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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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mund gelauscht, aus diesem seine ganze Grammatik ertönen
hören und ist so muthig weiter gedrungen, rastlos forschend, den
Blick auf das schwere weite Ziel gerichtet.

Schon bei der ersten Vertheilung und Sichtung des Stoffs
stellte sich dem Verfasser ein ernstes Bedenken entgegen, das aber
auch sehr rasch beseitigt wurde: das Bedenken nämlich, ob die
Behandlung der jüdischdeutschen Sprache mitten in der
Untersuchung der Gaunersprache zulässig sei. Unbedingt
mußte der Verfasser die Frage bejahen, sobald er sich selbst über
seine Aufgabe wie über das Judenthum klar geworden war, in
welchem er den vieltausendjährigen Grund erkannt hatte, auf
welchem das Christenthum aufgerichtet steht. Wenn nach andert-
halbtausendjähriger Hetzjagd des Judenvolks noch um die Mitte
des 19. Jahrhunderts die Begriffe Jude und Gauner als identisch,
ja sogar der Jude als Gauner in höherer Potenz statuirt, wenn
daher ein eigenes "jüdisches Gaunerthum", eine eigene "jüdische
Gaunersprache" proclamirt werden konnte: dann half nichts ande-
res, als die ganze wirre Masse zusammen zu fassen und zusammen
auszuglühen, um die verschiedenen Stoffe wie in einem scharfen
chemischen Proceß zu scheiden und zu sondern. Dieser ernste
Proceß war dem Verfasser nicht leicht gemacht. Nur erst ein Jahr
vor seinem Abgange zur Universität hatte er, ohne bestimmten
Zweck, bei einem alten wackern jüdischen Gelehrten Unterricht in
der hebräischen Sprache genossen und nur den Bereschit mit ihm
gelesen. Dies Wenige ward nebst dem Studium aller bis dahin
mit Lust getriebenen alten und neuen Sprachen vernachlässigt und
das Hebräische am gründlichsten vergessen, sobald der Verfasser
auf der Universität lebhaft vom Studium der Rechtswissenschaft
ergriffen worden war. Diese Vernachlässigung rächte sich aber
besonders schwer, als er vor elf Jahren zum praktischen Polizei-
mann berufen wurde und nun beim tiefern Studium der Gauner-
sprache die fremdartige Erscheinung der jüdischdeutschen Sprache ihm

mund gelauſcht, aus dieſem ſeine ganze Grammatik ertönen
hören und iſt ſo muthig weiter gedrungen, raſtlos forſchend, den
Blick auf das ſchwere weite Ziel gerichtet.

Schon bei der erſten Vertheilung und Sichtung des Stoffs
ſtellte ſich dem Verfaſſer ein ernſtes Bedenken entgegen, das aber
auch ſehr raſch beſeitigt wurde: das Bedenken nämlich, ob die
Behandlung der jüdiſchdeutſchen Sprache mitten in der
Unterſuchung der Gaunerſprache zuläſſig ſei. Unbedingt
mußte der Verfaſſer die Frage bejahen, ſobald er ſich ſelbſt über
ſeine Aufgabe wie über das Judenthum klar geworden war, in
welchem er den vieltauſendjährigen Grund erkannt hatte, auf
welchem das Chriſtenthum aufgerichtet ſteht. Wenn nach andert-
halbtauſendjähriger Hetzjagd des Judenvolks noch um die Mitte
des 19. Jahrhunderts die Begriffe Jude und Gauner als identiſch,
ja ſogar der Jude als Gauner in höherer Potenz ſtatuirt, wenn
daher ein eigenes „jüdiſches Gaunerthum“, eine eigene „jüdiſche
Gaunerſprache“ proclamirt werden konnte: dann half nichts ande-
res, als die ganze wirre Maſſe zuſammen zu faſſen und zuſammen
auszuglühen, um die verſchiedenen Stoffe wie in einem ſcharfen
chemiſchen Proceß zu ſcheiden und zu ſondern. Dieſer ernſte
Proceß war dem Verfaſſer nicht leicht gemacht. Nur erſt ein Jahr
vor ſeinem Abgange zur Univerſität hatte er, ohne beſtimmten
Zweck, bei einem alten wackern jüdiſchen Gelehrten Unterricht in
der hebräiſchen Sprache genoſſen und nur den Bereschit mit ihm
geleſen. Dies Wenige ward nebſt dem Studium aller bis dahin
mit Luſt getriebenen alten und neuen Sprachen vernachläſſigt und
das Hebräiſche am gründlichſten vergeſſen, ſobald der Verfaſſer
auf der Univerſität lebhaft vom Studium der Rechtswiſſenſchaft
ergriffen worden war. Dieſe Vernachläſſigung rächte ſich aber
beſonders ſchwer, als er vor elf Jahren zum praktiſchen Polizei-
mann berufen wurde und nun beim tiefern Studium der Gauner-
ſprache die fremdartige Erſcheinung der jüdiſchdeutſchen Sprache ihm

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[XI/0015] mund gelauſcht, aus dieſem ſeine ganze Grammatik ertönen hören und iſt ſo muthig weiter gedrungen, raſtlos forſchend, den Blick auf das ſchwere weite Ziel gerichtet. Schon bei der erſten Vertheilung und Sichtung des Stoffs ſtellte ſich dem Verfaſſer ein ernſtes Bedenken entgegen, das aber auch ſehr raſch beſeitigt wurde: das Bedenken nämlich, ob die Behandlung der jüdiſchdeutſchen Sprache mitten in der Unterſuchung der Gaunerſprache zuläſſig ſei. Unbedingt mußte der Verfaſſer die Frage bejahen, ſobald er ſich ſelbſt über ſeine Aufgabe wie über das Judenthum klar geworden war, in welchem er den vieltauſendjährigen Grund erkannt hatte, auf welchem das Chriſtenthum aufgerichtet ſteht. Wenn nach andert- halbtauſendjähriger Hetzjagd des Judenvolks noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Begriffe Jude und Gauner als identiſch, ja ſogar der Jude als Gauner in höherer Potenz ſtatuirt, wenn daher ein eigenes „jüdiſches Gaunerthum“, eine eigene „jüdiſche Gaunerſprache“ proclamirt werden konnte: dann half nichts ande- res, als die ganze wirre Maſſe zuſammen zu faſſen und zuſammen auszuglühen, um die verſchiedenen Stoffe wie in einem ſcharfen chemiſchen Proceß zu ſcheiden und zu ſondern. Dieſer ernſte Proceß war dem Verfaſſer nicht leicht gemacht. Nur erſt ein Jahr vor ſeinem Abgange zur Univerſität hatte er, ohne beſtimmten Zweck, bei einem alten wackern jüdiſchen Gelehrten Unterricht in der hebräiſchen Sprache genoſſen und nur den Bereschit mit ihm geleſen. Dies Wenige ward nebſt dem Studium aller bis dahin mit Luſt getriebenen alten und neuen Sprachen vernachläſſigt und das Hebräiſche am gründlichſten vergeſſen, ſobald der Verfaſſer auf der Univerſität lebhaft vom Studium der Rechtswiſſenſchaft ergriffen worden war. Dieſe Vernachläſſigung rächte ſich aber beſonders ſchwer, als er vor elf Jahren zum praktiſchen Polizei- mann berufen wurde und nun beim tiefern Studium der Gauner- ſprache die fremdartige Erſcheinung der jüdiſchdeutſchen Sprache ihm

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/15>, abgerufen am 19.04.2024.