit der Ausbildung der Vögel vergleichen, um endlich zur Beleuchtung der Hauptfrage über das Wesen der Zeugung und der Entwicke- lung des Embryo überzugehen, mit dem Bestreben, das Sichere, Unabweis- bare, den darauf gegründeten Ansichten voranzuschicken, ohne überall einen streng chronologischen Weg einzuschlagen, sondern nach einer solchen Anordnung, wie ich sie für die Verständlichkeit vortheilhaft halte. Aus diesem Grunde werde ich auch nicht mit der ersten Spur der Eier der Vögel beginnen, sondern mit der Be- schreibung des gelegten, noch nicht bebrüteten Eies, weil Jedermann die be- quemste Gelegenheit hat, solche Eier zu untersuchen, um an ihnen die einzelnen Theile kennen zu lernen *). Da viele von Ihnen Aerzte sind, so darf ich annehmen, daſs es für Sie vor- zügliches Interesse haben muſs, die Entwickelung des Menschen mit der der Vögel durch die verbindende Brücke der übrigen Säugethiere verglichen zu sehen. Ich nehme dabei an, daſs die meisten von Ihnen die menschliche Frucht so kennen, wie unsere gewöhnlichsten anatomischen Handbücher sie geben. Ich darf ferner annehmen, daſs Ihr Wunsch nicht allein darauf gerichtet ist, für die Hauptfrage über die Art und Zeit der Entstehung des organischen Körpers und seines Lebens sich eine Ueberzeugung zu gewinnen, sondern auch die Bildungsweise der ein- zelnen Organe kennen zu lernen, weil ihre Bildungsweise so viel Licht auf ihre physiologische Bedeutung wirft. *) Meinen Lesern rathe ich auch recht nachdrücklich, beim Lesen der folgenden Paragraphen ein Paar Eier zu öffnen. Man breche oben einen Theil der Schaale weg und sehe zuerst den Inhalt des Eies an, dann breche man die gesammte Schaale, wo möglich, in zwei Hälften aus einander und lasse den ganzen Inhalt des Eies in ein Gefäſs mit Wasser fallen, das tief genug ist, um das Ei darin wenden zu können. II. B

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1837/19>, abgerufen am 28.03.2024.