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Allgemeine Zeitung. Nr. 25. Augsburg, 25. Januar 1840.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung
4 Januar 1840

Der Orient und die französischen Kammerdebatten.

(Fortsetzung.)

Geht man von jener Einleitung über die zwei Systeme in der orientalischen Politik und die aus beiden hervorblickenden Absichten der Franzosen auf Deutschland zu dem eigentlichen Inhalt der Rede des Hrn. Thiers, das heißt auf die in ihr enthaltene Behandlung der türkischen Frage über, so wird man leicht wahrnehmen, daß ihr europäischer Theil, so weit Hr. Thiers ihn aufnimmt, trefflich und staatsmännisch behandelt, ihr orientalischer aber ganz verfehlt ist.

Hr. Thiers schildert in einfachen und bestimmten Sätzen, was in jener Frage Frankreich von Rußland trennt, und bezeichnet mit gleicher Bestimmtheit, wodurch Frankreich zur englischen Allianz gezogen wird. Dort ist Antipathie der Grundsätze, verschärft durch Antipathie der Interessen über den Hauptpunkt, von dem es sich nach Hrn. Thiers handelt, dem Besitz von Konstantinopel. Hier sind principielle Sympathien, gestärkt durch die für beide Mächte gleich drängende Nothwendigkeit, die Pforte von dem Protectorat Rußlands zu befreien; dieß kann aber nur geschehen, wenn der Tractat von Hunkiar-Skelessi aufgehoben und Konstantinopel gegen die Besitznahme durch die Russen sicher gestellt wird. Es ist kein kleines Verdienst, diese allerdings nicht neuen, aber in der letzten Zeit oft übersehenen und mißachteten Wahrheiten in so bündiger, einleuchtender Weise, wie es durch jenen geistreichen und erfahrenen Mann geschieht, über alle Bedenken und allen Zweifel hinausgestellt zu haben. Dagegen ist Alles schwach, verfehlt oder falsch, was sich in ihr auf das Verhältniß des Pascha's zum Sultan bezieht. Vor Allem ist in seiner, wie in allen andern Reden der Franzosen über diesen Gegenstand auch nicht mit einer leisen Andeutung der Rechtspunkt erwähnt, das Factische aber verstellt und zum Theil ebenfalls verschwiegen.

Daß Mehemed Ali die Kräfte der ihm anvertrauten oder zugefallenen Länder erschöpft, um eine furchtbare Land- und Seemacht gegen seinen Herrn zu gründen, daß er, außer Stand, sie von dem erschöpften und todesmatten Aegypten allein zu ernähren, Syrien angefallen und, nachdem er die Heere des Großherrn geschlagen, den Marsch über den Taurus in der erklärten Absicht angetreten, ihn zu entthronen, daß er ihn zur Verzweiflung und in die Hände der Russen getrieben, daß er durch Behauptung von Adana sich den Weg nach Konstantinopel offen gehalten, daß er Syrien zerrüttet wie Aegypten, um seine Rüstungen auf eine der Pforte stets furchtbarere Höhe zu steigern, daß er fortdauernd mit doppelter Gewalt gegen seinen Herrn gerüstet stand, offen mit den Waffen in der Hand, geheim mit den nicht weniger verderblichen Waffen der Bestechung, der Intrigue, daß er dadurch alle Kräfte des Sultans von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt, daß er alle Reformen, alle Plane der Verbesserung und die ganze That einer zwanzigjährigen Anstrengung des Sultans gehemmt und vernichtet hat, indem er ihn nöthigte, alle Kraft und Anstrengung und alle Mittel seiner Völker allein gegen ihn zu richten und, um am Ende diesem unerträglichen Zustande zu entgehen, das Loos der Waffen zu versuchen - dieß Alles, die ganze Frage des Rechts, der politischen Nothwendigkeit wird entweder ganz übergangen oder in Schatten gestellt. Es war nach Hrn. Thiers eben Alles abgethan; es handelte sich nur noch von dem Titel der Erblichkeit für Mehemed Ali über Länder, die der Sultan weder erobern, noch beherrschen konnte; auch blieb ja dem Sultan zwischen Taurus und Balkan noch genug zu beherrschen und zu beglücken. Das alles so zu verstellen und zu verhüllen, ist nicht staatsmännlich, denn es führt über Grund und Natur der Sache hinweg und hemmt mit der Diagnose das Verständniß der Lage und die Erkenntniß der zu ihrer Hebung allein dienlichen Mittel.

Nicht befriedigender ist die Darstellung dessen, was nach der Schlacht von Nisib geschehen oder zu erwarten gewesen. Der Redner geht von der Behauptung aus, der Vicekönig habe vor dem Kriege gar nichts Anderes gewollt, als die Erblichkeit für die Länder, die er schon besessen, und habe auch nach dem Siege seine Forderungen nicht wesentlich gesteigert. Er habe den Angriff auf sein Besitzthum abgeschlagen, und ihm sey nach Vernichtung des feindlichen Heeres nicht eingefallen, nach Konstantinopel gehen zu wollen, da er gewußt habe, er würde die Russen auf seinem Wege treffen. Hier hat Hr. Duchatel ihm bereits mit Bezug auf Urkunden, welche vorzulegen noch nicht an der Zeit sey, mit Entschiedenheit widersprochen, und Niemand, der die Lage des Pascha's kennt und sein Vorgehen von seinem Vorhaben zu unterscheiden weiß, kann zweifeln, daß er nach dem Euphrat und nach Bagdad so begierig ist wie nach Smyrna und Konstantinopel, daß er durch das innere Gebot der Selbsterhaltung weiter und weiter getrieben wird. Der Pascha findet übrigens selbst gar nicht nöthig, seinen letzten Gedanken gegen Jeden und in jeder Weise zu verbergen. Ist ganz verlässigen Männern, die aus Aegypten kamen und dort Gelegenheit hatten durch ihn selber tiefer in seine Absichten zu blicken, zu glauben, so betrachtet er seinen Stillstand nach dem Siege bei Koniah, durch den ihm Konstantinopel entging, als einen Fehler, den er sich vorgenommen bei der ersten günstigen Gelegenheit zu verbessern. Wer daran zweifelt, der mag die Bewegungen beobachten, die er in Kleinasien, unter den Kurden, in Albanien und Macedonien einleitet und vorbereitet, um einen Zerfall des Reichs herbeizuführen, und über seinen Trümmern mit seiner Macht allein übrig zu bleiben. Das ist der Thatbestand, gegenüber von welchem Hr. Thiers das ganze Gebäude seiner Argumentation auf den Grund baut, daß es sich zwischen dem Sultan und seinem Vasallen allein von der thatsächlich schon entschiedenen Frage der Erblichkeit gehandelt habe. Es braucht nicht unserer Erinnerung, daß Alles, was von einigem Gewicht und einiger Bedeutung darauf gestützt wird, unhaltbar ist und zusammenstürzt.

Hr. Thiers behauptet in Folge seiner falschen Hypothesis, die Frage sey anfangs eine bloß orientalische zwischen den beiden Streitenden gewesen, und erst durch die Intervention der Mächte eine europäische geworden. Sie war aber von Anfang eine europäische durch die Absichten des Pascha's auf die höchste Gewalt in der Türkei, nicht so, daß diese Absicht an sich sie zu einer europäischen gemacht hätte. Europa hatte kein Interesse, die Plane des Vicekönigs auf die Obergewalt in der Türkei zu hindern, Europa hätte im Gegentheil nur gewonnen, wenn durch die größere Kraft, welche der neue Herrscher dem osmanischen Reiche gab, seine Emancipation gegenüber Rußland wäre herbeigeführt und seine Selbstständigkeit gegründet worden; aber die Frage wurde und war zufolge jener Absicht gleich anfangs europäisch durch den wohlbegründeten, anerkannten und zugestandenen Entschluß Rußlands, eine solche Erhebung nicht zu gestatten, sondern ihr mit bewaffneter Hand entgegen zu treten; und Alles, was Hr. Thiers vorträgt, um die Europäisirung


Beilage zur Allgemeinen Zeitung
4 Januar 1840

Der Orient und die französischen Kammerdebatten.

(Fortsetzung.)

Geht man von jener Einleitung über die zwei Systeme in der orientalischen Politik und die aus beiden hervorblickenden Absichten der Franzosen auf Deutschland zu dem eigentlichen Inhalt der Rede des Hrn. Thiers, das heißt auf die in ihr enthaltene Behandlung der türkischen Frage über, so wird man leicht wahrnehmen, daß ihr europäischer Theil, so weit Hr. Thiers ihn aufnimmt, trefflich und staatsmännisch behandelt, ihr orientalischer aber ganz verfehlt ist.

Hr. Thiers schildert in einfachen und bestimmten Sätzen, was in jener Frage Frankreich von Rußland trennt, und bezeichnet mit gleicher Bestimmtheit, wodurch Frankreich zur englischen Allianz gezogen wird. Dort ist Antipathie der Grundsätze, verschärft durch Antipathie der Interessen über den Hauptpunkt, von dem es sich nach Hrn. Thiers handelt, dem Besitz von Konstantinopel. Hier sind principielle Sympathien, gestärkt durch die für beide Mächte gleich drängende Nothwendigkeit, die Pforte von dem Protectorat Rußlands zu befreien; dieß kann aber nur geschehen, wenn der Tractat von Hunkiar-Skelessi aufgehoben und Konstantinopel gegen die Besitznahme durch die Russen sicher gestellt wird. Es ist kein kleines Verdienst, diese allerdings nicht neuen, aber in der letzten Zeit oft übersehenen und mißachteten Wahrheiten in so bündiger, einleuchtender Weise, wie es durch jenen geistreichen und erfahrenen Mann geschieht, über alle Bedenken und allen Zweifel hinausgestellt zu haben. Dagegen ist Alles schwach, verfehlt oder falsch, was sich in ihr auf das Verhältniß des Pascha's zum Sultan bezieht. Vor Allem ist in seiner, wie in allen andern Reden der Franzosen über diesen Gegenstand auch nicht mit einer leisen Andeutung der Rechtspunkt erwähnt, das Factische aber verstellt und zum Theil ebenfalls verschwiegen.

Daß Mehemed Ali die Kräfte der ihm anvertrauten oder zugefallenen Länder erschöpft, um eine furchtbare Land- und Seemacht gegen seinen Herrn zu gründen, daß er, außer Stand, sie von dem erschöpften und todesmatten Aegypten allein zu ernähren, Syrien angefallen und, nachdem er die Heere des Großherrn geschlagen, den Marsch über den Taurus in der erklärten Absicht angetreten, ihn zu entthronen, daß er ihn zur Verzweiflung und in die Hände der Russen getrieben, daß er durch Behauptung von Adana sich den Weg nach Konstantinopel offen gehalten, daß er Syrien zerrüttet wie Aegypten, um seine Rüstungen auf eine der Pforte stets furchtbarere Höhe zu steigern, daß er fortdauernd mit doppelter Gewalt gegen seinen Herrn gerüstet stand, offen mit den Waffen in der Hand, geheim mit den nicht weniger verderblichen Waffen der Bestechung, der Intrigue, daß er dadurch alle Kräfte des Sultans von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt, daß er alle Reformen, alle Plane der Verbesserung und die ganze That einer zwanzigjährigen Anstrengung des Sultans gehemmt und vernichtet hat, indem er ihn nöthigte, alle Kraft und Anstrengung und alle Mittel seiner Völker allein gegen ihn zu richten und, um am Ende diesem unerträglichen Zustande zu entgehen, das Loos der Waffen zu versuchen – dieß Alles, die ganze Frage des Rechts, der politischen Nothwendigkeit wird entweder ganz übergangen oder in Schatten gestellt. Es war nach Hrn. Thiers eben Alles abgethan; es handelte sich nur noch von dem Titel der Erblichkeit für Mehemed Ali über Länder, die der Sultan weder erobern, noch beherrschen konnte; auch blieb ja dem Sultan zwischen Taurus und Balkan noch genug zu beherrschen und zu beglücken. Das alles so zu verstellen und zu verhüllen, ist nicht staatsmännlich, denn es führt über Grund und Natur der Sache hinweg und hemmt mit der Diagnose das Verständniß der Lage und die Erkenntniß der zu ihrer Hebung allein dienlichen Mittel.

Nicht befriedigender ist die Darstellung dessen, was nach der Schlacht von Nisib geschehen oder zu erwarten gewesen. Der Redner geht von der Behauptung aus, der Vicekönig habe vor dem Kriege gar nichts Anderes gewollt, als die Erblichkeit für die Länder, die er schon besessen, und habe auch nach dem Siege seine Forderungen nicht wesentlich gesteigert. Er habe den Angriff auf sein Besitzthum abgeschlagen, und ihm sey nach Vernichtung des feindlichen Heeres nicht eingefallen, nach Konstantinopel gehen zu wollen, da er gewußt habe, er würde die Russen auf seinem Wege treffen. Hier hat Hr. Duchatel ihm bereits mit Bezug auf Urkunden, welche vorzulegen noch nicht an der Zeit sey, mit Entschiedenheit widersprochen, und Niemand, der die Lage des Pascha's kennt und sein Vorgehen von seinem Vorhaben zu unterscheiden weiß, kann zweifeln, daß er nach dem Euphrat und nach Bagdad so begierig ist wie nach Smyrna und Konstantinopel, daß er durch das innere Gebot der Selbsterhaltung weiter und weiter getrieben wird. Der Pascha findet übrigens selbst gar nicht nöthig, seinen letzten Gedanken gegen Jeden und in jeder Weise zu verbergen. Ist ganz verlässigen Männern, die aus Aegypten kamen und dort Gelegenheit hatten durch ihn selber tiefer in seine Absichten zu blicken, zu glauben, so betrachtet er seinen Stillstand nach dem Siege bei Koniah, durch den ihm Konstantinopel entging, als einen Fehler, den er sich vorgenommen bei der ersten günstigen Gelegenheit zu verbessern. Wer daran zweifelt, der mag die Bewegungen beobachten, die er in Kleinasien, unter den Kurden, in Albanien und Macedonien einleitet und vorbereitet, um einen Zerfall des Reichs herbeizuführen, und über seinen Trümmern mit seiner Macht allein übrig zu bleiben. Das ist der Thatbestand, gegenüber von welchem Hr. Thiers das ganze Gebäude seiner Argumentation auf den Grund baut, daß es sich zwischen dem Sultan und seinem Vasallen allein von der thatsächlich schon entschiedenen Frage der Erblichkeit gehandelt habe. Es braucht nicht unserer Erinnerung, daß Alles, was von einigem Gewicht und einiger Bedeutung darauf gestützt wird, unhaltbar ist und zusammenstürzt.

Hr. Thiers behauptet in Folge seiner falschen Hypothesis, die Frage sey anfangs eine bloß orientalische zwischen den beiden Streitenden gewesen, und erst durch die Intervention der Mächte eine europäische geworden. Sie war aber von Anfang eine europäische durch die Absichten des Pascha's auf die höchste Gewalt in der Türkei, nicht so, daß diese Absicht an sich sie zu einer europäischen gemacht hätte. Europa hatte kein Interesse, die Plane des Vicekönigs auf die Obergewalt in der Türkei zu hindern, Europa hätte im Gegentheil nur gewonnen, wenn durch die größere Kraft, welche der neue Herrscher dem osmanischen Reiche gab, seine Emancipation gegenüber Rußland wäre herbeigeführt und seine Selbstständigkeit gegründet worden; aber die Frage wurde und war zufolge jener Absicht gleich anfangs europäisch durch den wohlbegründeten, anerkannten und zugestandenen Entschluß Rußlands, eine solche Erhebung nicht zu gestatten, sondern ihr mit bewaffneter Hand entgegen zu treten; und Alles, was Hr. Thiers vorträgt, um die Europäisirung

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[0193/0009] Beilage zur Allgemeinen Zeitung 4 Januar 1840 Der Orient und die französischen Kammerdebatten. (Fortsetzung.) Geht man von jener Einleitung über die zwei Systeme in der orientalischen Politik und die aus beiden hervorblickenden Absichten der Franzosen auf Deutschland zu dem eigentlichen Inhalt der Rede des Hrn. Thiers, das heißt auf die in ihr enthaltene Behandlung der türkischen Frage über, so wird man leicht wahrnehmen, daß ihr europäischer Theil, so weit Hr. Thiers ihn aufnimmt, trefflich und staatsmännisch behandelt, ihr orientalischer aber ganz verfehlt ist. Hr. Thiers schildert in einfachen und bestimmten Sätzen, was in jener Frage Frankreich von Rußland trennt, und bezeichnet mit gleicher Bestimmtheit, wodurch Frankreich zur englischen Allianz gezogen wird. Dort ist Antipathie der Grundsätze, verschärft durch Antipathie der Interessen über den Hauptpunkt, von dem es sich nach Hrn. Thiers handelt, dem Besitz von Konstantinopel. Hier sind principielle Sympathien, gestärkt durch die für beide Mächte gleich drängende Nothwendigkeit, die Pforte von dem Protectorat Rußlands zu befreien; dieß kann aber nur geschehen, wenn der Tractat von Hunkiar-Skelessi aufgehoben und Konstantinopel gegen die Besitznahme durch die Russen sicher gestellt wird. Es ist kein kleines Verdienst, diese allerdings nicht neuen, aber in der letzten Zeit oft übersehenen und mißachteten Wahrheiten in so bündiger, einleuchtender Weise, wie es durch jenen geistreichen und erfahrenen Mann geschieht, über alle Bedenken und allen Zweifel hinausgestellt zu haben. Dagegen ist Alles schwach, verfehlt oder falsch, was sich in ihr auf das Verhältniß des Pascha's zum Sultan bezieht. Vor Allem ist in seiner, wie in allen andern Reden der Franzosen über diesen Gegenstand auch nicht mit einer leisen Andeutung der Rechtspunkt erwähnt, das Factische aber verstellt und zum Theil ebenfalls verschwiegen. Daß Mehemed Ali die Kräfte der ihm anvertrauten oder zugefallenen Länder erschöpft, um eine furchtbare Land- und Seemacht gegen seinen Herrn zu gründen, daß er, außer Stand, sie von dem erschöpften und todesmatten Aegypten allein zu ernähren, Syrien angefallen und, nachdem er die Heere des Großherrn geschlagen, den Marsch über den Taurus in der erklärten Absicht angetreten, ihn zu entthronen, daß er ihn zur Verzweiflung und in die Hände der Russen getrieben, daß er durch Behauptung von Adana sich den Weg nach Konstantinopel offen gehalten, daß er Syrien zerrüttet wie Aegypten, um seine Rüstungen auf eine der Pforte stets furchtbarere Höhe zu steigern, daß er fortdauernd mit doppelter Gewalt gegen seinen Herrn gerüstet stand, offen mit den Waffen in der Hand, geheim mit den nicht weniger verderblichen Waffen der Bestechung, der Intrigue, daß er dadurch alle Kräfte des Sultans von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt, daß er alle Reformen, alle Plane der Verbesserung und die ganze That einer zwanzigjährigen Anstrengung des Sultans gehemmt und vernichtet hat, indem er ihn nöthigte, alle Kraft und Anstrengung und alle Mittel seiner Völker allein gegen ihn zu richten und, um am Ende diesem unerträglichen Zustande zu entgehen, das Loos der Waffen zu versuchen – dieß Alles, die ganze Frage des Rechts, der politischen Nothwendigkeit wird entweder ganz übergangen oder in Schatten gestellt. Es war nach Hrn. Thiers eben Alles abgethan; es handelte sich nur noch von dem Titel der Erblichkeit für Mehemed Ali über Länder, die der Sultan weder erobern, noch beherrschen konnte; auch blieb ja dem Sultan zwischen Taurus und Balkan noch genug zu beherrschen und zu beglücken. Das alles so zu verstellen und zu verhüllen, ist nicht staatsmännlich, denn es führt über Grund und Natur der Sache hinweg und hemmt mit der Diagnose das Verständniß der Lage und die Erkenntniß der zu ihrer Hebung allein dienlichen Mittel. Nicht befriedigender ist die Darstellung dessen, was nach der Schlacht von Nisib geschehen oder zu erwarten gewesen. Der Redner geht von der Behauptung aus, der Vicekönig habe vor dem Kriege gar nichts Anderes gewollt, als die Erblichkeit für die Länder, die er schon besessen, und habe auch nach dem Siege seine Forderungen nicht wesentlich gesteigert. Er habe den Angriff auf sein Besitzthum abgeschlagen, und ihm sey nach Vernichtung des feindlichen Heeres nicht eingefallen, nach Konstantinopel gehen zu wollen, da er gewußt habe, er würde die Russen auf seinem Wege treffen. Hier hat Hr. Duchatel ihm bereits mit Bezug auf Urkunden, welche vorzulegen noch nicht an der Zeit sey, mit Entschiedenheit widersprochen, und Niemand, der die Lage des Pascha's kennt und sein Vorgehen von seinem Vorhaben zu unterscheiden weiß, kann zweifeln, daß er nach dem Euphrat und nach Bagdad so begierig ist wie nach Smyrna und Konstantinopel, daß er durch das innere Gebot der Selbsterhaltung weiter und weiter getrieben wird. Der Pascha findet übrigens selbst gar nicht nöthig, seinen letzten Gedanken gegen Jeden und in jeder Weise zu verbergen. Ist ganz verlässigen Männern, die aus Aegypten kamen und dort Gelegenheit hatten durch ihn selber tiefer in seine Absichten zu blicken, zu glauben, so betrachtet er seinen Stillstand nach dem Siege bei Koniah, durch den ihm Konstantinopel entging, als einen Fehler, den er sich vorgenommen bei der ersten günstigen Gelegenheit zu verbessern. Wer daran zweifelt, der mag die Bewegungen beobachten, die er in Kleinasien, unter den Kurden, in Albanien und Macedonien einleitet und vorbereitet, um einen Zerfall des Reichs herbeizuführen, und über seinen Trümmern mit seiner Macht allein übrig zu bleiben. Das ist der Thatbestand, gegenüber von welchem Hr. Thiers das ganze Gebäude seiner Argumentation auf den Grund baut, daß es sich zwischen dem Sultan und seinem Vasallen allein von der thatsächlich schon entschiedenen Frage der Erblichkeit gehandelt habe. Es braucht nicht unserer Erinnerung, daß Alles, was von einigem Gewicht und einiger Bedeutung darauf gestützt wird, unhaltbar ist und zusammenstürzt. Hr. Thiers behauptet in Folge seiner falschen Hypothesis, die Frage sey anfangs eine bloß orientalische zwischen den beiden Streitenden gewesen, und erst durch die Intervention der Mächte eine europäische geworden. Sie war aber von Anfang eine europäische durch die Absichten des Pascha's auf die höchste Gewalt in der Türkei, nicht so, daß diese Absicht an sich sie zu einer europäischen gemacht hätte. Europa hatte kein Interesse, die Plane des Vicekönigs auf die Obergewalt in der Türkei zu hindern, Europa hätte im Gegentheil nur gewonnen, wenn durch die größere Kraft, welche der neue Herrscher dem osmanischen Reiche gab, seine Emancipation gegenüber Rußland wäre herbeigeführt und seine Selbstständigkeit gegründet worden; aber die Frage wurde und war zufolge jener Absicht gleich anfangs europäisch durch den wohlbegründeten, anerkannten und zugestandenen Entschluß Rußlands, eine solche Erhebung nicht zu gestatten, sondern ihr mit bewaffneter Hand entgegen zu treten; und Alles, was Hr. Thiers vorträgt, um die Europäisirung

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 25. Augsburg, 25. Januar 1840, S. 0193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_025_18400125/9>, abgerufen am 20.04.2024.