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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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Schlusse eilte sie aufs Klosett und verriegelte die Tür. Später kamen
Anfälle von Bewußtlosigkeit hinzu, für die angeblich völlige Amnesie
bestand. Da diese Anfälle auch im Schlafe auftraten, zeitweilig mit
Urinabgang verbunden waren, ferner Erweiterung und Reaktionslosig-
keit der Pupillen im Anfall zu konstatieren war, so wurde Patientin
vielfach als Epileptikerin angesehen und demgemäß, allerdings erfolg-
los, mit Brom behandelt. In der Psychoanalyse erst konnte man die
psychische Bedingtheit der Anfälle nachweisen, die eine Kontinuität
mit Ereignissen des Tages zeigten, insbesondere eine der Mutter feind-
liche Tendenz erkennen ließen und in ihrer gedanklichen Ausprägung
und Übersetzung häufig Beziehungen zum Klosett enthüllten. In ihre
früheste geistige Entwicklung spielte die Enuresis ihrer Geschwister
hinein, der sie trotz der gleichen Veranlagung -- einige Male hatte
auch sie Schiffbruch gelitten -- durch die Rivalität mit dem Bruder
und die eiserne Strenge ihrer Mutter entrann, um später, durch das Hin-
zutreten sexueller Frühreife, in der Neurose die ursprüngliche Minder-
wertigkeit erkennen zu lassen. Der Vater zeigt Harnstottern und Nukleo-
albuminurie, die Mutter stammt aus einer enuretischen Familie. Patientin
hat deutliche homosexuelle Neigungen und weist eine leichte Skoliose
im unteren Abschnitt der Brustwirbelsäule auf.

48. Johann E., 13 Jahre alt, wurde straffällig, als er eines
Nachts im somnambulen Zustande ein Messer ergriff und auf den
schlafenden Vater losging. Enuresis bis auf den heutigen Tag. War
als Kind sehr ängstlich und fürchtete sich vor Alleinsein und Dunkel-
heit. Häufig Aufschreien im Schlafe, öfters Nachtwandeln ohne Erinne-
rung nach dem Aufwachen. Schlaftrunkenheit beim Erwecken, schwer
zu ermuntern. Mit 6 Jahren zur Masturbation, mit 10 Jahren zum Koitus
verleitet. Starke religiöse Stimmung. Lief häufig vom Hause davon,
hatte große Vorliebe für Indianerromantik und konnte sich dem Zwang
der Schule nicht fügen.

49. Jakob K., 16 Jahre alt, Lehrling, wurde straffällig, als er
bei seinem Meister einen Diebstahl vollführte. Bis vor zwei Jahren Enu-
resis. Frühreif. Hatte schon zahlreiche Hausdiebstähle hinter sich und
war etliche Male durchgebrannt, um sich obdachlos in den Gassen herum-
zutreiben.

50. Leopold W., 14 Jahre alt, Musiker, war wegen Diebstahls
von Instrumenten angeklagt, deren Erlös er in unvernünftiger Weise
verbrauchte. Bis zum 10. Jahre Enuresis und Stuhlinkontinenz, derent-
wegen er harte Prügel abbekam. Wurde im 11. Jahre von der Tram-
way überfahren und litt seither öfters an plötzlich auftretendem Schwindel,

Schlusse eilte sie aufs Klosett und verriegelte die Tür. Später kamen
Anfälle von Bewußtlosigkeit hinzu, für die angeblich völlige Amnesie
bestand. Da diese Anfälle auch im Schlafe auftraten, zeitweilig mit
Urinabgang verbunden waren, ferner Erweiterung und Reaktionslosig-
keit der Pupillen im Anfall zu konstatieren war, so wurde Patientin
vielfach als Epileptikerin angesehen und demgemäß, allerdings erfolg-
los, mit Brom behandelt. In der Psychoanalyse erst konnte man die
psychische Bedingtheit der Anfälle nachweisen, die eine Kontinuität
mit Ereignissen des Tages zeigten, insbesondere eine der Mutter feind-
liche Tendenz erkennen ließen und in ihrer gedanklichen Ausprägung
und Übersetzung häufig Beziehungen zum Klosett enthüllten. In ihre
früheste geistige Entwicklung spielte die Enuresis ihrer Geschwister
hinein, der sie trotz der gleichen Veranlagung — einige Male hatte
auch sie Schiffbruch gelitten — durch die Rivalität mit dem Bruder
und die eiserne Strenge ihrer Mutter entrann, um später, durch das Hin-
zutreten sexueller Frühreife, in der Neurose die ursprüngliche Minder-
wertigkeit erkennen zu lassen. Der Vater zeigt Harnstottern und Nukleo-
albuminurie, die Mutter stammt aus einer enuretischen Familie. Patientin
hat deutliche homosexuelle Neigungen und weist eine leichte Skoliose
im unteren Abschnitt der Brustwirbelsäule auf.

48. Johann E., 13 Jahre alt, wurde straffällig, als er eines
Nachts im somnambulen Zustande ein Messer ergriff und auf den
schlafenden Vater losging. Enuresis bis auf den heutigen Tag. War
als Kind sehr ängstlich und fürchtete sich vor Alleinsein und Dunkel-
heit. Häufig Aufschreien im Schlafe, öfters Nachtwandeln ohne Erinne-
rung nach dem Aufwachen. Schlaftrunkenheit beim Erwecken, schwer
zu ermuntern. Mit 6 Jahren zur Masturbation, mit 10 Jahren zum Koitus
verleitet. Starke religiöse Stimmung. Lief häufig vom Hause davon,
hatte große Vorliebe für Indianerromantik und konnte sich dem Zwang
der Schule nicht fügen.

49. Jakob K., 16 Jahre alt, Lehrling, wurde straffällig, als er
bei seinem Meister einen Diebstahl vollführte. Bis vor zwei Jahren Enu-
resis. Frühreif. Hatte schon zahlreiche Hausdiebstähle hinter sich und
war etliche Male durchgebrannt, um sich obdachlos in den Gassen herum-
zutreiben.

50. Leopold W., 14 Jahre alt, Musiker, war wegen Diebstahls
von Instrumenten angeklagt, deren Erlös er in unvernünftiger Weise
verbrauchte. Bis zum 10. Jahre Enuresis und Stuhlinkontinenz, derent-
wegen er harte Prügel abbekam. Wurde im 11. Jahre von der Tram-
way überfahren und litt seither öfters an plötzlich auftretendem Schwindel,

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[91/0103] Schlusse eilte sie aufs Klosett und verriegelte die Tür. Später kamen Anfälle von Bewußtlosigkeit hinzu, für die angeblich völlige Amnesie bestand. Da diese Anfälle auch im Schlafe auftraten, zeitweilig mit Urinabgang verbunden waren, ferner Erweiterung und Reaktionslosig- keit der Pupillen im Anfall zu konstatieren war, so wurde Patientin vielfach als Epileptikerin angesehen und demgemäß, allerdings erfolg- los, mit Brom behandelt. In der Psychoanalyse erst konnte man die psychische Bedingtheit der Anfälle nachweisen, die eine Kontinuität mit Ereignissen des Tages zeigten, insbesondere eine der Mutter feind- liche Tendenz erkennen ließen und in ihrer gedanklichen Ausprägung und Übersetzung häufig Beziehungen zum Klosett enthüllten. In ihre früheste geistige Entwicklung spielte die Enuresis ihrer Geschwister hinein, der sie trotz der gleichen Veranlagung — einige Male hatte auch sie Schiffbruch gelitten — durch die Rivalität mit dem Bruder und die eiserne Strenge ihrer Mutter entrann, um später, durch das Hin- zutreten sexueller Frühreife, in der Neurose die ursprüngliche Minder- wertigkeit erkennen zu lassen. Der Vater zeigt Harnstottern und Nukleo- albuminurie, die Mutter stammt aus einer enuretischen Familie. Patientin hat deutliche homosexuelle Neigungen und weist eine leichte Skoliose im unteren Abschnitt der Brustwirbelsäule auf. 48. Johann E., 13 Jahre alt, wurde straffällig, als er eines Nachts im somnambulen Zustande ein Messer ergriff und auf den schlafenden Vater losging. Enuresis bis auf den heutigen Tag. War als Kind sehr ängstlich und fürchtete sich vor Alleinsein und Dunkel- heit. Häufig Aufschreien im Schlafe, öfters Nachtwandeln ohne Erinne- rung nach dem Aufwachen. Schlaftrunkenheit beim Erwecken, schwer zu ermuntern. Mit 6 Jahren zur Masturbation, mit 10 Jahren zum Koitus verleitet. Starke religiöse Stimmung. Lief häufig vom Hause davon, hatte große Vorliebe für Indianerromantik und konnte sich dem Zwang der Schule nicht fügen. 49. Jakob K., 16 Jahre alt, Lehrling, wurde straffällig, als er bei seinem Meister einen Diebstahl vollführte. Bis vor zwei Jahren Enu- resis. Frühreif. Hatte schon zahlreiche Hausdiebstähle hinter sich und war etliche Male durchgebrannt, um sich obdachlos in den Gassen herum- zutreiben. 50. Leopold W., 14 Jahre alt, Musiker, war wegen Diebstahls von Instrumenten angeklagt, deren Erlös er in unvernünftiger Weise verbrauchte. Bis zum 10. Jahre Enuresis und Stuhlinkontinenz, derent- wegen er harte Prügel abbekam. Wurde im 11. Jahre von der Tram- way überfahren und litt seither öfters an plötzlich auftretendem Schwindel,

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/103>, abgerufen am 24.04.2024.