Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber
wurde sie ganz sichtlich von einer so intensiven Anteilnahme
erfüllt, daß sie zuletzt, -- offenbar ganz unwillkürlich, wie
außer stande länger passiv zu verharren, -- sich langsam
erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausstreckte,
als müsse sie eingreifen oder Halt gebieten. Im selben
Augenblick ward sie sich ihrer spontanen Bewegung bewußt,
hielt sich zurück, und errötete stark, wodurch sie plötzlich
ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos aussah.

Während sie aber so dastand, traf ihr Blick den der
Grisette, die in ihrer Ratlosigkeit und Verlassenheit an¬
gefangen hatte zu weinen, so daß große Thränen ihr
über die heißen geschminkten Wangen rollten, und ihre
Lippen sich konvulsivisch verzogen. Unter dem langen,
eigentümlichen Blick, den sie mit Fenia austauschte, ver¬
änderte sich der Ausdruck des weinenden Gesichts; von
Fenias Augen schien eine Hilfe, eine Liebkosung, eine
Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einsamkeit dieses
getretenen Geschöpfes aufhob. Man konnte vom Tisch
aus deutlich den Stimmungswechsel auf ihren Zügen ver¬
folgen, denn sie saß fast grade gegenüber am Fenster.
Ein Danken, Staunen, Nachsinnen, -- ein momen¬
tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und
deren Schmähreden ließ ihre Thränen versiegen, und
sie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr
sich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter seinen
schäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob.

Da stieß er sie brutal mit dem Ellenbogen an und
forderte sie auf, sich zu beeilen.

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte

fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber
wurde ſie ganz ſichtlich von einer ſo intenſiven Anteilnahme
erfüllt, daß ſie zuletzt, — offenbar ganz unwillkürlich, wie
außer ſtande länger paſſiv zu verharren, — ſich langſam
erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausſtreckte,
als müſſe ſie eingreifen oder Halt gebieten. Im ſelben
Augenblick ward ſie ſich ihrer ſpontanen Bewegung bewußt,
hielt ſich zurück, und errötete ſtark, wodurch ſie plötzlich
ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos ausſah.

Während ſie aber ſo daſtand, traf ihr Blick den der
Griſette, die in ihrer Ratloſigkeit und Verlaſſenheit an¬
gefangen hatte zu weinen, ſo daß große Thränen ihr
über die heißen geſchminkten Wangen rollten, und ihre
Lippen ſich konvulſiviſch verzogen. Unter dem langen,
eigentümlichen Blick, den ſie mit Fenia austauſchte, ver¬
änderte ſich der Ausdruck des weinenden Geſichts; von
Fenias Augen ſchien eine Hilfe, eine Liebkoſung, eine
Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einſamkeit dieſes
getretenen Geſchöpfes aufhob. Man konnte vom Tiſch
aus deutlich den Stimmungswechſel auf ihren Zügen ver¬
folgen, denn ſie ſaß faſt grade gegenüber am Fenſter.
Ein Danken, Staunen, Nachſinnen, — ein momen¬
tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und
deren Schmähreden ließ ihre Thränen verſiegen, und
ſie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr
ſich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter ſeinen
ſchäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob.

Da ſtieß er ſie brutal mit dem Ellenbogen an und
forderte ſie auf, ſich zu beeilen.

Sie ſchüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014" n="10"/><fw type="pageNum" place="top">&#x2014; 10 &#x2014;<lb/></fw>fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber<lb/>
wurde &#x017F;ie ganz &#x017F;ichtlich von einer &#x017F;o inten&#x017F;iven Anteilnahme<lb/>
erfüllt, daß &#x017F;ie zuletzt, &#x2014; offenbar ganz unwillkürlich, wie<lb/>
außer &#x017F;tande länger pa&#x017F;&#x017F;iv zu verharren, &#x2014; &#x017F;ich lang&#x017F;am<lb/>
erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden aus&#x017F;treckte,<lb/>
als mü&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ie eingreifen oder Halt gebieten. Im &#x017F;elben<lb/>
Augenblick ward &#x017F;ie &#x017F;ich ihrer &#x017F;pontanen Bewegung bewußt,<lb/>
hielt &#x017F;ich zurück, und errötete &#x017F;tark, wodurch &#x017F;ie plötzlich<lb/>
ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos aus&#x017F;ah.</p><lb/>
        <p>Während &#x017F;ie aber &#x017F;o da&#x017F;tand, traf ihr Blick den der<lb/>
Gri&#x017F;ette, die in ihrer Ratlo&#x017F;igkeit und Verla&#x017F;&#x017F;enheit an¬<lb/>
gefangen hatte zu weinen, &#x017F;o daß große Thränen ihr<lb/>
über die heißen ge&#x017F;chminkten Wangen rollten, und ihre<lb/>
Lippen &#x017F;ich konvul&#x017F;ivi&#x017F;ch verzogen. Unter dem langen,<lb/>
eigentümlichen Blick, den &#x017F;ie mit Fenia austau&#x017F;chte, ver¬<lb/>
änderte &#x017F;ich der Ausdruck des weinenden Ge&#x017F;ichts; von<lb/>
Fenias Augen &#x017F;chien eine Hilfe, eine Liebko&#x017F;ung, eine<lb/>
Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Ein&#x017F;amkeit die&#x017F;es<lb/>
getretenen Ge&#x017F;chöpfes aufhob. Man konnte vom Ti&#x017F;ch<lb/>
aus deutlich den Stimmungswech&#x017F;el auf ihren Zügen ver¬<lb/>
folgen, denn &#x017F;ie &#x017F;aß fa&#x017F;t grade gegenüber am Fen&#x017F;ter.<lb/>
Ein Danken, Staunen, Nach&#x017F;innen, &#x2014; ein momen¬<lb/>
tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und<lb/>
deren Schmähreden ließ ihre Thränen ver&#x017F;iegen, und<lb/>
&#x017F;ie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr<lb/>
&#x017F;ich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter &#x017F;einen<lb/>
&#x017F;chäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob.</p><lb/>
        <p>Da &#x017F;tieß er &#x017F;ie brutal mit dem Ellenbogen an und<lb/>
forderte &#x017F;ie auf, &#x017F;ich zu beeilen.</p><lb/>
        <p>Sie &#x017F;chüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0014] — 10 — fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber wurde ſie ganz ſichtlich von einer ſo intenſiven Anteilnahme erfüllt, daß ſie zuletzt, — offenbar ganz unwillkürlich, wie außer ſtande länger paſſiv zu verharren, — ſich langſam erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausſtreckte, als müſſe ſie eingreifen oder Halt gebieten. Im ſelben Augenblick ward ſie ſich ihrer ſpontanen Bewegung bewußt, hielt ſich zurück, und errötete ſtark, wodurch ſie plötzlich ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos ausſah. Während ſie aber ſo daſtand, traf ihr Blick den der Griſette, die in ihrer Ratloſigkeit und Verlaſſenheit an¬ gefangen hatte zu weinen, ſo daß große Thränen ihr über die heißen geſchminkten Wangen rollten, und ihre Lippen ſich konvulſiviſch verzogen. Unter dem langen, eigentümlichen Blick, den ſie mit Fenia austauſchte, ver¬ änderte ſich der Ausdruck des weinenden Geſichts; von Fenias Augen ſchien eine Hilfe, eine Liebkoſung, eine Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einſamkeit dieſes getretenen Geſchöpfes aufhob. Man konnte vom Tiſch aus deutlich den Stimmungswechſel auf ihren Zügen ver¬ folgen, denn ſie ſaß faſt grade gegenüber am Fenſter. Ein Danken, Staunen, Nachſinnen, — ein momen¬ tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und deren Schmähreden ließ ihre Thränen verſiegen, und ſie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr ſich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter ſeinen ſchäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob. Da ſtieß er ſie brutal mit dem Ellenbogen an und forderte ſie auf, ſich zu beeilen. Sie ſchüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/14
Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/14>, abgerufen am 24.04.2024.