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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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schlägige Material, wie ja auch der Zusammenhang von Diabetes und
Fettleibigkeit allseitig anerkannt ist. Ferner kann man die später zu
besprechenden Gaumenreflexanomalien häufig nachweisen.

Ein Fall, der manchen der angedeuteten Zusammenhänge auf-
weist, ist folgender:

Friederike U., 6 Jahre alt, von gesunden Eltern stammend -- der
Vater ist fettleibig und gehört einer zu Adipositas neigenden Familie
an --, erkrankte während des Landaufenthaltes an häufig sich wieder-
holenden Diarrhöen, die mit heftigen Schmerzen einhergingen. Im
2. Lebensjahre hat Patientin einen länger währenden Darmkatarrh
durchgemacht. Sie stand wegen Prognathie, die außer bei der ältesten,
11 Jahre zählenden Schwester nirgends in der Familie anzutreffen ist,
in Behandlung eines Zahnarztes, als sich bei erneuten Darmkoliken die
vorliegende Darmaffektion als Appendizitis entpuppte, was sich bei
der Operation bestätigte. Zwei Jahre vorher hatte sie eine Operation
wegen adenoider Vegetationen durchgemacht und läßt bis heute näselnde
Sprache und deutliches Anstoßen mit der Zunge beim Sprechen erkennen.
Der Gaumenreflex war bei diesem Kinde sowie bei ihren zwei Schwestern
exzessiv gesteigert. Nachträglich erfuhr ich, daß der Vater, ein stets
gesunder Mann, bis zur Pubertät an nächtlichem Bettnässen und un-
willkürlichen Kotabgängen ebenso wie einige seiner nunmehr recht be-
leibten Geschwister gelitten habe. Die älteste Schwester der Patientin
leidet seit frühester Kindheit an Obstipation und zeigt nach Aufregun-
gen in der Schule oder im Hause prompt Appetitlosigkeit. Sie erweist
sich als nervöses Kind, das häufig an Kopfschmerzen leidet, auch zeit-
weilig über Koliken klagt, ohne daß der Verdacht einer Appendizitis
gerechtfertigt wäre. Fissuren am After und ischiadische Schmerzen
treten häufig bei ihr auf und verschwinden nach kürzerer Zeit. Die
zweite Schwester ist gesund.

Die Analyse dieses Falles ist nach dem Gesagten einfach. Hinzu-
fügen muß ich noch, was ich aus anderen Fällen bestätigen kann, wie
sehr sich Appendizitis und die sogenannte Pseudoappendizitis berühren.
Es ist das gleiche Verhältnis wie zwischen Magenneurose und etwa
Ulcus ventriculi. Beide finden sich zuweilen an einem Stammbaum,
können in einzelnen Fällen sogar ineinander übergehen. Immer aber
wird sich der Nachweis des minderwertigen Bodens in der von mir
vorgeschlagenen Weise erbringen lassen.



schlägige Material, wie ja auch der Zusammenhang von Diabetes und
Fettleibigkeit allseitig anerkannt ist. Ferner kann man die später zu
besprechenden Gaumenreflexanomalien häufig nachweisen.

Ein Fall, der manchen der angedeuteten Zusammenhänge auf-
weist, ist folgender:

Friederike U., 6 Jahre alt, von gesunden Eltern stammend — der
Vater ist fettleibig und gehört einer zu Adipositas neigenden Familie
an —, erkrankte während des Landaufenthaltes an häufig sich wieder-
holenden Diarrhöen, die mit heftigen Schmerzen einhergingen. Im
2. Lebensjahre hat Patientin einen länger währenden Darmkatarrh
durchgemacht. Sie stand wegen Prognathie, die außer bei der ältesten,
11 Jahre zählenden Schwester nirgends in der Familie anzutreffen ist,
in Behandlung eines Zahnarztes, als sich bei erneuten Darmkoliken die
vorliegende Darmaffektion als Appendizitis entpuppte, was sich bei
der Operation bestätigte. Zwei Jahre vorher hatte sie eine Operation
wegen adenoider Vegetationen durchgemacht und läßt bis heute näselnde
Sprache und deutliches Anstoßen mit der Zunge beim Sprechen erkennen.
Der Gaumenreflex war bei diesem Kinde sowie bei ihren zwei Schwestern
exzessiv gesteigert. Nachträglich erfuhr ich, daß der Vater, ein stets
gesunder Mann, bis zur Pubertät an nächtlichem Bettnässen und un-
willkürlichen Kotabgängen ebenso wie einige seiner nunmehr recht be-
leibten Geschwister gelitten habe. Die älteste Schwester der Patientin
leidet seit frühester Kindheit an Obstipation und zeigt nach Aufregun-
gen in der Schule oder im Hause prompt Appetitlosigkeit. Sie erweist
sich als nervöses Kind, das häufig an Kopfschmerzen leidet, auch zeit-
weilig über Koliken klagt, ohne daß der Verdacht einer Appendizitis
gerechtfertigt wäre. Fissuren am After und ischiadische Schmerzen
treten häufig bei ihr auf und verschwinden nach kürzerer Zeit. Die
zweite Schwester ist gesund.

Die Analyse dieses Falles ist nach dem Gesagten einfach. Hinzu-
fügen muß ich noch, was ich aus anderen Fällen bestätigen kann, wie
sehr sich Appendizitis und die sogenannte Pseudoappendizitis berühren.
Es ist das gleiche Verhältnis wie zwischen Magenneurose und etwa
Ulcus ventriculi. Beide finden sich zuweilen an einem Stammbaum,
können in einzelnen Fällen sogar ineinander übergehen. Immer aber
wird sich der Nachweis des minderwertigen Bodens in der von mir
vorgeschlagenen Weise erbringen lassen.



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[39/0051] schlägige Material, wie ja auch der Zusammenhang von Diabetes und Fettleibigkeit allseitig anerkannt ist. Ferner kann man die später zu besprechenden Gaumenreflexanomalien häufig nachweisen. Ein Fall, der manchen der angedeuteten Zusammenhänge auf- weist, ist folgender: Friederike U., 6 Jahre alt, von gesunden Eltern stammend — der Vater ist fettleibig und gehört einer zu Adipositas neigenden Familie an —, erkrankte während des Landaufenthaltes an häufig sich wieder- holenden Diarrhöen, die mit heftigen Schmerzen einhergingen. Im 2. Lebensjahre hat Patientin einen länger währenden Darmkatarrh durchgemacht. Sie stand wegen Prognathie, die außer bei der ältesten, 11 Jahre zählenden Schwester nirgends in der Familie anzutreffen ist, in Behandlung eines Zahnarztes, als sich bei erneuten Darmkoliken die vorliegende Darmaffektion als Appendizitis entpuppte, was sich bei der Operation bestätigte. Zwei Jahre vorher hatte sie eine Operation wegen adenoider Vegetationen durchgemacht und läßt bis heute näselnde Sprache und deutliches Anstoßen mit der Zunge beim Sprechen erkennen. Der Gaumenreflex war bei diesem Kinde sowie bei ihren zwei Schwestern exzessiv gesteigert. Nachträglich erfuhr ich, daß der Vater, ein stets gesunder Mann, bis zur Pubertät an nächtlichem Bettnässen und un- willkürlichen Kotabgängen ebenso wie einige seiner nunmehr recht be- leibten Geschwister gelitten habe. Die älteste Schwester der Patientin leidet seit frühester Kindheit an Obstipation und zeigt nach Aufregun- gen in der Schule oder im Hause prompt Appetitlosigkeit. Sie erweist sich als nervöses Kind, das häufig an Kopfschmerzen leidet, auch zeit- weilig über Koliken klagt, ohne daß der Verdacht einer Appendizitis gerechtfertigt wäre. Fissuren am After und ischiadische Schmerzen treten häufig bei ihr auf und verschwinden nach kürzerer Zeit. Die zweite Schwester ist gesund. Die Analyse dieses Falles ist nach dem Gesagten einfach. Hinzu- fügen muß ich noch, was ich aus anderen Fällen bestätigen kann, wie sehr sich Appendizitis und die sogenannte Pseudoappendizitis berühren. Es ist das gleiche Verhältnis wie zwischen Magenneurose und etwa Ulcus ventriculi. Beide finden sich zuweilen an einem Stammbaum, können in einzelnen Fällen sogar ineinander übergehen. Immer aber wird sich der Nachweis des minderwertigen Bodens in der von mir vorgeschlagenen Weise erbringen lassen.

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/51>, abgerufen am 28.03.2024.