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Allgemeine Zeitung. Nr. 41. Augsburg, 10. Februar 1840.

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und Wiederaufschwung; es liegt in demselben jener Unwillen, jener Schmerz über die Gegenwart, aus dem die Kraft und Energie des Geistes zur Besserung und zur Wiedergeburt hervorkeimen. Oder an was sollen die Italiener ihre Fortentwicklung denn wieder anknüpfen, wenn nicht an die Fülle ihrer Geschichte? Doch nicht an den französischen Liberalismus oder an andern fremden Geist; und in die Luft hinein baut kein Volk Großes, das Stürme überdauert; denn das Fundament aller gesunden Entwicklung ist die Geschichte. Wenn die Italiener ihrer Geschichte vergessen hätten, wenn sie sich nicht mehr stets und lebendig die großen Bilder ihrer Vergangenheit vor das Gedächtniß zurückriefen, gleichgültig in den Tag hinlebten, würde das nicht vielmehr der sicherste Beweis davon seyn, daß sie geistig abgestumpft, unempfänglich für Vaterland und Ehre geworden, moralisch versunken wären? Wem wird es einfallen, daraus, daß Preußen den Antritt Friedrich des Großen zu seiner glorreichen Regierung oder andere Jahrestage feiert, den Schluß zu ziehen, daß die Völker Preußens geistig versunken seyen? Fürwahr, eine große Geschichte ist keine Last, kein Unglück für die Völker, vielmehr eine der großen, naturgewaltigen Mächte, welche Nationen aus Schlummer und Erniedrigung wieder aufwecken, ihren Sturz auf Jahrhunderte hin verzögern und ihnen die Kräfte zur Verjüngung und Wiedergeburt verleihen können. Hr. v. Raumer beklagt den tiefen Verfall der Musik in Italien; nun, jene Liebe, jenes Umfassen ihrer Vergangenheit beweist, daß die vaterländische Musik im innersten Herzen der Italiener nicht verklungen und erloschen ist: aus der vollen, reichen, nie erschöpften Tiefe ihrer historischen Erinnerungen heraus schöpfen sie Muth, Geduld, Nationalehre und Stolz, Hoffnung, Poesie, Seelenschwung!

Galizien.

In der Beilage der Allgem. Ztg. vom 14 Jan. befindet sich ein die Verhältnisse von deutsch- und russisch Polen berührender Aufsatz, der von einem schlecht berichteten Correspondenten kommen muß, und einer Berichtigung bedarf. - Ich stimme herzlich in das von jenem Correspondenten der österreichischen Regierung gespendete Lob ein, aber das Verhältniß zwischen dem galizischen Bauer und dem Edelmann ist ganz irrig dargestellt. Der Correspondent sagt: "der galizische Edelmann wird selbst Bauer!" Diese Behauptung ist so falsch, daß sie jedem, der nur ein Jahr in Galizien gewesen, lächerlich erscheinen muß. - Zwischen dem Edelmann und dem Bauern in Galizien waltet fast überall eine wachsende Feindseligkeit ob. Die österreichische Regierung hat dem Bauer in Galizien viele wichtige Rechte verliehen, welche die früheren Rechtsansprüche der Edelleute sehr beschränken. Manche Edelleute suchen nun nach Möglichkeit die alten Gewohnheiten aufrecht zu erhalten; andrerseits verstehen viele Bauern die ihnen verliehenen Rechte irrig und machen unmäßige Forderungen; so ist fast in jedem Dorfe ein Streit zwischen dem Edelmann und dem Bauer. Die k. k. Kreisämter sind fast immerwährend beschäftigt dergleichen Streitsachen zu entscheiden, und Tausende von Winkelschreibern leben nur von Abfassung von Klagen, zu denen sie den Bauer nach Möglichkeit bereden. - Diese Feindseligkeit bleibt nicht immer auf schriftliche Klagen beschränkt; in mehreren Dörfern haben die Bauern thätlich ihre Schuldigkeit zu leisten verweigert, und die Beamten und Diener des Edelmanns mißhandelt, so daß die Regierung durch bewaffnete Einschreitung des Militärs die Rechte des Edelmanns beschützen mußte. Bei solchem Verhältniß kann von einer Fraternisirung des Edelmanns mit dem Bauern in Galizien wenigstens in dem 19 Jahrhundert keine Rede seyn. - Es gibt sicher in Galizien keinen Edelmann, der die galizische Bauerntracht tragen möchte. Nur die modernisirte ehemalige polnische Nationaltracht tragen einige wenige junge Leute, doch die ist der galizischen Bauerntracht in keiner Hinsicht ähnlich.

Großbritannien.

Wie schon kurz erwähnt, wurden vor einigen Tagen im Hause der Lords lange Debatten gepflogen über Robert Owen und den Socialismus in England. Der Bischof von Exeter übergab, seiner Ankündigung zufolge, eine Petition von 4000 Kaufleuten und Fabricanten in Birmingham gegen die Fortschritte der Secte der Socialisten oder, wie sie sich selbst lieber nennen, der "Gesellschaft religiöser Rationalisten." Dieser Name bedeutet jedoch in diesem Falle, dem praktischen Sinn der Engländer gemäß, um ein Beträchtliches mehr, als die mitunter etwas consequenzscheuen Theorien unserer deutschen Denkgläubigen über Gott und göttliche Dinge. Die Doctrin der Socialisten, insofern sie Religionsfragen betrifft, ist ein nüchterner Materialismus, der aber - denn auch die Nüchternheit hat ihre Schwärmer - den Fanatismus nicht ausschließt, um so weniger, als diese Lehre in ihrer social-politischen Anwendung auf dieses Erdenleben, das ihr als das einzige gilt, folgerecht in die abenteuerlichsten Perfectibilitätsplane gerathen muß. Hier trifft dieselbe mit den nachgerade verschollenen Tendenzen des Saint-Simonismus, des "jungen Deutschlands" und ähnlicher Ausgeburten einer ihrem Schwerpunct entrückten, gährenden Zeit zusammen. Für England ist der Socialismus jedenfalls eine interessante Erscheinung, zumal in seinem Zusammentreffen mit dem Chartismus; die nähern Berührungen beider können, bei ihrer innern Verwandtschaft, nicht wohl ausbleiben, wofür auch der Umstand spricht, daß die beiden Bewegungen an der Stadt Birmingham einen gemeinschaftlichen Hauptherd gewonnen haben. Die Einflüsse eines Cromwellischen Puritanismus, wie sie das Chartisten-Epos Ernst zeichnet, wären damit auf der andern Seite nicht ausgeschlossen, denn der gleiche politische Zweck könnte die entgegengesetzten Factoren in ihrer Wirksamkeit vereinigen. Zugleich stellt der Socialismus ein Extrem des hausbackenen geistlichen Verstandes dar, das der buchstabendürren, polizeimäßig gehandhabten Orthodoxie der Staatskirche gegenüber endlich hervortreten mußte. - Dr. Phillpots übergab also obenerwähnte Petition, in der auch getadelt wurde, daß der Urheber dieser Lehre, Robert Owen, vor einigen Monaten von Lord Melbourne der Königin bei einem Lever vorgestellt worden. Der Bischof hielt eine lange Rede, um zu beweisen, daß der Socialismus gesetzwidrig sey, da dessen Mitglieder mit Gesellschaften in Frankreich in Verbindung ständen, in England selbst einen Congreß mit legislativen Befugnissen hielten, und da Abgeordnete desselben mit besondern Gewalten im ganzen Land umhergeschickt würden. Das Centralbureau habe seinen Sitz in Birmingham, das Land sey in 14 Socialisten-Bezirke eingetheilt, und 350 Städte würden von den Emissären der Gesellschaft, die aus der durch ganz kleine, aber zahlreiche Beiträge geschaffenen Vereinscasse je 30 Schilling wochentlich empfingen, regelmäßig besucht. Von diesen Aussendlingen gehörten zwar nur wenige den höhern Gesellschaftsclassen an, aber sie seyen fast durchgängig talentvolle, rührige, beredte und selbst gebildete Leute, wiewohl ihre Bildung diese verkehrte und unheilvolle Richtung genommen. Aus allem diesem gehe hervor, daß die Gesellschaft zu denen gehöre, welche durch die Acte 37 Georgs III für gesetzwidrig

und Wiederaufschwung; es liegt in demselben jener Unwillen, jener Schmerz über die Gegenwart, aus dem die Kraft und Energie des Geistes zur Besserung und zur Wiedergeburt hervorkeimen. Oder an was sollen die Italiener ihre Fortentwicklung denn wieder anknüpfen, wenn nicht an die Fülle ihrer Geschichte? Doch nicht an den französischen Liberalismus oder an andern fremden Geist; und in die Luft hinein baut kein Volk Großes, das Stürme überdauert; denn das Fundament aller gesunden Entwicklung ist die Geschichte. Wenn die Italiener ihrer Geschichte vergessen hätten, wenn sie sich nicht mehr stets und lebendig die großen Bilder ihrer Vergangenheit vor das Gedächtniß zurückriefen, gleichgültig in den Tag hinlebten, würde das nicht vielmehr der sicherste Beweis davon seyn, daß sie geistig abgestumpft, unempfänglich für Vaterland und Ehre geworden, moralisch versunken wären? Wem wird es einfallen, daraus, daß Preußen den Antritt Friedrich des Großen zu seiner glorreichen Regierung oder andere Jahrestage feiert, den Schluß zu ziehen, daß die Völker Preußens geistig versunken seyen? Fürwahr, eine große Geschichte ist keine Last, kein Unglück für die Völker, vielmehr eine der großen, naturgewaltigen Mächte, welche Nationen aus Schlummer und Erniedrigung wieder aufwecken, ihren Sturz auf Jahrhunderte hin verzögern und ihnen die Kräfte zur Verjüngung und Wiedergeburt verleihen können. Hr. v. Raumer beklagt den tiefen Verfall der Musik in Italien; nun, jene Liebe, jenes Umfassen ihrer Vergangenheit beweist, daß die vaterländische Musik im innersten Herzen der Italiener nicht verklungen und erloschen ist: aus der vollen, reichen, nie erschöpften Tiefe ihrer historischen Erinnerungen heraus schöpfen sie Muth, Geduld, Nationalehre und Stolz, Hoffnung, Poesie, Seelenschwung!

Galizien.

In der Beilage der Allgem. Ztg. vom 14 Jan. befindet sich ein die Verhältnisse von deutsch- und russisch Polen berührender Aufsatz, der von einem schlecht berichteten Correspondenten kommen muß, und einer Berichtigung bedarf. – Ich stimme herzlich in das von jenem Correspondenten der österreichischen Regierung gespendete Lob ein, aber das Verhältniß zwischen dem galizischen Bauer und dem Edelmann ist ganz irrig dargestellt. Der Correspondent sagt: „der galizische Edelmann wird selbst Bauer!“ Diese Behauptung ist so falsch, daß sie jedem, der nur ein Jahr in Galizien gewesen, lächerlich erscheinen muß. – Zwischen dem Edelmann und dem Bauern in Galizien waltet fast überall eine wachsende Feindseligkeit ob. Die österreichische Regierung hat dem Bauer in Galizien viele wichtige Rechte verliehen, welche die früheren Rechtsansprüche der Edelleute sehr beschränken. Manche Edelleute suchen nun nach Möglichkeit die alten Gewohnheiten aufrecht zu erhalten; andrerseits verstehen viele Bauern die ihnen verliehenen Rechte irrig und machen unmäßige Forderungen; so ist fast in jedem Dorfe ein Streit zwischen dem Edelmann und dem Bauer. Die k. k. Kreisämter sind fast immerwährend beschäftigt dergleichen Streitsachen zu entscheiden, und Tausende von Winkelschreibern leben nur von Abfassung von Klagen, zu denen sie den Bauer nach Möglichkeit bereden. – Diese Feindseligkeit bleibt nicht immer auf schriftliche Klagen beschränkt; in mehreren Dörfern haben die Bauern thätlich ihre Schuldigkeit zu leisten verweigert, und die Beamten und Diener des Edelmanns mißhandelt, so daß die Regierung durch bewaffnete Einschreitung des Militärs die Rechte des Edelmanns beschützen mußte. Bei solchem Verhältniß kann von einer Fraternisirung des Edelmanns mit dem Bauern in Galizien wenigstens in dem 19 Jahrhundert keine Rede seyn. – Es gibt sicher in Galizien keinen Edelmann, der die galizische Bauerntracht tragen möchte. Nur die modernisirte ehemalige polnische Nationaltracht tragen einige wenige junge Leute, doch die ist der galizischen Bauerntracht in keiner Hinsicht ähnlich.

Großbritannien.

Wie schon kurz erwähnt, wurden vor einigen Tagen im Hause der Lords lange Debatten gepflogen über Robert Owen und den Socialismus in England. Der Bischof von Exeter übergab, seiner Ankündigung zufolge, eine Petition von 4000 Kaufleuten und Fabricanten in Birmingham gegen die Fortschritte der Secte der Socialisten oder, wie sie sich selbst lieber nennen, der „Gesellschaft religiöser Rationalisten.“ Dieser Name bedeutet jedoch in diesem Falle, dem praktischen Sinn der Engländer gemäß, um ein Beträchtliches mehr, als die mitunter etwas consequenzscheuen Theorien unserer deutschen Denkgläubigen über Gott und göttliche Dinge. Die Doctrin der Socialisten, insofern sie Religionsfragen betrifft, ist ein nüchterner Materialismus, der aber – denn auch die Nüchternheit hat ihre Schwärmer – den Fanatismus nicht ausschließt, um so weniger, als diese Lehre in ihrer social-politischen Anwendung auf dieses Erdenleben, das ihr als das einzige gilt, folgerecht in die abenteuerlichsten Perfectibilitätsplane gerathen muß. Hier trifft dieselbe mit den nachgerade verschollenen Tendenzen des Saint-Simonismus, des „jungen Deutschlands“ und ähnlicher Ausgeburten einer ihrem Schwerpunct entrückten, gährenden Zeit zusammen. Für England ist der Socialismus jedenfalls eine interessante Erscheinung, zumal in seinem Zusammentreffen mit dem Chartismus; die nähern Berührungen beider können, bei ihrer innern Verwandtschaft, nicht wohl ausbleiben, wofür auch der Umstand spricht, daß die beiden Bewegungen an der Stadt Birmingham einen gemeinschaftlichen Hauptherd gewonnen haben. Die Einflüsse eines Cromwellischen Puritanismus, wie sie das Chartisten-Epos Ernst zeichnet, wären damit auf der andern Seite nicht ausgeschlossen, denn der gleiche politische Zweck könnte die entgegengesetzten Factoren in ihrer Wirksamkeit vereinigen. Zugleich stellt der Socialismus ein Extrem des hausbackenen geistlichen Verstandes dar, das der buchstabendürren, polizeimäßig gehandhabten Orthodoxie der Staatskirche gegenüber endlich hervortreten mußte. – Dr. Phillpots übergab also obenerwähnte Petition, in der auch getadelt wurde, daß der Urheber dieser Lehre, Robert Owen, vor einigen Monaten von Lord Melbourne der Königin bei einem Lever vorgestellt worden. Der Bischof hielt eine lange Rede, um zu beweisen, daß der Socialismus gesetzwidrig sey, da dessen Mitglieder mit Gesellschaften in Frankreich in Verbindung ständen, in England selbst einen Congreß mit legislativen Befugnissen hielten, und da Abgeordnete desselben mit besondern Gewalten im ganzen Land umhergeschickt würden. Das Centralbureau habe seinen Sitz in Birmingham, das Land sey in 14 Socialisten-Bezirke eingetheilt, und 350 Städte würden von den Emissären der Gesellschaft, die aus der durch ganz kleine, aber zahlreiche Beiträge geschaffenen Vereinscasse je 30 Schilling wochentlich empfingen, regelmäßig besucht. Von diesen Aussendlingen gehörten zwar nur wenige den höhern Gesellschaftsclassen an, aber sie seyen fast durchgängig talentvolle, rührige, beredte und selbst gebildete Leute, wiewohl ihre Bildung diese verkehrte und unheilvolle Richtung genommen. Aus allem diesem gehe hervor, daß die Gesellschaft zu denen gehöre, welche durch die Acte 37 Georgs III für gesetzwidrig

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[0324/0011] und Wiederaufschwung; es liegt in demselben jener Unwillen, jener Schmerz über die Gegenwart, aus dem die Kraft und Energie des Geistes zur Besserung und zur Wiedergeburt hervorkeimen. Oder an was sollen die Italiener ihre Fortentwicklung denn wieder anknüpfen, wenn nicht an die Fülle ihrer Geschichte? Doch nicht an den französischen Liberalismus oder an andern fremden Geist; und in die Luft hinein baut kein Volk Großes, das Stürme überdauert; denn das Fundament aller gesunden Entwicklung ist die Geschichte. Wenn die Italiener ihrer Geschichte vergessen hätten, wenn sie sich nicht mehr stets und lebendig die großen Bilder ihrer Vergangenheit vor das Gedächtniß zurückriefen, gleichgültig in den Tag hinlebten, würde das nicht vielmehr der sicherste Beweis davon seyn, daß sie geistig abgestumpft, unempfänglich für Vaterland und Ehre geworden, moralisch versunken wären? Wem wird es einfallen, daraus, daß Preußen den Antritt Friedrich des Großen zu seiner glorreichen Regierung oder andere Jahrestage feiert, den Schluß zu ziehen, daß die Völker Preußens geistig versunken seyen? Fürwahr, eine große Geschichte ist keine Last, kein Unglück für die Völker, vielmehr eine der großen, naturgewaltigen Mächte, welche Nationen aus Schlummer und Erniedrigung wieder aufwecken, ihren Sturz auf Jahrhunderte hin verzögern und ihnen die Kräfte zur Verjüngung und Wiedergeburt verleihen können. Hr. v. Raumer beklagt den tiefen Verfall der Musik in Italien; nun, jene Liebe, jenes Umfassen ihrer Vergangenheit beweist, daß die vaterländische Musik im innersten Herzen der Italiener nicht verklungen und erloschen ist: aus der vollen, reichen, nie erschöpften Tiefe ihrer historischen Erinnerungen heraus schöpfen sie Muth, Geduld, Nationalehre und Stolz, Hoffnung, Poesie, Seelenschwung! Galizien. Lemberg. In der Beilage der Allgem. Ztg. vom 14 Jan. befindet sich ein die Verhältnisse von deutsch- und russisch Polen berührender Aufsatz, der von einem schlecht berichteten Correspondenten kommen muß, und einer Berichtigung bedarf. – Ich stimme herzlich in das von jenem Correspondenten der österreichischen Regierung gespendete Lob ein, aber das Verhältniß zwischen dem galizischen Bauer und dem Edelmann ist ganz irrig dargestellt. Der Correspondent sagt: „der galizische Edelmann wird selbst Bauer!“ Diese Behauptung ist so falsch, daß sie jedem, der nur ein Jahr in Galizien gewesen, lächerlich erscheinen muß. – Zwischen dem Edelmann und dem Bauern in Galizien waltet fast überall eine wachsende Feindseligkeit ob. Die österreichische Regierung hat dem Bauer in Galizien viele wichtige Rechte verliehen, welche die früheren Rechtsansprüche der Edelleute sehr beschränken. Manche Edelleute suchen nun nach Möglichkeit die alten Gewohnheiten aufrecht zu erhalten; andrerseits verstehen viele Bauern die ihnen verliehenen Rechte irrig und machen unmäßige Forderungen; so ist fast in jedem Dorfe ein Streit zwischen dem Edelmann und dem Bauer. Die k. k. Kreisämter sind fast immerwährend beschäftigt dergleichen Streitsachen zu entscheiden, und Tausende von Winkelschreibern leben nur von Abfassung von Klagen, zu denen sie den Bauer nach Möglichkeit bereden. – Diese Feindseligkeit bleibt nicht immer auf schriftliche Klagen beschränkt; in mehreren Dörfern haben die Bauern thätlich ihre Schuldigkeit zu leisten verweigert, und die Beamten und Diener des Edelmanns mißhandelt, so daß die Regierung durch bewaffnete Einschreitung des Militärs die Rechte des Edelmanns beschützen mußte. Bei solchem Verhältniß kann von einer Fraternisirung des Edelmanns mit dem Bauern in Galizien wenigstens in dem 19 Jahrhundert keine Rede seyn. – Es gibt sicher in Galizien keinen Edelmann, der die galizische Bauerntracht tragen möchte. Nur die modernisirte ehemalige polnische Nationaltracht tragen einige wenige junge Leute, doch die ist der galizischen Bauerntracht in keiner Hinsicht ähnlich. Großbritannien. London, 1 Febr. Wie schon kurz erwähnt, wurden vor einigen Tagen im Hause der Lords lange Debatten gepflogen über Robert Owen und den Socialismus in England. Der Bischof von Exeter übergab, seiner Ankündigung zufolge, eine Petition von 4000 Kaufleuten und Fabricanten in Birmingham gegen die Fortschritte der Secte der Socialisten oder, wie sie sich selbst lieber nennen, der „Gesellschaft religiöser Rationalisten.“ Dieser Name bedeutet jedoch in diesem Falle, dem praktischen Sinn der Engländer gemäß, um ein Beträchtliches mehr, als die mitunter etwas consequenzscheuen Theorien unserer deutschen Denkgläubigen über Gott und göttliche Dinge. Die Doctrin der Socialisten, insofern sie Religionsfragen betrifft, ist ein nüchterner Materialismus, der aber – denn auch die Nüchternheit hat ihre Schwärmer – den Fanatismus nicht ausschließt, um so weniger, als diese Lehre in ihrer social-politischen Anwendung auf dieses Erdenleben, das ihr als das einzige gilt, folgerecht in die abenteuerlichsten Perfectibilitätsplane gerathen muß. Hier trifft dieselbe mit den nachgerade verschollenen Tendenzen des Saint-Simonismus, des „jungen Deutschlands“ und ähnlicher Ausgeburten einer ihrem Schwerpunct entrückten, gährenden Zeit zusammen. Für England ist der Socialismus jedenfalls eine interessante Erscheinung, zumal in seinem Zusammentreffen mit dem Chartismus; die nähern Berührungen beider können, bei ihrer innern Verwandtschaft, nicht wohl ausbleiben, wofür auch der Umstand spricht, daß die beiden Bewegungen an der Stadt Birmingham einen gemeinschaftlichen Hauptherd gewonnen haben. Die Einflüsse eines Cromwellischen Puritanismus, wie sie das Chartisten-Epos Ernst zeichnet, wären damit auf der andern Seite nicht ausgeschlossen, denn der gleiche politische Zweck könnte die entgegengesetzten Factoren in ihrer Wirksamkeit vereinigen. Zugleich stellt der Socialismus ein Extrem des hausbackenen geistlichen Verstandes dar, das der buchstabendürren, polizeimäßig gehandhabten Orthodoxie der Staatskirche gegenüber endlich hervortreten mußte. – Dr. Phillpots übergab also obenerwähnte Petition, in der auch getadelt wurde, daß der Urheber dieser Lehre, Robert Owen, vor einigen Monaten von Lord Melbourne der Königin bei einem Lever vorgestellt worden. Der Bischof hielt eine lange Rede, um zu beweisen, daß der Socialismus gesetzwidrig sey, da dessen Mitglieder mit Gesellschaften in Frankreich in Verbindung ständen, in England selbst einen Congreß mit legislativen Befugnissen hielten, und da Abgeordnete desselben mit besondern Gewalten im ganzen Land umhergeschickt würden. Das Centralbureau habe seinen Sitz in Birmingham, das Land sey in 14 Socialisten-Bezirke eingetheilt, und 350 Städte würden von den Emissären der Gesellschaft, die aus der durch ganz kleine, aber zahlreiche Beiträge geschaffenen Vereinscasse je 30 Schilling wochentlich empfingen, regelmäßig besucht. Von diesen Aussendlingen gehörten zwar nur wenige den höhern Gesellschaftsclassen an, aber sie seyen fast durchgängig talentvolle, rührige, beredte und selbst gebildete Leute, wiewohl ihre Bildung diese verkehrte und unheilvolle Richtung genommen. Aus allem diesem gehe hervor, daß die Gesellschaft zu denen gehöre, welche durch die Acte 37 Georgs III für gesetzwidrig

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 41. Augsburg, 10. Februar 1840, S. 0324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_041_18400210/11>, abgerufen am 25.04.2024.