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Allgemeine Zeitung. Nr. 134. Augsburg, 13. Mai 1840.

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einströmen, gewinnen hier den Russen jährlich mehr Freunde, so wie die 20 Millionen, welche ausströmen, jährlich mehr Chinesen von ihnen abhängig machen. Die russische Regierung wünscht den Handel, während die chinesische ihm ungünstig gesinnt ist und von ihr eher Hemmungen zu erwarten sind, als von der russischen. Man kann daher jene vom russischen Handel Vortheil ziehenden chinesischen Unterthanen gleichsam als eine wachsende russische Partei in China betrachten, die im Fall der Noth für Rußland gegen die einheimische Regierung auftreten wird, eben so wie im Süden des Reichs eine englische Partei existirt, welche gegen die Maaßregeln der Regierung in Bezug auf die Engländer Oposition macht.

Die Bevölkerung des ganzen südlichen Sibiriens ist in einem merkwürdigen Aufschwung begriffen. Diese Gegenden sind wahrscheinlich noch nie, so lange die Welt steht, so voll Leben und Thätigkeit gewesen, wie in diesem Augenblick; sie füllen sich mehr und mehr mit Menschen, und zwar steigen diese in einer Proportion wie nur wenige Gegenden des Erdballs, namentlich diejenige Provinz, welche mit China in nächster und innigster Berührung steht, die obern Gegenden der Zuflüsse des Jenisei, der Umgegend von Irkutzk. Diese Stadt selbst hat ihre Größe und Bevölkerung seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts vervierfacht. Im Jahr 1784 hatte sie 11,000 Einwohner; im Jahr 1810 schon 30,000; im Jahr 1830 über 40,000. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie jetzt nahe an 50,000 Einwohner zählt. Sie ist im Norden der chinesischen Mauer die größte Stadt im ganzen nördlichen Asien. Eine so reißend in der Mitte des Landes anwachsende Bevölkerung wird den Chinesen nicht wenig bedrohlich. Irkutzk hat keine Verbindung mit dem Meere als die sehr unbequeme durch das Lena-Gebiet und über die ochozkischen Berge nach Kamptschatka. Vermittelst des ihr nahen schiffbaren Amur würde die Verbindung mit dem Meere weit leichter und vortheilhafter seyn. Die Gouverneure von Irkutzk beherrschen schon das obere Amurgebiet. Die Vorfahren der Irkutzker befuhren einst schon den ganzen Strom. Ihre Neigung zum Besitz dieses Gebiets ist eine sehr natürliche. Da nun bei der jetzigen Lage der Dinge Revolutionen in China unvermeidlich sind, da die mandschurischen Gewalthaber in China so verhaßt als schwach geworden sind, so wäre eine solche den Russen sehr vortheilhafte Acquisition des Amurlandes oder der alten Mandschuren-Heimath selbst in China gar nicht unpopulär. Die Russen könnten sich dadurch eine bedeutende Partei unter dem chinesischen Volk machen, indem sie als dessen Befreier von den Mandschuren aufträten und sprächen: "wir nehmen das Land eurer Unterdrücker in Besitz, erhebt euch mit uns gegen dieselben."

Die Russen stehen auf diese Weise in einem ungeheuern Vortheil gegen die Chinesen, die ihrerseits, im Fall eines feindlichen Zusammenstoßens, gar keine erdenkliche Aussicht hätten, unter den Russen Uneinigkeit zu stiften. Die Russen haben aber auch außerdem, in jeder andern Hinsicht, alle Vortheile für sich, zunächst den der bessern Kenntniß des Landes ihrer Nachbarn. Die Chinesen kommen nie nach Rußland hinüber, und haben nur eine undeutliche Vorstellung von der Beschaffenheit des Reichs, die aber doch bestimmt genug ist, um sie dessen große Macht fürchten zu lassen. Die Russen dagegen haben durch ihre beständigen Missionen nach Peking und durch die von ihren Gesandten und Missionären publicirten Schriften eine sehr werthvolle praktische und wissenschaftliche Kenntniß des Weges nach Peking und der Beschaffenheit des Landes erlangt.

Auch in der Kenntniß der Sprache werden die Chinesen von den Russen überflügelt. Die Russen lernen die chinesische und mandschurische Sprache in Peking mit Eifer, und besitzen jetzt eine Menge von Individuen, die derselben mächtig sind, während die Chinesen, die allerdings auch in ihrer Hauptstadt eine Schule haben, in welcher ihre Landsleute russisch lernen, so ungeschickt in der Erlernung ihrer Sprache sind, daß bei allen vorkommenden Fällen gewöhnlich die Russen Dolmetscher machen müssen, weil unter den Chinesen keine tauglichen Subjecte gefunden werden.

Allerdings sind die russischen Kriegsmittel im Norden China's, nach europäischem Maaßstab, unbedeutend: ihre ganze hier disponible Macht mag sich auf 30,000 Mann belaufen. Allein für ein Reich wie China, das schon im vorigen Jahrhundert Lord Clive der englischen Compagnie mit 20,000 Mann zu robern versprach, ist diese Macht bedeutend genug. Die Russen sind den Chinesen gegenüber doppelt schrecklich, erstlich als Krieger von europäisch-militärischer Bildung, dann als solche, die des Krieges in den Steppen und mit den Nomaden eben so gewohnt sind, wie diese Nomaden selbst, von denen sie einen Theil in ihren Regimentern vertheilten. Seit der Theilung der Mongolei unter China und Rußland, und seit der von China ausgehenden Zerstückelung der Jahrhunderte lang bestehenden politischen Einheit der Mongolei, gibt es keine bedeutende Mittelmacht mehr zwischen Rußland und China. *) Rußland, das sich immer mehr und mehr mongolische Völker assimilirt, tritt mehr und mehr an die Stelle der Herrschaft der Söhne und Enkel Dschingis und Timurs, und China's Mauer wird gegen diese wunderbar geänderten Barbaren des Nordens das Land wenig mehr schützen. Wenn schon die Mandschuren, deren ursprüngliche Streitkräfte nicht größer waren, als die der sibirischen Russen jetzt seyn mögen, im Stande waren, die verweichlichte Ming-Dynastie zu entthronen, so würde den disciplinirten Russen es nicht schwer fallen, die ihrerseits verweichlichte Ta-thing-Dynastie zu überwältigen.

Alle diese Umstände zusammengenommen müssen den Chinesen Rußland als einen höchst gewichtigen Freund und als einen höchst furchtbaren Feind erscheinen lassen. Bisher haben sie freilich noch immer die Miene angenommen, als erkennten sie dieß wenig an. Aber vielleicht stehen bei der jetzigen Verwicklung mit England Ereignisse bevor, die sehr geeignet seyn möchten, den Chinesen über Rußland endlich völlig die Augen zu öffnen. Wie wenn England, das sich jetzt mächtig gegen China rüstet, in Südchina festen Fuß faßte? England ist jetzt in ganz Asien durch seine neuen Erfolge übermüthig und siegestrunken - wenn es den Plan des Lords Clive oder doch einen Theil davon ausführte? Würde Rußland dem ruhig zusehen, oder würde es nicht höchst wahrscheinlich gegen eine solche kriegerische Unternehmung der Engländer in Südchina mit einer Expedition am Amur ebenso protestiren, wie gegen die afghanische Unternehmung der Engländer mit seinem gewiß nicht aufgegebenen Zuge nach Chiwa? Eben so wie Afghanistan und Turkestan zerfällt auch China in ein mit russischen und ein mit englischen Waaren versehenes Gebiet; und eben so wie in Afghanistan und Turkestan muß Rußland auch in China seinen Handelsleuten ihr Gebiet mit kriegerischer Macht beschützen, wenn die Engländer es mit Gewalt bedrohen.

Die Russen haben im Norden von China den Hafen Ochotzk, wo sie einige nach europäischer Weise ausgerüstete Kriegsschiffe besitzen, die sie den Chinesen zur Vereinigung mit ihren Dschunkenflotten anbieten könnten. Noch bessere und größere Schiffe

*) Auf ähnliche Weise wie zwischen Deutschland und Rußland keine seit der Zerstückelung Polens.

einströmen, gewinnen hier den Russen jährlich mehr Freunde, so wie die 20 Millionen, welche ausströmen, jährlich mehr Chinesen von ihnen abhängig machen. Die russische Regierung wünscht den Handel, während die chinesische ihm ungünstig gesinnt ist und von ihr eher Hemmungen zu erwarten sind, als von der russischen. Man kann daher jene vom russischen Handel Vortheil ziehenden chinesischen Unterthanen gleichsam als eine wachsende russische Partei in China betrachten, die im Fall der Noth für Rußland gegen die einheimische Regierung auftreten wird, eben so wie im Süden des Reichs eine englische Partei existirt, welche gegen die Maaßregeln der Regierung in Bezug auf die Engländer Oposition macht.

Die Bevölkerung des ganzen südlichen Sibiriens ist in einem merkwürdigen Aufschwung begriffen. Diese Gegenden sind wahrscheinlich noch nie, so lange die Welt steht, so voll Leben und Thätigkeit gewesen, wie in diesem Augenblick; sie füllen sich mehr und mehr mit Menschen, und zwar steigen diese in einer Proportion wie nur wenige Gegenden des Erdballs, namentlich diejenige Provinz, welche mit China in nächster und innigster Berührung steht, die obern Gegenden der Zuflüsse des Jenisei, der Umgegend von Irkutzk. Diese Stadt selbst hat ihre Größe und Bevölkerung seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts vervierfacht. Im Jahr 1784 hatte sie 11,000 Einwohner; im Jahr 1810 schon 30,000; im Jahr 1830 über 40,000. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie jetzt nahe an 50,000 Einwohner zählt. Sie ist im Norden der chinesischen Mauer die größte Stadt im ganzen nördlichen Asien. Eine so reißend in der Mitte des Landes anwachsende Bevölkerung wird den Chinesen nicht wenig bedrohlich. Irkutzk hat keine Verbindung mit dem Meere als die sehr unbequeme durch das Lena-Gebiet und über die ochozkischen Berge nach Kamptschatka. Vermittelst des ihr nahen schiffbaren Amur würde die Verbindung mit dem Meere weit leichter und vortheilhafter seyn. Die Gouverneure von Irkutzk beherrschen schon das obere Amurgebiet. Die Vorfahren der Irkutzker befuhren einst schon den ganzen Strom. Ihre Neigung zum Besitz dieses Gebiets ist eine sehr natürliche. Da nun bei der jetzigen Lage der Dinge Revolutionen in China unvermeidlich sind, da die mandschurischen Gewalthaber in China so verhaßt als schwach geworden sind, so wäre eine solche den Russen sehr vortheilhafte Acquisition des Amurlandes oder der alten Mandschuren-Heimath selbst in China gar nicht unpopulär. Die Russen könnten sich dadurch eine bedeutende Partei unter dem chinesischen Volk machen, indem sie als dessen Befreier von den Mandschuren aufträten und sprächen: „wir nehmen das Land eurer Unterdrücker in Besitz, erhebt euch mit uns gegen dieselben.“

Die Russen stehen auf diese Weise in einem ungeheuern Vortheil gegen die Chinesen, die ihrerseits, im Fall eines feindlichen Zusammenstoßens, gar keine erdenkliche Aussicht hätten, unter den Russen Uneinigkeit zu stiften. Die Russen haben aber auch außerdem, in jeder andern Hinsicht, alle Vortheile für sich, zunächst den der bessern Kenntniß des Landes ihrer Nachbarn. Die Chinesen kommen nie nach Rußland hinüber, und haben nur eine undeutliche Vorstellung von der Beschaffenheit des Reichs, die aber doch bestimmt genug ist, um sie dessen große Macht fürchten zu lassen. Die Russen dagegen haben durch ihre beständigen Missionen nach Peking und durch die von ihren Gesandten und Missionären publicirten Schriften eine sehr werthvolle praktische und wissenschaftliche Kenntniß des Weges nach Peking und der Beschaffenheit des Landes erlangt.

Auch in der Kenntniß der Sprache werden die Chinesen von den Russen überflügelt. Die Russen lernen die chinesische und mandschurische Sprache in Peking mit Eifer, und besitzen jetzt eine Menge von Individuen, die derselben mächtig sind, während die Chinesen, die allerdings auch in ihrer Hauptstadt eine Schule haben, in welcher ihre Landsleute russisch lernen, so ungeschickt in der Erlernung ihrer Sprache sind, daß bei allen vorkommenden Fällen gewöhnlich die Russen Dolmetscher machen müssen, weil unter den Chinesen keine tauglichen Subjecte gefunden werden.

Allerdings sind die russischen Kriegsmittel im Norden China's, nach europäischem Maaßstab, unbedeutend: ihre ganze hier disponible Macht mag sich auf 30,000 Mann belaufen. Allein für ein Reich wie China, das schon im vorigen Jahrhundert Lord Clive der englischen Compagnie mit 20,000 Mann zu robern versprach, ist diese Macht bedeutend genug. Die Russen sind den Chinesen gegenüber doppelt schrecklich, erstlich als Krieger von europäisch-militärischer Bildung, dann als solche, die des Krieges in den Steppen und mit den Nomaden eben so gewohnt sind, wie diese Nomaden selbst, von denen sie einen Theil in ihren Regimentern vertheilten. Seit der Theilung der Mongolei unter China und Rußland, und seit der von China ausgehenden Zerstückelung der Jahrhunderte lang bestehenden politischen Einheit der Mongolei, gibt es keine bedeutende Mittelmacht mehr zwischen Rußland und China. *) Rußland, das sich immer mehr und mehr mongolische Völker assimilirt, tritt mehr und mehr an die Stelle der Herrschaft der Söhne und Enkel Dschingis und Timurs, und China's Mauer wird gegen diese wunderbar geänderten Barbaren des Nordens das Land wenig mehr schützen. Wenn schon die Mandschuren, deren ursprüngliche Streitkräfte nicht größer waren, als die der sibirischen Russen jetzt seyn mögen, im Stande waren, die verweichlichte Ming-Dynastie zu entthronen, so würde den disciplinirten Russen es nicht schwer fallen, die ihrerseits verweichlichte Ta-thing-Dynastie zu überwältigen.

Alle diese Umstände zusammengenommen müssen den Chinesen Rußland als einen höchst gewichtigen Freund und als einen höchst furchtbaren Feind erscheinen lassen. Bisher haben sie freilich noch immer die Miene angenommen, als erkennten sie dieß wenig an. Aber vielleicht stehen bei der jetzigen Verwicklung mit England Ereignisse bevor, die sehr geeignet seyn möchten, den Chinesen über Rußland endlich völlig die Augen zu öffnen. Wie wenn England, das sich jetzt mächtig gegen China rüstet, in Südchina festen Fuß faßte? England ist jetzt in ganz Asien durch seine neuen Erfolge übermüthig und siegestrunken – wenn es den Plan des Lords Clive oder doch einen Theil davon ausführte? Würde Rußland dem ruhig zusehen, oder würde es nicht höchst wahrscheinlich gegen eine solche kriegerische Unternehmung der Engländer in Südchina mit einer Expedition am Amur ebenso protestiren, wie gegen die afghanische Unternehmung der Engländer mit seinem gewiß nicht aufgegebenen Zuge nach Chiwa? Eben so wie Afghanistan und Turkestan zerfällt auch China in ein mit russischen und ein mit englischen Waaren versehenes Gebiet; und eben so wie in Afghanistan und Turkestan muß Rußland auch in China seinen Handelsleuten ihr Gebiet mit kriegerischer Macht beschützen, wenn die Engländer es mit Gewalt bedrohen.

Die Russen haben im Norden von China den Hafen Ochotzk, wo sie einige nach europäischer Weise ausgerüstete Kriegsschiffe besitzen, die sie den Chinesen zur Vereinigung mit ihren Dschunkenflotten anbieten könnten. Noch bessere und größere Schiffe

*) Auf ähnliche Weise wie zwischen Deutschland und Rußland keine seit der Zerstückelung Polens.
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einströmen, gewinnen hier den Russen jährlich mehr Freunde, so wie die 20 Millionen, welche ausströmen, jährlich mehr Chinesen von ihnen abhängig machen. Die russische Regierung wünscht den Handel, während die chinesische ihm ungünstig gesinnt ist und von ihr eher Hemmungen zu erwarten sind, als von der russischen. Man kann daher jene vom russischen Handel Vortheil ziehenden chinesischen Unterthanen gleichsam als eine wachsende russische Partei in China betrachten, die im Fall der Noth für Rußland gegen die einheimische Regierung auftreten wird, eben so wie im Süden des Reichs eine englische Partei existirt, welche gegen die Maaßregeln der Regierung in Bezug auf die Engländer Oposition macht.</p><lb/>
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[1066/0010] einströmen, gewinnen hier den Russen jährlich mehr Freunde, so wie die 20 Millionen, welche ausströmen, jährlich mehr Chinesen von ihnen abhängig machen. Die russische Regierung wünscht den Handel, während die chinesische ihm ungünstig gesinnt ist und von ihr eher Hemmungen zu erwarten sind, als von der russischen. Man kann daher jene vom russischen Handel Vortheil ziehenden chinesischen Unterthanen gleichsam als eine wachsende russische Partei in China betrachten, die im Fall der Noth für Rußland gegen die einheimische Regierung auftreten wird, eben so wie im Süden des Reichs eine englische Partei existirt, welche gegen die Maaßregeln der Regierung in Bezug auf die Engländer Oposition macht. Die Bevölkerung des ganzen südlichen Sibiriens ist in einem merkwürdigen Aufschwung begriffen. Diese Gegenden sind wahrscheinlich noch nie, so lange die Welt steht, so voll Leben und Thätigkeit gewesen, wie in diesem Augenblick; sie füllen sich mehr und mehr mit Menschen, und zwar steigen diese in einer Proportion wie nur wenige Gegenden des Erdballs, namentlich diejenige Provinz, welche mit China in nächster und innigster Berührung steht, die obern Gegenden der Zuflüsse des Jenisei, der Umgegend von Irkutzk. Diese Stadt selbst hat ihre Größe und Bevölkerung seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts vervierfacht. Im Jahr 1784 hatte sie 11,000 Einwohner; im Jahr 1810 schon 30,000; im Jahr 1830 über 40,000. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie jetzt nahe an 50,000 Einwohner zählt. Sie ist im Norden der chinesischen Mauer die größte Stadt im ganzen nördlichen Asien. Eine so reißend in der Mitte des Landes anwachsende Bevölkerung wird den Chinesen nicht wenig bedrohlich. Irkutzk hat keine Verbindung mit dem Meere als die sehr unbequeme durch das Lena-Gebiet und über die ochozkischen Berge nach Kamptschatka. Vermittelst des ihr nahen schiffbaren Amur würde die Verbindung mit dem Meere weit leichter und vortheilhafter seyn. Die Gouverneure von Irkutzk beherrschen schon das obere Amurgebiet. Die Vorfahren der Irkutzker befuhren einst schon den ganzen Strom. Ihre Neigung zum Besitz dieses Gebiets ist eine sehr natürliche. Da nun bei der jetzigen Lage der Dinge Revolutionen in China unvermeidlich sind, da die mandschurischen Gewalthaber in China so verhaßt als schwach geworden sind, so wäre eine solche den Russen sehr vortheilhafte Acquisition des Amurlandes oder der alten Mandschuren-Heimath selbst in China gar nicht unpopulär. Die Russen könnten sich dadurch eine bedeutende Partei unter dem chinesischen Volk machen, indem sie als dessen Befreier von den Mandschuren aufträten und sprächen: „wir nehmen das Land eurer Unterdrücker in Besitz, erhebt euch mit uns gegen dieselben.“ Die Russen stehen auf diese Weise in einem ungeheuern Vortheil gegen die Chinesen, die ihrerseits, im Fall eines feindlichen Zusammenstoßens, gar keine erdenkliche Aussicht hätten, unter den Russen Uneinigkeit zu stiften. Die Russen haben aber auch außerdem, in jeder andern Hinsicht, alle Vortheile für sich, zunächst den der bessern Kenntniß des Landes ihrer Nachbarn. Die Chinesen kommen nie nach Rußland hinüber, und haben nur eine undeutliche Vorstellung von der Beschaffenheit des Reichs, die aber doch bestimmt genug ist, um sie dessen große Macht fürchten zu lassen. Die Russen dagegen haben durch ihre beständigen Missionen nach Peking und durch die von ihren Gesandten und Missionären publicirten Schriften eine sehr werthvolle praktische und wissenschaftliche Kenntniß des Weges nach Peking und der Beschaffenheit des Landes erlangt. Auch in der Kenntniß der Sprache werden die Chinesen von den Russen überflügelt. Die Russen lernen die chinesische und mandschurische Sprache in Peking mit Eifer, und besitzen jetzt eine Menge von Individuen, die derselben mächtig sind, während die Chinesen, die allerdings auch in ihrer Hauptstadt eine Schule haben, in welcher ihre Landsleute russisch lernen, so ungeschickt in der Erlernung ihrer Sprache sind, daß bei allen vorkommenden Fällen gewöhnlich die Russen Dolmetscher machen müssen, weil unter den Chinesen keine tauglichen Subjecte gefunden werden. Allerdings sind die russischen Kriegsmittel im Norden China's, nach europäischem Maaßstab, unbedeutend: ihre ganze hier disponible Macht mag sich auf 30,000 Mann belaufen. Allein für ein Reich wie China, das schon im vorigen Jahrhundert Lord Clive der englischen Compagnie mit 20,000 Mann zu robern versprach, ist diese Macht bedeutend genug. Die Russen sind den Chinesen gegenüber doppelt schrecklich, erstlich als Krieger von europäisch-militärischer Bildung, dann als solche, die des Krieges in den Steppen und mit den Nomaden eben so gewohnt sind, wie diese Nomaden selbst, von denen sie einen Theil in ihren Regimentern vertheilten. Seit der Theilung der Mongolei unter China und Rußland, und seit der von China ausgehenden Zerstückelung der Jahrhunderte lang bestehenden politischen Einheit der Mongolei, gibt es keine bedeutende Mittelmacht mehr zwischen Rußland und China. *) Rußland, das sich immer mehr und mehr mongolische Völker assimilirt, tritt mehr und mehr an die Stelle der Herrschaft der Söhne und Enkel Dschingis und Timurs, und China's Mauer wird gegen diese wunderbar geänderten Barbaren des Nordens das Land wenig mehr schützen. Wenn schon die Mandschuren, deren ursprüngliche Streitkräfte nicht größer waren, als die der sibirischen Russen jetzt seyn mögen, im Stande waren, die verweichlichte Ming-Dynastie zu entthronen, so würde den disciplinirten Russen es nicht schwer fallen, die ihrerseits verweichlichte Ta-thing-Dynastie zu überwältigen. Alle diese Umstände zusammengenommen müssen den Chinesen Rußland als einen höchst gewichtigen Freund und als einen höchst furchtbaren Feind erscheinen lassen. Bisher haben sie freilich noch immer die Miene angenommen, als erkennten sie dieß wenig an. Aber vielleicht stehen bei der jetzigen Verwicklung mit England Ereignisse bevor, die sehr geeignet seyn möchten, den Chinesen über Rußland endlich völlig die Augen zu öffnen. Wie wenn England, das sich jetzt mächtig gegen China rüstet, in Südchina festen Fuß faßte? England ist jetzt in ganz Asien durch seine neuen Erfolge übermüthig und siegestrunken – wenn es den Plan des Lords Clive oder doch einen Theil davon ausführte? Würde Rußland dem ruhig zusehen, oder würde es nicht höchst wahrscheinlich gegen eine solche kriegerische Unternehmung der Engländer in Südchina mit einer Expedition am Amur ebenso protestiren, wie gegen die afghanische Unternehmung der Engländer mit seinem gewiß nicht aufgegebenen Zuge nach Chiwa? Eben so wie Afghanistan und Turkestan zerfällt auch China in ein mit russischen und ein mit englischen Waaren versehenes Gebiet; und eben so wie in Afghanistan und Turkestan muß Rußland auch in China seinen Handelsleuten ihr Gebiet mit kriegerischer Macht beschützen, wenn die Engländer es mit Gewalt bedrohen. Die Russen haben im Norden von China den Hafen Ochotzk, wo sie einige nach europäischer Weise ausgerüstete Kriegsschiffe besitzen, die sie den Chinesen zur Vereinigung mit ihren Dschunkenflotten anbieten könnten. Noch bessere und größere Schiffe *) Auf ähnliche Weise wie zwischen Deutschland und Rußland keine seit der Zerstückelung Polens.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 134. Augsburg, 13. Mai 1840, S. 1066. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_134_18400513/10>, abgerufen am 28.03.2024.