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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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die Funktion der Blase und des Mastdarmes auf "moralischen" Betrieb
einzurichten. Was ich diesen wichtigen Beobachtungen Freuds hinzu-
fügen muß, ist folgendes: die Kinderfehler sind nur die äußer-
lich wahrnehmbaren Erscheinungen aus der bewegten Psyche

und kennzeichnen den Mangel einer zureichenden Kompensation im
psychomotorischen Überbau des Organes. Unter normalen Verhältnissen
wird dieser Überbau beeinflußt durch die peripheren Reize der Blase,
des Mastdarmes und ebenso des Auges, des Ohres, der Haut, des Er-
nährungs-, des Atmungsorganes, zu fortlaufendem organischen Wachs-
tum angeregt, und diesem entspricht -- bei vollwertigen Nervenbahnen
-- eine dem Milieu angepaßte psychische Entwicklung. Was aber das
minderwertige Organ anlangt, so macht hier der Parallelismus in der
psychophysischen Entwicklung recht häufig einem psychophysischen
Kontrast
Platz. Der psychomotorische Überbau des minderwertigen
Organes führt einen kontinuierlichen Kampf gegen die Lustbetätigung
und für die "moralische Mission" des Organes. Der Erfolgt hängt von
der Entwicklungsfähigkeit des ursprünglich minderwertigen Überbaues
ab, von der angeborenen Wachstumsenergie der zugehörigen Großhirn-
zellen und von den auf dieselben wirkenden peripheren Reizen. Soll
sich ein Fortschritt ergeben, so muß die ursprüngliche Minderwertigkeit
der psychomotorischen Substanz eine Kompensation erfahren. Wir haben
an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Kompensation recht
häufig zu einer Überwertigkeit des Organes führt, und müssen nun
diesen Schluß dahin ergänzen: durch eine Überwertigkeit seines
psychomotorischen Überbaues
.

Die kompensatorische Überwertigkeit kann eine vollkommene sein,
dann werden die gesteigerten psychischen und physischen Relationen
und ihre Assoziationen die gesamte Psyche befruchten, aber auch cha-
rakterisieren. Von diesem Punkte aus ist ein Verständnis hervorragender
und genialer Leistungen möglich, gleichzeitig ein Erfassen der Vorbe-
dingungen, die recht häufig zu einer Berufswahl oder besonderen Lieb-
habereien und Eigenheiten die Grundlage abgeben. Ich habe bereits
früher auf die degenerative Anlage der Ohren Mozarts, auf die Oto-
sklerose Beethovens, auf die Stigmatisierung des Ohres Bruckners
durch einen Naevus hingewiesen. Ebenso auf die Kinderfehler in der
Sprachentwicklung Demosthenes'. Von Moses, dem Volksredner und
Führer, wird berichtet, daß er eine "schwere Zunge" hatte. Die hallu-
zinatorischen Erscheinungen in Schumanns Psychose zeigen uns die
Steigerungen und Überkompensationen im psychischen Überbau des
Ohres an, zugleich aber wie jede Halluzination, das Mißglücken einer

die Funktion der Blase und des Mastdarmes auf „moralischen“ Betrieb
einzurichten. Was ich diesen wichtigen Beobachtungen Freuds hinzu-
fügen muß, ist folgendes: die Kinderfehler sind nur die äußer-
lich wahrnehmbaren Erscheinungen aus der bewegten Psyche

und kennzeichnen den Mangel einer zureichenden Kompensation im
psychomotorischen Überbau des Organes. Unter normalen Verhältnissen
wird dieser Überbau beeinflußt durch die peripheren Reize der Blase,
des Mastdarmes und ebenso des Auges, des Ohres, der Haut, des Er-
nährungs-, des Atmungsorganes, zu fortlaufendem organischen Wachs-
tum angeregt, und diesem entspricht — bei vollwertigen Nervenbahnen
— eine dem Milieu angepaßte psychische Entwicklung. Was aber das
minderwertige Organ anlangt, so macht hier der Parallelismus in der
psychophysischen Entwicklung recht häufig einem psychophysischen
Kontrast
Platz. Der psychomotorische Überbau des minderwertigen
Organes führt einen kontinuierlichen Kampf gegen die Lustbetätigung
und für die „moralische Mission“ des Organes. Der Erfolgt hängt von
der Entwicklungsfähigkeit des ursprünglich minderwertigen Überbaues
ab, von der angeborenen Wachstumsenergie der zugehörigen Großhirn-
zellen und von den auf dieselben wirkenden peripheren Reizen. Soll
sich ein Fortschritt ergeben, so muß die ursprüngliche Minderwertigkeit
der psychomotorischen Substanz eine Kompensation erfahren. Wir haben
an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Kompensation recht
häufig zu einer Überwertigkeit des Organes führt, und müssen nun
diesen Schluß dahin ergänzen: durch eine Überwertigkeit seines
psychomotorischen Überbaues
.

Die kompensatorische Überwertigkeit kann eine vollkommene sein,
dann werden die gesteigerten psychischen und physischen Relationen
und ihre Assoziationen die gesamte Psyche befruchten, aber auch cha-
rakterisieren. Von diesem Punkte aus ist ein Verständnis hervorragender
und genialer Leistungen möglich, gleichzeitig ein Erfassen der Vorbe-
dingungen, die recht häufig zu einer Berufswahl oder besonderen Lieb-
habereien und Eigenheiten die Grundlage abgeben. Ich habe bereits
früher auf die degenerative Anlage der Ohren Mozarts, auf die Oto-
sklerose Beethovens, auf die Stigmatisierung des Ohres Bruckners
durch einen Naevus hingewiesen. Ebenso auf die Kinderfehler in der
Sprachentwicklung Demosthenes’. Von Moses, dem Volksredner und
Führer, wird berichtet, daß er eine „schwere Zunge“ hatte. Die hallu-
zinatorischen Erscheinungen in Schumanns Psychose zeigen uns die
Steigerungen und Überkompensationen im psychischen Überbau des
Ohres an, zugleich aber wie jede Halluzination, das Mißglücken einer

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[65/0077] die Funktion der Blase und des Mastdarmes auf „moralischen“ Betrieb einzurichten. Was ich diesen wichtigen Beobachtungen Freuds hinzu- fügen muß, ist folgendes: die Kinderfehler sind nur die äußer- lich wahrnehmbaren Erscheinungen aus der bewegten Psyche und kennzeichnen den Mangel einer zureichenden Kompensation im psychomotorischen Überbau des Organes. Unter normalen Verhältnissen wird dieser Überbau beeinflußt durch die peripheren Reize der Blase, des Mastdarmes und ebenso des Auges, des Ohres, der Haut, des Er- nährungs-, des Atmungsorganes, zu fortlaufendem organischen Wachs- tum angeregt, und diesem entspricht — bei vollwertigen Nervenbahnen — eine dem Milieu angepaßte psychische Entwicklung. Was aber das minderwertige Organ anlangt, so macht hier der Parallelismus in der psychophysischen Entwicklung recht häufig einem psychophysischen Kontrast Platz. Der psychomotorische Überbau des minderwertigen Organes führt einen kontinuierlichen Kampf gegen die Lustbetätigung und für die „moralische Mission“ des Organes. Der Erfolgt hängt von der Entwicklungsfähigkeit des ursprünglich minderwertigen Überbaues ab, von der angeborenen Wachstumsenergie der zugehörigen Großhirn- zellen und von den auf dieselben wirkenden peripheren Reizen. Soll sich ein Fortschritt ergeben, so muß die ursprüngliche Minderwertigkeit der psychomotorischen Substanz eine Kompensation erfahren. Wir haben an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Kompensation recht häufig zu einer Überwertigkeit des Organes führt, und müssen nun diesen Schluß dahin ergänzen: durch eine Überwertigkeit seines psychomotorischen Überbaues. Die kompensatorische Überwertigkeit kann eine vollkommene sein, dann werden die gesteigerten psychischen und physischen Relationen und ihre Assoziationen die gesamte Psyche befruchten, aber auch cha- rakterisieren. Von diesem Punkte aus ist ein Verständnis hervorragender und genialer Leistungen möglich, gleichzeitig ein Erfassen der Vorbe- dingungen, die recht häufig zu einer Berufswahl oder besonderen Lieb- habereien und Eigenheiten die Grundlage abgeben. Ich habe bereits früher auf die degenerative Anlage der Ohren Mozarts, auf die Oto- sklerose Beethovens, auf die Stigmatisierung des Ohres Bruckners durch einen Naevus hingewiesen. Ebenso auf die Kinderfehler in der Sprachentwicklung Demosthenes’. Von Moses, dem Volksredner und Führer, wird berichtet, daß er eine „schwere Zunge“ hatte. Die hallu- zinatorischen Erscheinungen in Schumanns Psychose zeigen uns die Steigerungen und Überkompensationen im psychischen Überbau des Ohres an, zugleich aber wie jede Halluzination, das Mißglücken einer

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/77>, abgerufen am 23.04.2024.