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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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2. oder 3. Lebensjahr. Außerdem ist mir noch aufgefallen, daß bei
kleinen Kindern durch die Berührung der hinteren Rachenwand kein
Würgreflex, sondern oft Husten ausgelöst wird, was mich in der Auffassung
bestärkt, daß Reflexanomalien des Gaumens und Rachens sowie die
früher besprochenen Stigmen an dieser Stelle auch einer Minderwertig-
keit des Atmungsapparates entspringen können. Die Ausbreitung der
Würgreflexzone auf den weichen Gaumen kann aber durch wiederholte
Prüfung oder brüske, vom Patienten vorher erwartete Berührung pro-
voziert werden und das Ergebnis ist dann nicht mehr einwandfrei. Eine
weitere Bestätigung erfährt meine Auffassung durch nicht allzu seltene
Fälle, die den Würgreflex schon vor der Berührung des weichen Gaumens
zeigen. So konnte ich bei einem 4jährigen Mädchen einen gesteigerten
Würgreflex hervorrufen, wenn ich mit einem dünnen Stäbchen bis hinter
die Zahnreihe gelangte, ohne den Gaumen oder die Zunge berührt zu
haben, was um so auffälliger war, als das Kind infolge eines Wolfs-
rachens einen Mangel des mittleren hinteren Anteils des weichen
Gaumens aufwies. In 3 Fällen war es mir unmöglich, auch nur die
Öffnung des Mundes zu erzielen. Unter Lachen, Ängstlichkeit und An-
deutung von Würgbewegung wurde die Inspektion verweigert. 2 Fälle
davon betrafen Köchinnen, die seit längerer Zeit in Wien in Dienst
standen und durchaus nicht unintelligent waren. Auch Schäden im
Munde, deren sie sich etwa geschämt hätten, waren nicht vorhanden.
Der 3. Fall betraf eine gebildete Dame, die seit vielen Jahren an re-
zidivierenden Tonsillarabszessen litt. Die Inzision mußte stets unter-
bleiben wegen der Unmöglichkeit, der Patientin eine Sonde oder ein
Messer in den Mund zu bringen. In der Zeit, wo sich keine Abszesse
gebildet hatten, fand ich das gleiche Verhalten. Zwei Söhne der Pa-
tientin zeigten ein ähnliches Verhalten, das den Eindruck machte, als
sei die Würgreflexzone bis an die Augen verbreitert und werde durch
die Erwartung einer Berührung im Rachen bereits irritiert. Die Be-
rührung des Gaumens muß also einmal und ohne daß sie der Untersuchte
erwartet, geschehen, stellt aber gegenüber der Berührung der hinteren
Rachenwand das feinere Reagens auf die Reflextätigkeit des Rachens dar.

Noch leichter einzusehen ist die Beherrschung dieser Reflexfähigkeit
durch den Willen. Doch habe ich den Eindruck, daß ein einigermaßen gestei-
gerter Würgreflex durch den Willen nicht völlig hintangehalten werden kann.

Diese Überlegungen und der Eindruck, den ich an einer großen
Reihe von Säuglingen und kleinen Kindern gewann*), daß der Gaumen-

*) Das Material verdanke ich zum Teil der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. Rie.

2. oder 3. Lebensjahr. Außerdem ist mir noch aufgefallen, daß bei
kleinen Kindern durch die Berührung der hinteren Rachenwand kein
Würgreflex, sondern oft Husten ausgelöst wird, was mich in der Auffassung
bestärkt, daß Reflexanomalien des Gaumens und Rachens sowie die
früher besprochenen Stigmen an dieser Stelle auch einer Minderwertig-
keit des Atmungsapparates entspringen können. Die Ausbreitung der
Würgreflexzone auf den weichen Gaumen kann aber durch wiederholte
Prüfung oder brüske, vom Patienten vorher erwartete Berührung pro-
voziert werden und das Ergebnis ist dann nicht mehr einwandfrei. Eine
weitere Bestätigung erfährt meine Auffassung durch nicht allzu seltene
Fälle, die den Würgreflex schon vor der Berührung des weichen Gaumens
zeigen. So konnte ich bei einem 4jährigen Mädchen einen gesteigerten
Würgreflex hervorrufen, wenn ich mit einem dünnen Stäbchen bis hinter
die Zahnreihe gelangte, ohne den Gaumen oder die Zunge berührt zu
haben, was um so auffälliger war, als das Kind infolge eines Wolfs-
rachens einen Mangel des mittleren hinteren Anteils des weichen
Gaumens aufwies. In 3 Fällen war es mir unmöglich, auch nur die
Öffnung des Mundes zu erzielen. Unter Lachen, Ängstlichkeit und An-
deutung von Würgbewegung wurde die Inspektion verweigert. 2 Fälle
davon betrafen Köchinnen, die seit längerer Zeit in Wien in Dienst
standen und durchaus nicht unintelligent waren. Auch Schäden im
Munde, deren sie sich etwa geschämt hätten, waren nicht vorhanden.
Der 3. Fall betraf eine gebildete Dame, die seit vielen Jahren an re-
zidivierenden Tonsillarabszessen litt. Die Inzision mußte stets unter-
bleiben wegen der Unmöglichkeit, der Patientin eine Sonde oder ein
Messer in den Mund zu bringen. In der Zeit, wo sich keine Abszesse
gebildet hatten, fand ich das gleiche Verhalten. Zwei Söhne der Pa-
tientin zeigten ein ähnliches Verhalten, das den Eindruck machte, als
sei die Würgreflexzone bis an die Augen verbreitert und werde durch
die Erwartung einer Berührung im Rachen bereits irritiert. Die Be-
rührung des Gaumens muß also einmal und ohne daß sie der Untersuchte
erwartet, geschehen, stellt aber gegenüber der Berührung der hinteren
Rachenwand das feinere Reagens auf die Reflextätigkeit des Rachens dar.

Noch leichter einzusehen ist die Beherrschung dieser Reflexfähigkeit
durch den Willen. Doch habe ich den Eindruck, daß ein einigermaßen gestei-
gerter Würgreflex durch den Willen nicht völlig hintangehalten werden kann.

Diese Überlegungen und der Eindruck, den ich an einer großen
Reihe von Säuglingen und kleinen Kindern gewann*), daß der Gaumen-

*) Das Material verdanke ich zum Teil der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. Rie.
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[46/0058] 2. oder 3. Lebensjahr. Außerdem ist mir noch aufgefallen, daß bei kleinen Kindern durch die Berührung der hinteren Rachenwand kein Würgreflex, sondern oft Husten ausgelöst wird, was mich in der Auffassung bestärkt, daß Reflexanomalien des Gaumens und Rachens sowie die früher besprochenen Stigmen an dieser Stelle auch einer Minderwertig- keit des Atmungsapparates entspringen können. Die Ausbreitung der Würgreflexzone auf den weichen Gaumen kann aber durch wiederholte Prüfung oder brüske, vom Patienten vorher erwartete Berührung pro- voziert werden und das Ergebnis ist dann nicht mehr einwandfrei. Eine weitere Bestätigung erfährt meine Auffassung durch nicht allzu seltene Fälle, die den Würgreflex schon vor der Berührung des weichen Gaumens zeigen. So konnte ich bei einem 4jährigen Mädchen einen gesteigerten Würgreflex hervorrufen, wenn ich mit einem dünnen Stäbchen bis hinter die Zahnreihe gelangte, ohne den Gaumen oder die Zunge berührt zu haben, was um so auffälliger war, als das Kind infolge eines Wolfs- rachens einen Mangel des mittleren hinteren Anteils des weichen Gaumens aufwies. In 3 Fällen war es mir unmöglich, auch nur die Öffnung des Mundes zu erzielen. Unter Lachen, Ängstlichkeit und An- deutung von Würgbewegung wurde die Inspektion verweigert. 2 Fälle davon betrafen Köchinnen, die seit längerer Zeit in Wien in Dienst standen und durchaus nicht unintelligent waren. Auch Schäden im Munde, deren sie sich etwa geschämt hätten, waren nicht vorhanden. Der 3. Fall betraf eine gebildete Dame, die seit vielen Jahren an re- zidivierenden Tonsillarabszessen litt. Die Inzision mußte stets unter- bleiben wegen der Unmöglichkeit, der Patientin eine Sonde oder ein Messer in den Mund zu bringen. In der Zeit, wo sich keine Abszesse gebildet hatten, fand ich das gleiche Verhalten. Zwei Söhne der Pa- tientin zeigten ein ähnliches Verhalten, das den Eindruck machte, als sei die Würgreflexzone bis an die Augen verbreitert und werde durch die Erwartung einer Berührung im Rachen bereits irritiert. Die Be- rührung des Gaumens muß also einmal und ohne daß sie der Untersuchte erwartet, geschehen, stellt aber gegenüber der Berührung der hinteren Rachenwand das feinere Reagens auf die Reflextätigkeit des Rachens dar. Noch leichter einzusehen ist die Beherrschung dieser Reflexfähigkeit durch den Willen. Doch habe ich den Eindruck, daß ein einigermaßen gestei- gerter Würgreflex durch den Willen nicht völlig hintangehalten werden kann. Diese Überlegungen und der Eindruck, den ich an einer großen Reihe von Säuglingen und kleinen Kindern gewann *), daß der Gaumen- *) Das Material verdanke ich zum Teil der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. Rie.

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/58>, abgerufen am 20.04.2024.