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Allgemeine Zeitung. Nr. 109. Augsburg, 18. April 1840.

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Noch ein Bruchstück zur Charakterisirung Mehemed Ali's.

(Beschluß.)

Nachdem ich in dem Vorhergehenden dem Leser einige Züge vorgeführt, die Mehemed Ali als Mensch charakterisiren, kann ich mich nicht enthalten, noch ein paar Worte hinzuzufügen, welche die verschiedenen Ansichten der jetzigen Stellung dieses so tief in die Zeitereignisse eingreifenden Mannes betreffen. Eine kurze aber deutliche Zusammenfassung derselben ist vielleicht nicht ganz unnütz, um so mehr, da sie darauf hinweist, daß bei diesem Streit das Ganze mehr in Betracht kommen sollte als der Einzelne.

Ich wurde auf die folgenden Bemerkungen hauptsächlich durch die Lecture eines sehr interessanten Manuscripts gebracht, das den ersten Krieg Mehemed Ali's mit der Pforte abhandelt, und darüber viel merkwürdige Aufschlüsse enthält. Diese sind um so willkommener, da wir bisher über diesen Krieg nur die einseitige Relation Soliman Pascha's, die Hr. Cadalvene in seinem Werke über Aegypten und Syrien publicirt hat, besitzen, welche zu ausschließlich im ägyptischen Gesichtspunkte verfaßt ward.

Es ist sehr zu bedauern, daß Privatrücksichten die Veröffentlichung dieser Arbeit verhindern, welche so ganz an der Zeit wäre; denn vorausgesetzt, daß, was vor sieben Jahren auf jenem Felde vorgegangen, gewiß für jede Zeit wichtig bleibt, so muß es unter den jetzigen Umständen noch um so viel dringender die Augen Europa's auf sich ziehen, wo wir vielleicht nahe an der Entscheidung stehen. Dieselben Menschen, mit Ausnahme weniger, dieselben Interessen, erscheinen heute wie damals auf diesem Felde, man mag dieß Wort nun in engerer oder weiterer Bedeutung nehmen, und was dem Staatsmann so wie jedem, der ein sicheres Urtheil fällen will, zuerst Noth thut, ist doch immer die genaue Kenntniß der Thatsachen.

Diese nun liefert jenes Werk mit seltener Treue und Unparteilichkeit, begleitet von sorgfältiger geschichtlicher Kritik. Auffallend hebt sich daraus das Resultat hervor, daß es sich bei diesen zukunftschweren Zuständen des Orients heute so wenig als vor sieben Jahren um das Interesse Mehemed Ali's handelt, an das Freund und Feind nur deßhalb jetzt Alles anzureihen sich gewöhnt hat, weil er allerdings einer der hervorstechendsten Mitspieler bei Lösung der großen Frage ist. Nein, es handelt sich hier gar nicht um das Wohl und Weh irgend einer einzelnen Person, sondern ganz allein um das türkische Reich. - Nur über die Wege, dieses zu stützen, zu stärken, vielleicht zu retten, kann vernünftigerweise Zwiespalt seyn. Es haben sich auch wirklich zweierlei Hauptansichten darüber in der öffentlichen Meinung festgestellt. Die eine glaubt durch die möglichste Beschränkung der Macht Mehemed Ali's, durch dessen empfindliche Demüthigung die Pforte zu heben; die andere glaubt denselben wichtigen Zweck nur durch die Zufriedenstellung Mehemed Ali's in seinen heutigen Forderungen, durch dessen Versöhnung mit dem Sultan, und durch den Anschluß seiner Macht an diejenige des Reichs zu gewinnen. Für beide Ansichten gibt es mächtige und redliche Vertreter. Beide wurzeln in dem Grundsatz der Erhaltung und Integrität des türkischen Reichs. Aber leider bedienen sich ihrer auch die Gewissenlosen und Ehrsüchtigen, die Heuchler und Freunde des Umsturzes, je nachdem sie die eine oder die andere Ansicht für die richtige zu halten vorgeben: die einen, indem sie Partei nehmen für Mehemed Ali, in der Hoffnung, daß er das Reich zu Grunde richte, die andern, indem sie Partei nehmen gegen ihn, aus Besorgniß, daß er dem Reiche aufhelfe.

Diejenigen nun, welche aus redlicher oder unredlicher Absicht für die Ansicht sprechen, daß Mehemed Ali schwächen, demüthigen, wo möglich brechen, die Pforte stärken, erheben, retten heiße, sagen im Allgemeinen Folgendes: "Das ganze Leben dieses Mannes beurkundet einen nicht zu sättigenden Ehrgeiz und die entschiedene Neigung zu Gewaltmitteln. Sein erstes Auftreten auf der Weltbühne war eine Revolte. Mit Verstand und Willen begabt, hat er nach und nach große Mittel gehäuft, und erst durch den Instinct der Macht geleitet, dann mit bewußtem Entschluß fortschreitend, sich bis zur factischen Unabhängigkeit die Bahn gebrochen. Franzosen, und zwar der Napoleonischen Partei angehörige, haben ihre Grundsätze auf ihn, den sehr geeigneten Stamm dazu, gepfropft, und so ist im Jahr 1832 der erste Krieg gegen den Sultan ausgebrochen, der ohne die Dazwischenkunft der Mächte mit dem Sturze der Dynastie geendet hätte; im Jahr 1834 und 1838 folgten trotzige Drohungen der Unabhängigkeitserklärung, und im Jahr 1839 der zweite Krieg, dessen Folgen abermals die Mächte zu hemmen berufen sind. Einem Mann wie Mehemed Ali Mäßigung, Beschränkung seines Ehrgeizes, Treue gegen den Sultan zutrauen, ist ein sentimentaler Irrthum oder eine Lüge. Mehemed Ali denkt an nichts Anderes als an Unabhängigkeit oder Umsturz der Dynastie. Ihm die Erblichkeit in den Provinzen, die er jetzt besitzt, zugestehen, heißt ihm den Schemel halten, damit er dem Sultan die Krone vom Haupt reiße, oder wenigstens dazu mithelfen, daß er die gänzliche Abtrennung vom Reiche bald und ohne Hinderniß ausführe. Ist Mehemed Ali zu Grunde gerichtet oder doch unschädlich gemacht, dann stellt die osmanische Pforte wieder eine Macht dar, die wenigstens in sich eine organische und ausbildbare ist.

"Alle Cabinette," behaupten sie ferner, "sind dieser Ansicht, selbst das französische, das nach dem entgegenstehenden Princip sich zu neigen schien, aber nur schien, da es neuerlich die Theilung von Syrien durch eine Linie von Beirut nach Damascus selbst in Vorschlag gebracht. Wer das konnte, huldigt nicht mehr dem Irrthum, daß man Mehemed Ali bei Kräften erhalten müsse. Auch Rußland, das so häufig mißverstandene Rußland, huldigt unserm Grundsatz und zwar in der redlichsten Absicht. Die Voraussetzung des Trachtens Rußlands nach dem Besitze von Konstantinopel gehört zu den Vorurtheilen der Zeit; Rußland ist stärker und sicherer, wenn ihm der Sultan die Schlüssel hält, als wenn er selbst den Pförtner machen muß. Daher sind auch alle Voraussetzungen von den sein angelegten Planen des St. Petersburger Cabinets, um die Türkei möglichst schwach zu erhalten, eitle Träume. Rußland braucht eine Türkei, die auf eigenen Füßen stehen kann, aus demselben Grunde warum die andern Mächte sie brauchen. Alle Mächte neigen sich aber mehr oder minder ausgesprochen zu der Wahrheit hin: daß der natürliche Weg, den Sultan zu stützen, nur der seyn könne, ihn gegen Mehemed Ali zu vertheidigen; daß, endlich um das Reich zu stärken, dessen Zuversicht in sich und seine Mittel zu heben, zuvörderst die Deckung desselben gegen Verheerung und Krieg das Nöthigste sey. Die Pforte ist übrigens, fügen sie hinzu, sehr gnädig gegen Mehemed

Noch ein Bruchstück zur Charakterisirung Mehemed Ali's.

(Beschluß.)

Nachdem ich in dem Vorhergehenden dem Leser einige Züge vorgeführt, die Mehemed Ali als Mensch charakterisiren, kann ich mich nicht enthalten, noch ein paar Worte hinzuzufügen, welche die verschiedenen Ansichten der jetzigen Stellung dieses so tief in die Zeitereignisse eingreifenden Mannes betreffen. Eine kurze aber deutliche Zusammenfassung derselben ist vielleicht nicht ganz unnütz, um so mehr, da sie darauf hinweist, daß bei diesem Streit das Ganze mehr in Betracht kommen sollte als der Einzelne.

Ich wurde auf die folgenden Bemerkungen hauptsächlich durch die Lecture eines sehr interessanten Manuscripts gebracht, das den ersten Krieg Mehemed Ali's mit der Pforte abhandelt, und darüber viel merkwürdige Aufschlüsse enthält. Diese sind um so willkommener, da wir bisher über diesen Krieg nur die einseitige Relation Soliman Pascha's, die Hr. Cadalvène in seinem Werke über Aegypten und Syrien publicirt hat, besitzen, welche zu ausschließlich im ägyptischen Gesichtspunkte verfaßt ward.

Es ist sehr zu bedauern, daß Privatrücksichten die Veröffentlichung dieser Arbeit verhindern, welche so ganz an der Zeit wäre; denn vorausgesetzt, daß, was vor sieben Jahren auf jenem Felde vorgegangen, gewiß für jede Zeit wichtig bleibt, so muß es unter den jetzigen Umständen noch um so viel dringender die Augen Europa's auf sich ziehen, wo wir vielleicht nahe an der Entscheidung stehen. Dieselben Menschen, mit Ausnahme weniger, dieselben Interessen, erscheinen heute wie damals auf diesem Felde, man mag dieß Wort nun in engerer oder weiterer Bedeutung nehmen, und was dem Staatsmann so wie jedem, der ein sicheres Urtheil fällen will, zuerst Noth thut, ist doch immer die genaue Kenntniß der Thatsachen.

Diese nun liefert jenes Werk mit seltener Treue und Unparteilichkeit, begleitet von sorgfältiger geschichtlicher Kritik. Auffallend hebt sich daraus das Resultat hervor, daß es sich bei diesen zukunftschweren Zuständen des Orients heute so wenig als vor sieben Jahren um das Interesse Mehemed Ali's handelt, an das Freund und Feind nur deßhalb jetzt Alles anzureihen sich gewöhnt hat, weil er allerdings einer der hervorstechendsten Mitspieler bei Lösung der großen Frage ist. Nein, es handelt sich hier gar nicht um das Wohl und Weh irgend einer einzelnen Person, sondern ganz allein um das türkische Reich. – Nur über die Wege, dieses zu stützen, zu stärken, vielleicht zu retten, kann vernünftigerweise Zwiespalt seyn. Es haben sich auch wirklich zweierlei Hauptansichten darüber in der öffentlichen Meinung festgestellt. Die eine glaubt durch die möglichste Beschränkung der Macht Mehemed Ali's, durch dessen empfindliche Demüthigung die Pforte zu heben; die andere glaubt denselben wichtigen Zweck nur durch die Zufriedenstellung Mehemed Ali's in seinen heutigen Forderungen, durch dessen Versöhnung mit dem Sultan, und durch den Anschluß seiner Macht an diejenige des Reichs zu gewinnen. Für beide Ansichten gibt es mächtige und redliche Vertreter. Beide wurzeln in dem Grundsatz der Erhaltung und Integrität des türkischen Reichs. Aber leider bedienen sich ihrer auch die Gewissenlosen und Ehrsüchtigen, die Heuchler und Freunde des Umsturzes, je nachdem sie die eine oder die andere Ansicht für die richtige zu halten vorgeben: die einen, indem sie Partei nehmen für Mehemed Ali, in der Hoffnung, daß er das Reich zu Grunde richte, die andern, indem sie Partei nehmen gegen ihn, aus Besorgniß, daß er dem Reiche aufhelfe.

Diejenigen nun, welche aus redlicher oder unredlicher Absicht für die Ansicht sprechen, daß Mehemed Ali schwächen, demüthigen, wo möglich brechen, die Pforte stärken, erheben, retten heiße, sagen im Allgemeinen Folgendes: „Das ganze Leben dieses Mannes beurkundet einen nicht zu sättigenden Ehrgeiz und die entschiedene Neigung zu Gewaltmitteln. Sein erstes Auftreten auf der Weltbühne war eine Revolte. Mit Verstand und Willen begabt, hat er nach und nach große Mittel gehäuft, und erst durch den Instinct der Macht geleitet, dann mit bewußtem Entschluß fortschreitend, sich bis zur factischen Unabhängigkeit die Bahn gebrochen. Franzosen, und zwar der Napoleonischen Partei angehörige, haben ihre Grundsätze auf ihn, den sehr geeigneten Stamm dazu, gepfropft, und so ist im Jahr 1832 der erste Krieg gegen den Sultan ausgebrochen, der ohne die Dazwischenkunft der Mächte mit dem Sturze der Dynastie geendet hätte; im Jahr 1834 und 1838 folgten trotzige Drohungen der Unabhängigkeitserklärung, und im Jahr 1839 der zweite Krieg, dessen Folgen abermals die Mächte zu hemmen berufen sind. Einem Mann wie Mehemed Ali Mäßigung, Beschränkung seines Ehrgeizes, Treue gegen den Sultan zutrauen, ist ein sentimentaler Irrthum oder eine Lüge. Mehemed Ali denkt an nichts Anderes als an Unabhängigkeit oder Umsturz der Dynastie. Ihm die Erblichkeit in den Provinzen, die er jetzt besitzt, zugestehen, heißt ihm den Schemel halten, damit er dem Sultan die Krone vom Haupt reiße, oder wenigstens dazu mithelfen, daß er die gänzliche Abtrennung vom Reiche bald und ohne Hinderniß ausführe. Ist Mehemed Ali zu Grunde gerichtet oder doch unschädlich gemacht, dann stellt die osmanische Pforte wieder eine Macht dar, die wenigstens in sich eine organische und ausbildbare ist.

„Alle Cabinette,“ behaupten sie ferner, „sind dieser Ansicht, selbst das französische, das nach dem entgegenstehenden Princip sich zu neigen schien, aber nur schien, da es neuerlich die Theilung von Syrien durch eine Linie von Beirut nach Damascus selbst in Vorschlag gebracht. Wer das konnte, huldigt nicht mehr dem Irrthum, daß man Mehemed Ali bei Kräften erhalten müsse. Auch Rußland, das so häufig mißverstandene Rußland, huldigt unserm Grundsatz und zwar in der redlichsten Absicht. Die Voraussetzung des Trachtens Rußlands nach dem Besitze von Konstantinopel gehört zu den Vorurtheilen der Zeit; Rußland ist stärker und sicherer, wenn ihm der Sultan die Schlüssel hält, als wenn er selbst den Pförtner machen muß. Daher sind auch alle Voraussetzungen von den sein angelegten Planen des St. Petersburger Cabinets, um die Türkei möglichst schwach zu erhalten, eitle Träume. Rußland braucht eine Türkei, die auf eigenen Füßen stehen kann, aus demselben Grunde warum die andern Mächte sie brauchen. Alle Mächte neigen sich aber mehr oder minder ausgesprochen zu der Wahrheit hin: daß der natürliche Weg, den Sultan zu stützen, nur der seyn könne, ihn gegen Mehemed Ali zu vertheidigen; daß, endlich um das Reich zu stärken, dessen Zuversicht in sich und seine Mittel zu heben, zuvörderst die Deckung desselben gegen Verheerung und Krieg das Nöthigste sey. Die Pforte ist übrigens, fügen sie hinzu, sehr gnädig gegen Mehemed

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[0865/0009] Noch ein Bruchstück zur Charakterisirung Mehemed Ali's. (Beschluß.) Nachdem ich in dem Vorhergehenden dem Leser einige Züge vorgeführt, die Mehemed Ali als Mensch charakterisiren, kann ich mich nicht enthalten, noch ein paar Worte hinzuzufügen, welche die verschiedenen Ansichten der jetzigen Stellung dieses so tief in die Zeitereignisse eingreifenden Mannes betreffen. Eine kurze aber deutliche Zusammenfassung derselben ist vielleicht nicht ganz unnütz, um so mehr, da sie darauf hinweist, daß bei diesem Streit das Ganze mehr in Betracht kommen sollte als der Einzelne. Ich wurde auf die folgenden Bemerkungen hauptsächlich durch die Lecture eines sehr interessanten Manuscripts gebracht, das den ersten Krieg Mehemed Ali's mit der Pforte abhandelt, und darüber viel merkwürdige Aufschlüsse enthält. Diese sind um so willkommener, da wir bisher über diesen Krieg nur die einseitige Relation Soliman Pascha's, die Hr. Cadalvène in seinem Werke über Aegypten und Syrien publicirt hat, besitzen, welche zu ausschließlich im ägyptischen Gesichtspunkte verfaßt ward. Es ist sehr zu bedauern, daß Privatrücksichten die Veröffentlichung dieser Arbeit verhindern, welche so ganz an der Zeit wäre; denn vorausgesetzt, daß, was vor sieben Jahren auf jenem Felde vorgegangen, gewiß für jede Zeit wichtig bleibt, so muß es unter den jetzigen Umständen noch um so viel dringender die Augen Europa's auf sich ziehen, wo wir vielleicht nahe an der Entscheidung stehen. Dieselben Menschen, mit Ausnahme weniger, dieselben Interessen, erscheinen heute wie damals auf diesem Felde, man mag dieß Wort nun in engerer oder weiterer Bedeutung nehmen, und was dem Staatsmann so wie jedem, der ein sicheres Urtheil fällen will, zuerst Noth thut, ist doch immer die genaue Kenntniß der Thatsachen. Diese nun liefert jenes Werk mit seltener Treue und Unparteilichkeit, begleitet von sorgfältiger geschichtlicher Kritik. Auffallend hebt sich daraus das Resultat hervor, daß es sich bei diesen zukunftschweren Zuständen des Orients heute so wenig als vor sieben Jahren um das Interesse Mehemed Ali's handelt, an das Freund und Feind nur deßhalb jetzt Alles anzureihen sich gewöhnt hat, weil er allerdings einer der hervorstechendsten Mitspieler bei Lösung der großen Frage ist. Nein, es handelt sich hier gar nicht um das Wohl und Weh irgend einer einzelnen Person, sondern ganz allein um das türkische Reich. – Nur über die Wege, dieses zu stützen, zu stärken, vielleicht zu retten, kann vernünftigerweise Zwiespalt seyn. Es haben sich auch wirklich zweierlei Hauptansichten darüber in der öffentlichen Meinung festgestellt. Die eine glaubt durch die möglichste Beschränkung der Macht Mehemed Ali's, durch dessen empfindliche Demüthigung die Pforte zu heben; die andere glaubt denselben wichtigen Zweck nur durch die Zufriedenstellung Mehemed Ali's in seinen heutigen Forderungen, durch dessen Versöhnung mit dem Sultan, und durch den Anschluß seiner Macht an diejenige des Reichs zu gewinnen. Für beide Ansichten gibt es mächtige und redliche Vertreter. Beide wurzeln in dem Grundsatz der Erhaltung und Integrität des türkischen Reichs. Aber leider bedienen sich ihrer auch die Gewissenlosen und Ehrsüchtigen, die Heuchler und Freunde des Umsturzes, je nachdem sie die eine oder die andere Ansicht für die richtige zu halten vorgeben: die einen, indem sie Partei nehmen für Mehemed Ali, in der Hoffnung, daß er das Reich zu Grunde richte, die andern, indem sie Partei nehmen gegen ihn, aus Besorgniß, daß er dem Reiche aufhelfe. Diejenigen nun, welche aus redlicher oder unredlicher Absicht für die Ansicht sprechen, daß Mehemed Ali schwächen, demüthigen, wo möglich brechen, die Pforte stärken, erheben, retten heiße, sagen im Allgemeinen Folgendes: „Das ganze Leben dieses Mannes beurkundet einen nicht zu sättigenden Ehrgeiz und die entschiedene Neigung zu Gewaltmitteln. Sein erstes Auftreten auf der Weltbühne war eine Revolte. Mit Verstand und Willen begabt, hat er nach und nach große Mittel gehäuft, und erst durch den Instinct der Macht geleitet, dann mit bewußtem Entschluß fortschreitend, sich bis zur factischen Unabhängigkeit die Bahn gebrochen. Franzosen, und zwar der Napoleonischen Partei angehörige, haben ihre Grundsätze auf ihn, den sehr geeigneten Stamm dazu, gepfropft, und so ist im Jahr 1832 der erste Krieg gegen den Sultan ausgebrochen, der ohne die Dazwischenkunft der Mächte mit dem Sturze der Dynastie geendet hätte; im Jahr 1834 und 1838 folgten trotzige Drohungen der Unabhängigkeitserklärung, und im Jahr 1839 der zweite Krieg, dessen Folgen abermals die Mächte zu hemmen berufen sind. Einem Mann wie Mehemed Ali Mäßigung, Beschränkung seines Ehrgeizes, Treue gegen den Sultan zutrauen, ist ein sentimentaler Irrthum oder eine Lüge. Mehemed Ali denkt an nichts Anderes als an Unabhängigkeit oder Umsturz der Dynastie. Ihm die Erblichkeit in den Provinzen, die er jetzt besitzt, zugestehen, heißt ihm den Schemel halten, damit er dem Sultan die Krone vom Haupt reiße, oder wenigstens dazu mithelfen, daß er die gänzliche Abtrennung vom Reiche bald und ohne Hinderniß ausführe. Ist Mehemed Ali zu Grunde gerichtet oder doch unschädlich gemacht, dann stellt die osmanische Pforte wieder eine Macht dar, die wenigstens in sich eine organische und ausbildbare ist. „Alle Cabinette,“ behaupten sie ferner, „sind dieser Ansicht, selbst das französische, das nach dem entgegenstehenden Princip sich zu neigen schien, aber nur schien, da es neuerlich die Theilung von Syrien durch eine Linie von Beirut nach Damascus selbst in Vorschlag gebracht. Wer das konnte, huldigt nicht mehr dem Irrthum, daß man Mehemed Ali bei Kräften erhalten müsse. Auch Rußland, das so häufig mißverstandene Rußland, huldigt unserm Grundsatz und zwar in der redlichsten Absicht. Die Voraussetzung des Trachtens Rußlands nach dem Besitze von Konstantinopel gehört zu den Vorurtheilen der Zeit; Rußland ist stärker und sicherer, wenn ihm der Sultan die Schlüssel hält, als wenn er selbst den Pförtner machen muß. Daher sind auch alle Voraussetzungen von den sein angelegten Planen des St. Petersburger Cabinets, um die Türkei möglichst schwach zu erhalten, eitle Träume. Rußland braucht eine Türkei, die auf eigenen Füßen stehen kann, aus demselben Grunde warum die andern Mächte sie brauchen. Alle Mächte neigen sich aber mehr oder minder ausgesprochen zu der Wahrheit hin: daß der natürliche Weg, den Sultan zu stützen, nur der seyn könne, ihn gegen Mehemed Ali zu vertheidigen; daß, endlich um das Reich zu stärken, dessen Zuversicht in sich und seine Mittel zu heben, zuvörderst die Deckung desselben gegen Verheerung und Krieg das Nöthigste sey. Die Pforte ist übrigens, fügen sie hinzu, sehr gnädig gegen Mehemed

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 109. Augsburg, 18. April 1840, S. 0865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_109_18400418/9>, abgerufen am 23.04.2024.