Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 154. Augsburg, 2. Juni 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

im ganzen Lande, das Recht Branntwein zu brennen und zu verkaufen, das sonst in ganz Rußland ein Monopol der Krone ist, das Recht zur Besetzung gewisser Stellen und Aemter. Auch seine ständische Verfassung behielt er im Ganzen und ungeschmälert. Und noch jetzt kommt alle drei Jahre in Mitau der Landtag zusammen, wo unter dem Präsidium eines Landbotenmarschalls der Adel durch Deputirte, welche wie in Polen Landboten genannt werden, repräsentirt ist. Indessen unterliegen alle Beschlüsse des Landtags, alle Aemterverleihungen u. s. w. natürlich der Bestätigung der Regierung. Auch steht an der Spitze der Verwaltung ein vielbedeutender Gouverneur, der von der Regierung eingesetzt wird, aber in der Regel, wie in Livland, immer ein Deutscher ist. Der erste Mann nach dem Gouverneur ist der Landesbevollmächtigte, der den ganzen Adel und seine Gerechtsame in St. Petersburg repräsentirt und Alles, was zwischen Adel und Krone verhandelt werden soll, vermittelt. Da die Statthalterschaftsverfassung Katharinens nie in Kurland Geltung hatte, so rühmen sich die Kurländer, daß in ihren Behörden russische Bestechlichkeit noch nicht so verbreitet sey, wie in Livland, und besonders loben sie den alten deutschen Geist und die Rechtlichkeit ihrer Gerichtshöfe, zumal des Oberhofgerichts in Mitau. Die Rechte der Städte wurden bei der Uebergabe des Landes noch weniger bedacht, als die des ganzen Landes überhaupt. Sie suchten durch eigene Deputationen und Unterhandlungen nachher in St. Petersburg noch so viel als möglich für sich auszuwirken, und obgleich die Freiheit des Handels und der Einfuhr ihnen später genommen wurde, so existiren ihre Magistrate doch immer noch so ziemlich nach deutscher Weise.

Wenn aus allem dem Gesagten nun hervorgeht, daß die Ostseeprovinzen durchaus über die Fortschritte des russischen Wesens in ihren Landen unzufrieden, ja darüber beständig allarmirt und höchst schmerzlich besorgt sind - wenn sie darnach dem russischen Wesen und System abhold sind, und sich sogar über mancherlei Dinge scandalisiren, über die man sogar im eigentlichen Deutschland geduldiger und milder urtheilen würde, so darf man sich doch auf keine Weise einbilden, daß diese Abneigung gegen Rußland etwas mehr als bloß nationelle Abneigung wegen der nationellen Charakterverschiedenheit - und bloß provincielle Abneigung wegen der Schmälerung provincieller Privilegien - sey. Man darf nicht glauben, daß diese Abneigung aus einer treulosen Denkweise gegen die russische Regierung, aus einer revolutionären Tendenz, aus einer politischen und patriotischen Sympathie für Deutschland entspringe. Nichts weniger als das.

Um diesen Punkt genauer zu beleuchten, ist es zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Deutschen überall die loyalsten Leute von der Welt sind. Sie hängen dem Bestehenden an, und zeigen sich überall treu gesinnt der Regierung und ihrer Obrigkeit, die Veranlassung ihrer Einsetzung mag seyn welche sie will. Die Ostseeprovincianer sind daher die loyalsten und treuesten Unterthanen des Kaisers von Rußland, und wenn sie auch gegen das System der Regierung, gegen die Eigenheiten der Nation klagen, so verehren sie doch den Kaiser als ihren mächtigen Beschützer, als ihren gütigen Herrn, was er denn in der That auch ist, da er ihnen immer seinen Schutz angedeihen läßt gegen die Zumuthungen und Anforderungen der altrussischen Partei.

An eine Sympathie für das deutsche Vaterland, für den deutschen Bund, oder für irgend einen deutschen Staat darf man auf keine Weise glauben, und ein deutscher Patriot, der, nachdem er die Klagen der Livländer über das undeutsche Russenthum angehört, ihnen um den Hals fallen und rufen wollte: "Brüder! reicht uns die Hand, einigt euch mit dem Bunde der deutschen Muttervölker", würde nicht wenig Gelegenheit finden, sich über die kalte Erwiederung der Umarmung zu verwundern. Der einzige deutsche Staat, an den man hier denken könnte, wäre Preußen. Die Nachbarschaft Preußens, die Aehnlichkeit der Verhältnisse und der Entstehung, die Gemeinsamkeit der historischen Erinnerungen beider Länder, die ehemals in den Zeiten des deutschen Ordens für gemeinsame Interessen stritten und zu einem politischen Ganzen vereinigt waren - dieß Alles könnte für Preußen stimmen. Aber großer Gott, wie erstaunlich weit sind diese beiden ehemals auf dieselbe Weise entstandenen Staaten im Laufe der Jahrhunderte auseinander gegangen! Preußen ist in allen Stücken mit der Zeit fortgeschritten, hat die Stände alle gleich gemacht, hat den Adel beschränkt, die mittelalterlichen Privilegien der Städte beseitigt, hat die Juden in ihre menschlichen Rechte gesetzt, hat die Zünfte aufgehoben, hat die Leibeigenschaft mit der Wurzel ausgerottet, sogar die Grafen und Barone zur Steuer-, Dienst- und Recrutenpflichtigkeit gezogen, und endlich hat es auch die slavischen und lettischen Völker des Landes völlig germanisirt. In den Ostseeprovinzen dagegen besteht in hundertfacher Hinsicht noch mittelalterlicher Zustand. Die Städte haben ihre Senatoren und hochweisen Räthe. Der Adel ist in Wesen, Sitten, Berechtigung vom Bürger unterschieden, wie Feuer von Wasser, frei von Abgaben, frei von Soldatenpflicht und, trotz der nominellen Aufhebung der Leibeigenschaft, unumschränkter Herr seiner Leute und Bauern. Die alte Lehensherrlichkeit prangt hier noch in ziemlich unversehrter Pracht, die Litteraten stehen dem Adel gegenüber wie zu Luthers Zeit, und es gibt kein Stück deutschen Landes mehr in der Welt, dessen Zustand so sehr dem Mittelalter gliche, als die drei deutschen ostseeischen Herzogthümer.

Es ist demnach ausgemacht, daß preußische Gesetzgebung hier Niemanden zusagen würde. Selbst der Bauer würde sich gegen die preußischen Schulmeister empören. Und der baltische Adel denkt, wenn man ihm Preußen ans Herz legen will, nur an das, was dort dem Adel geschah, durch die Beschränkung der Gutsherrschaft, durch die Beknappung seiner Vorrechte, durch die Hebung der Beamtenaristokratie, durch tausend andere Dinge. Was würde ein livländischer Edelmann thun, wenn man ihm vorschlüge, im preußischen Landsturm neben dem Candidaten der Theologie, neben den Schneidern und Krämern das Gewehr zu schultern? Er würde über diese Idee sich todt grämen oder todt lachen. Nein, das ist gewiß, lieber Rußland mit all seinen schlechten Gerichten, mit all seiner Bestechlichkeit, seiner Antideutschheit, seinem Haß gegen provincielle Abschließung, aber auch mit seinen geringen Steuern, mit seinem großen Reiche, mit seiner starken, Vertrauen erweckenden Macht, als Preußen mit seiner Ordnung, seiner gleichwaltenden Gerechtigkeit, seinen hohen Zöllen, seiner Schulmeisterei und Vormundschaft. Mit Preußen wäre nichts zu machen, nicht zu spaßen. Seine Vernunft litte keine Einwendung. Mit Rußland hilft man sich: man cabalirt, man besticht, man spielt Intriguen, man petitionirt, kurz, man schlägt sich durch; man stößt hie und da an, man bekommt unversehene Püffe, aber man erhält sich und hat Mittel sich zu recreiren - faute de mieux Rußland hat man also lieber als alle andern deutschen Staaten zusammengenommen.

Die Kurländer sind allerdings in Petersburg ein wenig anrüchig, als unruhige Köpfe, als antirussische Deutschthümler oder gar Polenfreunde, ja in Moskau geradezu als Buntowtschiki (Verschwörer). Allerdings sind die kurischen Herren ein wenig stolz, etwas auffahrend und hitzig, halten mehr als die Livländer auf ihre persönlichen Rechte, sprechen etwas freier

im ganzen Lande, das Recht Branntwein zu brennen und zu verkaufen, das sonst in ganz Rußland ein Monopol der Krone ist, das Recht zur Besetzung gewisser Stellen und Aemter. Auch seine ständische Verfassung behielt er im Ganzen und ungeschmälert. Und noch jetzt kommt alle drei Jahre in Mitau der Landtag zusammen, wo unter dem Präsidium eines Landbotenmarschalls der Adel durch Deputirte, welche wie in Polen Landboten genannt werden, repräsentirt ist. Indessen unterliegen alle Beschlüsse des Landtags, alle Aemterverleihungen u. s. w. natürlich der Bestätigung der Regierung. Auch steht an der Spitze der Verwaltung ein vielbedeutender Gouverneur, der von der Regierung eingesetzt wird, aber in der Regel, wie in Livland, immer ein Deutscher ist. Der erste Mann nach dem Gouverneur ist der Landesbevollmächtigte, der den ganzen Adel und seine Gerechtsame in St. Petersburg repräsentirt und Alles, was zwischen Adel und Krone verhandelt werden soll, vermittelt. Da die Statthalterschaftsverfassung Katharinens nie in Kurland Geltung hatte, so rühmen sich die Kurländer, daß in ihren Behörden russische Bestechlichkeit noch nicht so verbreitet sey, wie in Livland, und besonders loben sie den alten deutschen Geist und die Rechtlichkeit ihrer Gerichtshöfe, zumal des Oberhofgerichts in Mitau. Die Rechte der Städte wurden bei der Uebergabe des Landes noch weniger bedacht, als die des ganzen Landes überhaupt. Sie suchten durch eigene Deputationen und Unterhandlungen nachher in St. Petersburg noch so viel als möglich für sich auszuwirken, und obgleich die Freiheit des Handels und der Einfuhr ihnen später genommen wurde, so existiren ihre Magistrate doch immer noch so ziemlich nach deutscher Weise.

Wenn aus allem dem Gesagten nun hervorgeht, daß die Ostseeprovinzen durchaus über die Fortschritte des russischen Wesens in ihren Landen unzufrieden, ja darüber beständig allarmirt und höchst schmerzlich besorgt sind – wenn sie darnach dem russischen Wesen und System abhold sind, und sich sogar über mancherlei Dinge scandalisiren, über die man sogar im eigentlichen Deutschland geduldiger und milder urtheilen würde, so darf man sich doch auf keine Weise einbilden, daß diese Abneigung gegen Rußland etwas mehr als bloß nationelle Abneigung wegen der nationellen Charakterverschiedenheit – und bloß provincielle Abneigung wegen der Schmälerung provincieller Privilegien – sey. Man darf nicht glauben, daß diese Abneigung aus einer treulosen Denkweise gegen die russische Regierung, aus einer revolutionären Tendenz, aus einer politischen und patriotischen Sympathie für Deutschland entspringe. Nichts weniger als das.

Um diesen Punkt genauer zu beleuchten, ist es zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Deutschen überall die loyalsten Leute von der Welt sind. Sie hängen dem Bestehenden an, und zeigen sich überall treu gesinnt der Regierung und ihrer Obrigkeit, die Veranlassung ihrer Einsetzung mag seyn welche sie will. Die Ostseeprovincianer sind daher die loyalsten und treuesten Unterthanen des Kaisers von Rußland, und wenn sie auch gegen das System der Regierung, gegen die Eigenheiten der Nation klagen, so verehren sie doch den Kaiser als ihren mächtigen Beschützer, als ihren gütigen Herrn, was er denn in der That auch ist, da er ihnen immer seinen Schutz angedeihen läßt gegen die Zumuthungen und Anforderungen der altrussischen Partei.

An eine Sympathie für das deutsche Vaterland, für den deutschen Bund, oder für irgend einen deutschen Staat darf man auf keine Weise glauben, und ein deutscher Patriot, der, nachdem er die Klagen der Livländer über das undeutsche Russenthum angehört, ihnen um den Hals fallen und rufen wollte: „Brüder! reicht uns die Hand, einigt euch mit dem Bunde der deutschen Muttervölker“, würde nicht wenig Gelegenheit finden, sich über die kalte Erwiederung der Umarmung zu verwundern. Der einzige deutsche Staat, an den man hier denken könnte, wäre Preußen. Die Nachbarschaft Preußens, die Aehnlichkeit der Verhältnisse und der Entstehung, die Gemeinsamkeit der historischen Erinnerungen beider Länder, die ehemals in den Zeiten des deutschen Ordens für gemeinsame Interessen stritten und zu einem politischen Ganzen vereinigt waren – dieß Alles könnte für Preußen stimmen. Aber großer Gott, wie erstaunlich weit sind diese beiden ehemals auf dieselbe Weise entstandenen Staaten im Laufe der Jahrhunderte auseinander gegangen! Preußen ist in allen Stücken mit der Zeit fortgeschritten, hat die Stände alle gleich gemacht, hat den Adel beschränkt, die mittelalterlichen Privilegien der Städte beseitigt, hat die Juden in ihre menschlichen Rechte gesetzt, hat die Zünfte aufgehoben, hat die Leibeigenschaft mit der Wurzel ausgerottet, sogar die Grafen und Barone zur Steuer-, Dienst- und Recrutenpflichtigkeit gezogen, und endlich hat es auch die slavischen und lettischen Völker des Landes völlig germanisirt. In den Ostseeprovinzen dagegen besteht in hundertfacher Hinsicht noch mittelalterlicher Zustand. Die Städte haben ihre Senatoren und hochweisen Räthe. Der Adel ist in Wesen, Sitten, Berechtigung vom Bürger unterschieden, wie Feuer von Wasser, frei von Abgaben, frei von Soldatenpflicht und, trotz der nominellen Aufhebung der Leibeigenschaft, unumschränkter Herr seiner Leute und Bauern. Die alte Lehensherrlichkeit prangt hier noch in ziemlich unversehrter Pracht, die Litteraten stehen dem Adel gegenüber wie zu Luthers Zeit, und es gibt kein Stück deutschen Landes mehr in der Welt, dessen Zustand so sehr dem Mittelalter gliche, als die drei deutschen ostseeischen Herzogthümer.

Es ist demnach ausgemacht, daß preußische Gesetzgebung hier Niemanden zusagen würde. Selbst der Bauer würde sich gegen die preußischen Schulmeister empören. Und der baltische Adel denkt, wenn man ihm Preußen ans Herz legen will, nur an das, was dort dem Adel geschah, durch die Beschränkung der Gutsherrschaft, durch die Beknappung seiner Vorrechte, durch die Hebung der Beamtenaristokratie, durch tausend andere Dinge. Was würde ein livländischer Edelmann thun, wenn man ihm vorschlüge, im preußischen Landsturm neben dem Candidaten der Theologie, neben den Schneidern und Krämern das Gewehr zu schultern? Er würde über diese Idee sich todt grämen oder todt lachen. Nein, das ist gewiß, lieber Rußland mit all seinen schlechten Gerichten, mit all seiner Bestechlichkeit, seiner Antideutschheit, seinem Haß gegen provincielle Abschließung, aber auch mit seinen geringen Steuern, mit seinem großen Reiche, mit seiner starken, Vertrauen erweckenden Macht, als Preußen mit seiner Ordnung, seiner gleichwaltenden Gerechtigkeit, seinen hohen Zöllen, seiner Schulmeisterei und Vormundschaft. Mit Preußen wäre nichts zu machen, nicht zu spaßen. Seine Vernunft litte keine Einwendung. Mit Rußland hilft man sich: man cabalirt, man besticht, man spielt Intriguen, man petitionirt, kurz, man schlägt sich durch; man stößt hie und da an, man bekommt unversehene Püffe, aber man erhält sich und hat Mittel sich zu recreiren – faute de mieux Rußland hat man also lieber als alle andern deutschen Staaten zusammengenommen.

Die Kurländer sind allerdings in Petersburg ein wenig anrüchig, als unruhige Köpfe, als antirussische Deutschthümler oder gar Polenfreunde, ja in Moskau geradezu als Buntowtschiki (Verschwörer). Allerdings sind die kurischen Herren ein wenig stolz, etwas auffahrend und hitzig, halten mehr als die Livländer auf ihre persönlichen Rechte, sprechen etwas freier

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="1226"/>
im ganzen Lande, das Recht Branntwein zu brennen und zu verkaufen, das sonst in ganz Rußland ein Monopol der Krone ist, das Recht zur Besetzung gewisser Stellen und Aemter. Auch seine ständische Verfassung behielt er im Ganzen und ungeschmälert. Und noch jetzt kommt alle drei Jahre in Mitau der Landtag zusammen, wo unter dem Präsidium eines Landbotenmarschalls der Adel durch Deputirte, welche wie in Polen Landboten genannt werden, repräsentirt ist. Indessen unterliegen alle Beschlüsse des Landtags, alle Aemterverleihungen u. s. w. natürlich der Bestätigung der Regierung. Auch steht an der Spitze der Verwaltung ein vielbedeutender Gouverneur, der von der Regierung eingesetzt wird, aber in der Regel, wie in Livland, immer ein Deutscher ist. Der erste Mann nach dem Gouverneur ist der Landesbevollmächtigte, der den ganzen Adel und seine Gerechtsame in St. Petersburg repräsentirt und Alles, was zwischen Adel und Krone verhandelt werden soll, vermittelt. Da die Statthalterschaftsverfassung Katharinens nie in Kurland Geltung hatte, so rühmen sich die Kurländer, daß in ihren Behörden russische Bestechlichkeit noch nicht so verbreitet sey, wie in Livland, und besonders loben sie den alten deutschen Geist und die Rechtlichkeit ihrer Gerichtshöfe, zumal des Oberhofgerichts in Mitau. Die Rechte der Städte wurden bei der Uebergabe des Landes noch weniger bedacht, als die des ganzen Landes überhaupt. Sie suchten durch eigene Deputationen und Unterhandlungen nachher in St. Petersburg noch so viel als möglich für sich auszuwirken, und obgleich die Freiheit des Handels und der Einfuhr ihnen später genommen wurde, so existiren ihre Magistrate doch immer noch so ziemlich nach deutscher Weise.</p><lb/>
        <p>Wenn aus allem dem Gesagten nun hervorgeht, daß die Ostseeprovinzen durchaus über die Fortschritte des russischen Wesens in ihren Landen unzufrieden, ja darüber beständig allarmirt und höchst schmerzlich besorgt sind &#x2013; wenn sie darnach dem russischen Wesen und System abhold sind, und sich sogar über mancherlei Dinge scandalisiren, über die man sogar im eigentlichen Deutschland geduldiger und milder urtheilen würde, so darf man sich doch auf keine Weise einbilden, daß diese Abneigung gegen Rußland etwas mehr als bloß nationelle Abneigung wegen der nationellen Charakterverschiedenheit &#x2013; und bloß provincielle Abneigung wegen der Schmälerung provincieller Privilegien &#x2013; sey. Man darf nicht glauben, daß diese Abneigung aus einer treulosen Denkweise gegen die russische Regierung, aus einer revolutionären Tendenz, aus einer politischen und patriotischen Sympathie für Deutschland entspringe. Nichts weniger als das.</p><lb/>
        <p>Um diesen Punkt genauer zu beleuchten, ist es zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Deutschen überall die loyalsten Leute von der Welt sind. Sie hängen dem Bestehenden an, und zeigen sich überall treu gesinnt der Regierung und ihrer Obrigkeit, die Veranlassung ihrer Einsetzung mag seyn welche sie will. Die Ostseeprovincianer sind daher die loyalsten und treuesten Unterthanen des Kaisers von Rußland, und wenn sie auch gegen das System der Regierung, gegen die Eigenheiten der Nation klagen, so verehren sie doch den Kaiser als ihren mächtigen Beschützer, als ihren gütigen Herrn, was er denn in der That auch ist, da er ihnen immer seinen Schutz angedeihen läßt gegen die Zumuthungen und Anforderungen der altrussischen Partei.</p><lb/>
        <p>An eine Sympathie für das deutsche Vaterland, für den deutschen Bund, oder für irgend einen deutschen Staat darf man auf keine Weise glauben, und ein deutscher Patriot, der, nachdem er die Klagen der Livländer über das undeutsche Russenthum angehört, ihnen um den Hals fallen und rufen wollte: &#x201E;Brüder! reicht uns die Hand, einigt euch mit dem Bunde der deutschen Muttervölker&#x201C;, würde nicht wenig Gelegenheit finden, sich über die kalte Erwiederung der Umarmung zu verwundern. Der einzige deutsche Staat, an den man hier denken könnte, wäre Preußen. Die Nachbarschaft Preußens, die Aehnlichkeit der Verhältnisse und der Entstehung, die Gemeinsamkeit der historischen Erinnerungen beider Länder, die ehemals in den Zeiten des deutschen Ordens für gemeinsame Interessen stritten und zu einem politischen Ganzen vereinigt waren &#x2013; dieß Alles könnte für Preußen stimmen. Aber großer Gott, wie erstaunlich weit sind diese beiden ehemals auf dieselbe Weise entstandenen Staaten im Laufe der Jahrhunderte auseinander gegangen! Preußen ist in allen Stücken mit der Zeit fortgeschritten, hat die Stände alle gleich gemacht, hat den Adel beschränkt, die mittelalterlichen Privilegien der Städte beseitigt, hat die Juden in ihre menschlichen Rechte gesetzt, hat die Zünfte aufgehoben, hat die Leibeigenschaft mit der Wurzel ausgerottet, sogar die Grafen und Barone zur Steuer-, Dienst- und Recrutenpflichtigkeit gezogen, und endlich hat es auch die slavischen und lettischen Völker des Landes völlig germanisirt. In den Ostseeprovinzen dagegen besteht in hundertfacher Hinsicht noch mittelalterlicher Zustand. Die Städte haben ihre Senatoren und hochweisen Räthe. Der Adel ist in Wesen, Sitten, Berechtigung vom Bürger unterschieden, wie Feuer von Wasser, frei von Abgaben, frei von Soldatenpflicht und, trotz der nominellen Aufhebung der Leibeigenschaft, unumschränkter Herr seiner Leute und Bauern. Die alte Lehensherrlichkeit prangt hier noch in ziemlich unversehrter Pracht, die Litteraten stehen dem Adel gegenüber wie zu Luthers Zeit, und es gibt kein Stück deutschen Landes mehr in der Welt, dessen Zustand so sehr dem Mittelalter gliche, als die drei deutschen ostseeischen Herzogthümer.</p><lb/>
        <p>Es ist demnach ausgemacht, daß preußische Gesetzgebung hier Niemanden zusagen würde. Selbst der Bauer würde sich gegen die preußischen Schulmeister empören. Und der baltische Adel denkt, wenn man ihm Preußen ans Herz legen will, nur an das, was dort dem Adel geschah, durch die Beschränkung der Gutsherrschaft, durch die Beknappung seiner Vorrechte, durch die Hebung der Beamtenaristokratie, durch tausend andere Dinge. Was würde ein livländischer Edelmann thun, wenn man ihm vorschlüge, im preußischen Landsturm neben dem Candidaten der Theologie, neben den Schneidern und Krämern das Gewehr zu schultern? Er würde über diese Idee sich todt grämen oder todt lachen. Nein, das ist gewiß, lieber Rußland mit all seinen schlechten Gerichten, mit all seiner Bestechlichkeit, seiner Antideutschheit, seinem Haß gegen provincielle Abschließung, aber auch mit seinen geringen Steuern, mit seinem großen Reiche, mit seiner starken, Vertrauen erweckenden Macht, als Preußen mit seiner Ordnung, seiner gleichwaltenden Gerechtigkeit, seinen hohen Zöllen, seiner Schulmeisterei und Vormundschaft. Mit Preußen wäre nichts zu machen, nicht zu spaßen. Seine Vernunft litte keine Einwendung. Mit Rußland hilft man sich: man cabalirt, man besticht, man spielt Intriguen, man petitionirt, kurz, man schlägt sich durch; man stößt hie und da an, man bekommt unversehene Püffe, aber man erhält sich und hat Mittel sich zu recreiren &#x2013; faute de mieux Rußland hat man also lieber als alle andern deutschen Staaten zusammengenommen.</p><lb/>
        <p>Die Kurländer sind allerdings in Petersburg ein wenig anrüchig, als unruhige Köpfe, als antirussische Deutschthümler oder gar Polenfreunde, ja in Moskau geradezu als Buntowtschiki (Verschwörer). Allerdings sind die kurischen Herren ein wenig stolz, etwas auffahrend und hitzig, halten mehr als die Livländer auf ihre persönlichen Rechte, sprechen etwas freier<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1226/0010] im ganzen Lande, das Recht Branntwein zu brennen und zu verkaufen, das sonst in ganz Rußland ein Monopol der Krone ist, das Recht zur Besetzung gewisser Stellen und Aemter. Auch seine ständische Verfassung behielt er im Ganzen und ungeschmälert. Und noch jetzt kommt alle drei Jahre in Mitau der Landtag zusammen, wo unter dem Präsidium eines Landbotenmarschalls der Adel durch Deputirte, welche wie in Polen Landboten genannt werden, repräsentirt ist. Indessen unterliegen alle Beschlüsse des Landtags, alle Aemterverleihungen u. s. w. natürlich der Bestätigung der Regierung. Auch steht an der Spitze der Verwaltung ein vielbedeutender Gouverneur, der von der Regierung eingesetzt wird, aber in der Regel, wie in Livland, immer ein Deutscher ist. Der erste Mann nach dem Gouverneur ist der Landesbevollmächtigte, der den ganzen Adel und seine Gerechtsame in St. Petersburg repräsentirt und Alles, was zwischen Adel und Krone verhandelt werden soll, vermittelt. Da die Statthalterschaftsverfassung Katharinens nie in Kurland Geltung hatte, so rühmen sich die Kurländer, daß in ihren Behörden russische Bestechlichkeit noch nicht so verbreitet sey, wie in Livland, und besonders loben sie den alten deutschen Geist und die Rechtlichkeit ihrer Gerichtshöfe, zumal des Oberhofgerichts in Mitau. Die Rechte der Städte wurden bei der Uebergabe des Landes noch weniger bedacht, als die des ganzen Landes überhaupt. Sie suchten durch eigene Deputationen und Unterhandlungen nachher in St. Petersburg noch so viel als möglich für sich auszuwirken, und obgleich die Freiheit des Handels und der Einfuhr ihnen später genommen wurde, so existiren ihre Magistrate doch immer noch so ziemlich nach deutscher Weise. Wenn aus allem dem Gesagten nun hervorgeht, daß die Ostseeprovinzen durchaus über die Fortschritte des russischen Wesens in ihren Landen unzufrieden, ja darüber beständig allarmirt und höchst schmerzlich besorgt sind – wenn sie darnach dem russischen Wesen und System abhold sind, und sich sogar über mancherlei Dinge scandalisiren, über die man sogar im eigentlichen Deutschland geduldiger und milder urtheilen würde, so darf man sich doch auf keine Weise einbilden, daß diese Abneigung gegen Rußland etwas mehr als bloß nationelle Abneigung wegen der nationellen Charakterverschiedenheit – und bloß provincielle Abneigung wegen der Schmälerung provincieller Privilegien – sey. Man darf nicht glauben, daß diese Abneigung aus einer treulosen Denkweise gegen die russische Regierung, aus einer revolutionären Tendenz, aus einer politischen und patriotischen Sympathie für Deutschland entspringe. Nichts weniger als das. Um diesen Punkt genauer zu beleuchten, ist es zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Deutschen überall die loyalsten Leute von der Welt sind. Sie hängen dem Bestehenden an, und zeigen sich überall treu gesinnt der Regierung und ihrer Obrigkeit, die Veranlassung ihrer Einsetzung mag seyn welche sie will. Die Ostseeprovincianer sind daher die loyalsten und treuesten Unterthanen des Kaisers von Rußland, und wenn sie auch gegen das System der Regierung, gegen die Eigenheiten der Nation klagen, so verehren sie doch den Kaiser als ihren mächtigen Beschützer, als ihren gütigen Herrn, was er denn in der That auch ist, da er ihnen immer seinen Schutz angedeihen läßt gegen die Zumuthungen und Anforderungen der altrussischen Partei. An eine Sympathie für das deutsche Vaterland, für den deutschen Bund, oder für irgend einen deutschen Staat darf man auf keine Weise glauben, und ein deutscher Patriot, der, nachdem er die Klagen der Livländer über das undeutsche Russenthum angehört, ihnen um den Hals fallen und rufen wollte: „Brüder! reicht uns die Hand, einigt euch mit dem Bunde der deutschen Muttervölker“, würde nicht wenig Gelegenheit finden, sich über die kalte Erwiederung der Umarmung zu verwundern. Der einzige deutsche Staat, an den man hier denken könnte, wäre Preußen. Die Nachbarschaft Preußens, die Aehnlichkeit der Verhältnisse und der Entstehung, die Gemeinsamkeit der historischen Erinnerungen beider Länder, die ehemals in den Zeiten des deutschen Ordens für gemeinsame Interessen stritten und zu einem politischen Ganzen vereinigt waren – dieß Alles könnte für Preußen stimmen. Aber großer Gott, wie erstaunlich weit sind diese beiden ehemals auf dieselbe Weise entstandenen Staaten im Laufe der Jahrhunderte auseinander gegangen! Preußen ist in allen Stücken mit der Zeit fortgeschritten, hat die Stände alle gleich gemacht, hat den Adel beschränkt, die mittelalterlichen Privilegien der Städte beseitigt, hat die Juden in ihre menschlichen Rechte gesetzt, hat die Zünfte aufgehoben, hat die Leibeigenschaft mit der Wurzel ausgerottet, sogar die Grafen und Barone zur Steuer-, Dienst- und Recrutenpflichtigkeit gezogen, und endlich hat es auch die slavischen und lettischen Völker des Landes völlig germanisirt. In den Ostseeprovinzen dagegen besteht in hundertfacher Hinsicht noch mittelalterlicher Zustand. Die Städte haben ihre Senatoren und hochweisen Räthe. Der Adel ist in Wesen, Sitten, Berechtigung vom Bürger unterschieden, wie Feuer von Wasser, frei von Abgaben, frei von Soldatenpflicht und, trotz der nominellen Aufhebung der Leibeigenschaft, unumschränkter Herr seiner Leute und Bauern. Die alte Lehensherrlichkeit prangt hier noch in ziemlich unversehrter Pracht, die Litteraten stehen dem Adel gegenüber wie zu Luthers Zeit, und es gibt kein Stück deutschen Landes mehr in der Welt, dessen Zustand so sehr dem Mittelalter gliche, als die drei deutschen ostseeischen Herzogthümer. Es ist demnach ausgemacht, daß preußische Gesetzgebung hier Niemanden zusagen würde. Selbst der Bauer würde sich gegen die preußischen Schulmeister empören. Und der baltische Adel denkt, wenn man ihm Preußen ans Herz legen will, nur an das, was dort dem Adel geschah, durch die Beschränkung der Gutsherrschaft, durch die Beknappung seiner Vorrechte, durch die Hebung der Beamtenaristokratie, durch tausend andere Dinge. Was würde ein livländischer Edelmann thun, wenn man ihm vorschlüge, im preußischen Landsturm neben dem Candidaten der Theologie, neben den Schneidern und Krämern das Gewehr zu schultern? Er würde über diese Idee sich todt grämen oder todt lachen. Nein, das ist gewiß, lieber Rußland mit all seinen schlechten Gerichten, mit all seiner Bestechlichkeit, seiner Antideutschheit, seinem Haß gegen provincielle Abschließung, aber auch mit seinen geringen Steuern, mit seinem großen Reiche, mit seiner starken, Vertrauen erweckenden Macht, als Preußen mit seiner Ordnung, seiner gleichwaltenden Gerechtigkeit, seinen hohen Zöllen, seiner Schulmeisterei und Vormundschaft. Mit Preußen wäre nichts zu machen, nicht zu spaßen. Seine Vernunft litte keine Einwendung. Mit Rußland hilft man sich: man cabalirt, man besticht, man spielt Intriguen, man petitionirt, kurz, man schlägt sich durch; man stößt hie und da an, man bekommt unversehene Püffe, aber man erhält sich und hat Mittel sich zu recreiren – faute de mieux Rußland hat man also lieber als alle andern deutschen Staaten zusammengenommen. Die Kurländer sind allerdings in Petersburg ein wenig anrüchig, als unruhige Köpfe, als antirussische Deutschthümler oder gar Polenfreunde, ja in Moskau geradezu als Buntowtschiki (Verschwörer). Allerdings sind die kurischen Herren ein wenig stolz, etwas auffahrend und hitzig, halten mehr als die Livländer auf ihre persönlichen Rechte, sprechen etwas freier

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_154_18400602
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_154_18400602/10
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 154. Augsburg, 2. Juni 1840, S. 1226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_154_18400602/10>, abgerufen am 29.03.2024.