Vorrede.
Gegenwaͤrtige Oden wuͤrden
gar keiner Vorrede beduͤr-
fen, wenn ich nicht wegen
der im erſten Buche enthal-
tenen Stuͤcke meinen Leſern
Rechenſchaft zu geben haͤtte. Es ſind
dieſe von mir Gedichte aus der Moͤgli-
chen Welt genennet worden, weil ich
ihnen keinen andern Nahmen zu geben
gewußt habe. Wenn ich die Opernwelt
ausnehme, wo nicht ſelten allegoriſche
Weſen mit neuen Zungen reden, ſo er-
3innere
Vorrede.
innere mich niemahls dergleichen geſehen
zu haben. Sollte nun ja dieſe Gattung
von Gedichten nicht ganz was neues
ſeyn, und ich mir die Erfindung derſelben
nicht zueignen koͤnnen, ſo iſt ſie doch ge-
wiß bisanhero ſo ſehr gebraͤuchlich nicht
geweſen, eigene Abhandlungen davon
aber duͤrften noch weniger anzutreffen
ſeyn.
Dahero will ich in moͤglichſter Kuͤr-
ze von dieſen Gedichts-Arten etwas ge-
denken: Vielleicht veranlaſſen meine ge-
ringen Anmerkungen erhabenere Gei-
ſter, dasjenige weiter auszufuͤhren, was
ich nur obenhin beruͤhren muͤſſen.
Wenn ich aber dennoch die Graͤn-
zen einer Vorrede uͤberſchreiten ſollte,
ſo wird mir hoffentlich zur Entſchuldi-
gung gereichen, daß ich meinem Wun-
ſche gemaͤß gehandelt habe, nach meinem
geringen Vermoͤgen das Reich der Poe-
ſie erweitern zu helfen.
Da
Vorrede.
Da in den neuern Zeiten durch Huͤl-
fe der Sehekunſt ganz neue Welten bis-
hero unſichtbarer Creaturen entdecket,
und dadurch die allerkleineſten Koͤrper
mit neuen Einwohnern bevoͤlkert wor-
den; warum ſollte denn eine neue Kraft
der Einbildung nicht gleiche Wunder
thun, und Welten erfinden koͤnnen, de-
ren Einwohner ſie uns in ihren Reden
und Handlungen mit Bewunderung und
Beyfall ſehen laͤſſet? Wenigſtens die
Poeſie laͤſſet ſich in die wirkliche Welt
nicht allein einſchraͤnken, wenn ſie die
Menſchen mit Beluſtigung erbauen will,
welches ſchon zureichend ſeyn kann, die
Gedichte aus der Moͤglichen Welt zu
rechtfertigen.
Jch nenne aber Gedichte aus der
Moͤglichen Welt wahrſcheinliche Reden
und Handlungen poetiſcher Weſen. Denn
da man ſo viel als moͤglich iſt, durch das
mannigfaltige in den Werken des Wi-
tzes das Schoͤne zu erhalten ſuchen muß,
4ſo
Vorrede.
ſo wuͤrde es zu unbelebt vor dieſe neu-
en poetiſchen Geſchoͤpfe ſeyn, wenn man
ihnen weiter nichts, als einige Reden in
den Mund legen wollte; dahero muß
man ihnen ſo viel Bewegung geben, als
ſich will thun laſſen, ſolche Handlungen
aber aus ihrem Munde erklaͤren laſſen.
Unter poetiſchen Weſen verſtehe ich ſo-
wohl wirkliche als moͤgliche Dinge, de-
nen eine Perſon angedichtet werden kann.
Hieher gehoͤren lebloſe Koͤrper, deren
Perſoͤnlichkeit ſich auf einen Wahn, auf
eine alte Sage, ſie moͤgen aus dem Hei-
denthum oder Aberglauben herkommen,
gruͤnden muß. Ferner ſind unter den
wirklichen Dingen einer Perſons-An-
nehmung faͤhig lebendige Geſchoͤpfe, be-
ſonders diejenigen in dem Thierreiche,
welche mit Menſchen in einer Art von
Umgange ſtehen. Dieſe nun werden
auf die Staffeln vernuͤnftiger Weſen er-
hoben, und dadurch gewiſſer ſich bewußt
ſeyenden Handlungen faͤhig gemacht.
Aus der Reihe der moͤglichen Dinge ge-
hoͤren
Vorrede.
hoͤren hieher phantaſtiſche Geſchoͤpfe, o-
der ſolche, die der Einbildungskraft ihr
Darſeyn zu verdanken haben. Jahres-
zeiten, Leidenſchaften und andere natuͤr-
liche Begebenheiten kann ſolchergeſtalt
die Poeſie leibig machen, und ſie nach
ihren Abſichten reden und handeln laſſen.
Endlich iſt noch die ganze Geiſter-
welt uͤbrig, die einem Dichter offen ſte-
het, um daraus Perſonen zu holen, die
er auf einen Schauplatz ſtellen will.
Jſt aber nun billig deſſen vornehm-
ſter Endzweck die liebenswuͤrdige Men-
ſchenfreundin, die ſchoͤne, die goͤttliche
Tugend in ihren erhabenen Kennern und
Beſchuͤtzern zu verehren, ſie, die faſt in
eine moͤgliche Welt verwieſen zu werden
ſcheinet, nachdem ſie in der wirklichen
weniger geachtet iſt, als die Yahoos in
dem Lande der Houyhnhnms, ſo muß
er freilich in der Wahl ſeiner Perſonen
ſehr behutſam ſeyn, und ſich ſolche aus-
5ſuchen,
Vorrede.
ſuchen, die er mit einer gewiſſen Art von
Wohlanſtaͤndigkeit, und wie es ſeinem
Vorhaben am gemaͤſſeſten iſt, kann her-
vortreten laſſen. Es iſt aber noch nicht
genug, daß man ſeine Perſon in dieſen
Gedichts-Arten gut gewaͤhlet hat, ſon-
dern die ihr angedichteten Reden und
Handlungen muͤſſen ihr auch eigenthuͤm-
lich zugehoͤren, oder ſie muͤſſen ſich nur
allein fuͤr ſie ſchicken, wodurch ſie denn
ihre Wahrſcheinlichkeit erhalten. Dieſes
wird dadurch zuwege gebracht, wenn
man ein iedes der obbeſchriebenen We-
ſen nach ſeiner Natur, oder wie es ſeinem
Karakter gemaͤß iſt, reden und handeln
laͤſſet. Die Karakter der moͤglichen hie-
her gehoͤrigen Weſen laſſen ſich erken-
nen aus ihrer Geſtalt, Lage, Beſchaffen-
heit, aus ihren Wirkungen oder dem
Eindruck, welchen ſie in der Phantaſie,
oder denen Sinnen machen. Daraus
aber entſtehet nun eine ganz andere Rei-
he der Begriffe der Dinge, die nebenein-
ander ſind, oder der Ordnung, der Tu-
genden
Vorrede.
genden und Laſter, als in der gegenwaͤr-
tigen Welt ſtatt haben, und hierinnen
liegt endlich die Urſach verborgen, war-
um alle Schreibarten ſich vor dieſe Ge-
dichte ſchicken, weil alle Reden und Ge-
muͤths-Gedanken mit dem Karakter ei-
ner poetiſchen Perſon uͤbereinſtimmen
muͤſſen.
Hier waͤre nun billig, daß ich das
Vorhergehende durch Beyſpiele aus denen
im erſten Buch enthaltenen Oden beſtaͤ-
tigte, allein aufmerkſame Leſer werden
ſchon ſelbſt wahrnehmen, in wie weit mei-
ne Anmerkungen, mit denen vor Augen
liegenden Proben uͤbereinſtimmen.
Was endlich noch den Nutzen be-
trifft, den dieſe Gattung von Gedichten
haben koͤnnen, ſo ſiehet ein ieder, daß ſie
faſt bey allen wichtigen Vorfallenheiten
des menſchlichen Lebens brauchbar ſind.
Dieſes aber haben ſie vor andern Gele-
genheits-Gedichten voraus, daß ſie den
Ka-
Vorrede.
Karakter der Neuigkeit allemahl mit ſich
fuͤhren, und weit geſchickter ſind im be-
luſtigen zu erbauen, als jene. Der Dich-
ter iſt allemahl ein Menſch, und dieſe
Eigenſchaft hat einen Einfluß in ſeine
Werke, und verminderen deren Werth,
wie ſchoͤn ſie auch immer ſeyn moͤgen, ſo
oft er in eigener Perſon redet. Denn
daß er ein Lobredner der Tugenden wird,
er treffe ſie an, wo er wolle, ſolches be-
trachtet man als ſeine Schuldigkeit; Ei-
gennutz aber und Schmeicheley, die ſich
oͤfters zu ſeinen Abſichten geſellen, zer-
nichten die Hochachtung nicht ſelten noch
mehr bey Gemuͤthern, welche in Durch-
leſung der Gedichte ſich die Perſon des
Verfaſſers mit beyfallen laſſen. Allein
laſſet Weſen aus unbekannten Welten,
aus abgeſonderten Sphaͤren in ihrer wah-
ren Geſtalt auftreten! Laſſet ganz neue
Geſchoͤpfe aus dem Chaos der moͤglichen
Welten heraufſteigen, bis zu den Staf-
feln der vernuͤnftigen Creaturen, oder
Geiſter aus den obern Regionen ſich bis
zu
Vorrede.
zu uns hernieder wagen, an unſern Schick-
ſalen Theil zu nehmen, ſo werden wir mit
Bewunderung befallen, und das Ver-
gnuͤgen, welches die Poeſie geben ſoll, iſt
viel gelaͤuterter und reiner, je entfernter
alle Menſchlichkeit dabey iſt.
Jch lebe der Hoffnung, der geneigte
Leſer wird mit den wenigen Anmerkun-
gen, die ich bey Gelegenheit meiner Ge-
dichte aus der Moͤglichen Welt voraus-
geſchicket, zufrieden ſeyn, und mich von
einer weiteren Ausfuͤhrung dießmahl los-
zaͤhlen, weil dieſe Vorrede ſonſten ihr
Maaß uͤberſteigen moͤchte, wobey mich
ein vor allemahl erklaͤre, daß Erinnerun-
gen wider dieſe Oden uͤberhaupt, wenn
ſie mit einer gruͤndlichen Beſcheidenheit
vorgetragen werden, jederzeit mit gezie-
mender Hochachtung aufgenommen wer-
den ſollen, bey welchen allen ich denn
auch noch gar gern zufrieden ſeyn will,
wenn ſogar nur denen mit dieſen Gedan-
ken einigermaſſen gedienet worden iſt,
wel-
Vorrede.
welche die Muſen als Tageloͤhner ge-
brauchen, indem ſie nichts anders als
Gelegenheitsgedichte verfertigen muͤſſen.
Denn vielleicht bekommen ſie dadurch
Veranlaſſung, die bisherigen Einheiten
ihrer Erfindungen kuͤnftig zu vervielfaͤlti-
gen, welchen ich aber zum Beſchluß wohl-
meynend angerathen haben will; ohne
einen gnugſamen Beruf ſich in keine moͤg-
liche Welt zu wagen, weil das caribiſche
Eyland der Abentheuer nur durch eine
ſchmale Meerenge davon abgeſondert
iſt, und ſie dahero leicht des rechten We-
ges verfehlen koͤnnten. Gotha, den
30. September 1749.
Der Verfaſſer.