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Allgemeine Zeitung. Nr. 60. Augsburg, 29. Februar 1840.

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daß er Thatsachen überlebt hat, wie die Koprolithen, d. h. den versteinerten Koth von Fischen und Reptilien, die abgenützten Zähne in fossilen Kinnladen, die mitten in der Gebärde des Lebens verschütteten Fische u. s. w.; daß es noch deutsche Naturphilosophen gibt, welche ernstlich die fossilen Organismen als unentwickelte Embryonen im Schooße der Erde darstellen - dieß wäre nicht begreiflich, wenn es nicht seine Erklärung in jener philosophischen Koketterie fände, welche auch sonst ähnliche Paradoxen erzeugt und ja auch ein Gegenstück an der historischen Alterthümelei hat, die dem jetzigen Weltlauf die Vernünftigkeit abspricht; nur daß nach den Naturforschern, welche mit den lusus naturae spielen, Gebilde, die einst ganz gewiß gelebt haben, von jeher todt waren, während die laudatores temporis acti Institutionen und Lebensformen für lebendig ausgeben, die schon längst todte Hülsen sind.

Die großartigen Conceptionen Leibnitzens und die noch glänzendere Theorie Buffons waren allerdings sehr bedeutende Phänomene, die viel dazu beitrugen, wenn bald ein philosophischerer Geist in die Naturforschung kam. Aber auch sie gehörten immer noch zu den, auf zu schmaler Basis der Erfahrung aufgebauten Speculationen, die so ganz geeignet sind, dem Wissensdrang des Menschen zu schmeicheln und ihn in das wie durch einen Blitzstrahl erhellte Land seiner Sehnsucht hineinzuführen, die ihn aber in desto tieferem Dunkel, in desto schauerlicherer Oede entlassen, wenn er bei verkühlter Phantasie inne wird, daß dieser Weg keineswegs der Quelle, nach der er dürstet, der Quelle der Erkenntniß, zuführt, sondern vielmehr davon ableitet. - Man hatte indessen nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Erfahrungen genug gesammelt, um nachgerade einzusehen, daß man bisher in einem Irrgarten gewandelt, dessen Pfade immer an denselben Fleck zurückführten; daß es an der Zeit sey, auch in der Geologie den Weg analytischer Forschung einzuschlagen, auf dem andere Zweige der Naturwissenschaft bereits richtig vorwärts schritten, und in Stenons, von seinen Zeitgenossen so schlecht beachtete Fußstapfen zu treten. Seitdem haben alle geologischen Theorien den von uns schon früher bezeichneten praktischen Charakter, wobei man vom Innern des Planeten und seiner Genesis ganz absieht. Danebenher gehen freilich auch jetzt Speculationen im modernen naturphilosophischen Gewand; aber sie können die erstarkte Forschung nur durch Ideen befruchten, sie nicht mehr vom Boden der Erfahrung weg in ihre Kometenbahn fortreißen.

Von diesem Wendepunkt der Wissenschaft bis auf Werner, den eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Geognosie, sind wenige Jahrzehnte verflossen. Bedenkt man, daß Werners so extreme neptunistische Theorie in kurzer Zeit fast allgemeines Dogma wurde, so ist es interessant, daß die bedeutendsten Apercus, die in der Periode unmittelbar vor ihm gefaßt wurden, just vulcanischer Natur sind. - In den geologischen Conceptionen des berühmten deutschen Reisenden Pallas (geb. 1741) spielt der Vulcanismus eine sehr bedeutende Rolle; namentlich sind ihm, mit Ausnahme der sogenannten Urgebirge, alle Bergketten durch unterirdische vulcanische Wirkung zu ihren gegenwärtigen Höhen aufgestiegen. Der fleißige Forscher Füchsel (geb. 1722) war der erste Deutsche, der die volle Ueberzeugung gewann, daß alle Schichten der Erdrinde ursprünglich, den hydrostatischen Gesetzen gemäß, horizontal gelagert gewesen, und erst später aufgehoben und versenkt worden - eine Naturwahrheit, die bald überall, wo Werners Theorie Platz gegriffen, verkannt wurde. - Der bedeutendste Beobachter dieser Zeit, derjenige, dessen Arbeiten auf den gegenwärtigen Gang der Wissenschaft den größten Einfluß geübt, ist der Alpenwanderer Saussure (geb. 1740). Auch er kam durch Betrachtung der zahlreichen Zerreißungen und Verschiebungen der Schichten in jenen großartigen Gebirgsländern, besonders durch den Anblick der gerade auf den Kopf gestellten groben Conglomeratschichten, auf die Vorstellung, daß diese Gebilde nothwendig einmal aus der ursprünglichen nahezu wagerechten Lagerung durch eine Gewalt von unten aufgehoben worden. Saussure's Auffassung der Verhältnisse der Montblanc-Kette ist der eigentliche Anknüpfungspunkt für alle die Forschungen geworden, durch welche Leopold v. Buch und Elie v. Beaumont zum Begriff der Erhebung aller, nach gewissen Hauptlinien streichenden Gebirgsketten geführt worden sind. Saussure entdeckte auch zuerst das merkwürdige Gesetz des Parallelismus zwischen den Secundärketten eines Gebirgs und der Hauptkette desselben; er hob es klar hervor, daß die Secundärketten immer auf beiden Seiten ihre steilern Abhänge der Hauptkette zukehren, und diese Bemerkung ist für die neuere Ansicht von der Bildung der Gebirge von der größten Bedeutung geworden.

Blicken wir zurück, so sehen wir, daß die Beobachtung und die Speculation seit dem Alterthum immer auf die Vorstellung zurückgekommen war, alle oder die meisten Gebirge seyen durch Auftreibung und Einsturz der Erdrinde entstanden; die im Verhältniß zur Leiblichkeit des Menschen so gewaltigen, der Masse der Erde gegenüber so unbedeutenden Unebenheiten des Erdbodens rühren großentheils daher, daß die im Wasser gebildete Oberhaut des Planeten irgendwie in ihrem Zusammenhang und ihrer ebenen Lagerung gestört und dadurch wie mit Pusteln und Finnen besetzt worden. Die Natur selbst schien an zahlreichen Stellen diesen Begriff unmittelbar sinnlich an die Hand gegeben zu haben. Da erschien Werner und widersprach dieser uralten Anschauung, indem er ein gerade entgegengesetztes Schema der Erdrindenbildung aufstellte. Werners unermeßliches Verdienst besteht darin, daß er durch Entwerfung eines umfassenden Mineralsystems der Schöpfer einer unterirdischen Geographie wurde; daß er die Gebirgsarten nach ihren chemischen und mechanischen Verhältnissen gruppirte, den so fruchtbaren Begriff der Gebirgsformationen entwickelte, und so der Forschung eigentlich den Faden in die Hand gab, um sich im Labyrinth der Erdrinde zu orientiren. Das Haupthinderniß des Fortschritts war bisher gewesen, daß die Geologen einander selbst so gar nicht verstanden; Werner war es, welcher der Geognosie eine gemeinverständliche Sprache gab, indem er die verschiedenen Gebilde in ihrer natürlichen Reihenfolge bezifferte. - Wenn Werner in seinen allgemeinen Ansichten von der Erdbildung die eine Kraft, die vulcanische, fast ganz verkannte, so war besonders der Umstand daran Schuld, daß er im Bereich seiner unmittelbaren Beobachtungen, im Erzgebirge, gerade wie die Aegyptier im Nilthal, vorzugsweise Bildungen des Wassers vor Augen hatte. Aber wie Thales, der Zögling der ägyptischen Priester, ein Neptunist blieb, auch nachdem er in sein vulcanisches Vaterland zurückgekehrt, so verdrängte Werners Autorität jene alte Naturanschauung von der Erhebung der Gebirge aus den Köpfen der meisten seiner Zeitgenossen. Daß er dieß konnte, gerade dieß beweist die entscheidende Bedeutung, die Nothwendigkeit der von ihm in die Wissenschaft eingeführten Begriffe. Sie sind Offenbarungen, in die sich die Zeit erst versenken mußte, ehe sie darüber hinausgehen konnte. Es ging hier, wie so oft in allen Wissenschaften: man mußte erst alle Consequenzen eines einseitigen Systems erschöpfen, ehe man wieder umkehrte und in der Mitte das Gleichgewicht und den wahrhaft fruchtbaren Begriff fand.

daß er Thatsachen überlebt hat, wie die Koprolithen, d. h. den versteinerten Koth von Fischen und Reptilien, die abgenützten Zähne in fossilen Kinnladen, die mitten in der Gebärde des Lebens verschütteten Fische u. s. w.; daß es noch deutsche Naturphilosophen gibt, welche ernstlich die fossilen Organismen als unentwickelte Embryonen im Schooße der Erde darstellen – dieß wäre nicht begreiflich, wenn es nicht seine Erklärung in jener philosophischen Koketterie fände, welche auch sonst ähnliche Paradoxen erzeugt und ja auch ein Gegenstück an der historischen Alterthümelei hat, die dem jetzigen Weltlauf die Vernünftigkeit abspricht; nur daß nach den Naturforschern, welche mit den lusus naturae spielen, Gebilde, die einst ganz gewiß gelebt haben, von jeher todt waren, während die laudatores temporis acti Institutionen und Lebensformen für lebendig ausgeben, die schon längst todte Hülsen sind.

Die großartigen Conceptionen Leibnitzens und die noch glänzendere Theorie Buffons waren allerdings sehr bedeutende Phänomene, die viel dazu beitrugen, wenn bald ein philosophischerer Geist in die Naturforschung kam. Aber auch sie gehörten immer noch zu den, auf zu schmaler Basis der Erfahrung aufgebauten Speculationen, die so ganz geeignet sind, dem Wissensdrang des Menschen zu schmeicheln und ihn in das wie durch einen Blitzstrahl erhellte Land seiner Sehnsucht hineinzuführen, die ihn aber in desto tieferem Dunkel, in desto schauerlicherer Oede entlassen, wenn er bei verkühlter Phantasie inne wird, daß dieser Weg keineswegs der Quelle, nach der er dürstet, der Quelle der Erkenntniß, zuführt, sondern vielmehr davon ableitet. – Man hatte indessen nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Erfahrungen genug gesammelt, um nachgerade einzusehen, daß man bisher in einem Irrgarten gewandelt, dessen Pfade immer an denselben Fleck zurückführten; daß es an der Zeit sey, auch in der Geologie den Weg analytischer Forschung einzuschlagen, auf dem andere Zweige der Naturwissenschaft bereits richtig vorwärts schritten, und in Stenons, von seinen Zeitgenossen so schlecht beachtete Fußstapfen zu treten. Seitdem haben alle geologischen Theorien den von uns schon früher bezeichneten praktischen Charakter, wobei man vom Innern des Planeten und seiner Genesis ganz absieht. Danebenher gehen freilich auch jetzt Speculationen im modernen naturphilosophischen Gewand; aber sie können die erstarkte Forschung nur durch Ideen befruchten, sie nicht mehr vom Boden der Erfahrung weg in ihre Kometenbahn fortreißen.

Von diesem Wendepunkt der Wissenschaft bis auf Werner, den eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Geognosie, sind wenige Jahrzehnte verflossen. Bedenkt man, daß Werners so extreme neptunistische Theorie in kurzer Zeit fast allgemeines Dogma wurde, so ist es interessant, daß die bedeutendsten Aperçus, die in der Periode unmittelbar vor ihm gefaßt wurden, just vulcanischer Natur sind. – In den geologischen Conceptionen des berühmten deutschen Reisenden Pallas (geb. 1741) spielt der Vulcanismus eine sehr bedeutende Rolle; namentlich sind ihm, mit Ausnahme der sogenannten Urgebirge, alle Bergketten durch unterirdische vulcanische Wirkung zu ihren gegenwärtigen Höhen aufgestiegen. Der fleißige Forscher Füchsel (geb. 1722) war der erste Deutsche, der die volle Ueberzeugung gewann, daß alle Schichten der Erdrinde ursprünglich, den hydrostatischen Gesetzen gemäß, horizontal gelagert gewesen, und erst später aufgehoben und versenkt worden – eine Naturwahrheit, die bald überall, wo Werners Theorie Platz gegriffen, verkannt wurde. – Der bedeutendste Beobachter dieser Zeit, derjenige, dessen Arbeiten auf den gegenwärtigen Gang der Wissenschaft den größten Einfluß geübt, ist der Alpenwanderer Saussure (geb. 1740). Auch er kam durch Betrachtung der zahlreichen Zerreißungen und Verschiebungen der Schichten in jenen großartigen Gebirgsländern, besonders durch den Anblick der gerade auf den Kopf gestellten groben Conglomeratschichten, auf die Vorstellung, daß diese Gebilde nothwendig einmal aus der ursprünglichen nahezu wagerechten Lagerung durch eine Gewalt von unten aufgehoben worden. Saussure's Auffassung der Verhältnisse der Montblanc-Kette ist der eigentliche Anknüpfungspunkt für alle die Forschungen geworden, durch welche Leopold v. Buch und Elie v. Beaumont zum Begriff der Erhebung aller, nach gewissen Hauptlinien streichenden Gebirgsketten geführt worden sind. Saussure entdeckte auch zuerst das merkwürdige Gesetz des Parallelismus zwischen den Secundärketten eines Gebirgs und der Hauptkette desselben; er hob es klar hervor, daß die Secundärketten immer auf beiden Seiten ihre steilern Abhänge der Hauptkette zukehren, und diese Bemerkung ist für die neuere Ansicht von der Bildung der Gebirge von der größten Bedeutung geworden.

Blicken wir zurück, so sehen wir, daß die Beobachtung und die Speculation seit dem Alterthum immer auf die Vorstellung zurückgekommen war, alle oder die meisten Gebirge seyen durch Auftreibung und Einsturz der Erdrinde entstanden; die im Verhältniß zur Leiblichkeit des Menschen so gewaltigen, der Masse der Erde gegenüber so unbedeutenden Unebenheiten des Erdbodens rühren großentheils daher, daß die im Wasser gebildete Oberhaut des Planeten irgendwie in ihrem Zusammenhang und ihrer ebenen Lagerung gestört und dadurch wie mit Pusteln und Finnen besetzt worden. Die Natur selbst schien an zahlreichen Stellen diesen Begriff unmittelbar sinnlich an die Hand gegeben zu haben. Da erschien Werner und widersprach dieser uralten Anschauung, indem er ein gerade entgegengesetztes Schema der Erdrindenbildung aufstellte. Werners unermeßliches Verdienst besteht darin, daß er durch Entwerfung eines umfassenden Mineralsystems der Schöpfer einer unterirdischen Geographie wurde; daß er die Gebirgsarten nach ihren chemischen und mechanischen Verhältnissen gruppirte, den so fruchtbaren Begriff der Gebirgsformationen entwickelte, und so der Forschung eigentlich den Faden in die Hand gab, um sich im Labyrinth der Erdrinde zu orientiren. Das Haupthinderniß des Fortschritts war bisher gewesen, daß die Geologen einander selbst so gar nicht verstanden; Werner war es, welcher der Geognosie eine gemeinverständliche Sprache gab, indem er die verschiedenen Gebilde in ihrer natürlichen Reihenfolge bezifferte. – Wenn Werner in seinen allgemeinen Ansichten von der Erdbildung die eine Kraft, die vulcanische, fast ganz verkannte, so war besonders der Umstand daran Schuld, daß er im Bereich seiner unmittelbaren Beobachtungen, im Erzgebirge, gerade wie die Aegyptier im Nilthal, vorzugsweise Bildungen des Wassers vor Augen hatte. Aber wie Thales, der Zögling der ägyptischen Priester, ein Neptunist blieb, auch nachdem er in sein vulcanisches Vaterland zurückgekehrt, so verdrängte Werners Autorität jene alte Naturanschauung von der Erhebung der Gebirge aus den Köpfen der meisten seiner Zeitgenossen. Daß er dieß konnte, gerade dieß beweist die entscheidende Bedeutung, die Nothwendigkeit der von ihm in die Wissenschaft eingeführten Begriffe. Sie sind Offenbarungen, in die sich die Zeit erst versenken mußte, ehe sie darüber hinausgehen konnte. Es ging hier, wie so oft in allen Wissenschaften: man mußte erst alle Consequenzen eines einseitigen Systems erschöpfen, ehe man wieder umkehrte und in der Mitte das Gleichgewicht und den wahrhaft fruchtbaren Begriff fand.

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daß er Thatsachen überlebt hat, wie die Koprolithen, d. h. den versteinerten Koth von Fischen und Reptilien, die abgenützten Zähne in fossilen Kinnladen, die mitten in der Gebärde des Lebens verschütteten Fische u. s. w.; daß es noch deutsche Naturphilosophen gibt, welche ernstlich die fossilen Organismen als unentwickelte Embryonen im Schooße der Erde darstellen &#x2013; dieß wäre nicht begreiflich, wenn es nicht seine Erklärung in jener philosophischen Koketterie fände, welche auch sonst ähnliche Paradoxen erzeugt und ja auch ein Gegenstück an der historischen Alterthümelei hat, die dem jetzigen Weltlauf die Vernünftigkeit abspricht; nur daß nach den Naturforschern, welche mit den lusus naturae spielen, Gebilde, die einst ganz gewiß gelebt haben, von jeher todt waren, während die laudatores temporis acti Institutionen und Lebensformen für lebendig ausgeben, die schon längst todte Hülsen sind.</p><lb/>
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[0474/0010] daß er Thatsachen überlebt hat, wie die Koprolithen, d. h. den versteinerten Koth von Fischen und Reptilien, die abgenützten Zähne in fossilen Kinnladen, die mitten in der Gebärde des Lebens verschütteten Fische u. s. w.; daß es noch deutsche Naturphilosophen gibt, welche ernstlich die fossilen Organismen als unentwickelte Embryonen im Schooße der Erde darstellen – dieß wäre nicht begreiflich, wenn es nicht seine Erklärung in jener philosophischen Koketterie fände, welche auch sonst ähnliche Paradoxen erzeugt und ja auch ein Gegenstück an der historischen Alterthümelei hat, die dem jetzigen Weltlauf die Vernünftigkeit abspricht; nur daß nach den Naturforschern, welche mit den lusus naturae spielen, Gebilde, die einst ganz gewiß gelebt haben, von jeher todt waren, während die laudatores temporis acti Institutionen und Lebensformen für lebendig ausgeben, die schon längst todte Hülsen sind. Die großartigen Conceptionen Leibnitzens und die noch glänzendere Theorie Buffons waren allerdings sehr bedeutende Phänomene, die viel dazu beitrugen, wenn bald ein philosophischerer Geist in die Naturforschung kam. Aber auch sie gehörten immer noch zu den, auf zu schmaler Basis der Erfahrung aufgebauten Speculationen, die so ganz geeignet sind, dem Wissensdrang des Menschen zu schmeicheln und ihn in das wie durch einen Blitzstrahl erhellte Land seiner Sehnsucht hineinzuführen, die ihn aber in desto tieferem Dunkel, in desto schauerlicherer Oede entlassen, wenn er bei verkühlter Phantasie inne wird, daß dieser Weg keineswegs der Quelle, nach der er dürstet, der Quelle der Erkenntniß, zuführt, sondern vielmehr davon ableitet. – Man hatte indessen nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Erfahrungen genug gesammelt, um nachgerade einzusehen, daß man bisher in einem Irrgarten gewandelt, dessen Pfade immer an denselben Fleck zurückführten; daß es an der Zeit sey, auch in der Geologie den Weg analytischer Forschung einzuschlagen, auf dem andere Zweige der Naturwissenschaft bereits richtig vorwärts schritten, und in Stenons, von seinen Zeitgenossen so schlecht beachtete Fußstapfen zu treten. Seitdem haben alle geologischen Theorien den von uns schon früher bezeichneten praktischen Charakter, wobei man vom Innern des Planeten und seiner Genesis ganz absieht. Danebenher gehen freilich auch jetzt Speculationen im modernen naturphilosophischen Gewand; aber sie können die erstarkte Forschung nur durch Ideen befruchten, sie nicht mehr vom Boden der Erfahrung weg in ihre Kometenbahn fortreißen. Von diesem Wendepunkt der Wissenschaft bis auf Werner, den eigentlichen Begründer der wissenschaftlichen Geognosie, sind wenige Jahrzehnte verflossen. Bedenkt man, daß Werners so extreme neptunistische Theorie in kurzer Zeit fast allgemeines Dogma wurde, so ist es interessant, daß die bedeutendsten Aperçus, die in der Periode unmittelbar vor ihm gefaßt wurden, just vulcanischer Natur sind. – In den geologischen Conceptionen des berühmten deutschen Reisenden Pallas (geb. 1741) spielt der Vulcanismus eine sehr bedeutende Rolle; namentlich sind ihm, mit Ausnahme der sogenannten Urgebirge, alle Bergketten durch unterirdische vulcanische Wirkung zu ihren gegenwärtigen Höhen aufgestiegen. Der fleißige Forscher Füchsel (geb. 1722) war der erste Deutsche, der die volle Ueberzeugung gewann, daß alle Schichten der Erdrinde ursprünglich, den hydrostatischen Gesetzen gemäß, horizontal gelagert gewesen, und erst später aufgehoben und versenkt worden – eine Naturwahrheit, die bald überall, wo Werners Theorie Platz gegriffen, verkannt wurde. – Der bedeutendste Beobachter dieser Zeit, derjenige, dessen Arbeiten auf den gegenwärtigen Gang der Wissenschaft den größten Einfluß geübt, ist der Alpenwanderer Saussure (geb. 1740). Auch er kam durch Betrachtung der zahlreichen Zerreißungen und Verschiebungen der Schichten in jenen großartigen Gebirgsländern, besonders durch den Anblick der gerade auf den Kopf gestellten groben Conglomeratschichten, auf die Vorstellung, daß diese Gebilde nothwendig einmal aus der ursprünglichen nahezu wagerechten Lagerung durch eine Gewalt von unten aufgehoben worden. Saussure's Auffassung der Verhältnisse der Montblanc-Kette ist der eigentliche Anknüpfungspunkt für alle die Forschungen geworden, durch welche Leopold v. Buch und Elie v. Beaumont zum Begriff der Erhebung aller, nach gewissen Hauptlinien streichenden Gebirgsketten geführt worden sind. Saussure entdeckte auch zuerst das merkwürdige Gesetz des Parallelismus zwischen den Secundärketten eines Gebirgs und der Hauptkette desselben; er hob es klar hervor, daß die Secundärketten immer auf beiden Seiten ihre steilern Abhänge der Hauptkette zukehren, und diese Bemerkung ist für die neuere Ansicht von der Bildung der Gebirge von der größten Bedeutung geworden. Blicken wir zurück, so sehen wir, daß die Beobachtung und die Speculation seit dem Alterthum immer auf die Vorstellung zurückgekommen war, alle oder die meisten Gebirge seyen durch Auftreibung und Einsturz der Erdrinde entstanden; die im Verhältniß zur Leiblichkeit des Menschen so gewaltigen, der Masse der Erde gegenüber so unbedeutenden Unebenheiten des Erdbodens rühren großentheils daher, daß die im Wasser gebildete Oberhaut des Planeten irgendwie in ihrem Zusammenhang und ihrer ebenen Lagerung gestört und dadurch wie mit Pusteln und Finnen besetzt worden. Die Natur selbst schien an zahlreichen Stellen diesen Begriff unmittelbar sinnlich an die Hand gegeben zu haben. Da erschien Werner und widersprach dieser uralten Anschauung, indem er ein gerade entgegengesetztes Schema der Erdrindenbildung aufstellte. Werners unermeßliches Verdienst besteht darin, daß er durch Entwerfung eines umfassenden Mineralsystems der Schöpfer einer unterirdischen Geographie wurde; daß er die Gebirgsarten nach ihren chemischen und mechanischen Verhältnissen gruppirte, den so fruchtbaren Begriff der Gebirgsformationen entwickelte, und so der Forschung eigentlich den Faden in die Hand gab, um sich im Labyrinth der Erdrinde zu orientiren. Das Haupthinderniß des Fortschritts war bisher gewesen, daß die Geologen einander selbst so gar nicht verstanden; Werner war es, welcher der Geognosie eine gemeinverständliche Sprache gab, indem er die verschiedenen Gebilde in ihrer natürlichen Reihenfolge bezifferte. – Wenn Werner in seinen allgemeinen Ansichten von der Erdbildung die eine Kraft, die vulcanische, fast ganz verkannte, so war besonders der Umstand daran Schuld, daß er im Bereich seiner unmittelbaren Beobachtungen, im Erzgebirge, gerade wie die Aegyptier im Nilthal, vorzugsweise Bildungen des Wassers vor Augen hatte. Aber wie Thales, der Zögling der ägyptischen Priester, ein Neptunist blieb, auch nachdem er in sein vulcanisches Vaterland zurückgekehrt, so verdrängte Werners Autorität jene alte Naturanschauung von der Erhebung der Gebirge aus den Köpfen der meisten seiner Zeitgenossen. Daß er dieß konnte, gerade dieß beweist die entscheidende Bedeutung, die Nothwendigkeit der von ihm in die Wissenschaft eingeführten Begriffe. Sie sind Offenbarungen, in die sich die Zeit erst versenken mußte, ehe sie darüber hinausgehen konnte. Es ging hier, wie so oft in allen Wissenschaften: man mußte erst alle Consequenzen eines einseitigen Systems erschöpfen, ehe man wieder umkehrte und in der Mitte das Gleichgewicht und den wahrhaft fruchtbaren Begriff fand.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 60. Augsburg, 29. Februar 1840, S. 0474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_060_18400229/10>, abgerufen am 18.04.2024.