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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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Der häufige Befund von äußeren Degenerationszeichen bei an-
scheinend Normalen bietet also, in diesem Lichte gesehen, durchaus
nichts überraschendes. Das äußere Stigma kann ja -- wie wir meinen,
vereinzelt -- den einzigen Mangel in der Ausbildung des Organes bedeuten.
Aber auch bei Beteiligung des zugehörigen Organes an der Minder-
wertigkeit kann der Mangel, soferne er geringeren Grades ist oder
durch andere Hilfen kompensiert erscheint, bei ziemlichem Wohlbe-
finden ertragen werden. Nur darf daraus nicht geschlossen werden, wie
es gegenwärtig von einzelnen Autoren geschieht, daß den Degenerations-
zeichen ein orientierender Wert abzusprechen sei. Im Gegenteil! Der
Arzt wird lernen, aus ihnen die geringere Widerstandsfähigkeit des
derzeit noch leistungsfähigen Organs zu erschließen, brüske Schädi-
gungen fernzuhalten. Und wie bei der Besprechung der funktionellen
Minderwertigkeit muß auch hier hervorgehoben werden, wie oft Organe
von geringgradiger Minderwertigkeit zu größerer Leistungsfähigkeit
heranwachsen können wie die vollwertigen. Die Ursache liegt in
dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minder-
wertigen Organen oftmals anhaftenden Anpassungsfähigkeit
und Variabilität und sicherlich auch in der durch die innere
Aufmerksamkeit und geistige Konzentration auf das schwä-
chere Organ erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen
und psychischen Komplexes.
Die zuletzt angeführte kompensa-
torische Ausbildung der Nervenbahnen umschließt unter anderem auch
die Ausbildung der Reflexe, einer speziellen Schutzvorrichtung und
Mobilisierung des Organes.

Es ist hier nicht der Platz, eine umfängliche Darstellung der
Degenerationszeichen in meinem Sinne als periphere Stigmen der Organ-
minderwertigkeit zu geben. Meine eigene Kasuistik wäre zu dürftig.
Die Literatur allerdings bietet ausreichende Belege für diese Auffassung.
Nur auf einige der wichtigsten Stigmen will ich hinweisen, wie sie
sich mir im Zusammenhang mit Organminderwertigkeit darboten. An-
geborene oder hereditäre Bildungsanomalien des Auges, der Lider, Pig-
mentanomalien der Iris (Fuchs), Schichtstar, angeborene Verengung
einer Lidspalte, Myopie, Hypermetropie, Strabismus finden sich häufig
bei Personen, die späterhin an anderen Augenaffektionen, Retinitis,
Chorioiditis, Netzhautablösung erkranken. Funktionelle Defekte sind
häufig von morphologischen Anomalien begleitet. Einer Affektion an
einem Auge folgt nicht selten eine andere am zweiten Auge. Die He-
redität von Anomalien am Sehapparat und von Augenaffektionen steht
außer Zweifel. Die Frühanamnese ist fast immer mangelhaft. Auffällig

Der häufige Befund von äußeren Degenerationszeichen bei an-
scheinend Normalen bietet also, in diesem Lichte gesehen, durchaus
nichts überraschendes. Das äußere Stigma kann ja — wie wir meinen,
vereinzelt — den einzigen Mangel in der Ausbildung des Organes bedeuten.
Aber auch bei Beteiligung des zugehörigen Organes an der Minder-
wertigkeit kann der Mangel, soferne er geringeren Grades ist oder
durch andere Hilfen kompensiert erscheint, bei ziemlichem Wohlbe-
finden ertragen werden. Nur darf daraus nicht geschlossen werden, wie
es gegenwärtig von einzelnen Autoren geschieht, daß den Degenerations-
zeichen ein orientierender Wert abzusprechen sei. Im Gegenteil! Der
Arzt wird lernen, aus ihnen die geringere Widerstandsfähigkeit des
derzeit noch leistungsfähigen Organs zu erschließen, brüske Schädi-
gungen fernzuhalten. Und wie bei der Besprechung der funktionellen
Minderwertigkeit muß auch hier hervorgehoben werden, wie oft Organe
von geringgradiger Minderwertigkeit zu größerer Leistungsfähigkeit
heranwachsen können wie die vollwertigen. Die Ursache liegt in
dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minder-
wertigen Organen oftmals anhaftenden Anpassungsfähigkeit
und Variabilität und sicherlich auch in der durch die innere
Aufmerksamkeit und geistige Konzentration auf das schwä-
chere Organ erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen
und psychischen Komplexes.
Die zuletzt angeführte kompensa-
torische Ausbildung der Nervenbahnen umschließt unter anderem auch
die Ausbildung der Reflexe, einer speziellen Schutzvorrichtung und
Mobilisierung des Organes.

Es ist hier nicht der Platz, eine umfängliche Darstellung der
Degenerationszeichen in meinem Sinne als periphere Stigmen der Organ-
minderwertigkeit zu geben. Meine eigene Kasuistik wäre zu dürftig.
Die Literatur allerdings bietet ausreichende Belege für diese Auffassung.
Nur auf einige der wichtigsten Stigmen will ich hinweisen, wie sie
sich mir im Zusammenhang mit Organminderwertigkeit darboten. An-
geborene oder hereditäre Bildungsanomalien des Auges, der Lider, Pig-
mentanomalien der Iris (Fuchs), Schichtstar, angeborene Verengung
einer Lidspalte, Myopie, Hypermetropie, Strabismus finden sich häufig
bei Personen, die späterhin an anderen Augenaffektionen, Retinitis,
Chorioiditis, Netzhautablösung erkranken. Funktionelle Defekte sind
häufig von morphologischen Anomalien begleitet. Einer Affektion an
einem Auge folgt nicht selten eine andere am zweiten Auge. Die He-
redität von Anomalien am Sehapparat und von Augenaffektionen steht
außer Zweifel. Die Frühanamnese ist fast immer mangelhaft. Auffällig

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[32/0044] Der häufige Befund von äußeren Degenerationszeichen bei an- scheinend Normalen bietet also, in diesem Lichte gesehen, durchaus nichts überraschendes. Das äußere Stigma kann ja — wie wir meinen, vereinzelt — den einzigen Mangel in der Ausbildung des Organes bedeuten. Aber auch bei Beteiligung des zugehörigen Organes an der Minder- wertigkeit kann der Mangel, soferne er geringeren Grades ist oder durch andere Hilfen kompensiert erscheint, bei ziemlichem Wohlbe- finden ertragen werden. Nur darf daraus nicht geschlossen werden, wie es gegenwärtig von einzelnen Autoren geschieht, daß den Degenerations- zeichen ein orientierender Wert abzusprechen sei. Im Gegenteil! Der Arzt wird lernen, aus ihnen die geringere Widerstandsfähigkeit des derzeit noch leistungsfähigen Organs zu erschließen, brüske Schädi- gungen fernzuhalten. Und wie bei der Besprechung der funktionellen Minderwertigkeit muß auch hier hervorgehoben werden, wie oft Organe von geringgradiger Minderwertigkeit zu größerer Leistungsfähigkeit heranwachsen können wie die vollwertigen. Die Ursache liegt in dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minder- wertigen Organen oftmals anhaftenden Anpassungsfähigkeit und Variabilität und sicherlich auch in der durch die innere Aufmerksamkeit und geistige Konzentration auf das schwä- chere Organ erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen und psychischen Komplexes. Die zuletzt angeführte kompensa- torische Ausbildung der Nervenbahnen umschließt unter anderem auch die Ausbildung der Reflexe, einer speziellen Schutzvorrichtung und Mobilisierung des Organes. Es ist hier nicht der Platz, eine umfängliche Darstellung der Degenerationszeichen in meinem Sinne als periphere Stigmen der Organ- minderwertigkeit zu geben. Meine eigene Kasuistik wäre zu dürftig. Die Literatur allerdings bietet ausreichende Belege für diese Auffassung. Nur auf einige der wichtigsten Stigmen will ich hinweisen, wie sie sich mir im Zusammenhang mit Organminderwertigkeit darboten. An- geborene oder hereditäre Bildungsanomalien des Auges, der Lider, Pig- mentanomalien der Iris (Fuchs), Schichtstar, angeborene Verengung einer Lidspalte, Myopie, Hypermetropie, Strabismus finden sich häufig bei Personen, die späterhin an anderen Augenaffektionen, Retinitis, Chorioiditis, Netzhautablösung erkranken. Funktionelle Defekte sind häufig von morphologischen Anomalien begleitet. Einer Affektion an einem Auge folgt nicht selten eine andere am zweiten Auge. Die He- redität von Anomalien am Sehapparat und von Augenaffektionen steht außer Zweifel. Die Frühanamnese ist fast immer mangelhaft. Auffällig

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/44>, abgerufen am 28.03.2024.