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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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vor Wasser und Feuer gesellt sich nicht selten Furcht vor der Nacht.
Zuweilen gelingt es ihm, die Furcht in jeder Form zu überwinden und
deren Kontrast, äußersten Mut und Kourage, zu gewinnen. Vieles von
dem, was wir hier trocken schildern, hat Jean Paul in "Schmelzles
Reise" anschaulich dargestellt, deren Held, wie sich leicht erkennen
läßt, eine Zwangsneurose auf Basis der Minderwertigkeit des Harn-
organes aufweist. Nachtwandeln, das analog dem Sprechen, der un-
willkürlichen Harn- und Stuhlentleerung im Schlafe, eine spielerische,
lustvolle Organbetätigung darstellt, wird man bei Enuretikern entspre-
chend der häufigen segmentalen Minderwertigkeit oft vorfinden. Der
Traum des Enuretikers, in der Zeit des Kinderfehlers mit Bettnässen
verbunden, hat recht häufig den Akt des Urinierens, späterhin nach
der Zeit der Enuresis die Vorstellung von Schwimmen, Baden, Boot-
fahren zum Inhalt, erlaubt mit Sicherheit die Diagnose überstandener
Enuresis und stellt sich besonders in der Kindheit als primitive
Wunscherfüllung nach ungebundener Organbetätigung dar (Freud).
Bleibt manchen von ihnen die Wasserscheu fürs ganze Leben haften,
so kommen andere zu hervorragenden Leistungen im Schwimm- und
Rudersport.

Die gleichzeitige Minderwertigkeit des Sexualorganes und das
dauernde Interesse für die Blasenentleerung sind es vor allem, die neben
der Enuresis vielleicht regelmäßig einen zweiten Kinderfehler, die Früh-
masturbation, autoerotische Berührungen der Genitalien entstehen lassen.
Damit ist wieder neuer Anlaß gegeben zu Abwegen in der psychischen
Entwicklung. Der früh erwachte Autoerotismus macht das Kind für die
Erziehung ungeeigneter, die Eindämmung böser, unkultureller Triebe
von außen her wird aus demselben Grunde schwierig, das Kind fügt
sich nur schlecht in die Kultur, wird schlimm und ungeberdig. Daneben
erwachen in ihm neue Verstärkungen für seine Feigheit, Scheu und
Ängstlichkeit und es sucht mit unheimlicher Konsequenz Trost und
Schutz vor dem gewonnenen Verständnis für die Sünde in "kindischem"
Aberglauben und religiöser Phantasie. In der Psychoanalyse neurotischer
Personen findet man beide im ideologischen sexuellen Überbau. Phy-
siologisch betrachtet, kommt es zur Kompensation im psychomotorischen
Feld der Sexualorgane, zu Verstärkungen und Hemmungen. Wie oft
diese Vorgänge zur Grundlage von Neuropsychosen werden, sobald sich
Kompensationsstörungen und Wechselwirkungen zweier minderwertiger
psychomotorischer Felder ergeben, hat Freud durch sein psychoana-
lytisches Material unwiderleglich nachgewiesen. Auch in meiner Ka-
suistik finden sich viele Belege dafür, die durch ihre feste Zugehörig-

vor Wasser und Feuer gesellt sich nicht selten Furcht vor der Nacht.
Zuweilen gelingt es ihm, die Furcht in jeder Form zu überwinden und
deren Kontrast, äußersten Mut und Kourage, zu gewinnen. Vieles von
dem, was wir hier trocken schildern, hat Jean Paul in „Schmelzles
Reise“ anschaulich dargestellt, deren Held, wie sich leicht erkennen
läßt, eine Zwangsneurose auf Basis der Minderwertigkeit des Harn-
organes aufweist. Nachtwandeln, das analog dem Sprechen, der un-
willkürlichen Harn- und Stuhlentleerung im Schlafe, eine spielerische,
lustvolle Organbetätigung darstellt, wird man bei Enuretikern entspre-
chend der häufigen segmentalen Minderwertigkeit oft vorfinden. Der
Traum des Enuretikers, in der Zeit des Kinderfehlers mit Bettnässen
verbunden, hat recht häufig den Akt des Urinierens, späterhin nach
der Zeit der Enuresis die Vorstellung von Schwimmen, Baden, Boot-
fahren zum Inhalt, erlaubt mit Sicherheit die Diagnose überstandener
Enuresis und stellt sich besonders in der Kindheit als primitive
Wunscherfüllung nach ungebundener Organbetätigung dar (Freud).
Bleibt manchen von ihnen die Wasserscheu fürs ganze Leben haften,
so kommen andere zu hervorragenden Leistungen im Schwimm- und
Rudersport.

Die gleichzeitige Minderwertigkeit des Sexualorganes und das
dauernde Interesse für die Blasenentleerung sind es vor allem, die neben
der Enuresis vielleicht regelmäßig einen zweiten Kinderfehler, die Früh-
masturbation, autoerotische Berührungen der Genitalien entstehen lassen.
Damit ist wieder neuer Anlaß gegeben zu Abwegen in der psychischen
Entwicklung. Der früh erwachte Autoerotismus macht das Kind für die
Erziehung ungeeigneter, die Eindämmung böser, unkultureller Triebe
von außen her wird aus demselben Grunde schwierig, das Kind fügt
sich nur schlecht in die Kultur, wird schlimm und ungeberdig. Daneben
erwachen in ihm neue Verstärkungen für seine Feigheit, Scheu und
Ängstlichkeit und es sucht mit unheimlicher Konsequenz Trost und
Schutz vor dem gewonnenen Verständnis für die Sünde in „kindischem“
Aberglauben und religiöser Phantasie. In der Psychoanalyse neurotischer
Personen findet man beide im ideologischen sexuellen Überbau. Phy-
siologisch betrachtet, kommt es zur Kompensation im psychomotorischen
Feld der Sexualorgane, zu Verstärkungen und Hemmungen. Wie oft
diese Vorgänge zur Grundlage von Neuropsychosen werden, sobald sich
Kompensationsstörungen und Wechselwirkungen zweier minderwertiger
psychomotorischer Felder ergeben, hat Freud durch sein psychoana-
lytisches Material unwiderleglich nachgewiesen. Auch in meiner Ka-
suistik finden sich viele Belege dafür, die durch ihre feste Zugehörig-

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[79/0091] vor Wasser und Feuer gesellt sich nicht selten Furcht vor der Nacht. Zuweilen gelingt es ihm, die Furcht in jeder Form zu überwinden und deren Kontrast, äußersten Mut und Kourage, zu gewinnen. Vieles von dem, was wir hier trocken schildern, hat Jean Paul in „Schmelzles Reise“ anschaulich dargestellt, deren Held, wie sich leicht erkennen läßt, eine Zwangsneurose auf Basis der Minderwertigkeit des Harn- organes aufweist. Nachtwandeln, das analog dem Sprechen, der un- willkürlichen Harn- und Stuhlentleerung im Schlafe, eine spielerische, lustvolle Organbetätigung darstellt, wird man bei Enuretikern entspre- chend der häufigen segmentalen Minderwertigkeit oft vorfinden. Der Traum des Enuretikers, in der Zeit des Kinderfehlers mit Bettnässen verbunden, hat recht häufig den Akt des Urinierens, späterhin nach der Zeit der Enuresis die Vorstellung von Schwimmen, Baden, Boot- fahren zum Inhalt, erlaubt mit Sicherheit die Diagnose überstandener Enuresis und stellt sich besonders in der Kindheit als primitive Wunscherfüllung nach ungebundener Organbetätigung dar (Freud). Bleibt manchen von ihnen die Wasserscheu fürs ganze Leben haften, so kommen andere zu hervorragenden Leistungen im Schwimm- und Rudersport. Die gleichzeitige Minderwertigkeit des Sexualorganes und das dauernde Interesse für die Blasenentleerung sind es vor allem, die neben der Enuresis vielleicht regelmäßig einen zweiten Kinderfehler, die Früh- masturbation, autoerotische Berührungen der Genitalien entstehen lassen. Damit ist wieder neuer Anlaß gegeben zu Abwegen in der psychischen Entwicklung. Der früh erwachte Autoerotismus macht das Kind für die Erziehung ungeeigneter, die Eindämmung böser, unkultureller Triebe von außen her wird aus demselben Grunde schwierig, das Kind fügt sich nur schlecht in die Kultur, wird schlimm und ungeberdig. Daneben erwachen in ihm neue Verstärkungen für seine Feigheit, Scheu und Ängstlichkeit und es sucht mit unheimlicher Konsequenz Trost und Schutz vor dem gewonnenen Verständnis für die Sünde in „kindischem“ Aberglauben und religiöser Phantasie. In der Psychoanalyse neurotischer Personen findet man beide im ideologischen sexuellen Überbau. Phy- siologisch betrachtet, kommt es zur Kompensation im psychomotorischen Feld der Sexualorgane, zu Verstärkungen und Hemmungen. Wie oft diese Vorgänge zur Grundlage von Neuropsychosen werden, sobald sich Kompensationsstörungen und Wechselwirkungen zweier minderwertiger psychomotorischer Felder ergeben, hat Freud durch sein psychoana- lytisches Material unwiderleglich nachgewiesen. Auch in meiner Ka- suistik finden sich viele Belege dafür, die durch ihre feste Zugehörig-

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/91>, abgerufen am 19.04.2024.