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Allgemeine Zeitung. Nr. 163. Augsburg, 11. Juni 1840.

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Die Ostseeprovinzen.

II. Das Lutherthum und die griechisch-russische Kirche.

Es ist auffallend, daß die Russen, die doch schon seit dem 11ten Jahrhundert Christen, und denen im 12ten Jahrhundert die Letten und Esthen, wenn auch nicht unterthan, doch tributpflichtig waren, hier keine Bekehrungsversuche gemacht haben. Sie duldeten das Heidenthum hier, wie sie es noch jetzt bei den Samojeden, Tschuktschen u. s. w. dulden, die ihnen auch Tribut zahlen, übrigens fast völlig unabhängige Gesellschaften bilden.

Die deutschen Ritter erst brachten im 13ten Jahrhundert den Letten und Esthen, wie die Schweden den Ingern, Karelen, Finnen, das Kreuz - wahrlich nicht das befreiende Kreuz der Erlösung und Gnade, sondern das belastende, drückende Kreuz der Knechtschaft und Sklaverei. Die christliche Religion wurde gepredigt, um durch die Priester und die Kirche die Leute in festerer Unterthänigkeit zu erhalten. Alles wurde im Lande christlich und mit Feuer und Schwert die Letten und Esthen zum katholischen Glauben bekehrt.

Im Jahr 1522 landeten die ersten ketzerischen Reformations-Prediger in Riga, und es entspannen sich die Streitigkeiten zwischen dem Anhang derselben und dem Bischof und den katholischen Priestern. Da jedoch der Adel und die Ordensgebietiger ihren Vortheil bei der neuen Lehre fanden, so wurden diese Streitigkeiten bald zum Besten des Lutherthums entschieden. Der ganze Orden löste sich auf, der Adel und die deutschen Städte nahmen Luthers Lehre an, und durch sie wurde dann auch dieß neue Licht zu den Esthen, Letten, Karelen, Ingren und andern finnischen Völkern bis hoch in den Norden hinaufgebracht, die allesammt Schüler und Anhänger des deutschen Mönches wurden; nur einzelne wenige Herren sind hier und da katholisch geblieben, und diese haben denn auch ihre Bauern beim Katholicismus erhalten, oder später wieder mit Gewalt zu demselben zurückgeführt. Doch sind diese Fälle so selten, daß sie gar nicht in Anschlag kommen können. Vielmehr ist die Masse aller Deutschen und Undeutschen in Liv- und Esthland durchaus lutherisch. In Ingermannland und Karelien mischt sich schon stark das Griechenthum ein. Der Reformirten, Herrenhuter und anderer protestantischen Secten gibt es nur wenige.

Im Ganzen kann man vergleichsweise mit Deutschland dem hiesigen Lutherthum wohl einen duldsameren Charakter zuschreiben. Der Adel wie die Prediger sind Leute von offenem Kopf, von kosmopolitischer Bildung, die in Religionssachen wenig Parteiung machen und Jeden mehr oder weniger bei seinem Glauben lassen. Es ist hier weder mit der Feder noch mit dem Schwerte je so heftig ums Lutherthum gestritten worden, wie in Deutschland, jenes vor dem dreißigjährigen Kriege und dieses während desselben. Indessen lieben doch die Deutschen dieser Gegenden das Lutherthum um nichts minder, und hängen ihm aufrichtig an, ohne an den Uebertritt zu einer anderen Kirche zu denken. Auch blieben sie alle, sowohl in Curland als in Livland, während der katholisch-polnischen Zeit bei der Religion ihrer Väter. Während der schwedischen Zeit, wo in Livland ein gleichfalls lutherisch-germanisches Brudervolk die Zügel der obersten Leitung des Staats in der Hand hielt, mochte sich die lutherische Kirche natürlich wohl in der vortheilhaftesten Stellung befinden. Die Stellung, in welcher sie durch die russische Eroberung zur griechischen kam, bildet den Gegenstand unserer jetzigen Betrachtung.

Der Charakter der griechischen Kirche ist im Ganzen genommen ein milder, versöhnlicher, der theils in dem Wesen und den Institutionen der Kirche selbst, theils in dem Charakter des diese Institutionen tragenden Volks der Russen begründet ist. Die Russen haben, wie die Römer, vor allen Gotteshäusern, auch denen fremder Glaubensbekenntnisse, eine gewisse Hochachtung und Ehrfurcht, vermöge welcher sie sie neben sich dulden. Es haben dieser Toleranz gemäß die Russen noch keinen der vielen von ihnen eroberten Volksstämme mit Gewalt zur griechischen Kirche gebracht. Vielmehr haben sie von jeher in den Gränzen ihres großen Reichs Lutheraner und Katholiken, ja Mohammedaner, sogar Heiden neben sich geduldet und keinen Anstoß daran genommen. Und so ist es im Ganzen genommen bis auf diese Stunde. Es gibt noch jetzt Heiden die Menge in Rußland, die zu taufen Niemanden einfällt.

Was das Verhältniß der Russen zu den Lutheranern insbesondere betrifft, so ist dieß von jeher ein sehr freundliches gewesen. Nie haben die Lutheraner den Gräkorussen so feindselig im bitteren Bruderzwiste gegenüber gestanden, wie den Katholiken. Ebenso haben die Russen von jeher viel mehr Zuneigung zu den Lutherischen und daher auch viel mehr Verkehr mit ihnen gehabt, als mit den katholischen Deutschen. Schon in sehr alten russischen Gesetzen werden den lutherischen Deutschen Begünstigungen zugestanden, die man den Katholiken nicht gab. Daher sind auch fast nur lutherisch-deutsche Colonien in das Innere von Rußland übergegangen, und in allen Städten des Reichs steht allemal die katholische Gemeinde, wenn überhaupt eine da ist, der lutherischen, die fast nie fehlt, an Ansehen, Größe und Einfluß nach. Selbst die deutschen Prinzessinnen, welche durch Verheirathung ins russische Kaiserhaus übergingen, waren fast alle ausschließlich lutherischer Religion. Es erklärt sich dieß Alles sehr natürlich, theils aus der geographischen Stellung des lutherisch-deutschen Nordens zu Rußland, theils aus der gegenseitigen größern Duldsamkeit beider Kirchen. Mit dem Katholicismus zerfiel der Gräcismus schon ursprünglich auf jenen erfolglosen Versöhnungsconcilien in Italien. Und ein Anstrich von dem Hasse der griechischen Halbinsel gegen die italienische wurde auf die Russen übertragen. Selbst in den uralten Kämpfen der Polen und Russen wurde durch die nationelle Abneigung die religiöse Feindschaft gestärkt. Nie und nirgend drängte sich der Protestantismus den Russen auf, während der Katholicismus die vielen von den Polen unterjochten russischen Stämme mit sich auf freundlichem oder gewaltsamem Wege zu uniren suchte. Mit den siegreichen Waffen der Polen stritt sonst die römische Kirche in jenen Gegenden siegreich gegen die Russen. In neueren und neuesten Zeiten hat sie gegen die siegenden Russen das ehemals Gewonnene wieder eingebüßt. Es gibt gar manche Russen unter den vornehmen Ständen, die in ihren Gesinnungen und in ihren religiösen Meinungen und Sitten Protestanten geworden sind; sehr wenige von den der Religion der Väter innerlich Abgefallenen - äußerlich abzufallen ist im Lande selbst unmöglich - sind der katholischen Kirche zugefallen.

Dem Allem nach war nun die Lage der deutschen Protestanten von jeher in Rußland viel angenehmer und fesselloser als in den meisten andern nichtprotestantischen Ländern. Nie war das Lutherthum in Rußland für Jemanden ein Hinderniß zu den höchsten Ehrenstellen zu gelangen, und wie in diesem

Die Ostseeprovinzen.

II. Das Lutherthum und die griechisch-russische Kirche.

Es ist auffallend, daß die Russen, die doch schon seit dem 11ten Jahrhundert Christen, und denen im 12ten Jahrhundert die Letten und Esthen, wenn auch nicht unterthan, doch tributpflichtig waren, hier keine Bekehrungsversuche gemacht haben. Sie duldeten das Heidenthum hier, wie sie es noch jetzt bei den Samojeden, Tschuktschen u. s. w. dulden, die ihnen auch Tribut zahlen, übrigens fast völlig unabhängige Gesellschaften bilden.

Die deutschen Ritter erst brachten im 13ten Jahrhundert den Letten und Esthen, wie die Schweden den Ingern, Karelen, Finnen, das Kreuz – wahrlich nicht das befreiende Kreuz der Erlösung und Gnade, sondern das belastende, drückende Kreuz der Knechtschaft und Sklaverei. Die christliche Religion wurde gepredigt, um durch die Priester und die Kirche die Leute in festerer Unterthänigkeit zu erhalten. Alles wurde im Lande christlich und mit Feuer und Schwert die Letten und Esthen zum katholischen Glauben bekehrt.

Im Jahr 1522 landeten die ersten ketzerischen Reformations-Prediger in Riga, und es entspannen sich die Streitigkeiten zwischen dem Anhang derselben und dem Bischof und den katholischen Priestern. Da jedoch der Adel und die Ordensgebietiger ihren Vortheil bei der neuen Lehre fanden, so wurden diese Streitigkeiten bald zum Besten des Lutherthums entschieden. Der ganze Orden löste sich auf, der Adel und die deutschen Städte nahmen Luthers Lehre an, und durch sie wurde dann auch dieß neue Licht zu den Esthen, Letten, Karelen, Ingren und andern finnischen Völkern bis hoch in den Norden hinaufgebracht, die allesammt Schüler und Anhänger des deutschen Mönches wurden; nur einzelne wenige Herren sind hier und da katholisch geblieben, und diese haben denn auch ihre Bauern beim Katholicismus erhalten, oder später wieder mit Gewalt zu demselben zurückgeführt. Doch sind diese Fälle so selten, daß sie gar nicht in Anschlag kommen können. Vielmehr ist die Masse aller Deutschen und Undeutschen in Liv- und Esthland durchaus lutherisch. In Ingermannland und Karelien mischt sich schon stark das Griechenthum ein. Der Reformirten, Herrenhuter und anderer protestantischen Secten gibt es nur wenige.

Im Ganzen kann man vergleichsweise mit Deutschland dem hiesigen Lutherthum wohl einen duldsameren Charakter zuschreiben. Der Adel wie die Prediger sind Leute von offenem Kopf, von kosmopolitischer Bildung, die in Religionssachen wenig Parteiung machen und Jeden mehr oder weniger bei seinem Glauben lassen. Es ist hier weder mit der Feder noch mit dem Schwerte je so heftig ums Lutherthum gestritten worden, wie in Deutschland, jenes vor dem dreißigjährigen Kriege und dieses während desselben. Indessen lieben doch die Deutschen dieser Gegenden das Lutherthum um nichts minder, und hängen ihm aufrichtig an, ohne an den Uebertritt zu einer anderen Kirche zu denken. Auch blieben sie alle, sowohl in Curland als in Livland, während der katholisch-polnischen Zeit bei der Religion ihrer Väter. Während der schwedischen Zeit, wo in Livland ein gleichfalls lutherisch-germanisches Brudervolk die Zügel der obersten Leitung des Staats in der Hand hielt, mochte sich die lutherische Kirche natürlich wohl in der vortheilhaftesten Stellung befinden. Die Stellung, in welcher sie durch die russische Eroberung zur griechischen kam, bildet den Gegenstand unserer jetzigen Betrachtung.

Der Charakter der griechischen Kirche ist im Ganzen genommen ein milder, versöhnlicher, der theils in dem Wesen und den Institutionen der Kirche selbst, theils in dem Charakter des diese Institutionen tragenden Volks der Russen begründet ist. Die Russen haben, wie die Römer, vor allen Gotteshäusern, auch denen fremder Glaubensbekenntnisse, eine gewisse Hochachtung und Ehrfurcht, vermöge welcher sie sie neben sich dulden. Es haben dieser Toleranz gemäß die Russen noch keinen der vielen von ihnen eroberten Volksstämme mit Gewalt zur griechischen Kirche gebracht. Vielmehr haben sie von jeher in den Gränzen ihres großen Reichs Lutheraner und Katholiken, ja Mohammedaner, sogar Heiden neben sich geduldet und keinen Anstoß daran genommen. Und so ist es im Ganzen genommen bis auf diese Stunde. Es gibt noch jetzt Heiden die Menge in Rußland, die zu taufen Niemanden einfällt.

Was das Verhältniß der Russen zu den Lutheranern insbesondere betrifft, so ist dieß von jeher ein sehr freundliches gewesen. Nie haben die Lutheraner den Gräkorussen so feindselig im bitteren Bruderzwiste gegenüber gestanden, wie den Katholiken. Ebenso haben die Russen von jeher viel mehr Zuneigung zu den Lutherischen und daher auch viel mehr Verkehr mit ihnen gehabt, als mit den katholischen Deutschen. Schon in sehr alten russischen Gesetzen werden den lutherischen Deutschen Begünstigungen zugestanden, die man den Katholiken nicht gab. Daher sind auch fast nur lutherisch-deutsche Colonien in das Innere von Rußland übergegangen, und in allen Städten des Reichs steht allemal die katholische Gemeinde, wenn überhaupt eine da ist, der lutherischen, die fast nie fehlt, an Ansehen, Größe und Einfluß nach. Selbst die deutschen Prinzessinnen, welche durch Verheirathung ins russische Kaiserhaus übergingen, waren fast alle ausschließlich lutherischer Religion. Es erklärt sich dieß Alles sehr natürlich, theils aus der geographischen Stellung des lutherisch-deutschen Nordens zu Rußland, theils aus der gegenseitigen größern Duldsamkeit beider Kirchen. Mit dem Katholicismus zerfiel der Gräcismus schon ursprünglich auf jenen erfolglosen Versöhnungsconcilien in Italien. Und ein Anstrich von dem Hasse der griechischen Halbinsel gegen die italienische wurde auf die Russen übertragen. Selbst in den uralten Kämpfen der Polen und Russen wurde durch die nationelle Abneigung die religiöse Feindschaft gestärkt. Nie und nirgend drängte sich der Protestantismus den Russen auf, während der Katholicismus die vielen von den Polen unterjochten russischen Stämme mit sich auf freundlichem oder gewaltsamem Wege zu uniren suchte. Mit den siegreichen Waffen der Polen stritt sonst die römische Kirche in jenen Gegenden siegreich gegen die Russen. In neueren und neuesten Zeiten hat sie gegen die siegenden Russen das ehemals Gewonnene wieder eingebüßt. Es gibt gar manche Russen unter den vornehmen Ständen, die in ihren Gesinnungen und in ihren religiösen Meinungen und Sitten Protestanten geworden sind; sehr wenige von den der Religion der Väter innerlich Abgefallenen – äußerlich abzufallen ist im Lande selbst unmöglich – sind der katholischen Kirche zugefallen.

Dem Allem nach war nun die Lage der deutschen Protestanten von jeher in Rußland viel angenehmer und fesselloser als in den meisten andern nichtprotestantischen Ländern. Nie war das Lutherthum in Rußland für Jemanden ein Hinderniß zu den höchsten Ehrenstellen zu gelangen, und wie in diesem

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[1297/0009] Die Ostseeprovinzen. II. Das Lutherthum und die griechisch-russische Kirche. Es ist auffallend, daß die Russen, die doch schon seit dem 11ten Jahrhundert Christen, und denen im 12ten Jahrhundert die Letten und Esthen, wenn auch nicht unterthan, doch tributpflichtig waren, hier keine Bekehrungsversuche gemacht haben. Sie duldeten das Heidenthum hier, wie sie es noch jetzt bei den Samojeden, Tschuktschen u. s. w. dulden, die ihnen auch Tribut zahlen, übrigens fast völlig unabhängige Gesellschaften bilden. Die deutschen Ritter erst brachten im 13ten Jahrhundert den Letten und Esthen, wie die Schweden den Ingern, Karelen, Finnen, das Kreuz – wahrlich nicht das befreiende Kreuz der Erlösung und Gnade, sondern das belastende, drückende Kreuz der Knechtschaft und Sklaverei. Die christliche Religion wurde gepredigt, um durch die Priester und die Kirche die Leute in festerer Unterthänigkeit zu erhalten. Alles wurde im Lande christlich und mit Feuer und Schwert die Letten und Esthen zum katholischen Glauben bekehrt. Im Jahr 1522 landeten die ersten ketzerischen Reformations-Prediger in Riga, und es entspannen sich die Streitigkeiten zwischen dem Anhang derselben und dem Bischof und den katholischen Priestern. Da jedoch der Adel und die Ordensgebietiger ihren Vortheil bei der neuen Lehre fanden, so wurden diese Streitigkeiten bald zum Besten des Lutherthums entschieden. Der ganze Orden löste sich auf, der Adel und die deutschen Städte nahmen Luthers Lehre an, und durch sie wurde dann auch dieß neue Licht zu den Esthen, Letten, Karelen, Ingren und andern finnischen Völkern bis hoch in den Norden hinaufgebracht, die allesammt Schüler und Anhänger des deutschen Mönches wurden; nur einzelne wenige Herren sind hier und da katholisch geblieben, und diese haben denn auch ihre Bauern beim Katholicismus erhalten, oder später wieder mit Gewalt zu demselben zurückgeführt. Doch sind diese Fälle so selten, daß sie gar nicht in Anschlag kommen können. Vielmehr ist die Masse aller Deutschen und Undeutschen in Liv- und Esthland durchaus lutherisch. In Ingermannland und Karelien mischt sich schon stark das Griechenthum ein. Der Reformirten, Herrenhuter und anderer protestantischen Secten gibt es nur wenige. Im Ganzen kann man vergleichsweise mit Deutschland dem hiesigen Lutherthum wohl einen duldsameren Charakter zuschreiben. Der Adel wie die Prediger sind Leute von offenem Kopf, von kosmopolitischer Bildung, die in Religionssachen wenig Parteiung machen und Jeden mehr oder weniger bei seinem Glauben lassen. Es ist hier weder mit der Feder noch mit dem Schwerte je so heftig ums Lutherthum gestritten worden, wie in Deutschland, jenes vor dem dreißigjährigen Kriege und dieses während desselben. Indessen lieben doch die Deutschen dieser Gegenden das Lutherthum um nichts minder, und hängen ihm aufrichtig an, ohne an den Uebertritt zu einer anderen Kirche zu denken. Auch blieben sie alle, sowohl in Curland als in Livland, während der katholisch-polnischen Zeit bei der Religion ihrer Väter. Während der schwedischen Zeit, wo in Livland ein gleichfalls lutherisch-germanisches Brudervolk die Zügel der obersten Leitung des Staats in der Hand hielt, mochte sich die lutherische Kirche natürlich wohl in der vortheilhaftesten Stellung befinden. Die Stellung, in welcher sie durch die russische Eroberung zur griechischen kam, bildet den Gegenstand unserer jetzigen Betrachtung. Der Charakter der griechischen Kirche ist im Ganzen genommen ein milder, versöhnlicher, der theils in dem Wesen und den Institutionen der Kirche selbst, theils in dem Charakter des diese Institutionen tragenden Volks der Russen begründet ist. Die Russen haben, wie die Römer, vor allen Gotteshäusern, auch denen fremder Glaubensbekenntnisse, eine gewisse Hochachtung und Ehrfurcht, vermöge welcher sie sie neben sich dulden. Es haben dieser Toleranz gemäß die Russen noch keinen der vielen von ihnen eroberten Volksstämme mit Gewalt zur griechischen Kirche gebracht. Vielmehr haben sie von jeher in den Gränzen ihres großen Reichs Lutheraner und Katholiken, ja Mohammedaner, sogar Heiden neben sich geduldet und keinen Anstoß daran genommen. Und so ist es im Ganzen genommen bis auf diese Stunde. Es gibt noch jetzt Heiden die Menge in Rußland, die zu taufen Niemanden einfällt. Was das Verhältniß der Russen zu den Lutheranern insbesondere betrifft, so ist dieß von jeher ein sehr freundliches gewesen. Nie haben die Lutheraner den Gräkorussen so feindselig im bitteren Bruderzwiste gegenüber gestanden, wie den Katholiken. Ebenso haben die Russen von jeher viel mehr Zuneigung zu den Lutherischen und daher auch viel mehr Verkehr mit ihnen gehabt, als mit den katholischen Deutschen. Schon in sehr alten russischen Gesetzen werden den lutherischen Deutschen Begünstigungen zugestanden, die man den Katholiken nicht gab. Daher sind auch fast nur lutherisch-deutsche Colonien in das Innere von Rußland übergegangen, und in allen Städten des Reichs steht allemal die katholische Gemeinde, wenn überhaupt eine da ist, der lutherischen, die fast nie fehlt, an Ansehen, Größe und Einfluß nach. Selbst die deutschen Prinzessinnen, welche durch Verheirathung ins russische Kaiserhaus übergingen, waren fast alle ausschließlich lutherischer Religion. Es erklärt sich dieß Alles sehr natürlich, theils aus der geographischen Stellung des lutherisch-deutschen Nordens zu Rußland, theils aus der gegenseitigen größern Duldsamkeit beider Kirchen. Mit dem Katholicismus zerfiel der Gräcismus schon ursprünglich auf jenen erfolglosen Versöhnungsconcilien in Italien. Und ein Anstrich von dem Hasse der griechischen Halbinsel gegen die italienische wurde auf die Russen übertragen. Selbst in den uralten Kämpfen der Polen und Russen wurde durch die nationelle Abneigung die religiöse Feindschaft gestärkt. Nie und nirgend drängte sich der Protestantismus den Russen auf, während der Katholicismus die vielen von den Polen unterjochten russischen Stämme mit sich auf freundlichem oder gewaltsamem Wege zu uniren suchte. Mit den siegreichen Waffen der Polen stritt sonst die römische Kirche in jenen Gegenden siegreich gegen die Russen. In neueren und neuesten Zeiten hat sie gegen die siegenden Russen das ehemals Gewonnene wieder eingebüßt. Es gibt gar manche Russen unter den vornehmen Ständen, die in ihren Gesinnungen und in ihren religiösen Meinungen und Sitten Protestanten geworden sind; sehr wenige von den der Religion der Väter innerlich Abgefallenen – äußerlich abzufallen ist im Lande selbst unmöglich – sind der katholischen Kirche zugefallen. Dem Allem nach war nun die Lage der deutschen Protestanten von jeher in Rußland viel angenehmer und fesselloser als in den meisten andern nichtprotestantischen Ländern. Nie war das Lutherthum in Rußland für Jemanden ein Hinderniß zu den höchsten Ehrenstellen zu gelangen, und wie in diesem

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 163. Augsburg, 11. Juni 1840, S. 1297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_163_18400611/9>, abgerufen am 28.03.2024.