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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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darin gelegen zu sein, daß das Bild der Organminderwertigkeit
nur allzu oft durch das Dazwischentreten weiterer Organ-
minderwertigkeiten getrübt und unkenntlich gemacht wird
.
Noch schwieriger erscheint die Einsicht in den Zusammenhang, wenn
man gezwungen ist, die Minderwertigkeit am Stammbaum nach An-
gaben eines einzelnen Patienten festzustellen. Zumeist handelt es sich
um Mitteilungen über Erkrankungen der Familienmitglieder während
ihres Lebens oder über Affektionen, die zum Tode führten. Eine Prüfung
anderer Organminderwertigkeiten, die etwa unbemerkt geblieben sind,
beim Untersuchten aber gerade deutlich in Erscheinung treten, ist häufig
unausführbar. Demgegenüber findet sich glücklicherweise, und besonders
in der hausärztlichen Praxis, eine solche Fülle deutbaren Materiales,
daß trotz einzelner Lücken, durch die Schwierigkeit in der Material-
beschaffung verschuldet, das Fundament der Organ-Minderwertigkeits-
lehre als wohlbegründet anzusehen ist.

Eine zweite Erscheinung, die mit der obigen innig zusammenhängt,
ist in noch höherem Grade geeignet, den Tatbestand zu verhüllen. Recht
häufig lassen sich nämlich Organerkrankungen fast bei jedem einzelnen
der Familienmitglieder nachweisen, aber sie betreffen ganz verschiedene
Organe, scheinen also der Forderung nach der Heredität der Organ-
minderwertigkeit zu widersprechen. Aber auch in solchen Fällen läßt
sich der Zusammenhang oft auffinden und der Nachweis einer gehäuften
Organminderwertigkeit zumindest durch den Nachweis des Kinderfehlers
oder der Reflexanomalie erbringen. Ein solcher Fall, den ich bereits
zur Theorie des Karzinoms benutzt habe und den ich hier ausführlicher
bespreche, ist folgender:

Therese S. starb im Alter von 46 Jahren im Anschluß an eine
Operation wegen Uteruskarzinoms. Ihr Gatte Samuel S., derzeit 51 Jahre
alt, leidet seit seinem 40. Lebensjahre an selten auftretenden Anfällen,
die mit plötzlichem Zusammensinken und kurzdauernder Bewußtlosigkeit
verbunden sind. Verletzungen kommen dabei häufig vor. Schwerbesinn-
lichkeit nach dem Anfall, Amnesie und Lallen nachher sprechen für
die epileptische Natur der Affektion. Einer psychischen Analyse sind
diese etwa zweimal im Jahre eintretenden Anfälle nicht zugänglich.
Patient leidet an andauernder Obstipation. Sein Sohn Alexander S.,
23 Jahre alt, litt bis ins 6. Lebensjahr an unfreiwilligen Harn- und
Kotabgängen, erwarb im 21. Jahre Skarlatina, die von einer Nephritis
gefolgt war. Zeitweise ist noch nach einem Jahre Eiweiß in Spuren,
recht häufig auch Phosphaturie nachzuweisen. Sexuelle Abstinenz, auch

darin gelegen zu sein, daß das Bild der Organminderwertigkeit
nur allzu oft durch das Dazwischentreten weiterer Organ-
minderwertigkeiten getrübt und unkenntlich gemacht wird
.
Noch schwieriger erscheint die Einsicht in den Zusammenhang, wenn
man gezwungen ist, die Minderwertigkeit am Stammbaum nach An-
gaben eines einzelnen Patienten festzustellen. Zumeist handelt es sich
um Mitteilungen über Erkrankungen der Familienmitglieder während
ihres Lebens oder über Affektionen, die zum Tode führten. Eine Prüfung
anderer Organminderwertigkeiten, die etwa unbemerkt geblieben sind,
beim Untersuchten aber gerade deutlich in Erscheinung treten, ist häufig
unausführbar. Demgegenüber findet sich glücklicherweise, und besonders
in der hausärztlichen Praxis, eine solche Fülle deutbaren Materiales,
daß trotz einzelner Lücken, durch die Schwierigkeit in der Material-
beschaffung verschuldet, das Fundament der Organ-Minderwertigkeits-
lehre als wohlbegründet anzusehen ist.

Eine zweite Erscheinung, die mit der obigen innig zusammenhängt,
ist in noch höherem Grade geeignet, den Tatbestand zu verhüllen. Recht
häufig lassen sich nämlich Organerkrankungen fast bei jedem einzelnen
der Familienmitglieder nachweisen, aber sie betreffen ganz verschiedene
Organe, scheinen also der Forderung nach der Heredität der Organ-
minderwertigkeit zu widersprechen. Aber auch in solchen Fällen läßt
sich der Zusammenhang oft auffinden und der Nachweis einer gehäuften
Organminderwertigkeit zumindest durch den Nachweis des Kinderfehlers
oder der Reflexanomalie erbringen. Ein solcher Fall, den ich bereits
zur Theorie des Karzinoms benutzt habe und den ich hier ausführlicher
bespreche, ist folgender:

Therese S. starb im Alter von 46 Jahren im Anschluß an eine
Operation wegen Uteruskarzinoms. Ihr Gatte Samuel S., derzeit 51 Jahre
alt, leidet seit seinem 40. Lebensjahre an selten auftretenden Anfällen,
die mit plötzlichem Zusammensinken und kurzdauernder Bewußtlosigkeit
verbunden sind. Verletzungen kommen dabei häufig vor. Schwerbesinn-
lichkeit nach dem Anfall, Amnesie und Lallen nachher sprechen für
die epileptische Natur der Affektion. Einer psychischen Analyse sind
diese etwa zweimal im Jahre eintretenden Anfälle nicht zugänglich.
Patient leidet an andauernder Obstipation. Sein Sohn Alexander S.,
23 Jahre alt, litt bis ins 6. Lebensjahr an unfreiwilligen Harn- und
Kotabgängen, erwarb im 21. Jahre Skarlatina, die von einer Nephritis
gefolgt war. Zeitweise ist noch nach einem Jahre Eiweiß in Spuren,
recht häufig auch Phosphaturie nachzuweisen. Sexuelle Abstinenz, auch

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[56/0068] darin gelegen zu sein, daß das Bild der Organminderwertigkeit nur allzu oft durch das Dazwischentreten weiterer Organ- minderwertigkeiten getrübt und unkenntlich gemacht wird. Noch schwieriger erscheint die Einsicht in den Zusammenhang, wenn man gezwungen ist, die Minderwertigkeit am Stammbaum nach An- gaben eines einzelnen Patienten festzustellen. Zumeist handelt es sich um Mitteilungen über Erkrankungen der Familienmitglieder während ihres Lebens oder über Affektionen, die zum Tode führten. Eine Prüfung anderer Organminderwertigkeiten, die etwa unbemerkt geblieben sind, beim Untersuchten aber gerade deutlich in Erscheinung treten, ist häufig unausführbar. Demgegenüber findet sich glücklicherweise, und besonders in der hausärztlichen Praxis, eine solche Fülle deutbaren Materiales, daß trotz einzelner Lücken, durch die Schwierigkeit in der Material- beschaffung verschuldet, das Fundament der Organ-Minderwertigkeits- lehre als wohlbegründet anzusehen ist. Eine zweite Erscheinung, die mit der obigen innig zusammenhängt, ist in noch höherem Grade geeignet, den Tatbestand zu verhüllen. Recht häufig lassen sich nämlich Organerkrankungen fast bei jedem einzelnen der Familienmitglieder nachweisen, aber sie betreffen ganz verschiedene Organe, scheinen also der Forderung nach der Heredität der Organ- minderwertigkeit zu widersprechen. Aber auch in solchen Fällen läßt sich der Zusammenhang oft auffinden und der Nachweis einer gehäuften Organminderwertigkeit zumindest durch den Nachweis des Kinderfehlers oder der Reflexanomalie erbringen. Ein solcher Fall, den ich bereits zur Theorie des Karzinoms benutzt habe und den ich hier ausführlicher bespreche, ist folgender: Therese S. starb im Alter von 46 Jahren im Anschluß an eine Operation wegen Uteruskarzinoms. Ihr Gatte Samuel S., derzeit 51 Jahre alt, leidet seit seinem 40. Lebensjahre an selten auftretenden Anfällen, die mit plötzlichem Zusammensinken und kurzdauernder Bewußtlosigkeit verbunden sind. Verletzungen kommen dabei häufig vor. Schwerbesinn- lichkeit nach dem Anfall, Amnesie und Lallen nachher sprechen für die epileptische Natur der Affektion. Einer psychischen Analyse sind diese etwa zweimal im Jahre eintretenden Anfälle nicht zugänglich. Patient leidet an andauernder Obstipation. Sein Sohn Alexander S., 23 Jahre alt, litt bis ins 6. Lebensjahr an unfreiwilligen Harn- und Kotabgängen, erwarb im 21. Jahre Skarlatina, die von einer Nephritis gefolgt war. Zeitweise ist noch nach einem Jahre Eiweiß in Spuren, recht häufig auch Phosphaturie nachzuweisen. Sexuelle Abstinenz, auch

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/68>, abgerufen am 24.04.2024.