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Allgemeine Zeitung. Nr. 9. Augsburg, 9. Januar 1840.

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seyn als wir, jene erhabene Eigenschaften seines Charakters anzuerkennen; aber hier handelt es sich seinerseits offenbar nicht von einer sentimentalen oder moralischen Parade und Schaustellung, sondern allein von einem Act der Einsicht in die wahren Interessen seiner Politik, und von einem Entschluß, über alle untergeordneten Rücksichten hinwegzukommen, um im Sinne eines höhern Interesses das anerkannt Nöthige zu thun, was allein politische Tüchtigkeit genannt werden kann, auch Edelmuth, Großmuth und dergl., wenn das, wovon es sich handelt, nicht nur dem Handelnden nützt, sondern ein allgemeineres Gut ist.

Eines haben wir oben angedeutet, was im Innern der russischen Politik hier entscheidend wirken kann: die Ueberzeugung von der allgemeinen Gefahr für Europa, mit der eine unmittelbare Gefahr für Rußland auf den Fall verbunden war, daß die französischen Plane in Alexandria und Konstantinopel zur Ausführung kamen. Gegen die Aussicht auf russischen Vortheil bei einem zu erwartenden Kampf zwischen England und Frankreich, der auf keinen Fall unmittelbar zu erwarten stand, lagen die Nachtheile, die ein neuer rivalisirender Einfluß im Orient den russischen Interessen gebracht hätte. Wurde doch mit dem französischen Uebergewicht in Alexandria, mit dem in Konstantinopel versuchten Patronat der Pforte zugleich die glänzende und auf gallische Weise etwas ruhmredige Gesandtschaft des Grafen Sercey nach Persien in Verbindung gesetzt, mit der fast auf den Dächern verkündeten Absicht, auch auf jener Stelle dem russischen, und im Fall er wiederkehren sollte, dem englischen Einfluß den französischen an die Seite zu setzen. Es galt also auf Seite Frankreichs, die Kette desselben über den Isthmus von Suez und Arabien nach Bagdad und Teheran auszudehnen, und es galt auf Seite Rußlands, dieses Gespinnst schnell zu durchhauen, ehe es von den Parzen der raschen Geschicke der Gegenwart zu festen und unlösbaren Faden gedreht würde. Das ist der Streich, der geführt wurde, und man darf es nicht übersehen, er wurde mit Meisterhand geführt.

Dazu kommt noch ein anderer Umstand, auf welchen jüngst Ihre Zeitung hinwies. Die Eroberung von Ghisni in Afghanistan und die durch diese schöne Waffenthat herbeigeführte Entscheidung des Schicksals jener Länder hat alle mittelasiatischen Völker erschüttert und in Bewegung gebracht. Die Uzbeken, die Turkomanen, die Kurden, die von Bukhara und Khiwa, sind nach allen Meldungen von dort voll Unruhe, voll Hoffnungen und Anschläge, und die meisten Anschläge gehen gegen Rußland, das den Haß, den Muth und die Gefährlichkeit dieser kriegerischen und räuberischen Reitervölker in vielen Kämpfen erfahren. Es ist dort die schwache, die verwundbare Seite einer zwar großen, aber in jenen Gegenden unbefestigten und ebenso von nationalem wie von religiösem Haß der Einheimischen verfolgten Macht, darin aber für Rußland die Nothwendigkeit, dem ihm ungünstigen Eindruck der afghanischen Begebenheiten, in Folge von welchem es seine Plane vereitelt, seine Schützlinge landflüchtig oder den Engländern preisgegeben sah, eine That und einen Erfolg seiner selbstständigen und nahen Macht entgegenzusetzen, dadurch aber das dort erschütterte Gleichgewicht englischen und russischen Einflusses wieder herzustellen. Daher der Zug nach Khiwa und dieß der Sinn der Proclamation, die ihm voranging. Täuschen Nachrichten aus St. Petersburg und aus einer, wie mir scheint, guten Quelle nicht, so geschieht dieser Zug mit Zustimmung von England, und bildet eine der Grundlagen des neuen englisch-russischen Bündnisses. Dadurch würde vor Allem der Verdacht einer höchst gravirenden Duplicität im Betragen Rußlands gehoben: diese Macht erschiene nicht mehr mit der Einen Hand den Engländern Freundschaft bietend, während sie zugleich mit der andern den Dolch nach ihren Lenden führte, und die Anerbietungen für die Dardanellen wäre nicht eine ganz gemeine und noch dazu ungeschickte Täuschung, um eine Bewegung im Osten zu decken, die ohne vorhergegangene Einigung mit England einer Anbahnung zu einem englisch-russischen Kriege am Oxus und auf dem Paropamisus gleich käme. Wir legen also, wenn auch vor der Hand nur noch als eine Hypothese von innerer Wahrscheinlichkeit, jene Meldung aus St. Petersburg zu Grunde und stützen auf sie folgende Erwägung.

England ist nicht in dem Fall, seine Vortheile in Mittelasien bis zu einer förmlichen Besiegung von Rußland auf jenem Gebiete treiben zu können oder zu wollen, und nachdem es durch eine Nothwendigkeit, die höher stand, als sein Wille, bis nach Kabul und mit seinem Bündniß bis nach Herat geführt worden, konnte es dem allerdings durch die wichtigsten Gründe gebotenen Begehren der rivalisirenden Macht auf diesem Punkte nicht widerstreben, im Fall diese sich bereit erklärte, die umfassenden, großen und tiefen Zerwürfnisse, in welchem russische und englische Politik fast auf allen Punkten der sich kreuzenden Interessen gerathen war, auf der Basis gegenseitiger Zugeständnisse zu vergleichen. Diese Basis ist russischerseits in den Vorschlägen für den Sultan geboten, und man sieht, wie England, von Frankreich verlassen, den Belang des Dargebotenen wohl verstanden und sich bestimmt gefühlt hat, durch Gegenseitigkeit der Zugeständnisse den russischen Interessen in Khiwa und Bukhara in derselben Weise auszuweichen, in welcher die Russen den englischen in Konstantinopel bis auf den Punkt der Gemeinsamkeit ausgewichen waren.

Wir werden demnächst Gelegenheit nehmen, auf diese neue Lage der orientalischen Verhältnisse, bei welchen das Zusammentreffen von England und Rußland in Mittelasien auf erster Linie, das Zusammentreffen beider Mächte mit Frankreich in Konstantinopel auf zweiter, und das daraus entspringende Verhältniß der europäischen Mächte zu einander auf dritter Linie steht, in einem spätern Artikel zurückzukommen und wie seine Natur, so seine wahrscheinlichen Folgen näher bezeichnen, aber bemerken wollen wir gleich hier, daß durch diese Wendung der Dinge in London, im Mittelmeer, in Konstantinopel, an den Südufern des kaspischen Meeres und an den Mündungen des Oxus die Verhältnisse eine noch ernstere Gestalt gewonnen haben. Ist in ihnen die Lösung eingeleitet, wie es scheint, so kündigt sich das Jahr 1840 allerdings bedeutungsvoll genug an. Möge der Kampf auf die Zurückführung des ägyptischen Satrapen in die ihm anwiesene Gränzen beschränkt bleiben!


Correspondenz des Grafen Johann Kapodistrias.

In den ersten Tagen des neuen Jahres werden in der hiesigen Buchhandlung von Cherbuliez die zwei letzten Bände der Correspondance du Comte Capodistrias, President de la Grece, wovon die zwei ersten im Julius in der Allg. Zeitung besprochen wurden, erscheinen. Hätte zu seiner Zeit Montaigne ein Buch wie dieses kennen gelernt, so würde er ihm seinen Ausruf: voici un livre de bonne foi, zur Empfehlung gegeben haben. In der That,


seyn als wir, jene erhabene Eigenschaften seines Charakters anzuerkennen; aber hier handelt es sich seinerseits offenbar nicht von einer sentimentalen oder moralischen Parade und Schaustellung, sondern allein von einem Act der Einsicht in die wahren Interessen seiner Politik, und von einem Entschluß, über alle untergeordneten Rücksichten hinwegzukommen, um im Sinne eines höhern Interesses das anerkannt Nöthige zu thun, was allein politische Tüchtigkeit genannt werden kann, auch Edelmuth, Großmuth und dergl., wenn das, wovon es sich handelt, nicht nur dem Handelnden nützt, sondern ein allgemeineres Gut ist.

Eines haben wir oben angedeutet, was im Innern der russischen Politik hier entscheidend wirken kann: die Ueberzeugung von der allgemeinen Gefahr für Europa, mit der eine unmittelbare Gefahr für Rußland auf den Fall verbunden war, daß die französischen Plane in Alexandria und Konstantinopel zur Ausführung kamen. Gegen die Aussicht auf russischen Vortheil bei einem zu erwartenden Kampf zwischen England und Frankreich, der auf keinen Fall unmittelbar zu erwarten stand, lagen die Nachtheile, die ein neuer rivalisirender Einfluß im Orient den russischen Interessen gebracht hätte. Wurde doch mit dem französischen Uebergewicht in Alexandria, mit dem in Konstantinopel versuchten Patronat der Pforte zugleich die glänzende und auf gallische Weise etwas ruhmredige Gesandtschaft des Grafen Sercey nach Persien in Verbindung gesetzt, mit der fast auf den Dächern verkündeten Absicht, auch auf jener Stelle dem russischen, und im Fall er wiederkehren sollte, dem englischen Einfluß den französischen an die Seite zu setzen. Es galt also auf Seite Frankreichs, die Kette desselben über den Isthmus von Suez und Arabien nach Bagdad und Teheran auszudehnen, und es galt auf Seite Rußlands, dieses Gespinnst schnell zu durchhauen, ehe es von den Parzen der raschen Geschicke der Gegenwart zu festen und unlösbaren Faden gedreht würde. Das ist der Streich, der geführt wurde, und man darf es nicht übersehen, er wurde mit Meisterhand geführt.

Dazu kommt noch ein anderer Umstand, auf welchen jüngst Ihre Zeitung hinwies. Die Eroberung von Ghisni in Afghanistan und die durch diese schöne Waffenthat herbeigeführte Entscheidung des Schicksals jener Länder hat alle mittelasiatischen Völker erschüttert und in Bewegung gebracht. Die Uzbeken, die Turkomanen, die Kurden, die von Bukhara und Khiwa, sind nach allen Meldungen von dort voll Unruhe, voll Hoffnungen und Anschläge, und die meisten Anschläge gehen gegen Rußland, das den Haß, den Muth und die Gefährlichkeit dieser kriegerischen und räuberischen Reitervölker in vielen Kämpfen erfahren. Es ist dort die schwache, die verwundbare Seite einer zwar großen, aber in jenen Gegenden unbefestigten und ebenso von nationalem wie von religiösem Haß der Einheimischen verfolgten Macht, darin aber für Rußland die Nothwendigkeit, dem ihm ungünstigen Eindruck der afghanischen Begebenheiten, in Folge von welchem es seine Plane vereitelt, seine Schützlinge landflüchtig oder den Engländern preisgegeben sah, eine That und einen Erfolg seiner selbstständigen und nahen Macht entgegenzusetzen, dadurch aber das dort erschütterte Gleichgewicht englischen und russischen Einflusses wieder herzustellen. Daher der Zug nach Khiwa und dieß der Sinn der Proclamation, die ihm voranging. Täuschen Nachrichten aus St. Petersburg und aus einer, wie mir scheint, guten Quelle nicht, so geschieht dieser Zug mit Zustimmung von England, und bildet eine der Grundlagen des neuen englisch-russischen Bündnisses. Dadurch würde vor Allem der Verdacht einer höchst gravirenden Duplicität im Betragen Rußlands gehoben: diese Macht erschiene nicht mehr mit der Einen Hand den Engländern Freundschaft bietend, während sie zugleich mit der andern den Dolch nach ihren Lenden führte, und die Anerbietungen für die Dardanellen wäre nicht eine ganz gemeine und noch dazu ungeschickte Täuschung, um eine Bewegung im Osten zu decken, die ohne vorhergegangene Einigung mit England einer Anbahnung zu einem englisch-russischen Kriege am Oxus und auf dem Paropamisus gleich käme. Wir legen also, wenn auch vor der Hand nur noch als eine Hypothese von innerer Wahrscheinlichkeit, jene Meldung aus St. Petersburg zu Grunde und stützen auf sie folgende Erwägung.

England ist nicht in dem Fall, seine Vortheile in Mittelasien bis zu einer förmlichen Besiegung von Rußland auf jenem Gebiete treiben zu können oder zu wollen, und nachdem es durch eine Nothwendigkeit, die höher stand, als sein Wille, bis nach Kabul und mit seinem Bündniß bis nach Herat geführt worden, konnte es dem allerdings durch die wichtigsten Gründe gebotenen Begehren der rivalisirenden Macht auf diesem Punkte nicht widerstreben, im Fall diese sich bereit erklärte, die umfassenden, großen und tiefen Zerwürfnisse, in welchem russische und englische Politik fast auf allen Punkten der sich kreuzenden Interessen gerathen war, auf der Basis gegenseitiger Zugeständnisse zu vergleichen. Diese Basis ist russischerseits in den Vorschlägen für den Sultan geboten, und man sieht, wie England, von Frankreich verlassen, den Belang des Dargebotenen wohl verstanden und sich bestimmt gefühlt hat, durch Gegenseitigkeit der Zugeständnisse den russischen Interessen in Khiwa und Bukhara in derselben Weise auszuweichen, in welcher die Russen den englischen in Konstantinopel bis auf den Punkt der Gemeinsamkeit ausgewichen waren.

Wir werden demnächst Gelegenheit nehmen, auf diese neue Lage der orientalischen Verhältnisse, bei welchen das Zusammentreffen von England und Rußland in Mittelasien auf erster Linie, das Zusammentreffen beider Mächte mit Frankreich in Konstantinopel auf zweiter, und das daraus entspringende Verhältniß der europäischen Mächte zu einander auf dritter Linie steht, in einem spätern Artikel zurückzukommen und wie seine Natur, so seine wahrscheinlichen Folgen näher bezeichnen, aber bemerken wollen wir gleich hier, daß durch diese Wendung der Dinge in London, im Mittelmeer, in Konstantinopel, an den Südufern des kaspischen Meeres und an den Mündungen des Oxus die Verhältnisse eine noch ernstere Gestalt gewonnen haben. Ist in ihnen die Lösung eingeleitet, wie es scheint, so kündigt sich das Jahr 1840 allerdings bedeutungsvoll genug an. Möge der Kampf auf die Zurückführung des ägyptischen Satrapen in die ihm anwiesene Gränzen beschränkt bleiben!


Correspondenz des Grafen Johann Kapodistrias.

In den ersten Tagen des neuen Jahres werden in der hiesigen Buchhandlung von Cherbuliez die zwei letzten Bände der Correspondance du Comte Capodistrias, Prèsident de la Grèce, wovon die zwei ersten im Julius in der Allg. Zeitung besprochen wurden, erscheinen. Hätte zu seiner Zeit Montaigne ein Buch wie dieses kennen gelernt, so würde er ihm seinen Ausruf: voici un livre de bonne foi, zur Empfehlung gegeben haben. In der That,

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[0067/0009] seyn als wir, jene erhabene Eigenschaften seines Charakters anzuerkennen; aber hier handelt es sich seinerseits offenbar nicht von einer sentimentalen oder moralischen Parade und Schaustellung, sondern allein von einem Act der Einsicht in die wahren Interessen seiner Politik, und von einem Entschluß, über alle untergeordneten Rücksichten hinwegzukommen, um im Sinne eines höhern Interesses das anerkannt Nöthige zu thun, was allein politische Tüchtigkeit genannt werden kann, auch Edelmuth, Großmuth und dergl., wenn das, wovon es sich handelt, nicht nur dem Handelnden nützt, sondern ein allgemeineres Gut ist. Eines haben wir oben angedeutet, was im Innern der russischen Politik hier entscheidend wirken kann: die Ueberzeugung von der allgemeinen Gefahr für Europa, mit der eine unmittelbare Gefahr für Rußland auf den Fall verbunden war, daß die französischen Plane in Alexandria und Konstantinopel zur Ausführung kamen. Gegen die Aussicht auf russischen Vortheil bei einem zu erwartenden Kampf zwischen England und Frankreich, der auf keinen Fall unmittelbar zu erwarten stand, lagen die Nachtheile, die ein neuer rivalisirender Einfluß im Orient den russischen Interessen gebracht hätte. Wurde doch mit dem französischen Uebergewicht in Alexandria, mit dem in Konstantinopel versuchten Patronat der Pforte zugleich die glänzende und auf gallische Weise etwas ruhmredige Gesandtschaft des Grafen Sercey nach Persien in Verbindung gesetzt, mit der fast auf den Dächern verkündeten Absicht, auch auf jener Stelle dem russischen, und im Fall er wiederkehren sollte, dem englischen Einfluß den französischen an die Seite zu setzen. Es galt also auf Seite Frankreichs, die Kette desselben über den Isthmus von Suez und Arabien nach Bagdad und Teheran auszudehnen, und es galt auf Seite Rußlands, dieses Gespinnst schnell zu durchhauen, ehe es von den Parzen der raschen Geschicke der Gegenwart zu festen und unlösbaren Faden gedreht würde. Das ist der Streich, der geführt wurde, und man darf es nicht übersehen, er wurde mit Meisterhand geführt. Dazu kommt noch ein anderer Umstand, auf welchen jüngst Ihre Zeitung hinwies. Die Eroberung von Ghisni in Afghanistan und die durch diese schöne Waffenthat herbeigeführte Entscheidung des Schicksals jener Länder hat alle mittelasiatischen Völker erschüttert und in Bewegung gebracht. Die Uzbeken, die Turkomanen, die Kurden, die von Bukhara und Khiwa, sind nach allen Meldungen von dort voll Unruhe, voll Hoffnungen und Anschläge, und die meisten Anschläge gehen gegen Rußland, das den Haß, den Muth und die Gefährlichkeit dieser kriegerischen und räuberischen Reitervölker in vielen Kämpfen erfahren. Es ist dort die schwache, die verwundbare Seite einer zwar großen, aber in jenen Gegenden unbefestigten und ebenso von nationalem wie von religiösem Haß der Einheimischen verfolgten Macht, darin aber für Rußland die Nothwendigkeit, dem ihm ungünstigen Eindruck der afghanischen Begebenheiten, in Folge von welchem es seine Plane vereitelt, seine Schützlinge landflüchtig oder den Engländern preisgegeben sah, eine That und einen Erfolg seiner selbstständigen und nahen Macht entgegenzusetzen, dadurch aber das dort erschütterte Gleichgewicht englischen und russischen Einflusses wieder herzustellen. Daher der Zug nach Khiwa und dieß der Sinn der Proclamation, die ihm voranging. Täuschen Nachrichten aus St. Petersburg und aus einer, wie mir scheint, guten Quelle nicht, so geschieht dieser Zug mit Zustimmung von England, und bildet eine der Grundlagen des neuen englisch-russischen Bündnisses. Dadurch würde vor Allem der Verdacht einer höchst gravirenden Duplicität im Betragen Rußlands gehoben: diese Macht erschiene nicht mehr mit der Einen Hand den Engländern Freundschaft bietend, während sie zugleich mit der andern den Dolch nach ihren Lenden führte, und die Anerbietungen für die Dardanellen wäre nicht eine ganz gemeine und noch dazu ungeschickte Täuschung, um eine Bewegung im Osten zu decken, die ohne vorhergegangene Einigung mit England einer Anbahnung zu einem englisch-russischen Kriege am Oxus und auf dem Paropamisus gleich käme. Wir legen also, wenn auch vor der Hand nur noch als eine Hypothese von innerer Wahrscheinlichkeit, jene Meldung aus St. Petersburg zu Grunde und stützen auf sie folgende Erwägung. England ist nicht in dem Fall, seine Vortheile in Mittelasien bis zu einer förmlichen Besiegung von Rußland auf jenem Gebiete treiben zu können oder zu wollen, und nachdem es durch eine Nothwendigkeit, die höher stand, als sein Wille, bis nach Kabul und mit seinem Bündniß bis nach Herat geführt worden, konnte es dem allerdings durch die wichtigsten Gründe gebotenen Begehren der rivalisirenden Macht auf diesem Punkte nicht widerstreben, im Fall diese sich bereit erklärte, die umfassenden, großen und tiefen Zerwürfnisse, in welchem russische und englische Politik fast auf allen Punkten der sich kreuzenden Interessen gerathen war, auf der Basis gegenseitiger Zugeständnisse zu vergleichen. Diese Basis ist russischerseits in den Vorschlägen für den Sultan geboten, und man sieht, wie England, von Frankreich verlassen, den Belang des Dargebotenen wohl verstanden und sich bestimmt gefühlt hat, durch Gegenseitigkeit der Zugeständnisse den russischen Interessen in Khiwa und Bukhara in derselben Weise auszuweichen, in welcher die Russen den englischen in Konstantinopel bis auf den Punkt der Gemeinsamkeit ausgewichen waren. Wir werden demnächst Gelegenheit nehmen, auf diese neue Lage der orientalischen Verhältnisse, bei welchen das Zusammentreffen von England und Rußland in Mittelasien auf erster Linie, das Zusammentreffen beider Mächte mit Frankreich in Konstantinopel auf zweiter, und das daraus entspringende Verhältniß der europäischen Mächte zu einander auf dritter Linie steht, in einem spätern Artikel zurückzukommen und wie seine Natur, so seine wahrscheinlichen Folgen näher bezeichnen, aber bemerken wollen wir gleich hier, daß durch diese Wendung der Dinge in London, im Mittelmeer, in Konstantinopel, an den Südufern des kaspischen Meeres und an den Mündungen des Oxus die Verhältnisse eine noch ernstere Gestalt gewonnen haben. Ist in ihnen die Lösung eingeleitet, wie es scheint, so kündigt sich das Jahr 1840 allerdings bedeutungsvoll genug an. Möge der Kampf auf die Zurückführung des ägyptischen Satrapen in die ihm anwiesene Gränzen beschränkt bleiben! Correspondenz des Grafen Johann Kapodistrias. ✠ Genf, 26 Dec. In den ersten Tagen des neuen Jahres werden in der hiesigen Buchhandlung von Cherbuliez die zwei letzten Bände der Correspondance du Comte Capodistrias, Prèsident de la Grèce, wovon die zwei ersten im Julius in der Allg. Zeitung besprochen wurden, erscheinen. Hätte zu seiner Zeit Montaigne ein Buch wie dieses kennen gelernt, so würde er ihm seinen Ausruf: voici un livre de bonne foi, zur Empfehlung gegeben haben. In der That,

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 9. Augsburg, 9. Januar 1840, S. 0067. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_009_18400109/9>, abgerufen am 20.04.2024.