Das Gelübde einer
dreißigjährigen Frau
Roman
von
Marie Tihanyi Gräfin Sturza
Leipzig · · · · Arthur Cavael · · · · 1905
I . „ Anna ! – Anna ! Hören Sie denn nicht ? Es läutet schon zweimal , und Sie machen noch immer nicht auf ! “
„ Natürlich habe ich gehört ; das ist doch kein Grund , alles aus der Hand fallen zu lassen , es brennt ja nicht im Haus . Aber den Leuten da ist es wohl einerlei ; sie glauben , man hat nichts anderes zu tun , als ihrer Läuterei nachzulaufen , “ brummte die brave alte Anna in ihrer Küche vor sich hin .
Die Tür zum kleinen Salon , in dem Fräulein Deaken vor einem mit Heften ganz beladenen Tische saß , stand offen . Sie korrigierte eines dieser Hefte .
Ein drittes Mal ertönte die Glocke , diesmal schon mit allen Zeichen von Ungeduld .
„ Oho , das ist aber doch schon zu arg , “ sprach Fräulein Deaken sich erhebend und schleppte sich schweren Schrittes zur Tür : „ Ich versichere Sie , Anna , so kann es nicht mehr weiter gehen – wenn ich selbst die Tür öffnen muß … “
„ Gut , gut , ich geh’ ja schon , bemühen Sie sich nicht , gnädiges Fräulein , “ sprach Anna , indem sie sich den Zipfel ihrer fleckigen Schürze in den Gürtel steckte . „ Es ist sicher Fräulein Stella – nur die macht solchen Randal – da sehen sie , was habe ich gesagt ? “
„ Sie sind geradezu unausstehlich ! “ wandte sich Fräulein Deaken zu der alten Magd . „ Gehen Sie in Ihre Küche und machen Sie die Türe zu . “
Anna tat trotz der Rüge nichts dergleichen , sondern stellte sich vor Fräulein Deaken hin : „ Ich sollte aber doch schon einmal wissen , was ich für Mittag zu kochen habe , “ erwiederte sie .
„ Geben Sie endlich Ruh’ und schauen Sie , daß Sie in die Küche kommen . – Ich bitte um Entschuldigung , meine Damen , dieser alte Eigensinn bringt mich ganz aus der Fassung … Treten Sie ein , meine Damen . “
Eine junge Frau und ein junges Mädchen traten lächelnd ein , sie schienen es gewohnt zu sein , derlei Zänkereien hinter der geschlossenen Türe des Fräulein Elise Deaken zu hören .
„ Bon jour , Miß , wieder ein Streit mit Ihrer sweatmaid ? “ fragte das junge Mädchen , Stella Ellissen , indem sie eine Ledermappe mit Heften und Büchern auf den Tisch und ihren Hut auf den Divan warf – aber auch schon vor dem Spiegel stand , um ihre zerzausten Haare zu ordnen – die Arme erhoben , die Brauen gerunzelt , den Mund gespitzt , denn ihre blonden Löckchen waren rebellisch geworden .
Frau von Ellissen und der „ englische Professor “ , wie man Fräulein Deaken in vertrautem Kreise nannte , drückten sich mit freundlichem Blicke die Hand .
„ Haben wir auch gearbeitet ? “ fragte die Miß in zweifelndem Tone .
„ Ein wenig … Entsetzlich , diese Gedichte von Tennyson … Ich möchte lieber übersetzen . “
„ Was denn , kleine Närrin ? “
„ Etwas von Swinbure – oder lieber gar nichts , wenn ich aufrichtig sein soll . “
„ Aber , aber , sei doch vernünftig . Man muß lernen , um etwas zu wissen . “
„ Was zu wissen ? Englische Gedichte auswendig schnattern ? Welch albernes , dummes Zeug ! “
„ Stella , “ sagte Frau von Ellissen sanft , „ welche Sprache , welcher Ton ! “
„ Yes , my mother , I know . Ich bin nun einmal eine schlecht erzogene Tochter , du hast mich zu spät in die Hand bekommen ; ich sehe es ja ein . Aber man muß sich daran gewöhnen , es ist der Schick der modern erzogenen jungen Mädchen . “
Frau von Ellissen zuckte leicht die Achseln mit dem sanften Lächeln , setzte sich und blätterte in den Büchern , die auf dem Tische lagen , während Miß Stella’s Hefte prüfte .
Der Unterricht begann , unterbrochen von vorlauten Bemerkungen Stella’s , mitunter auch von einem kurzen Meinungsaustausch zwischen Miß und Frau von Ellissen . Letztere ließ sich auf einen Stuhl am offenen Fenster nieder , das auf den Kirchenplatz ging und zerstreute sich an dem einförmigen , schleichenden Hin und Her der Provinzler ; dann lehnte sie sich hinaus und schaute auf die romantische Vorhalle der Kirche , deren Schwelle zu dieser Stunde niemandes Fuß überschritt .
Die Miß wandte sich an die junge Frau :
„ Haben Sie nicht im Vorbeigehen dem Orgelspiel ein wenig zugehört ? “
„ Wir sind sogar eingetreten , um besser zu hören , “ antwortete Frau von Ellissen , „ es wurden Gesänge und Präludien von seltener Schönheit geprobt . “
„ Wirklich ganz herrlich , “ bemerkte Stella , die sich mit den Ellenbogen auf den Tisch gelümmelt hatte und mit ihrer Hand die Feder anmutig im Kreise herumtanzen ließ .
Die Miß versuchte , ihr einen unzufriedenen Blick zuzuwerfen und erteilte ihr eine kleine Rüge :
„ Ihre Aufgaben , Stella … doch etwas schneller , nicht so nachlässig . “
„ Ich arbeite ja , Miß , darf man denn nicht einmal verschnaufen ? “
Als Stella sich wieder an das Schreiben machte , wandte sich Miß neuerdings an Frau von Elissen :
„ Ja , man übte die von Friedrich Seuriet komponierte Hymne , welche zu Ostern aufgeführt werden soll . “
„ Unter der Leitung Ihres Bruders , nicht wahr ? “
„ Nein , Franz hat für diese Aufführung seinen Platz einem seiner Schüler übertragen . “
„ Also doch ! “ sagte Stella sich umwendend . „ Ich merkte gleich , daß auf das Instrument schrecklich eingehauen wurde . “
„ Stella , du bist ungezogen , “ rief Frau von Ellissen .
„ Lassen Sie nur , “ entgegnete die Miß mit einem leichttraurigen Lächeln . „ Stella ist aufrichtig und wir wissen , daß ihr das Spiel meines Bruders nicht so gut gefällt , wie das des Baron Seuriet . “
„ O nein , Miß , das ist nicht richtig ; nicht das Spiel des Herrn Deaken ist es , daß mir nicht gefällt , sondern das , was er spielt . Und würde er auch Seuriet , Bach , Frank oder Berlioz spielen – Sie sehen ich bin nicht wählerisch – ich würde , es geradeso bewundern , wie Ihr beide , was nicht wenig heißen soll , hu ? Mich langweilt all dies Zeug – ich habe immer Lust dabei zu singen : „ Manon , Manon “ oder „ Ihr Engel rein , vom Himmel her “ , anstatt mich ins Gebet , in tiefe Andacht zu versenken . Ich kann nichts dafür , daß ich so bin – ich bin eben so ! “
„ Sagen Sie mir nur , wo Sie das alles hernimmt ? “ fragte Frau von Ellissen in einem Ton , der unzufrieden schien .
„ Keinesfalls aus den Gedichten von Tennyson , “ antwortete die Miß und schlug mit der Hand leicht auf das vor ihr liegende Buch , um die Aufmerksamkeit ihrer Schülerin zu wecken .
„ Wie ? noch ? “ brummte Stella leise .
„ Sie haben ja noch nicht einmal angefangen . Ich bemerke Ihnen , daß ich Sie hier behalten werde , bis Sie mit der Seite fertig sind . “
„ So ? Dann – du hast gehört , Mama , da kannst du spazieren gehen . Ich schlafe hier . Miß , haben Sie ein Zimmer ? – mit einem guten , weichen Bett – wo sich ’s süß träumen läßt – zum Beispiel von Faust und Gretchen ? Ich sag’s Ihnen lieber gleich , ich beanspruche ein gutes Kopfkissen , also überlegen Sie sich’s ! “
„ Sie ist wirklich fürchterlich ! “ erwiderte die Miß lächelnd und wider Willen an dem verzogenem Kinde Gefallen findend , das sie hatte aufwachsen sehen . Und schließlich ist es eine traurige Berufspflicht , niemals recht ernstlich zu schelten , selbst wenn man im geheimen vor Abspannung , Langeweile , Gereiztheit über solch quälendes Geschwätz weinen möchte .
Frau von Ellissen stand auf und knöpfte sich die Handschuhe zu :
„ Dann habe ich Zeit , einige Besuche zu machen … Ich hole dich in einer Stunde ab ; nicht wahr , Miß ? “
Die Miß machte ein Zeichen des Einverständnisses , ohne das Stella es bemerkte . Das junge Mädchen wandte mit einer drolligen Grimasse seinen blonden Kopf :
„ Mich abholen ? Stets knapp auf meiner Ferse sein , als wäre ich immer noch fünf Jahre alt ? Nein , wirklich , Mama , du glaubst nicht , wie albern das ist . Ein längst überwundener Standpunkt , diese Art , junge Mädchen zu erziehen ! Sagen Sie ihr doch , Miß , Sie , die in Amerika erzogen sind , daß wir hier als kleine Gänse aufwachsen , duckmäuserisch , scheu , wie Puppen , ohne jede Selbständigkeit . Wir werden behütet bis ins höchste Alter … Mama , ich bin achtzehn Jahre alt ! “
„ Ja achtzehn Jahre … “ wiederholte Frau von Ellissen .
„ Du meinst also , man müsse behütet werden bis man heiratet . – Ich glaube nicht daran , daß uns Mädchen der Verstand und die Weisheit erst mit der Ehe kommen ; wo ich mich heute nicht zu benehmen weiß , werde ich es morgen auch nicht können , wenn ich auch das Recht habe , mich Frau zu nennen . Brr ! Da fängt erst dann das leben an . Das Wort
Frau verdeckt viel , ja , alle Türen sind dann offen , und man kann fliegen , wohin man nur will , allein . – Ja , das ist eine Logik ! – Also du denkst , wenn ich jetzt so , mit meiner ledernen Mappe unter dem Arm , allein , unbehütet nach Hause ginge , ich würde ganz Entsetzliches riskieren ? Wenn mir aber dieses Risiko angenehm wäre , was dann , schönes Mamachen ? “
„ Es handelt sich hier nicht um Risikos , “ sprach die Miß , „ sondern um die gute Sitte , liebes Kind . Wir sind hier nicht in London und nicht in New York , wir sind hier in einer Provinzstadt . “
„ Ach ja ! “
„ Eine Stadt aus heutiger Zeit , Die ’nen Schwarm Arbeiter in die Straßen speit . Brave Leute . “
„ Möglich . Aber von mangelhafter Bildung und nicht gewohnt , wohlerzogene Mädchen abends allein auf der Straße zu sehen . “
„ Sie wurden mich natürlich auffressen ? “
„ Nein , das wohl nicht , aber sie könnten Flegeleien zu hören bekommen . “
„ Sie glauben doch nicht , Miß , daß ich ihnen nicht zu antworten wüßte , welcher Art immer diese Flegeleien auch wären . “
„ Stella , “ seufzte Frau von Elissen , „ Du machst mir Kummer ! “
„ Aber süßes , schönes Stiefmütterchen , sprich doch nicht so . Du weißt genau , daß ich nur etwas übermütig bin ! Mit solchen Flausen gibt man aber dem Geist der Kinder eine falsche Richtung . Geh’ , du wirst dich ändern , und ich werde dich bekehren . “
„ Wozu wirst du mich bekehren ? “
„ Ich werde dich die Grundsätze von der Freiheit des Weibes lehren ! “
„ Wenn du keine anderen Argumente hast … “
„ Oh ! ich habe auch noch andere . “
„ Stella , “ rief die Miß . „ Ihre Aufgaben , arbeiten Sie doch ! “
„ Auf allerhöchsten Befehl , nicht wahr ? So tust du meinem Geschmack , meinen Bestrebungen , Gewalt an . Du unterwirfst mich einer Erziehungsmethode , die meinem innersten Fühlen widerstrebt . Und du meinst , ich soll mich dagegen nicht auflehnen ? “
„ Wenn Sie mit Ihrer Auflehnung fertig sind , Stella , “ sagte die Miß mit sanfter Stimme aber entschiedenen Tones , „ werden Sie einsehen , daß ich meine Zeit verliere . Und diese Zeit ist kostbar , ich lebe von meiner Arbeit . Es ist viel besser , an seine
Pflichten gegen andere zu denken , als an die Rechte die man allenfalls für sich selbst geltend machen könnte . “
„ Ich bitte um Verzeihung , Miß , “ murmelte Stella ein wenig beschämt . Aber eine strenge Falte , die plötzlich zwischen ihren Brauen erschien , bezeugte ebensowohl die Hartnäckigkeit ihres Gedankens , als die Unzufriedenheit darüber , sich einer Bemerkung unterwerfen zu müssen , gegen die ihr Geist sich auflehnte .
„ In einer Stunde , “ sprach Frau von Ellissen , indem sie sich zur Türe wandte . Und sich umkehrend : „ Ich werde den Wagen schicken , Euch beide abzuholen . Sie speisen doch heute abend bei uns ? “
„ Ich bin heute sehr müde und habe noch alle diese Hefte zu korrigieren , “ antwortete die Miß .
„ Der Wagen wird Sie zeitig zurückbringen , “ sagte Frau von Ellissen . „ Und vergessen Sie nicht , Ihrem Bruder ein Wort zurückzulassen , daß er nachkommen möge . “
„ Hm , “ meinte die Miß und warf einen malitiösen Blick auf Stella , die während dieser Einladung ein unfreundliches Schweigen beobachtete , „ wenn es meinem Bruder einfiele , seine Zeche mit „ musikalischen Phrasen “ zu bezahlen , kenne ich ein kleines Persönchen , das nicht zufrieden wäre . “
„ Sie irren sich , Miß , “ warf Stella gereizt ein , „ ich werde Herrn Deaken sogar bitten , mich zu entschädigen und mir einige hübsche Sachen von Herrn Seuriet vorzuspielen . “
Die Miß sah sie ohne zu antworten gerührt an , wechselte leicht die Farbe und wandte dann den Blick zu Frau von Ellissen , die ein unbestimmtes Erstaunen auf der Schwelle festhielt . In ihrer himmlischen Güte räusperte sie sich sofort , rückte ihren Sessel , warf einige Bücher hinunter , seufzte , klagte über ihre Ungeschicklichkeit , kurz , bemühte sich durch Geräusch das plötzlich entstandene drückende Schweigen zu brechen . Dann neigte sie sich über Stella’s offenes Buch und fragte zärtlich :
„ Wo sind wir , mein Töchterchen ? “ darauf wandte sie sich zu Frau von Ellissen . „ Also , heute abend , einverstanden ! “
„ Also heute abend , auf Wiedersehn ! “ sagte die junge Frau .
Ihr Wagen erwartete sie im Schatten vor dem Kirchentor , da die Straße , in der Miß Deaken wohnte zu schmal war , um ohne Schwierigkeit wenden zu können . Es war eine elegante kleine Equipage . Zunächst aber trat Frau von Ellissen in die Kirche ,
neigte sich demütig vor dem Allerheiligsten und warf einen Blick auf die Orgel . Da niemand mehr dort war , verließ sie raschen Schrittes die Kirche , stieg in den Wagen und rief dem Kutscher zu :
„ Nach Hause . “
Von der Schwelle ihrer Läden sahen ihr die Kaufleute freundlich nach und riefen einander , wie jedesmal die Worte zu :
„ Die schöne Frau von Elissen ! … “
„ Eine so gute liebenswürdige Dame ! “
Der Wagen bog ein und fuhr über die Kais entlang an den großen Fabriken , in welchen Tuche , der berühmte Industrieartikel des Landes , gewebt , gewalkt und gefärbt wurden .
Während der Fahrt mußte Frau von Ellissen oft nach rechts und links grüßen , da sie Arbeitern begegnete , die sie alle kannten . Denn sie hatte den schönsten Teil ihrer Jugend , ihre Mädchenjahre , hier verbracht . Und obgleich die Fabrik nach dem Tode ihres Mannes verkauft worden war , war ihr Interesse für das Schicksal und das Elend der Arbeiter immer noch rege geblieben . Keiner von ihnen hatte den Weg zum Landhause vor den Toren der Stadt vergessen , das sie damals stets durch einige Sommermonate
bewohnte , während es jetzt ihr dauernder Witwensitz geworden war . Dorthin kamen sie , nicht nur um materielle Hilfe zu suchen , sondern auch moralischen Halt , der öfter schon Revolten hintangehalten hatte . Denn diese freimütige Frau besaß die Gabe , schon allein durch ihre überquellende Güte zu beruhigen , zu versöhnen , Mißverständnisse zu beseitigen , den rechten Weg zu erkennen und jedem zu zeigen . Sie tat das alles ohne moralisierende Redensarten , ohne schöne Tiraden , ohne frömmelnde Predigten . Sozialistische Schlagworte waren ihr fremd , wie überhaupt ihr philosophisch ungeschultes Denken auch nicht den Schatten einer Theorie aufkommen ließ . Sie war eine ehrliche Natur , mit klarem Sinn für Recht und Unrecht , erfüllt von fast krankhafter Empfindsamkeit sodaß sie oft darunter litt , wenn ihre Seele von den vielen sie umgebenden Leid getroffen ward . Jeder Gedanke , jede Handlung Frau von Ellissen’s hatten Quelle und Triebfeder in ihrem Herzen . Von etwas schwachem Charakter , besaß sie nur Kraft zur Liebe . Diese war , wie sie sagte , die Achse , die treibende Kraft , der Ausgangspunkt ihrer Lebensäußerungen , die allein das Räderwerk ihrer Maschine in Bewegung setzte . Dieses Bildes bediente sie sich , um den Arbeitern
den Ideal-Mechanismus darzustellen , auf den sie ihre Tätigkeit zurückzuleiten bemüht war .
„ Prägt euch das nur gut ein , “ wiederholte sie ihnen stets , „ man muß lieben und zu lieben verstehen . Bringt einander Opfer , ohne Rücksicht auf euch selbst , und ihr werdet ruhig , ihr werdet stark , ihr werdet mächtig sein . Wenn ihr euch aber in euren Egoismus , in eure Persönlichkeit vergrabt , werdet ihr nichts Gutes erreichen , nichts , als daß ihr andern und euch selbst Übles zufügt . Findet ihr nicht , daß es Elend und Schmerz genug gibt auf Erden ? Nicht wahr ? Liebet also alles , was euch umgibt ; alles , von den Tieren , die uns so schmerzvoll geopfert sind bis zu euren Brotherren , die von euch selber das Beispiel des Mitleides und der Güte erhalten müssen . Das überträgt sich , seht ihr , sowie sich die Bewegung eurer Maschinen nach und nach auf alle ihre Teile überträgt , bis sie schließlich den kleinsten Zylinder in Bewegung setzt . Seid der Hebel , der ausrückt und die Masse in seine mächtige Umdrehung mitreißt . Glaubt mir , denn ich liebe euch ! “
Und sie küßten ihr die entgegengestreckten Hände und kehrten heim , mitgerissen von ihrer Güte und Liebe .
Als am Ende des Kais Frau von Ellissen’s Wagen über die Brücke fuhr und in die große Allee einbog , die von mächtigen , säulengleichen Ulmen gebildet war , schweiften ihre Augen , bewegt vom Anblick der Fabriksgebäude , die einst ihr Eigentum gewesen und die Erinnerung an eine schon ferne Vergangenheit aufrollten , liebevoll über die grünende Ebene mit ihren Gärten , ihren Häuschen , die sich bis an die , den Horizont abschließenden , nur durch den Einschnitt des Flusses unterbrochenen , von leichtem Nebel bedeckten Anhöhen erstreckten .
Ihre Träumerei pflegte sich ihrer Umgebung anzupassen und je nach der Gegend , durch die sie kam , zu wechseln . In ihrer zarten Empfindsamkeit war sie allen äußeren Eindrücken preisgegeben . Sie behauptete , vom Reflex der Dinge auf beinahe brutale Weise „ berührt “ zu werden , so daß sie von plötzlichen Schmerzgefühlen zu unerwarteter Freude übergehen konnte ohne sich dessen erwehren zu können . Und sie versuchte das nicht einmal , als ob sie an einer Erkrankung des Willens litte , die nur dann aufhörte , wenn es galt , einen Kampf zu Gunsten anderer zu führen . Die zarten Blüten zwischen dem jungen Grün , die Freude , die aus den neuverjüngten Wiesen
aufstieg und die vom Gezwitscher der Vögel bei ihren Kämpfen um die Nester gepriesen zu werden schien , erfüllte sie mit einem leisen , weichen Sehnen , das ihr Herz in neuer Hoffnung schwellte . Sie schlug ihren Schleier zurück , befreite den Nacken von der gefälteten Krause , die über ihr Gesicht einen , ihrer reifen Schönheit günstigen sammetartigen Schatten warf , und atmete tief , die Lippen halb geöffnet . Dann belebten sich ihre Augen beim Anblick der spitzen Dächer ihres jetzt schon nahen Hauses : ein rosiger Hauch umspielte sie , der ihren Wangen frischen Glanz verlieh .
Der Wagen fuhr durch das Gittertor und blieb vor der Freitreppe stehen . Frau von Ellissen erstieg sie mit geschmeidiger Beweglichkeit , wobei ihre schlanke Taille sich auf den schön geformten Hüften wiegte , deren harmonische Linie ihre dreißig Jahre gekräftigt aber nicht zerstört hatten . Sie fragte das herbeeilende Stubenmädchen :
„ Ist niemand gekommen ? “
„ Doch , gnädige Frau , Baron Seuriet . “
„ Ist er wieder fortgegangen ? “
„ Nein , gnädige Frau , ich sah den Herrn Baron über die Gartentreppe gehen , er dürfte im Park sein . “
Frau von Ellissen lächelte , stieg eilig die Treppe hinauf und verfügte sich in ihr Zimmer . Dort trat sie geradenwegs ans Fenster , das in den Park ging , lehnte sich hinaus und zog sich gleich wieder zurück . Dem Fenster gegenüber wiegte sich ein junger Mann in einem Rocking-chair und sah dem blauen Rauch seiner Zigarette nach . Mit dem Ende seines leichten Spazierstockes , den er in der Mitte gefaßt hielt , schlug er einen unregelmäßigen Takt , den sein Fuß ab und zu verstärkte , als ob er ein unsichtbares Orchester leitete .
Die junge Frau nahm ihren Hut ab und strich mit der Bürste über ihr braunes Haar , das oben auf dem Kopf zu einem lockeren Knoten gewunden war . Sie hatte ihren Mantel abgeworfen : in tadelloser Linie zeichnete sich ihre leicht gewölbte Büste unter einem dünnen schwarzweißen Batistkleid ab . Der weiße Hals leuchtete in seinem kernigen Fleisch . Sie nahm einen Sonnenschirm und ging in den Park hinab .
Bald darauf erschien sie an der Biegung einer Allee . Der junge Mann erblickte sie und sprang mit freudigem Eifer auf . Aber er ließ sie zu sich herankommen ohne sich zu rühren , ein bewunderndes Lächeln auf dem Antlitz .
Als sie ihm ganz nahe war , rief er ihr zu :
„ Mira … wie schön Sie sind ! Immer schöner ! Jedesmal wenn ich Sie sehe , bin ich erfüllt von überirdischen Melodien , und die Rhytmen summen hinter meiner Stirne , wie ein Schwarm von Duft und Sonne berauschter Bienen . “
„ Poet ! “ sagte sie mit sanftem weichen Lächeln , ihr Blick verriet ruhiges Glück . „ Und Ihr Werk ? Geht es vorwärts ? “
„ Nein , “ erwiderte er nach einigen Augenblicken , „ es – es gibt etwas – das mich hindert . “
„ Was denn ? “
„ Wenn ich es wüßte ! Aber – vielleicht weiß ich es doch . Sie auch , Mira , wissen es , denn Sie kennen mich besser , als ich mich selbst . “
„ Sie arbeiten zu wenig , viel zu wenig ; ja , ja , seit einigen Monaten läßt Ihre Energie nach ; Sie verweichlichen in Träumereien , die Sie sich nicht bemühen , in Wirklichkeit umzusetzen . Arbeiten Sie ! “
„ Eh – – ich suche . Aber wissen Sie , was ich finde ? Den Wunsch glücklich zu sein , vollkommen glücklich . Diese Liebe , Mira , die Sie mir gestatten , erhitzt nicht mehr meinen Geist ; meine Gedanken sind ins Leere gerichtet , wenn ich auch Ihre Hände
küssen darf und zuweilen Ihr Haar , so kann das meinen Wonnedurst nicht löschen . In mir glühen Unruhe und das ungestillte Verlangen nach vollster Erfüllung göttlich-menschlicher , körperlich-idealer Freuden . Meine Jugend spornt mich , wie ein Bündel Stacheln , und ich konstatiere mit Schrecken , das unser herrliches Verhältnis auf Abwege zu geraten beginnt . Ich gehe auf die Eroberung Ihrer Schönheit aus ; durch dieses Blendwerk haben Sie in dem kaum talentvollen Dichter und Musiker , der ich bis dahin war , den vielleicht genialen Künstler geweckt . Er schlummerte in mir , und ich hätte ihn wahrscheinlich in Frieden ruhen lassen , wenn ich nicht gedacht hätte , daß ich um Sie , die Hohe , zu gewinnen , wachsen , meine Stirne über alle andern erheben , der gebietende Meister werden müsse , dessen souveräne Macht keiner Weigerung begegnet . Und ich habe gearbeitet ; Sie wissen mit welchem Eifer ! In wenigen Jahren vervollkommneten sich meine Kenntnisse , es wuchsen mir Flügel . Ich fühlte die klare , tiefe Quelle der Inspiration in mir rauschen , bereit , jetzt meinem Innern zu entströmen . Schon hatten meine ersten Werke einen unverhofften Widerhall für einen Künstler , der sich in die Provinz vergräbt , gefunden .
Man hat mir schon gütigst zugestanden , daß ich nicht nur Hoffnungen errege , sondern die Gewißheit eines großen Talentes hätte , das sich bald offenbaren werde . Da wähnte ich mich dem Ziele nahe und mehr und mehr streckte ich meine Arme nach Ihnen aus . Doch in dem Maße , als ich vorschreite , ziehen Sie sich zurück und weichen meinem täglich heftiger werdenden Verlangen aus . “
„ Weil ich alt werde , lieber Freund , “ sagte Frau von Ellissen sanft .
„ Der Unterschied der Jahre zwischen uns bleibt immer gleich ; er ist heute nicht größer , als vor zwei Jahren . “
» Ich war kaum achtundzwanzig , mein lieber Fred , und Sie zweiundzwanzig . Die Leiden Ihrer Kindheit hatten Ihre Jugend vor der Zeit ernst gemacht , während ich mädchenhaft jung geblieben war in der Sorglosigkeit meines friedlichen Lebens , das unter dem fast väterlichen Schutze meines seither verstorbenen Gatten gleichsam im Schlummer lag . – Aber Sorgen bringen rasch den Ernst : die Tochter meines Mannes war zu erziehen , ihre Interessen zu vertreten . Das Gefühl der Kindlichkeit , das in mir lebte , schwand , die Jahre haben ihr Werk vollbracht –
heute bin ich beinahe eine alte Frau ! Ich zähle dreißig Jahre ! – Und Sie lieben mich nicht mehr , – nicht wahr , Undankbarer ! “
„ Nein , Mira , ich kenne Ihre Zärtlichkeit , aber es ist nicht mehr Liebe – übrigens , war es je Liebe ? Haben Sie mich nicht getäuscht ? “
„ Vorwürfe , Fred ? Verdiene ich sie ? Sie waren unglücklich , mein Liebling , und Sie liebten mich . Wenn ich Sie zur Verzweiflung gebracht hätte , was wäre aus Ihnen geworden ? Wären Sie der große Künstler , der Sie heute zu werden im Begriffe sind ? Ihr Genie ist ein klein wenig auch mein Werk – wenn die Saiten Ihrer Geige unter Ihren Fingern weinen und klagen und gleich wieder scherzen und lachen , darf auch ich stolz sein auf den Anteil , der mir dabei zufällt ! “
„ Also Ihre Liebe war nur ein Schein , eine Mache , eine Idee ? “
„ Eine Idee , ja , vielleicht – Sie zu rettet . Aber ich schwöre Ihnen , es war ein aufrichtiges tiefes Gefühl . Wenn ich Sie nicht geliebt hätte , Fred , hätte ich nicht heucheln können – Sie wissen wohl , daß ich Sie liebe ! “
„ Aber Sie gestehen ein , daß Sie mich nicht mehr lieben , und Sie glauben , ich könnte ohne Ihre Liebe weiterleben ? “
„ Kind ! … “
„ Ich bin kein Kind mehr , Mira , ich bin ein Mann , der leidet , der Sie lieben will und muß ! “
„ Ach Fred , was Sie heute wollen , das ist nicht mehr die ideale Zärtlichkeit , die Ihnen bisher genügte , Sie wollen das Weib ! – den brutalen Besitz . “
„ Ja , Mira , ich sehne mich nach Ihrer ganzen Hingabe , nach Ihrer Liebe , mehr , viel , viel mehr als früher … “
„ Haben Sie überlegt , Fred , daß ich für Sie nicht die Frau sein kann , die zwei Herzen in eines vereint ? “
„ Bin ich denn Ihrer so unwürdig , Mira ? Nun , und wenn ich die höchsten Grenzen erreichte , die menschliche Kraft dem größten Genie steckt , wäre ich auch dann noch nicht Ihrer völligen Hingabe wert ? “ Und in plötzlichem Zorn , die Augen voll Tränen , rief Fred : „ Ich begehre Sie ! “
Mira blieb erbleichend stehen und fragte voll Würde :
„ Zur Frau ? “
„ Gewiß , und trunken voll Glück . “
„ Also , wenn ich einwilligte , würden Sie einer Frau Ihren Namen geben , die sechs Jahre älter ist , als Sie ? – unterbrechen Sie mich nicht – einer Frau , die Sie bald um einer naturgemäßeren Liebe willen vernachlässigen würden , die darunter leiden würde – was nichts bedeutet – Ihnen aber solch quälende Schmerzen bereiten , die das Gehirn martern und die schöpferischen Kräfte vernichten . Und mein Zweck wäre verfehlt , und Ihr Genie würde unter dem Druck materieller Kämpfe zugrunde gehen . Das Leben , mein Kind , ist den unbesiegbaren Forderungen des Instinkts unterworfen . Um an Geist und Körper gesund zu bleiben , muß man sich einfach und natürlich den unausweichlichen Gesetzen der Gattung unterwerfen und die Irrwege fliehen , welche die Folge anormaler Handlungen sind . Ist man aber frei , dann entfaltet sich der Gedanke mit aller ihm innewohnenden Kraft . “
„ Wenn ich aber fühle , ich wiederhole es Ihnen , wie ich zur Verwirklichung idealer Gedanken ganz unfähig werde , weil mir das einzige Glück , das ich begehre , vorenthalten wird – der völlige Besitz des geliebten Weibes ! Sie , Mira , Sie ! “
„ Nicht ich , glauben Sie mir , eine andere . “
„ Welche ? “
„ Weiß ich’s ? Diejenige , die Ihr Instinkt fordert und die Ihnen eines Tages begegnen wird – – später . “
„ Sie , die versicherten , mich zu lieben , Sie würden ohne Widerwillen zusehen , wie ich mein Herz einer andern schenke ? Sehen Sie , meine Worte allein machen Sie erbleichen , und Ihre Hände sind in den meinen kalt geworden . Ziehen Sie sie nicht zurück , Mira ! Lassen Sie mir das Glück , Sie zittern und beben zu fühlen – meinetwegen ! “
„ Nein , Fred , beben ja , warum sollte ich es Ihnen verbergen ? Aber nicht überwunden , denn ich darf und will es nicht sein . “
„ Stolze ! “
„ Ein Stolz , der sich so weit beugt , die Todesqualen einer kläglich und schmerzlich leidenden Weiblichkeit sehen zu lassen . Ein Stolz , der Sie vielleicht bitten wird , noch zu warten , mich nicht zu bald einer bezaubernden Zärtlichkeit zu berauben , meines einzigen Glückes hienieden . Ach , wenn wir so weiter leben könnten , lange , immer ! “
Sie schwiegen , und jedes verfolgte seine Träume , während sie langsam , geneigten Hauptes Seite an Seite die Allee entlang schritten , deren Ulmen schon das zarte Grün der ersten Blätter entsproß . Der zarte , von Veilchen durchwirkte Rasen umsäumte die Allee , deren frisch gestreuter Glimmersand in der Sonne glitzerte . Ländliche Bänke standen rechts und links in Abständen bis an die Grenzen des Parks , der durch eine Terrasse abgeschlossen war . Bei dieser Terrasse bildete der Fluß eine kleine Bucht , in der stumm und regungslos das Gewässer zu schlafen schien .
Die Stille des von Wiesen umgebenen Parks wurde in dieser nassen stummen Umgebung noch fühlbarer , in der das Geräusch der fernen Stadt und ihrer Kais sich brach und verhallte . Jenseits der Terrasse , der Wiesen , der Gärten , der zerstreuten niederen Häuschen erhob sich die Stadt . Sie erschien hoch , dicht und massiv und ihr eckiger Turm ragte wie der Wachtturm einer finstern Burg in die Lüfte .
An dieser Stelle genoß Mira oft den Reiz der Einsamkeit und ließ ihre Blicke über jede Einzelheit der ihr so lange bekannten Gegend schweifen . Sie konnte lange schauen , ohne daß etwas unerwartetes ihre einsamen Träumereien gestört hätte ; selbst
nicht der Wechsel der Tinten , die sich mit den Tagesstunden änderten und der , wenn sie sich verspätete , ihrem geübten Auge die vielfachen Abtönungen zeigte , die Manet in seinen Freilichtmalereien durch alle Skalen des Prismas festgehalten hat . Nun empfand sie , ohne es zu bemerken , deren Einfluß . Als die beiden die Terrasse erreichten , war die Sonne im Sinken ; sie war hinter der schwarzen Masse der Kirche verschwunden , während um diese her die weißen Fassaden , die roten Dächer noch beleuchtet waren .
Und diese schwere schwarze , wie in Trauer getauchte Masse , die sich gleich einem Lichtschirm vor das Flammenmeer der Sonne stellte , bedrückte Frau von Ellissen und hüllte sie in eine dunkle Melancholie , die das süße Gefühl zum Schwinden brachte , mit dem sie an der Seite des wehmütig verliebten jungen Mannes langsam die helle , veilchendurchduftete Allee herabgeschritten war .
Um davon loszukommen und das ausdrucksvolle Schweigen Freds zu brechen , deutete sie mit der Spitze ihres Schirmes auf die Stadt :
„ Wenn ich Sie an der Orgel weiß , “ sagte sie , „ dann komme ich hierher und mein Blick durchdringt
das dicke Gemäuer und mir ist , als hörte ich Sie . Dann besuche ich auf dieselbe Art einige Freunde . Sehen Sie , das dort ist der Rauchfang des hohen von den Deaken’s bewohnten Hauses . Ich kenne ihre Gewohnheiten . Ich weiß , zu welchen Stunden Fräulein Deaken arbeitet und betet . Denn die Miß hat das Glück , fromm zu sein “ .
„ Und Sie beneiden sie ? “ murmelte Fred mit leichtem Hohn .
„ Beinahe . Die Religion hat so viel Gutes – sie tröstet . “
„ Für diejenigen , die getröstet sein wollen . “
„ Und es wollen sollen . Persönlicher Schmerz ist Egoismus , denn es geht dabei nicht ohne Nachteil für die andern ab . “
„ O , ich weiß , daß Sie über Pflicht ganz besondere und – übertriebene Ansichten haben . “
„ Was sagen Sie dann zur Miß , die ihre Pflicht mit einer Erhabenheit erfüllt , die schon ans Heilige grenzt ? “
„ Sie ist zu bewundern , in der Tat , “ erwiderte Fred mit etwas ironischer Miene . „ Mit einem solchen Bruder leben , ist wohl kein geringer Verdienst . “
„ Herr Deaken ist aber sehr gut zu ihr . “
„ Ja , er hatte die Güte , ihr zu erlauben – sich für ihn aufzuopfern . “
„ Nicht nur allein für ihn , auch für ihre Eltern . Sie unterstützte sie alle durch ihre Arbeit . Denken Sie nur , Miß war kaum fünfzehn Jahre alt , als ihr Vater infolge seiner Erkrankung ihrer Stütze bedürftig ward . Sie kam von Amerika zurück , wohin sie einer ihrer reichen Verwandten mitgenommen hatte und suchte hier Stunden zu geben . Alles vergaß sie , ihre Schönheit , ihre Jugend , den Verlobten , den sie sich in Amerika erwählt und den sie liebte , und arbeitete freudig , einfach für ihre Angehörigen . Ihr Bruder war nicht im stande sein Brot zu verdienen , sie behielt ihn bei sich und pflegte sein einziges Talent , das Orgelspiel , damit er einmal Organist in der Kathedrale werden könne . Aber als sie sich altern fühlte ! – Ich allein kenne die Leere dieser leidenschaftlichen Seele , die so großen Durst nach Liebe hatte . Oh um den glühenden Aufruhr der bezähmten , aber nicht ertöteten Sinne ! Die grausam schlaflosen Nächte , die Zuckungen der Natur , die rücksichtslos ihr Ziel erreichen will . Zu spät ! – Sie war alt und arm : das Leben hatte ihr nichts mehr zu bieten . In der Religion fand sie Kraft für die Zukunft , die deutlich und klar
vor ihr lag . Sie fand Trost , aber um welchen Preis ! Ihre Gesundheit ist zerstört , ihr Nervensystem zerrüttet . Heute noch schön , trotz ihrer fünfzig Jahre , schleppt sie ihre alten Füße als hätte sie Blei in den Adern statt Blut , – aber welch glatte Stirn – welcher Glanz ist noch in ihren Augen und welche Herzensgüte in ihrem Lächeln . Die Krise ist vorüber – sie bedauert nichts mehr . Ihre Eltern sind tot , sie wird ihnen folgen . Ihr Bruder hat eine sichere Existenz . Und trotzdem arbeitet sie fort und ruht nicht – es gibt so viele Notleidende , die ihrer bedürfen . Und wenn Sie wüßten , wie vielen sie Hilfe gewährt , wie viele zu ihr Zuflucht nehmen ! Es ist kaum glaublich ! Hören Sie nur ! Eines Tages , als sie krank war , suchte ich in einer ihrer Schubladen nach einem Gegenstand , den sie verlangte . Dabei öffnete ich eine Kassette , der ein kleines Paket entfiel . Es waren alte , halb gefaltete , vergilbte Papiere . Ich gestehe , mir kam der Gedanke : vielleicht Liebesbriefe ! Sie war ja so schön , und man hatte von allen Seiten ihrer begehrt . Es wäre ja nichts daran gewesen , wenn sie einige zur Erinnerung aufgehoben hätte . Und wissen Sie , welcher Art diese Briefe waren ? – Dankbriefe von Leuten , denen sie Geld gesandt ; Bestätigungen über
mehrere Tausende . Wissen Sie , wie viel sie verdient ? Dreitausend Franken . Davon lebt sie , sehr anständig und unterstützt noch Bedürftige . Niemand weiß es , ihre Barmherzigkeit , ihre Güte übt sie im geheimen , ebenso wie ihre Frömmigkeit . Denn nur selten kann man sie in eine religiöse Diskussion verwickeln . Sie lächelt bloß , läßt die Leute reden , alles reden : ihrem reichen weiten Geist wohnt Verständnis und Duldsamkeit inne . Aber sie bewahrt ihren Glauben , ihren Schatz , ihre Leuchte , ihre Freude . Oh ja ! ich beneide sie ! “
Fred legte leicht seine Hand auf die der jungen Frau :
„ Sie haben doch , was Herzensgüte betrifft , sie um nichts zu beneiden , Mira ! “
„ O , schweigen Sie , Fred ! “ sagte sie leise errötend , „ gegen die Miß bin ich nur eine elende Egoistin . “
„ Also , “ erwiederte der junge Mann lächelnd und hielt ihre Hand fest , „ dann kommen Sie doch auf den Ball der Präfektur ? “
„ Warum ? “ fragte Frau von Ellissen erregt . „ Sie wissen doch , Fred , daß ich auf keinen Ball mehr gehe , daß ich in einigen Tagen dreißig Jahre alt werde . “
„ Und man spricht schon von der Toilette , die Sie tragen werden . Alles weiß man in diesen kleinen Städten . “
„ Das ist falsch ! “ erwiderte Frau von Ellissen gereizt .
„ Also nein , da Sie es leugnen . Die Kleider vom vorigen Jahr waren nicht mehr herzurichten , der Winter war rauh , Sie haben viel verschenkt , sehr viel , und weil für Fräulein Stella eine neue Toilette notwendig gewesen wäre , so hat Frau von Ellissen auf den Ball verzichtet . Ihr Kleid ist auf Kinderwäsche , Bettdecken und ähnliches aufgegangen . “
„ Was ist ’s weiter für ein großes Opfer , “ beteuerte die junge Frau , „ seinen Abend nicht mit blödem Geschwätz zu verlieren . Seit ich nicht mehr tanze , langweilen mich diese Schaustellungen . Man schwätzt , man klatscht , man lästert und meine Gewohnheit tätig zu sein , läßt mich diese gespreizte Parade im Lehnsessel schwer ertragen . “
„ Egoistin , “ murmelte Fred .
Mira warf ihm einen fragenden Blick zu .
„ Daran denken Sie nicht , “ fuhr Baron Seuriet fort , „ daß Sie mich einer meiner größten Freuden berauben , der Freude , Ihre herrlichen Schultern und Arme entblößt zu sehen , mir vorzustellen , daß Sie meinetwegen so schön geschmückt , meinetwegen anwesend sind , um mir ein wenig von Ihrer Schönheit zu schenken . Die wenigen Male , da ich Sie in dieser
offiziellen Entkleidung bewundern durfte , gruben sich mir die geringsten Einzelheiten Ihrer sichtbaren vollkommenen Schönheiten tief ins Gedächtnis . Ich könnte die Fasern , die Schatten , die Formen Ihrer nur flüchtig erblickten Reize nachzeichnen , so sehr hat mein glühender Gedanke den von ihm empfangenen Eindruck festgehalten . “
Frau von Ellissen verbarg in einem spöttischen Achselzucken den Schauer , der sie überlief und versuchte zu lachen , indem sie verwirrt die Augen abwandte .
„ Das sind Kindereien , Dummheiten , die einer alten Frau gegenüber schlecht angebracht sind . “
In der vollen Bewunderung ihrer Schönheit rief der junge Mann :
„ Mira , sprechen Sie nicht so , Sie kennen Ihre Schönheit nicht ; Sie wissen nicht , daß Sie erst jetzt im vollen Glanze des Weibes stehen , daß ich Sie so liebe , wie ich Sie jetzt vor mir sehe – ja , so – und so bleiben Sie für mich ! “
„ Und – weiter – – – “ fügte sie nervös hinzu .
„ Weiter ? “ – Er schwieg einige Minuten , dann schmiegte er sich mit kindlich-innigem Blick an sie und sagte :
„ Ich werde Ihnen meine Bitte wiederholen , Mira , Sie werden auf den Ball gehen , nicht wahr ? Sie werden mir vergönnen , Sie zu sehen . Sagen Sie ja , geliebte Freundin , und schenken Sie Ihrem Fred , der Sie so innig liebt , ein holdes Lächeln . Sagen Sie ja ! “
Sie lächelte , aber so schwermütig , und schüttelte verneinend das Haupt :
„ Nein , mein Liebling , ich werde nicht gehen , und wenn ich einmal gezwungen sein werde , Stella zu begleiten , werde ich bis zu den Ohren zugeknöpft sein . Voilà ! “
„ Grausame , Grausame , “ rief Fred und drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf ihren Arm , ehe sie ihm denselben entziehen konnte .
„ Fred ! Bitte , lassen Sie mich in Ruhe ! Fred , ich werde noch böse werden , Sie sind gewissenlos – – sehen Sie , da kommt jemand . “
„ Es ist die Miß , “ sagte er , „ ich gehe . “
„ Bleiben Sie nicht zum Diner bei uns ? “
„ Wer sind die „ uns “ ? “
„ Die Deaken’s kommen . “
„ Der Bruder auch ? – Ah ! – dann danke ich . Ich habe Franz ganz gerne , aber nicht wenn er bei
Ihnen ist . Die Liebenswürdigkeiten und Galanterien dieses alten Hagestolzen enervieren mich . Und dann diese Provinzlermanie , jedem eine Etikette auf den Rücken zu heften . Und Ihnen macht es Spaß , daß Herr Deaken der Liebhaber der Frau von Ellissen genannt wird . “
„ Ach , was soll das jetzt noch für Konsequenzen haben ! “
„ Möglich . Es ist ganz unschuldig . Sogar sehr lächerlich für ihn , daß Sie ihn für so ungefährlich halten und sich sein platonisches Hofmachen so ruhig gefallen lassen . Aber es ärgert mich , daß Sie es sich gefallen lassen und es erfaßt mich eine unbezähmbare Lust , ihn zu ohrfeigen , wenn er so frech ist , sich mit seinem kahlen Schädel bis zu Ihren Knieen zu verneigen . “
„ Unartiger Knabe ! Wie jung Sie noch sind ! Also gut , trollen Sie sich , baby ! “
„ Und wenn ich bleiben wollte ? “
„ Dann bleiben Sie . “
„ Nein , ich gehe , denn ich könnte eine Dummheit machen . “
Sie blickte ihm lächelnd nach , während er rücklings gehend einen Seitenpfad im dichtesten Tannendickicht
einschlug , ihr dabei einen Schwarm von Kußhänden zuwerfend . Sobald er ihren Blicken entschwunden war , eilte sie Miß entgegen , die mit kleinen kurzen Schritten , auf ihren Schirm , wie auf einen Stock gestützt , näherkam .
Frau von Ellissen rief ihr von weitem zu :
„ Was haben Sie mit Stella gemacht ? “
„ Das fragen Sie mich ? “ antwortete die Miß . „ Kaum hier angelangt , lief sie davon , um ihr Dreirad zu holen . Eine tolle Idee von Ihnen , ihr diese Laune zu gestatten . “
Frau von Ellissen lächelte :
„ Was hätte ich tun sollen ? “
„ Ah , erlauben Sie , daß ich mich setze , meine alten Beine wollen nicht mehr ! “
Frau von Ellissen schob ihr eine Bank zurecht und fuhr fort :
„ Das möchte ich sehen : Stella etwas verweigern , was sie sich in den Kopf gesetzt ! Sie ist ganz ihr Vater . “
„ Aber … ich weiß , ich weiß , “ entgegnete die Miß . „ Übrigens tut es ihr gut , nicht wahr ? Sie hat so viel überschüssige Kräfte , diese nervöse Kleine . “
„ Ja , der Arzt riet zu dieser Leibesübung , die mich entsetzt . “
„ Nun es ist ja keine Gefahr dabei ! “
„ Weiß man es ? Es ist eben Mode . Alles will mit dem Rade herumfliegen . Welche Zeiten , welche Sitten ! “
„ Wem sagen Sie das ? Ich , die sie den ganzen Tag während des Unterrichtes plappern höre , muß mich taub stellen , um nicht die Lektionen in Vorträge über Moral zu verwandeln . Würden Sie glauben , daß Fräulein Alice Henneberg ihr neulich vorschlug , ein Wettrennen über dem Ringe zu veranstalten ? “
„ Entsetzlich , “ rief Frau von Ellissen . „ Dafür stehe ich gut : Stella’s Dreirad wird nicht über die Grenzen des Parks hinauskommen . Ich habe ihr sogar ausdrücklich ein eigenes Kostüm verweigert , damit es ihr nicht eines schönen Morgens einfällt , mir durchzugehen . Und da sie hier niemand sehen kann , schaue ich geduldig zu . … Sehen Sie , da kommt sie eben . Sie sieht doch wie eine Närrin aus – ihre Haare im Nacken zerzaust , ihre Füße ganz frei – ja , ihre Füße ! “
Vorgebeugt wie ein Professionswettfahrer , mit geröteten Wangen , kam Stella die Allee herab geradelt ,
ohne sich um ihr vom Winde bis über die Knie zurückgeschlagenes Kleid zu kümmern . Sie blieb vor einer Bank stehen und sah sich nach allen Seiten um .
„ Ihr seid allein ? “
„ Zum Glück , “ erwiderte Frau von Ellissen . „ Sieh doch deine Strümpfe an ; schämst du dich nicht ? “
Stella richtete sich auf :
„ Na , das ist doch nicht so arg . Siehst du , wenn ich eine Hose hätte , würde das nicht geschehen . Aber du bist ja anderer Meinung ! Mir ist ’s ganz gleichgültig . Ich lach’ darüber ! “
„ Stella ! Stella ! “
„ Na , was denn ? Mein Strumpfband hat sich ausgedehnt . Kann ich etwas dafür ? Aber Mama , wenn wir in Houlgate Krebse und Krevetten fangen gehen , habe ich da ein langes Kleid an ? Ich glaube kaum . Ich wate mit meinen beiden Beinen , die überdies noch nackt sind und die Augen der Zuschauer auf sich lenken , im Wasser herum . Und was ist weiter dabei ? Du , Mama , hast komische Ansichten über das , was sich schickt . Was hier unanständig ist , scheint , euerer Ansicht nach , einige Kilometer weiter ganz passend zu sein . Spitzfindigkeiten . Mir unverständlich . – Alles ein Guß . “
„ Aber ein schlechter Guß , “ versuchte Miß zu tadeln .
„ Ah bah ! er wird schon durchkommen , “ gab Stella mit stolzem Lächeln zurück und schüttelte die offenen Haare , die ihr wie ein rotblonder Schleier über den Rücken fielen . Dann fuhr sie fort : „ Marie hat mir gesagt , daß Fred hier sei . Er ist euch also ausgekniffen ? “
„ Wie Ihre Freundin Alice sich so elegant ausdrückt , “ fügte Miß hinzu .
„ Die kennt sich aus , die , “ brummte Stella . „ Die ist nicht in einem solchen Provinznest erzogen worden . “
„ Aber auch nicht im Sacré-Coeur , “ entgegnete Miß .
„ Weil ihr Vater , der Präfekt , ein freidenkender Mann , deswegen . Das hindert sie nicht , viel gelehrter zu sein , als alle hiesigen Gänse und gar nicht zimperlich . “
„ O nein ! “ warf Miß mit Schärfe dazwischen .
„ Und nicht affig . Sie ist aufrichtig , sie paßt mir sehr gut . “
„ Man kann aufrichtig sein , ohne frech zu werden , “ betonte Mira .
„ Mein Gott ! Du armes , liebes Stiefmütterchen , du sprichst von diesen Dingen , wie der Blinde von
der Farbe . Alice ist nicht frech , es ist ihr nur die Heuchelei der Provinz-Erziehung fremd . Man hat sie ihrer Zeit gemäß erzogen , modern , wie Ihr hier sagt , wir sagen ohne Ziererei , noch Prüderie , noch Versteckenspiel . Sie wird weder eine lebendige Puppe , noch ein verschrecktes Gänschen werden . Sie wird ein echtes Weib sein , ihres Wertes und ihrer Rechte bewußt . Ihr aber , Ihr versteht ja diese Erziehung nicht . Ihr könnt ja schließlich nichts dafür , man hat euch so gedrechselt ! “
„ Hören Sie nur diese kleine Impertinente ! “ sagte die Miß , indem sie mit dem Schirme drohte .
„ O , Sie , Miß , Sie sind noch eine von den Besseren , Sie haben Ihre Jugend im freien Amerika verlebt , Sie wissen schon , wie man dort die jungen Mädchen erzieht . “
„ Aber diese jungen Mädchen sind auch aus ganz anderem Stoff , als die hiesigen Fräulein Zierpuppen , ohne Ihnen nahezutreten . Durch ihr tüchtiges Hirn rinnt eine Ader , die in den eurigen noch keinen Platz gefunden hat . Und Ihr Schicksal bestimmt sie zu anderer sozialer Tätigkeit , als euch . Jedes Land hat seine Sitten , seine Kräfte , seine Bedürfnisse , und es ist ein schlechtes und übereiltes Bemühen , eine Kultur ,
die sich nur unter einem besondern Himmelsstrich entwickeln könnte , in einen fremden Boden zu verpflanzen . “
Verstimmt erwiderte Stella :
„ Gedanken sind klimatischen Einflüssen nicht unterworfen ; und die Ideen sind es , welche die Sitten bilden . “
„ Und sie auch verderben , “ murmelte Frau von Ellissen .
Die Miß schwieg , kniff ihre klugen Augen zusammen und schien jetzt ausschließlich den sprossenden Blättern ihre Aufmerksamkeit zu widmen .
Stella aber , die etwas verächtlich mit den Achseln gezuckt , fuhr nun mit ihrem Rad langsam auf und ab , wobei sie unauffällig alle Seitenwege streifte und sie mit raschem Blick untersuchte . Als sie wieder bei ihrer Mutter vorüber kam , hielt sie an , wie um sich zurechtzusetzen , ihren Rock in Ordnung zu bringen , das Gouvernal gerade zu richten , und während dieser Hantierungen , die sie absichtlich verzögerte , sagte sie :
„ Uebrigens , Mama , wirst du gut tun , Marie ordentlich auszuzanken , sie ist eine Lügnerin . Wozu hat sie mir mit ihrer gelassenen Miene einer alten Marquise gesagt : ‚ Der Herr Baron Seuriet ist im Park mit der gnädigen Frau ‘ ? “
„ So ist es auch , er war da , aber er ist fortgegangen . “
„ Ah ! ich bin ihm nicht begegnet . “
„ Er ist gewiß aus der rückwärtigen Parktüre hinausgegangen . “
„ Da schau – was für ein Einfall ! “
Frau von Ellissen knöpfte aufmerksam ihren Handschuh zu .
Stella fuhr fort : „ Flöße ich ihm dem Angst ein ? “
„ Ganz gewiß , wahrscheinlich , “ antwortete die Miß lächelnd .
Stella aber beugte sich über ihre Maschine , faßte die Lenkstange fest , stemmte die Füße an und zum Abfahren bereit , rief sie :
„ Auf Wiedersehen ! Ich will meine zehn Kilometer machen , indem ich rund um den Park fahre , wie ein Eichhörnchen in seinem Käfig , da es mir nicht erlaubt ist , ihn zu verlassen . “
Sie fuhr ab , den Kopf gesenkt und in so schnellem Tempo , daß sie mit ihren auffliegenden weiten Aermeln aussah wie ein Riesenvogel , der einen Bogen über die Erde zieht . Bei der ersten Wendung warf sie einen schnellen Blick zurück , und als sie sicher war , daß sie nicht mehr gesehen werden konnte , bog
sie in einen Seitenpfad ein . Dieser war so schmal , daß die beiden Räder des Tricycles in die moosige Böschung einschnitten , über Wurzeln stolperten , Zweiglein abrissen , die unteren Blätter abschnitten , während Stella sich die Ellbogen zerkratzte und sich an den hängenden Ästen die Haare ausriß . Aber sie radelte mit der Wut eines Rennfahrers weiter . Dieser Pfad mündete in einen breiten , der Allee parallel laufenden Weg . Stella folgte ihm einige Augenblicke , durcheilte noch einen rasenbewachsenen umbuschten Pfad und kaum zwei Minuten nach ihrer Abfahrt landete sie im Eichenrondell , im selben Augenblick , da der Baron Seuriet das massive eiserne Tor öffnen wollte . Stella , wie ein Pfeil daherfliegend , rief : „ Achtung ! “
Fred hatte kaum Zeit , den Riegel vorzuschieben , um nicht das Rad auf die Füße zu bekommen . Aber die gewandte Sportslady lenkte mit einer so verteufelten Geschicklichkeit , war so nahe an ihn herangekommen , daß sie in einem plötzlichen Ruck abbiegen mußte . Und sie wäre gefallen , wenn der junge Mann sie nicht um die Taille gefaßt und mit einer leichten Anstrengung seines geschmeidigen Körpers aufrecht erhalten hätte .
„ Danke , “ sagte sie .
Die Röcke herunterschlagend , die sich um sie gewunden hatten , befreite sie schnell ihre schlanken zarten Füße und lehnte sich an die Lenkstange , die sie mit zurückgebogenen Armen festhielt , die Gestalt vorgestreckt , herausfordernd . Dann sagte sie : „ Guten Tag ! Wie geht’s ? Wohin des Wegs ? “
„ Nach Hause . “
„ Durch die Hintertür ? Ein Gebieter ! “
„ Noch nicht . “
„ Es wird kommen , es kommt . “
„ Glauben Sie ? “ entgegnete er lächelnd .
„ Wenn Sie wollten , so käme es leicht . “ Stella sprach mit ernster Miene und er antwortete ihr rasch :
„ Aber ich verlange es ja gar nicht . “
„ Man muß nicht verlangen , man muß nehmen ! “ meinte sie spöttisch lächelnd .
„ Teufel , wie Sie drauf losgehen ! “
„ So , wie ich auf jedes Ziel losgehe , das ich mir steckte , alle Hindernisse überwindend . Ah ! wenn ich Sie wäre ! “
„ Was würden Sie tun ? “
„ Primo : ich würde die Provinz verlassen . Sagen Sie , was hält Sie hier zurück ? Was fesselt Sie an dieses elende Nest ? “
Fred zögerte , dann sprach er abgerissen :
„ Vieles … die Gewohnheit … der Hang zur Einsamkeit , und endlich die materielle Sorge um mein Wohlergehen : ich bin nicht reich . “
„ Schöner Grund ! Man wird einfach reich . “
„ Wenn man kein Brot hat , ißt man Kuchen , nicht wahr ? “
„ Ich bin kein Schwachkopf . Aber wenn man Talent hat , wie Sie , lebt man vom Ruhm ! “
„ Ruhm nährt nicht . “
„ Ruhm ist eine Mitgift , “ sagte sie , das letzte Wort betonend .
Er gab zurück :
„ Eine Mitgift , die die Notare nicht in die Kontrakte aufnehmen wollen . “
„ Die Notare , ja ; Ihre Klienten aber begnügen sich manchmal damit . Kurz , Sie wollen nicht fortkommen , in keinem Sinne des Worts . “
Er blickte voll Interesse auf sie ; dann erheitert :
„ Verzeihen Sie , ich wollte gerade fort , als Sie mir in den Rücken fielen . “
„ Seien Sie artig und sagen Sie , „ in die Arme “ . “
„ O ! “ stieß er hervor .
„ Sie protestieren ? “
„ Nein , kleine Unschuld . “
„ Ich kenne die Synonyma , aber der dümmere von uns beiden bin doch vielleicht nicht ich , lieber Meister . “
„ Wie denn auch ! “ sagte er ironisch und machte eine tiefe Verbeugung .
Stella stieß ihr Dreirad an einen Baum und setzte sich auf den Boden :
„ Kleiner Fred , seien Sie lieb und schenken Sie mir eine Zigarette . “
„ Fräulein Stella , wo denken Sie hin . – Was würden Frau von Ellissen und die Miß dazu sagen , wenn man Sie sähe ? “
„ Mama ? ist sie denn hier ? “
„ Nein , aber – – “
„ Wie , Sie wollten also geradewegs zu ihr , mich wegen dieser strafbaren Handlung anzuzeigen ? Sie sind mir ein ganz scharmanter Jüngling ! Danke ! Von dieser Seite kannte ich Sie noch nicht . Aber ich glaube es gar nicht . Schnell – eine Zigarette – ich vergehe vor Lust ! “
„ Es wird Ihnen schlecht bekommen , Fräulein Stella ! “
„ Brr , – das ist einfach . Ich sage , ich habe Migräne und das erspart mir ein Diner mit François Deaken . “
„ Ärgert er Sie ? “
„ Ich kann sagen , daß er mich rasend macht . “
Fred machte ihr für dieses Bekenntnis eine Verbeugung ; – er zog seine Zigarettentasche hervor und reichte sie Stella . Sie aber blickte in die Luft und sagte :
„ Sie werden mir ’s nicht glauben , aber was mich an diesem galanten Kahlkopf am meisten reizt , sind nicht seine Musikstückchen , sondern seine Manie , als Anbeter meiner Mama zu gelten . “
„ O , das ! “ brummte Fred , nach seinen Streichhölzern langend , „ das macht ihn geradezu grotesk . “
„ Nicht wahr ? Geben Sie schnell ! “
Er willfahrte . Stella streckte ihren Hals , um die Zigarette am Wachskerzchen anzuzünden , daß ihr Fred kniend hinhielt . Während er Sorge trug , ihre blonden , gekrausten Haare nicht anzubrennen , spitzte sie mit ungeschickter komisch saugender Bewegung das rosige Mündchen , um die Zigarette der schon nahe an Freds Fingern flackernden Flamme zu nähern .
„ Ich brenne ! “ rief er plötzlich .
Sie senkte listig die Lider , rückte von ihm fort und erwiderte :
„ Es ist ja nur Feuer . “
Sprachlos blickte er sie an , fast beunruhigt und voller Neugier über den Sinn ihrer Worte . Aber sein Blick umfaßte bald ihre ganze Gestalt voll Erstaunen , da ihm zum ersten Male die vollendete Verwandlung des Backfischleins zum Bewußtsein kam . Er hatte sie als kleines Kind gekannt , achtlos hatte er sie heranwachsen sehen und nun stand sie plötzlich in der anmutigen Schlankheit und doch Fülle ihrer Formen , deren ehemals milchiges Weiß den warmen sammetartigen Ton erhalten hatte , der duftiges Erblühen in der Leidenschaft versprach .
„ Bin ich ungeschickt , “ rief sie , ihn durch ein plötzliches Aufblitzen ihrer schelmischen Augen überrumpelnd und dem jungen Mann geradeaus ins Gesicht blickend .
Er erhob sich lebhaft und schaute um sich , als ob er eine Uberraschung fürchtete .
„ Gleichviel , “ murmelte er , „ wenn jemand Sie bemerkte . “
„ Da säßen Sie in der Klemme , was ? “
„ Das macht Sie lachen – Sie böse Grausame . “
„ Ja , jetzt , wo ich habe , was ich will . Aber seien Sie ruhig , niemand wird davon erfahren . Ich bitte Sie sogar , Mama nicht zu sagen , daß ich Sie an dieser Tür getroffen habe . Sie hat mir verboten , mich hier herumzutreiben . Denken Sie nur , wenn man mich sähe ! Denn es scheint , daß ich auf dem Dreirad unanständig ausschaue . Finden Sie auch ? “
Er stotterte :
„ Nein , nein , – ich glaube nicht . “
„ Aber sicher sind Sie nicht ? Warten Sie . “ Sie sprang auf , eilte auf ihre Maschine zu und bestieg sie , ohne Bedenken ihren Rock zwischen die Beine klemmend . Mit einem Ruck des Kopfes warf sie ihre Haare zurück , stellte sich seitlich von ihm auf , vorgebeugt , die Arme gestreckt :
„ Es spießt sich nichts ? Was ? Also , guten Abend ! Ich fahre . Nichts der Mama sagen ? Abgemacht ? “
Er bejahte mit einem Kopfnicken .
Sie fuhr dahin , anfangs langsam , dann , als sie sich in einiger Entfernung befand , wandte sie sich um , legte , um ihn an sein Versprechen zu erinnern flüchtig die Finger auf die schelmischen Lippen , sodaß es weniger der Bitte um Verschwiegenheit , als einem
durch die Luft gesandten Kusse glich . Dann nahm sie einen Anlauf und verschwand wie getragen von ihren weiten Ärmeln : zwei schwarze Flügel , die die blonde Mähne einer durch das Gehölz fliehenden Dämonin umrahmten .
II . Die Stadt mit ihren modernen Bauten folgte der Linie des Flußes . Ihre engen Querstraßen mündeten auf den Hauptplatz , der das Arbeiterviertel von der alten Stadt trennte , deren weiter auseinanderliegende Häuser meistens von Gärten umgeben waren oder sich um einen mit Linden bepflanzten Rasenplatz gruppierten .
Einige dieser kleinen Squares sahen klösterlich aus mit ihren stillen , fast immer verschlossenen Häuschen . Diese Viertel dienten dem erbgesessenen Bürgertum als Zufluchtsstätte . Durch die Entwicklung der Industriestadt , die Teuerung aller Lebensmittel schon halb ruiniert , wurde sie noch durch die wachsende Entwertung des Geldes ganz zu Grunde gerichtet .
Manche Familie , die früher gut leben , ein Haus machen , Pferd und Wagen halten konnte , war nun in die bescheidene Existenz einer kleinen Beamtenfamilie eingeengt . Die Töchter mit aufgeschürzten Röcken , die Hände in alten Handschuhen , kochten selbst , bürsteten bei geschlossenen Türen den Boden , wischten den Staub von den Möbeln und modernisierten ihre abgetragenen Kleider . In seinem Bettelstolze rächte sich dieses Bürgertum an der neuen offiziellen und industriellen Welt , von der es in den Schatten gestellt wurde , durch herausforderndes Benehmen . Schon an der Kopfhaltung konnte man dies leicht erkennen , wenn diese Familien Sonntags nach der Kirche ihre Töchter der alten Sitte gemäß auf dem Ringe spazieren führten , nicht weniger auch an dem Reden , an ihren anmaßenden verächtlichen Blicken , die sich schnell wie empört abwendeten , wenn sie auf Leute fielen , die nicht aus ihrer Kaste waren , die nicht , wie sie , dem alten Bürgertum entstammten , das nur von seinen Renten lebte und noch lebt . Das hinderte sie aber nicht , eifrig nach vorteilhaften Heiratsverbindungen mit dieser anderen Welt zu streben und zur Erreichung dieses Zieles alle Hebel in Bewegung zu setzen .
Diese Familien fanden ihre natürlichen Verbündeten im niederen Adel , der gleichfalls von der Verarmung betroffen , sich in seine alten Herrensitze und Schlößchen zurückzog . Letzterer sandte seine Söhne zur Armee , seine Töchter ins Kloster und verkehrte selten in den offiziellen Kreisen , gerade nur so viel als nötig , um hie und da eine Begünstigung beim Avancement der Söhne zu ergattern . Wenn man die Stadt verließ erblickte man am Hang eines Hügels oder in einer Talniederung Häuser mit verfallenen oder roh beworfenen Giebeln , inmitten von altem Hochwald , Wiesen oder üppigen Feldern , welche diese Landedelleute sorgfältig in stand hielten , da sie ihre Einnahmequelle ausmachten . Die dazu gehörigen Meierhöfe bildeten da und dort rund um die Stadt her kleine Dörfer , auf welche das alte Schloß mit gleichsam oberherrlicher Protektion herabsah .
Den Fabriksbesitzern und Arbeitern machte es immer einen Hauptspaß , Sonntags mit der neuen Pferdebahn in die Umgebung dieser alten , von Efeu malerisch überzogenen Mauern zu fahren : der langsame Ansturm der arbeitenden Klasse auf die letzten Spuren eines nach und nach besiegten , aus seinem Besitze vertriebenen und bald aus seiner letzten Zufluchtsstätte
verjagten Adels ; Teil um Teil wurden die erobernden Arbeiter Erwerber des zerstückelten Grundbesitzes .
So kam es , daß zur alten Abtei , dem Schlosse des Baron Seuriet , nur noch eine moosige Wiese , einige Gärten und eine mit Taxus bepflanzte Terrasse gehörte , in deren Schatten die letzten Rundbogen des einstigen Benediktinerklosters vermorschten , Denkmäler einer Baukunst , die im Verschwinden begriffen war . Alles , was früher zur Abtei gehört hatte , Wiesen , Weinberge , Felder , war gegen eine geringe Rente abgetreten worden , von welcher der einzige Sprosse der unter dem ersten Kaiserreich baronisierten Militärfamilie Seuriet kümmerlich lebte .
Der Vater Friedrich Seuriet’s hatte , noch jung an Jahren , infolge einer erhaltenen Wunde seinen Abschied genommen und mit der Zerstückelung der Herrschaft begonnen , auf welcher seine Vorfahren länger als ein Jahrhundert gelebt . Witwer geworden , gab er seinem Söhnchen ein in irgend einer Garnisonsstadt aufgelesenes Mädchen zur Erzieherin , eine verschwenderische schlechte Person , die Freds Jugend zu einem langen Martyrium gestaltete . Um ihrer Launen willen wurde Stück für Stück , beinahe die
ganze Herrschaft , verkauft . Und als der Major Baron Seuriet endlich starb , war sein Sohn nahezu ruiniert und ohne jede Möglichkeit , sich sein Brot zu verdienen , denn seine ganz oberflächliche Bildung machte ihm sogar unmöglich , gleich seinen Vorfahren , die militärische Laufbahn zu ergreifen . Im Alter von fünfzehn Jahren wäre er beinahe in bitterer Verzweiflung untergegangen , hätte ihn nicht Herr von Ellissen in sein Haus genommen . Stella war damals im Sacré-Coeur .
Als Frau von Ellissen Witwe wurde , bemühte sie sich um die Rettung des schwermütigen jungen Mannes , dessen Unglück sie schmerzlich berührte . Mit Hilfe ihres Rechtsfreundes brachte sie Ordnung in seine Vermögensverhältnisse , verkaufte die letzten zur Abtei gehörigen Grundstücke gegen eine Leibrente und verschaffte auf diese Weise Fred ein Einkommen , welches ihm gestattete , zwar nur bescheiden , aber ohne Sorge für den anderen Tag zu leben . Dann zog sie ihn in ihre Nähe , nicht nur um ihn zu trösten , sondern zu sehen , nach welcher Richtung hin seine ungeschulten Fähigkeiten zu verwenden wären . Es zeigte sich , daß er nicht die geringsten Anlagen für Handel oder Industrie hatte , was Frau von Ellissen auch sehr Recht
war . Aber fast war es ein Schreck für sie , die künstlerischen Neigungen des jungen Mannes , seine Leidenschaft für Musik und die Geige , zu entdecken .
Sobald sie allein waren , setzte sich Fred ans Klavier oder griff zur Geige , die zu spielen ihn niemand gelehrt und entlockte ihnen stundenlang mit intuitiver höchst persönlicher Kunst die seltsamsten Melodien . Er wäre unfähig gewesen , seine Musik niederzuschreiben , denn er kannte die Notenschrift nicht , selbst nicht den Namen der Töne , die er anschlug . Aber seine Hände eilten mit unerklärlicher Sicherheit über die Tasten , die Akkorde unter seinen Fingern , die Rhythmen , die ihnen entströmten schienen der Ausdruck höchster Kunst .
Frau von Ellissen gab schließlich der hinreißenden Gewalt dieser Entdeckung nach und logischerweise faßte sie den Entschluß , Fred mit aller Macht zum Studium der Musik anzueifern . Dies wurde ihr umso leichter , als Fred schon nur noch durch sie und an sie dachte : seine solange zurückgedrängte kindliche Liebe war mit der wilden Leidenschaft seines vierundzwanzigjährigen Herzens übergeströmt . Alles , was sie wollte , wollte auch er , und welche Mühe es ihm auch kostete , in seinem Alter noch mit dem ABC
der Musik zu beginnen , fügte er sich dennoch , voller Freude ihr zu gefallen und in der Hoffnung , sich damit einst zur Erfüllung seiner geheimen verliebten Wünsche zu erheben .
François Deaken förderte mit wahrer Aufopferung Freds musikalische Ausbildung . Ohne Zweifel gehorchte auch er dem unwiderstehlichen Wunsche Mira’s . Aber vor allem selbst Künstler , war er voll aufrichtiger Bewunderung für das ursprüngliche Genie seines Schülers und half ihm nach besten Kräften eine höhere Stufe zu erklimmen , als ihm selbst je gelungen war . Er fühlte sich für seine Mühe durch das stolze Bewußtsein belohnt , an der Ausbildung eines zu großem Ruhme berufenen Genies mitzuwirken und sich an dem herzlichen Triumpfe Frau von Ellissen’s erfreuen zu können . Es war ihr Werk ; gemeinsam hatten sie es vollbracht . Und dieses sie einende ideale Band , das Frau von Ellissen zur Nachsicht mit seiner verliebten , wenn auch immer ehrerbietigen Manie stimmte , tröstete ihn auch , wenn er mitunter des Trostes bedurfte , ob der zwar uneingestandenen , dennoch ihm aber nur zu wohl bewußten Minderwertigkeit seines eigenen Talentes im Vergleich mit der künstlerischen Macht und Höhe dessen , dem er die Anfangsgründe seiner Kunst beigebracht hatte .
In der Abtei lag neben einem Saale , genannt das „ Abteizimmer “ , eine Art von runder Kapelle . Halbsäulen hoben sich im Relief von der Stuckmauer ab , mit seinen Kannelierungen , zierlichen Kapitälen in zartem , etwas theatralischen Stile gehalten , und das Ganze erinnerte an die Muttergotteskapelle , die wie ein Juwel hinter dem Chor einer Kirche in Calais versteckt ist . Der Altar war verschwunden und durch eine Orgel ersetzt ; einige Lehnsessel , Stil Ludwig XVI. , in fahlem Atlasüberzug , mit eingewirkten ländlichen Szenen , standen in der Runde . Die lichten Scheiben hoher schmaler Fenster reflektierten das wechselnde Farbenspiel des Himmels .
Dies war Freds Arbeitszimmer , sein Lieblingsaufenthalt zum Träumen und Arbeiten .
Als Stella mit ihren flatternden schwarzen Flügeln und fliegendem zerzausten Haar im Parke verschwunden war , hatte er sich eilig nach Hause begeben , im Bedürfnis allein zu sein , in seinem Heim sich vor irgend einer Unannehmlichkeit zu retten , dessen Vorgefühl ihn plötzlich und unerwartet überfallen hatte . Sein sensitives Zartgefühl , seine große Empfindsamkeit zwangen ihn oft , im Alleinsein , wie hinter einem Schilde , Schutz zu suchen . Da erst gab er sich dem bis dahin bezwungenen
Eindruck hin , den seine Nerven von irgend einer Erregung empfangen hatten .
Bei geschlossenen Türen ließ er seine Seele alles wieder aufs neue erleben , leiden oder genießen , da horchte er , wie sich der Reflex seiner Erregung in einen Schwarm von Tönen verwandelte . Denn alle Erschütterungen seines Wesens endeten in einem Widerhall von Schallwellen , die seinem Herzen oder seinem Gehirn entsprangen und den tönenden Wandungen seiner Künstlerseele zustrebten . Sobald sie diese erreicht hatten , kehrten sie durch den Rückprall zum ausführenden Mechanismus zurück . Dann legte er träumerisch die Hände auf die Tasten oder griff zur Geige und ließ seine Gefühle in verwandten , grandiosen , übermenschlichen Klängen sich ergießen .
Diese Art diente ihm auch zumeist , wenn er sich über seine Wünsche Klarheit schaffen wollte . Oft erhielt er erst durch das Thema , das ihm sein Genius zuflüsterte , genaue Aufklärung über sein Wollen und Streben .
Sobald er die Abtei erreicht hatte , schloß er sich in die Kapelle ein und eilte zur Orgel . Mit kindischem Herzklopfen dachte er :
„ Was werde ich hören ? “
Aber nach den ersten Arpeggien , die unter seinen Fingern perlten wie ein Regen von Küssen und Tränen , stürzte Fred mit ausgebreiteten Armen auf sein Instrument nieder , schlug mit der Stirne auf das Elfenbein der Register und schluchzte :
„ Was mir fehlt … was mir fehlt ?! … Ich sterbe vor Liebe ! “
Ein wahnsinniger Schmerz schüttelte ihn . Seit langem schon hatte er das unausweichliche Unheil , die entsetzliche Gewißheit nahen sehen , daß Frau von Ellissen nie die Seine würde . Solange aber Mira sich nicht ausgesprochen , hatte er nicht verstehen wollen . Er war mit seinen Schmerzen vorwärts geschritten , immer weiter , wie ein Mondsüchtiger dem Ziele zu , das er seit vielen Jahren , seit jeher , wie es ihm schien , verfolgte . Er hatte sie so geliebt , daß er sich einbildete und vielleicht war dem auch so , daß er sie noch immer so begehrte wie in den ersten Tagen der Leidenschaft , in denen seine erwachenden Sinne sich ihr zugewandt . Er sah nicht ihre dreißig Jahre herankommen , in seinen Liebesträumen erschien sie ihm schöner als je , frisch , schlank , mit ihren großen Kinderaugen und ihrem naiven Mund . Und immer wieder kehrte er zu ihrer Schönheit zurück , als der Quelle seines ersten Sehnens ,
ohne zu bedenken , daß diese Quelle nun in voller Reife , in sommerlicher Fülle prangte , aber nicht mehr in der ersten Blüte des Lenzes .
Hätte sie sich ihm zu dieser Stunde hingegeben , so hätte er gewiß die unaussprechlichen Wonnen des Besitzes im Triumpf genossen . Aber Mira hatte ihn abgewiesen , und er wußte wohl , daß es jetzt zu Ende sei . Es schien ihm wie beim Zusammenbruche jeder Leidenschaft , als sei sein Herz nunmehr abgestorben , als habe er sein ganzes Leben auf diese Liebe aufgebaut , wie ein Spieler sein ganzes Vermögen auf eine Karte setzt . Versagte sie , so war er verloren . Verloren , denn sein Durst nach Liebe blieb ungestillt ; und wenn er auch mit aller Macht seiner Seele lieben wollte , – er würde nicht mehr lieben können .
In seiner Verzweiflung schrie er wild auf , aus Schmerz und aus Zorn gegen Mira , aus unterdrückter Leidenschaft , aus verletztem Instinkt , als wäre er körperlich verwundet worden .
Er verließ das Instrument , das stumm und ohne Atem , wie mit entflohener Seele , gefühllos gegen seine kindischen Schläge dastand und schleppte sich auf die lange Terrasse , die das Dach des Kreuzgangs bildete . Von ihr aus überblickte man die von Moos
und Unkraut überwucherte Wiese , auf der sich ein bunter Teppich von Krokus , zarten Gänse- und stolzen Butterblumen bis zum beschatteten Bächlein hinzog , das den Garten der Abtei teilweise begrenzte . Jenseits der schlanken Pappeln , auf denen das erste Frühlingsgrün zitterte , erstreckte sich welliger Boden bis zu den Abhängen der mit schwarzen Fichten gekrönten Hügel . In hellen , regelmäßigen Flecken breiteten sich die Wiesen zwischen den glänzenden Feldern und dem bläulichen Schimmer des sproßenden Getreides aus . Abendlicher Friede senkte sich nach und nach herab , von den verlassenen Feldern flohen die letzten Geräusche , durchbrausten noch einmal das Laub der Bäume und erstarben .
Schweigen – und Nacht .
Fred badete sein Gesicht , seine fieberheißen Hände im frischen Abendwinde , atmete tief die reinen Düfte ein und unterdrückte seine Seufzer , als ob er den erhabenen Schlummer der nach ihrem Tagewerk ermattet ruhenden Erde nicht hätte stören wollen .
Oft , wenn er sich so seinen Träumen hingab , die in der Nacht vorüberschwebten wie ein unsichtbarer Schwarm von Nachtvögeln und die Stirne streiften , die sich dem Grenzenlosen zuwendet , in dem die Welten
kreisen , kam ihm vor , als ob er in einer Reihe von Trugbildern seine geheimsten Wünsche an sich vorüberziehen sähe . Es waren Wunder an plötzlich erfüllten Freuden ; die Hindernisse schwanden , in kleinen zerflatterten Wölkchen trieb sie der Wind hinweg ; und er blieb allein mit seinem vollendeten , entschleierten Traum , der wie das Gestirn leuchtete , das ihn mit seinem bleichen Strahle umhüllte . Dann verdichtete sich das Bild und verkörperte sich zu der so heiß ersehnten Menschengestalt ; und die angebetete Mira schien plötzlich vor ihm zu erstehen , endlich besiegt , endlich seinem leidenschaftlichen Rufe folgend . Und ihm unter den wallenden Schleiern die Arme entgegenstreckend , wie eine Mutter Gottes über den großen Chören , sprach sie :
„ Da bin ich , ich will deiner Liebe dienen , dein Wille geschehe ! “
Da wandte er sich um und eilte nach seinem Zimmer und suchte und wollte sie dort finden , wollte , daß seine Vision kein eitler Traum sei .
Und wieder , als er diesmal , vor Kälte zitternd , nach langen auf reifbedeckten Feldern verbrachten Stunden des Vergessens , sein Heim aufzusuchen sich entschloß , überraschte ihn an der Schwelle seines
Zimmers der gewohnte Traum und erfüllte ihn mit Wahnsinn einer plötzlich neu geweckten Hoffnung .
Wie wenn auch sie unter ihrer grausamen Weigerung gelitten hätte ? Wenn sie ihn hätte trösten wollen ? Wenn sie , da alles in tiefem Schlummer lag , sich mutig auf den Weg gemacht , um als Engel der Barmherzigkeit ihm den Hunger seines Herzens , den Durst seiner Lippen zu stillen !
Was frommte ihre Güte , wenn sie sie nicht gegen einen Unglücklichen , wie ihn , übte ? War sie es sich nicht selbst schuldig , zu geben und wieder zu geben , alles und mehr als alles : sich selbst !
Gewiß , sie würde nachgeben , ihre Großmut würde sich nicht auf materielle , gewöhnliche Gaben beschränken . Wäre es nicht krasser Egoismus , wenn sie ihm das einzige Almosen , das er von ihr begehrte , verweigerte ? O , wenn sie erriet , wie ihn nach ihrer Schönheit dürstete , so daß er an entnervender Schwäche zu sterben fürchtete !
Und vielleicht war sie da ! Wußte sie denn nicht , daß er bei offenen Türen wohnte , um sie zu erwarten ?
Zitternden Schrittes schlich er in sein Zimmer und rief ganz leise :
„ Mira ! Mira ! “
Im Dunkel streckte er die verlangenden Hände vor , wie in der Erwartung einer Berührung . Das Schweigen in der Finsternis reizte seine aufgeregten Nerven . Eilig machte er Licht . Und als er sich überzeugt , daß der Raum leer war , sank er gebrochen in einen Sessel .
„ Allein ! Immer allein ! “ murmelte er . „ Ewig allein ! “
Nach einer Weile schrie er auf :
„ Ich kann nicht mehr , es übersteigt meine Kräfte . Mein verzweifeltes Verlangen ist schon zum Alp geworden . Das Bedürfnis nach Liebe packt mich , wie wütender Hunger . Alles gestaltet sich mir zu Bildern und Berührungen der Lust . Lange glaubte ich , mich mit diesem anormalen Leben eines ideal verliebten Klostermönchs begnügen zu können , der sich mit der Erleichterung des Gebets , mit der Extase , der ewig überirdischen Anbetung bescheidet . Ich habe die Extravaganz bis zum Wahnsinn getrieben . Aber jetzt versagt mein Wille , etwas , das stärker ist als ich , drängt mich zum unmittelbaren Genuß sinnlicher Freuden . O , Mira , ich wollte dir mein Ich schenken , mein ganzes Ich ! Und nun wird das von mir , was du verschmähst , zu entehrenden , weil liebelosen
Genüssen herabsinken . Wenn ich glücklich gewesen wäre , glücklich , wie der Erstbeste , hätte ich ein geliebtes Weib an der Seite , dann würde ich die Sehnsucht meines Herzens in Umarmungen sättigen , die erschöpfen , aber neu beleben . Meinen Durst würde ich an Lippen stillen , mir dargeboten wie ein geheimnisvoller Kelch , und vergehen würde ich in der göttlichen Extase zeugenden Besitzes . Ich würde befruchten , wie die Erde befruchtet in dieser Frühlingsnacht – – – Und morgen – – da würde ich freien Geistes , stark in dem Bewußtsein betätigter männlicher Kraft , an meine künstlerische Arbeit eilen . Jetzt kann ich nichts , ich bin tot , ich bin wahnsinnig . Sobald ich meinen vergebens angeregten Nerven freien Flug lasse , zerstören abgerissene Akkorde den kaum erfaßten Rhytmus und jagen einander , wie dämonische Reiter aus irgend einer schändlichen Walpurgisnacht . Verloren !! – Verloren !! – Oder wie ? Mira nicht mehr lieben ? Aber ihre Schönheit allein erschüttert mich . Sie wagt es , sich alt zu nennen ! Und sie ist doch so schön , so anbetungswürdig schön . Ihr Blick – ihr Lächeln ! – Sähe ich nicht immer die Erhabenheit ihres Herzens hinter dem Welken ihres Körpers ? Sie vermag zu lieben , sie allein , so wie ich die Liebe
träume . Und ich habe immer nur sie allein geliebt ; erst jetzt kenne ich die gewaltige Macht des Wortes „ Liebe ! “ – Wenn ich sie verlöre , dann , glaube ich , könnte ich nicht mehr leben . Ja , ich weiß , die andern Männer würden mich verspotten . Sie leben anders . Mira hat recht , ich bin nur ein Kind . “
Und gerührt über sich selbst , begann er in seiner Schwäche zu weinen . Das rein sentimentale Bedürfnis war wieder in ihm erwacht , sich zu Füßen der Geliebten niederzulassen , die Stirne unter ihre mütterlichen Hände zu legen , die er andächtig küssen würde .
Nun sehnte er den Morgen herbei , um zu ihr eilen zu können . Und eine unklare Freude durchdrang ihn , als ob er sie fast verloren und ebenso zärtlich , ebenso ideal die Seine , wiedergefunden hätte .
III . Stella wurde zum Ball in der Präfektur angezogen , dem großen , jährlich stattfindenden Feste , zu welchem alle Familien der Stadt , die zur Gesellschaft gehörten , eingeladen waren . Der Adel war durch diejenigen seiner Mitglieder vertreten , die das meiste Interesse
hatten , mit der offiziellen Welt auf gutem Fuß zu stehen . Der ärmere Bürgerstand drängte sich herzu , um auf diesem günstigen Boden seine Heiratsjagd nach einem der großen Industriellen fortzusetzen , die ihrerseits eine Ehre dareinsetzten , in der müßigen Gesellschaft zu verkehren und sie zu blenden . Lange vorher schon wurden die Toiletten zusammengestellt . In den alten schweigsamen Häusern bemühten sich Hausschneiderinnen heimlich , die abgetragenen Sachen nach Bildern der Modeblätter wieder aufzufrischen . Das Ergebnis war nicht immer glücklich , und viele reizende junge Mädchen verloren ihre Anmut in einem stil- und geschmacklosen Aufzug . Aber erst unter dem Glanze der Luster gewahrten sie ihre Niederlage neben den aus Paris bezogenen Toiletten . Dadurch gekränkt , verscheuchten sie mit ihren unzufriedenen Gesichtern die Tänzer . Neid und Haß entbrannten bei solcher Enttäuschung ; Bitterkeit stieg auf die Lippen der Mütter ; das Geplauder wurde zum Klatsch , und der Abend zeitigte Nachträgereien , die die ganze Stadt auf ein Jahr mit Streit versorgten . Auch bereitete man von langer Hand her die Revanche vor .
„ Welche Farbe werden Sie tragen , meine Liebe ? “ fragte man mit honigsüßer Stimme .
Und je nach der Antwort , ob blau , ob rosa , oder weiß , richtete man sich ein , anders und besser gekleidet zu erscheinen .
Stella kannte diese Art von Sorge nicht . Ihre Kleider kamen aus Paris , und obgleich sehr einfach , hoben sie ihre angeborene Grazie durch unbestreitbare Eleganz . Übrigens stand sie noch ganz im Anfang ihrer gesellschaftlichen Laufbahn . Erst seit ihrem siebzehnten Jahre war sie nicht mehr auf „ Lämmerhüpfen “ und „ weiße Bälle “ beschränkt ; das heißt : an diesem Abend kleidete man sie zu ihrem zweiten großen offiziellen Feste . Das erste Mal hatte sie nach Provinz-Sitte in schneeweißen Gazewolken erscheinen müssen ; für diesmal wählte sie eine reizende Zusammenstellung aus hellgrünem Surah mit silbergetupftem Tüll . In ihren Haaren trug sie nur einen Tuff Flughafer , aus dem sich , schlank und zart wie Flaum , ein Zweig wilder Clematis hervorhob .
Nachdem sie aus den Händen der für etwaige Änderungen so notwendigen ersten Schneiderin entlassen war , hatte sie sich den geschickten Fingern der Friseurin überliefert ; der Friseurin , die die Bräute frisiert und mit dem Ernste eines Folterknechts die verschiedengestaltigen Brenneisen handhabt .
Vergebens , daß Stella rief : „ Au ! Sie brennen mich ! Reißen Sie doch nicht so stark ! “
Die Künstlerin hatte kaum ihr Werk vollendet , als Stella , empört , die Frisur mit einem Stoß zerstörte , um sich nach eigenem Geschmack , auf weniger banale Art , das Haar zu richten .
Nun überzeugt , nicht allen andern zu gleichen , lachte sie laut auf , berauscht von der jugendlichen Freude sich so reizend zu sehen . Mit dem Fächer in der Hand lief sie unter dem Rauschen des Flitters , der wie Regentropfen ihr grünes Kleid bedeckte , aus ihrem Ankleidezimmer , wie eine Najade aus dem Bade , und stürzte in den Salon ihrer Stiefmutter .
Frau von Ellissen hatte sich darauf eingerichtet , in der Erwartung von Stellas Rückkehr einen langen Abend an ihrem Kamin lesend zu verbringen . Sie hatte sich’s bequem gemacht und ein hellblaues Morgenkleid angelegt , das ihre herrlichen Formen zur Geltung brachte und sich der zarten Blässe ihres Gesichts prächtig anpaßte .
Frohe Heiterkeit flog über ihre Züge als sie Stella erblickte , die ihr beim Eintreten zurief :
„ Bin ich schön , was ! “
„ Blendend , “ erwiderte sie und bedeckte zum Scherz die Augen mit den Händen .
Stella aber , plötzlich verstimmt :
„ Du bist allein ? “
Die junge Frau schmiegte sich tief in ihren Sessel und sagte :
„ Köstlich allein . “
„ Nun gut ! Ich bin schön ! “ Mit einem Ruck ihrer Büste streckte sie den langen Hals , der mit kühn emporstrebendem Kinn eine feine schlanke Linie bildete . Die Züge ihres zarten Gesichtes waren fein aber unregelmäßig , der Mund schmal , die Augen nach den Schläfen hin gehoben , die Nase gerade und beweglich : es war ein wahrhaft anziehendes , erregendes , wenn auch nicht regelmäßig schönes Gesicht . So geschmückt , besaß sie den Reiz eines Kunstwerkes , das seltsam und fein , ja sogar interessant erschien durch die Originalität seines unbestimmbaren Stiles .
„ Bald wird dich eine Schar von Bewunderern umringen , “ sagte Frau von Ellissen ein wenig ernsthafter .
„ Darum ist mir nicht bange , “ antwortet sie trocken .
Eine Sorge flog über Frau von Ellissen’s Stirne und die sagte leise :
„ Immer frivol , kleine Maus ! “
Das junge Mädchen erwiderte :
„ Möchtest du mich vielleicht ernst und sentenziös wie du selbst ? “
„ Ich glaube , ich ermüde dich nicht allzusehr mit meinen Sentenzen . Weniger aus Vergnügen , als aus Pflichtgefühl predige ich dir manchmal . “
„ Als wenn ich das nötig hätte ! “ versetzte Stella .
„ Wir haben das alle nötig , liebes Kind , besonders die Jugend , die das Leben und seine Verpflichtungen noch nicht kennt . “
„ Diese Wissenschaft lernt sich von selbst , durch die Gewohnheit . Was die Verpflichtungen betrifft , so erduldet man nur jene , die man sich selbst schafft . “
„ Du irrst dich gründlich : der Instinkt ist egoistisch , und die Moral lehnt sich gegen den Instinkt auf . “
„ Ich sehe den Nutzen nicht ein . “
„ Deshalb eben bemühe ich mich , dich verstehen zu lehren , – vor allem die Pflichten gegen andere . “
„ O , Mama , ich bitte dich , keine Predigt heute abend ! Dazu ist jetzt nicht die Zeit . Und dann bin ich etwas nervös . “
„ Bist du nicht wohl ? “ rief Frau von Ellissen schon beunruhigt .
„ Aber nein , rege dich doch nicht so auf , um nichts ! Ich bin nervös , weil … du bist schön , Mama , noch nie habe ich dich so schön gesehen , wie heute abend . Gut , daß du nicht mit mir gehst , niemand würde mich beachten … ich bin nervös , weil … “
„ Nun , weil ? “
„ Ich langweile mich , wenn du es durchaus wissen willst . “
„ Du solltest dich langweilen ? “
Frau von Ellissen riß ihre zarten Augen vor Entsetzen weit auf und rief :
„ Großer Gott ! was könnte dir denn fehlen , um glücklich zu sein ! “
» Du willst es wissen ? So höre . Es fehlt mir an Freiheit der Bewegung , an Freiheit , nach meinem Geschmack zu handeln , zu arbeiten wann es mir gefällt , mich zu unterhalten wie es mir paßt . Du , aber , durchkreuzest alle meine Ideen . Sieh mich doch nicht so an , als ob ich da etwas Ungeheuerliches sagte ! Und doch , schau , ich bin ja ganz vernünftig . Was verlange ich denn ? Ein etwas weniger blödes Leben , als man es uns hier zu führen gestattet , worin man uns bis zur Ehe leitet , wie eine Herde blöckender sorgfältig gepferchter , gehüteter Lämmer ohne unserer Initiative der
freien Entwickelung unserer Persönlichkeit den geringsten Spielraum zu lassen . – Nun weiß ich aber , daß die amerikanische Erziehungsmethode , das gerade Gegenteil der unserigen , sich auch hier , wenigstens bei uns , nach und nach Bahn bricht . Die jungen Mädchen werden nicht mehr den Blicken verhüllt wie Odalisken . Sie besuchen sich ohne Zwang , schreiben sich , empfangen einander , ohne daß sich eine aufreizende Aufsicht zwischen sie schöbe , mit der Anmaßung , ihr Urteil umzustimmen , ihre Neigung zu lenken . Glaube mir , wenn man mich noch so gut bewachte , so könnte ich , ich bin gewiß , meine Wächterin täuschen , wenn ich wollte ! Die jungen Frauen sind ihre mächtigen Helferinnen bei dieser Emanzipation , die Gott sei Dank , immer mehr an Boden gewinnt . Man fängt an , sie anders zu betrachten als ein Spielzeug , als Gänschen , die von der Wiege bis zum Grabe im Käfig gehalten werden müssen . Und sie gewinnen dem Leben einen neuen , individuellen Reiz ab , der ihren Geist erweitert . “
„ Und sie verderbt macht ! “ rief Frau von Ellissen entsetzt aus . „ Stella , wenn dich dein Vater hörte ! “
„ Verderbt macht ! “ erwiderte Stella verächtlich . „ Was ist denn verderbt ? Was ist es nicht ? Du wärst wohl in Verlegenheit , mir das zu sagen . Es
ist ein konventionelles Wort , das Ihr alle , hier , mit entsetzter Miene immer anwendet , sobald die neue Zeit an den althergebrachten Sitten das geringste zu ändern versucht . Alles was nicht in die Überlieferung eurer engherzigen Moral paßt , ist verderbt , und damit ist die Sache begraben : „ Nur nicht dran rühren ! “ Das ist viel leichter , als die Frage selbst zu untersuchen und die nötigen Folgerungen daraus zu ziehen . “
„ Verzeih ’ , Stella , wir Frauen würdigen schon die Fragen , auf die du anspielst – wenn auch nicht alle Frauen auf die gleiche Weise – ich gebe die Beschränktheit der Provinzlerinnen zu . Viele sind wohl ehrlich und klug genug , zu unterscheiden , was gut und was schlecht ist für unser Ziel – das heißt , für unser Glück – und für das der andern . Ich denke , das ist ein Prüfstein , den die gesunde Vernunft anerkennen muß . “
„ Es wäre vielleicht einer , wenn ihr über das , was ihr Glück nennt , eine Ansicht hättet , über welche wir uns verständigen könnten . Aber willst du mir erklären , welche Art von Glück du hienieden angestrebt hast ? Du bist ungefähr wie ich erzogen worden , weniger liebevoll , ich weiß es , aber nach derselben Methode . Du hast dich mit meinem Vater
verheiratet , der schon nicht mehr jung war und ein Kind auf dem Halse hatte . Er war ein guter Mann , ich muß es zugeben , aber ziemlich brummig , herrschsüchtig , der mit dir , wie ich mich wohl erinnere , immer schonungslos umgesprungen ist . Er gestattete dir gar nichts ohne seine ausdrückliche Erlaubnis , und du weintest vom Morgen bis zum Abend über seine Zurechtweisungen , ohne die Kraft zu finden , dich aufzulehnen , ihm deinen Willen des gleichberechtigten freien Wesens entgegenzustellen . Du hättest dich wohl gehütet ! “
„ Gewiß , “ murmelte die junge Frau , die ein schmerzlicher Schauer überfuhr .
„ Und warum das ? “
„ Ich verdankte deinem Vater alles , was ich besaß , ich war allein , Stella , ganz allein ! – Und um Frieden zu finden … “
„ Das ist ’s wohl : du hast aus Feigheit nachgegeben , um dir die Anstrengung des Kampfes zu sparen und auch weil du aufrichtig und naiv glaubtest , deine Pflicht zu erfüllen . “
„ Ja . “
„ Und dein Glück , bitte ? Dieses unser Ziel , von dem du vorhin sprachst , wo hast du es gefunden ? “
„ Ich denke nicht mehr an Glück ! Ich war zufrieden mit dem Guten , das ich tun durfte , mit meiner Schreiberei , meinen Büchern – – “
„ Und das hat dir genügt ? “
„ Es scheint so , “ sagte Frau von Ellissen leicht verwirrt .
„ Das ist eben das Unglück , daß eine solche Milchsuppe von Glück meinen Appetit gar nicht stillen würde . Ich brauche kräftigere Kost . “
„ Es ist aber doch ein großes Glück , liebes Kind , sich selbst für das Wohl seiner Nebenmenschen aufzuopfern . “
„ Nach deiner Meinung sollte also das ganze Leben nur dazu verwendet werden , sich mit den andern und nicht mit sich selbst zu beschäftigen ? “
„ Gewiß ! “
„ Nun , diese Philosophie liegt meinem Verständnisse gänzlich fern . Wenn ich nur leben sollte , um mich für das Wohl anderer zu begeistern , dann wollte ich , ich wäre nie geboren . “
„ Ach , Stella , ich hoffe , daß das Leben deine Ansichten ändern wird . “
„ Ich denke nicht . “
„ Und das du den himmlischen Trost des Selbstvergessens kennen lernen wirst . “
„ Damit einen die andern auch vergessen , nicht wahr ? Selbstbetrug . Immer nur geben , nie empfangen . Opfer ohne Ende . Schönes Schicksal Das wähl’ ich mir nicht . Und darum will ich frei sein , zunächst , um mich zu orientieren und mich dann der besten Seite des Lebens zuzuwenden . “
„ Und die wäre ? “
„ Tun können , was mir gefällt , wie … “
„ Vollende ! “ „ “ Wie die Männer , siehst du !
„ Ah , das ist dein Traum ? “
„ Nichts anderes . “
„ Warte doch , bis du weißt , was sie tun , ehe du sie beneidest . “
„ Ich weiß genug von ihnen , um zu merken , daß wenn sie sich das uneingeschränkte Recht angemaßt haben , die Herren ihrer selbst und obendrein auch noch die unseren zu sein , dies das beste Mittel zur Sicherung ihrer vollständigen Glückseligkeit war . Also … “
„ Also erklärst du dich für frei und emanzipierst dich ? “
„ Ich erkläre gar nichts , ich bin kein Dummkopf . Aber so bald als möglich , werde ich mich emanzipieren . “
„ Wirklich ? Und wieso ? “
„ Ach , du hast mich ganz gut verstanden ! “
Frau von Ellissen blickte Stella an , dann sagte sie plötzlich bewegt :
„ Wie ? Du denkst schon daran , dich zu verheiraten ? “
„ Ich bin neunzehn Jahre alt ! Nicht ? “
Frau von Ellissen sagte traurig :
„ Du willst mich verlassen , Stella ? “
„ Ach , wenn du sentimental wirst , dann werden wir uns nie verständigen . “
„ Ja , ja , ich weiß , du bist nicht empfindsam . Aber du bist dir schon selbst bewußt , daß es eines Tages dahin kommen muß . “
„ Und du möchtest mich zurückhalten , während es mich drängt , fortzufliegen . Ich sträube mich ! “ und mit einer reizenden Bewegung ließ sie alle Flitter ihres Kleides in die Luft fliegen .
Frau von Ellissen sah sie an :
„ Also gut , ich werde daran denken . “
„ Woran , bitte ? “
„ Dir den weißen Raben auszuhecken , der dir natürlich im Kopf steckt . “
„ Ich ! Ach Gott nein ! Es gibt keine weiße Raben . Oder vielmehr , der wird der weiße Rabe sein , der mir gefällt . “
„ Wenn du vielleicht sagtest : der uns gefällt . “
„ Wirklich ? Er soll auch dir gefallen ? Alte Mode , liebe Mama . Aber sei getrost , derjenige , den ich dir vorstellen werde , wird dich nachsichtig finden . “
„ Den du mir vorstellen wirst ? Bist du verrückt , Stella ? “
„ Deshalb , weil ich , ich für mich , denjenigen aussuchen will , mit dem ich die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit haben werde , vielleicht für mein ganzes Leben zusammen zu hausen ? Ich wäre in der Tat verrückt , wenn ich anders dächte ! “
„ Weißt du , daß sich mir der Kopf dreht , wenn ich dir so ruhig zuhöre ! “
„ Das glaub ich gerne . Du siehst mich an , als hättest du mich noch nie gesehen . Beruhige dich , ich bitte dich . Ich bin ein ganz vernünftig denkendes Mädchen . “
„ Stella ! – Stella ! “
„ Ich würde nie etwas Anstößiges tun . “
„ Nur das fehlte noch ! “
„ Aber … “
„ Aber ? “
„ Aber würde von meinem Rechte Gebrauch machen , wie es mein Verstand und mein Instinkt diktieren . Du kennst jetzt meine Anschauungen über das Leben . “
„ Sag , wo hast du nur all das Zeug her ? “
„ Aus der Luft , meine Liebe ; man fängt seine Lebensanschauungen wie die Schmetterlinge in der Luft . – Hopp ! – und ich hab's ! “
„ Ja , du machst dich noch lustig über mich , über Menschen , die anders denken , über Frauen , die ihre Pflicht kennen ! “
„ Nein , mein liebes Stiefmütterchen , ich mach’ mich nicht lustig – ganz besonders nicht über dich – ich bedaure dich ! Ich schäme mich beinahe , vom Leben schon so viel zu wissen , was du als Frau , im Glanze deiner Frauenschönheit und - würde , bei Seite lässest , was du nicht kennst . Es ist nur das , daß ich mir weder die Augen verbinde noch die Ohren verstopfe , wie man es mir eigentlich zu tun befiehlt , wie du es auch getan , als du Mädchen warst und auch jetzt noch tust . Nicht wahr , ich wette , du würdest mir nicht erlauben , Romane zu lesen , die auf dem Index stehen ? “
„ Stella ! – du darfst und sollst doch nicht von solchen Dingen sprechen . Ich habe die Pflicht , als Gattin deines verstorbenen Vaters , dich daran zu hindern und dich aufmerksam zu machen ! “
„ Siehst du , ich war dessen gewiß ! Also warum läßt du in deinem Arbeitszimmer Zeitungen , Romane Schriften aller Art herumliegen ? Ich verschlinge sie , die Kritiken darüber . Ah ! Die modernen Romane und Zeitschriften ! Das sind unsere wahren Erzieher . Ihr spielt uns Revüen für junge Mädchen in die Hände und bildet euch ein , daß uns die interessieren . Welcher Schwindel ! und wie pfiffig , ihnen einen Titel zu geben , der schon an sich eine Warnung für uns ist , ja keinen Blick hinein zu werfen : wir würden nichts daraus lernen . Aber es ist so leicht , eine Zeitung mitgehen zu lassen : man zerknüllt sie , wickelt sie um ein kleines Paket und trägt es ruhig unter dem Arm fort . Und dadrinnen , siehst du , findet man alles : von der romantischen Novelle , der leidenschaftlichen Erzählung , der Studie über das Weib , den Enthüllungen über die Kämpfe des Herzens , über Familien-Tragödien , bis zum Ehebruchsprozeß , den lehrreichen Lokalnachrichten , den kleinsten Einzelheiten aus dem bunten Leben gewisser Damen … Geh ! Man
müßte schon sehr vernagelt sein , um nicht einen deutlichen Begriff des Lebens zu erhalten , wenn man in diesem täglichen Erzieher geblättert hat . “
„ Barmherziger Himmel ! Wenn ich das je geahnt hätte … “
„ Natürlich , liebe Mama , du konntest das nicht ahnen … Ich hab ’s ja ganz , ganz heimlich getan . O wie gerne möchte ich dir alles sagen können , was ich denke – alles , alles , – so wie ich zu einer guten Freundin sprechen würde . Du bist zu jung , um nicht zu verstehen , du bist so schön , so entzückend in deinen Reizen ! O erlaube , daß deine Tochter dich nie mehr Mama nennt – sei mir eine liebende Schwester , eine treue , aufrichtige Freundin ! Willst du ? “
„ Ja , Stella , nenne mich Mira ! “
„ Nie mehr , niemals mehr Mama ? O ich habe in dir , nicht wahr , eine vergötterte Freundin ? Siehst du , du darfst dir nicht vorstellen , daß die Engel in Strömen vom Himmel fallen . Nein , sie kommen tropfenweise auf die Erde , da einer und dort einer , und sie bilden nicht die Mehrzahl ! Die Mehrzahl machen wir aus , die neugierigen , frühgeweckten , kleinen Mädchen . Wir sind schlau , weil man uns
dazu zwingt , und wir behüten unsere Stück für Stück erworbene Erkenntnis mit frommen Mienen und gesenkten Blickes , bis zu dem Tage , an dem wir die hinter unseren weißen Vorhängen aufgespeicherten Theorien in die Praxis übertragen können . “
Das dumpfe Rollen eines Wagens wurde hörbar , und die Glocke ertönte . Und Stella , glücklich über diese Ablenkung , rief :
„ Da ist die Miß … Wenn ich nur auf meine Art glücklich werde – sind damit nicht alle deine Wünsche erfüllt ? “
„ Gewiß , Stella – aber du wirst das Glück finden , wenn du deine eigenen Wege gehst ? Ich wäre trostlos , dich eines Tages unglücklich zu sehen , zu wissen , daß du leidest , Stella ! “
„ Aber nein , Mira , du wirst sehen . Hab’ nur ein wenig Vertrauen zu mir . Ich bin nicht schlecht und liebe dich von Herzen . “
Die Zofe trat ein :
„ Fräulein Deaken läßt um Entschuldigung bitten , aber sie wird wegen ihrer kranken Füße nicht heraufkommen , das gnädige Fräulein abzuholen . Wenn das gnädige Fräulein sich allein hinunter begeben möchte ? “
„ Arme Miß . Sie hat die Überwindung , sich dorthin zu schleppen , um uns gefällig zu sein . “
„ Warum kommst du nicht mit , warum lässest du mich allein , ohne dich , hingehen ? Schau , sei lieb , zieh’ dich an ! “
„ Nein , mein Herzchen , ich halte meinen Schwur . In ein paar Tagen bin ich dreißig Jahre alt . An dir ist es jetzt , zu tanzen . Ich bleibe zu Hause , und glaube mir , ich habe das Bedürfnis , allein zu sein . Indes komm’ nicht zu spät nach Hause . Grüße Fred recht herzlich . Also , vor dem Kotillion … “
„ Ja , Mira , abgemacht . Du wolltest mich erwarten ? “
„ Gewiß . Ich fühle mich heute so frisch , daß ich viel schreiben werde . Und dann wirst du von deinen Triumphen berichten . Ich bin schon so neugierig ! Unterhalte dich gut ! Geh , lasse Miß nicht warten . Auf Wiedersehn ! “
Mit hochgehobener Lampe reckten die Dienstboten die Hälse und sahen dem Wagen nach . Frau von Ellissen kehrte zurück , zog die Vorhänge vor und setzte sich wieder an den Kamin . Aber sie lehnte sich nicht mehr so ruhig zurück , wie zu Beginn des Abends . Vorgebeugt , den Ellbogen auf’s Knie , das Kinn in
die Hand gestützt , saß sie da , überwältigt von besorgten Gedanken . Lange starrte sie vor sich hin , regunglos , geisterhaft ; die zurückgefallenen Spitzen ließen den blendend weißen Arm sehen , ihr Auge glänzte , und hie und da rollte eine Träne über ihre Wangen . Ein harter bitterer Kampf vollzog sich in dieser starken , edlen Frauenseele . Sie schien wie erlahmt . Müde legte sie ihr Haupt auf die Lehne des Sessels und schloß die Augen . Sie dachte an Fred , wie froh und heiter er wohl heute sein mochte . Doch sie – sie wird jede Gelegenheit meiden , ihn zu sehen , sich ihm zu zeigen . Ob er wohl ein einziges Mal an sie denkt ? Er sagte ihr , daß er sie liebe , weiß denn ein Mann in seinen Jahren , was Liebe , wahre innige Liebe ist ? Und wenn er später diese Liebe bereuen sollte , falls sie an seiner Seite bliebe : er jünger als sie ; er in seiner besten Manneskraft , sie mit weißen Haaren an den Schläfen – was dann ? „ Nein , niemals , Fred , “ rief sie leidenschaftlich erstickter Stimme , „ lieber sterben im Vollgefühl der Vorstellung : wie schön es hätte sein können , wäre er früher geboren ! “
Frau von Ellissen erhob sich und streckte stehend die Hände nach seinem Bilde dort auf ihrem Schreibtisch . Da stand er vor ihr , so wie er ahnungslos
in das Haus ihres Mannes gekommen war . Sie wollte das Bild umarmen , es küssen , sie preßte es an ihr Herz , das so weh tat , so weh ! „ Fred , Fred , “ rief sie mit einem Blick auf das Bild , „ siehst du nicht , welch bitterer Schmerz in meiner Brust wühlt ? Wie elend krank mein Herz ist ? Ja , Fred , ich liebe dich – ich liebe dich ! Aber nie , nie wirst du von mir hören , daß ich dich liebe , ja , liebe , mehr wie alles auf der Welt ! Ich wurde nicht zum Glücke geboren . Dein Weib sein zu können , dich die wahre einzige Liebe lehren zu dürfen , ich darf es nicht , nein – nie ! nie ! Und du , im Glanze deiner Jugend , darfst dich nicht an ein Weib binden , das dir im Alter vorangeht – nein , du sollst wählen , – eine , die jünger , die schöner ist , als ich alte Frau ! Siehst du es nicht ? Oder willst du es nicht sehen ? Höre hier den heiligen Schwur , den ich mir vor deinem Bilde auferlege : Nie , nie werd’ ich die deine ! Nie sollst du von mir hören : Ich liebe dich ! Das ist das heilige Gelübde meiner dreißig Jahre ! “
Plötzlich griff sie an ihr Herz . Seit Monaten litt Frau von Ellissen daran . Nicht genug , daß es sie moralisch mit all den erschütterten Eindrücken gefoltert hatte , schlug es jetzt dumpf in ihrer Brust ,
raubte ihr den Atem und brachte ihr Erstickungsanfälle . Da sie Aether beruhigte , sagte man ihr , es sei „ nervös “ , es „ bedeute nichts “ , und nichts war ihr lieber , als dem zuzustimmen .
Um sich zu zerstreuen , schraubte sie die Lampe höher , schlug zum Schutze ihrer so übermäßig empfindlich gewordenen Augen den Schirm nieder und nahm ein Buch zur Hand . Aber sie fuhr zusammen und warf es ins Feuer .
Welche Manie – dachte sie – haben denn alle diese Frauen , immer das ewige Lied von glücklicher oder unglücklicher Liebe zu wiederholen ! Wie kann man sich so sehr für zumeist ehebrecherische Liebe begeistern ! Dem Kommen und Gehen eines Pärchens nachzuspüren , das sich verfolgt , sich flieht , oder sich trifft , oder , wie hinter einem Vorhang versteckt , seine Gespräche , seine Küsse , belauschen ? Wie schmutzig das alles doch eigentlich ist !
Manchmal , ja , da trifft man einen Autor , der , scheint’s , nur eine Leidenschaft in sein Buch eingeschmuggelt hat , um als Bindeglied oder Lockspeise für den Leser zu dienen , damit er ihm in seiner ernsten Charakter- oder Sittenstudie folge . Da begegnet man Gedanken , bei denen man stehen bleibt , Auseinandersetzungen ,
die klarere , bestimmtere , neuere Ansichten über die entrollten Bilder erwecken . Das gibt ihm eine freudige Erleuchtung , mit deren Hilfe ihm neue , ohne sie unbekannt gebliebene Wahrheiten aufsprießen . Man vergißt leicht das Gerüst des Romans , um an der Entwicklung einer allgemeinen , dem Verfasser eigentümlichen Idee Gefallen zu finden , die sich nach und nach aus den Tatsachen auslößt . Wenn man solch ein Buch aus der Hand legt hat man etwas zu denken .
Aber wie selten sind sie , solche Autoren ! Und gerade von diesen spricht niemand , sie werden weder gerühmt noch empfohlen . Die Buchhändler sagen : „ Dieser Roman geht nicht “ , und in der Gesellschaft wird er nicht gelesen . Den anderen aber bereitet man einen Erfolg , solchen , die dem dummen Klatsch , dem boshaften Geschwätz gleichen , an alle diese blöden Geschichten , die sich die Frauen gegenseitig in die Ohren tuscheln und die geschrieben sind , als hätte man ihnen dabei zugehört . Mein Gott ! Vielleicht werfen sie sich deshalb so gierig auf dieses Futter !
Die Zeit verging ; kurz nach Mitternacht erwachte Frau von Ellissen aus ihren Träumereien . Beim Rollen eines Wagens , der vor ihrem Hause stehen blieb , war sie plötzlich aufgefahren .
„ Schon ? “ sagte sie mit einem Blick auf die Uhr . „ Arme Stella ! sie wollte ihren guten Willen zeigen mit der frühen Heimkehr . “
Sie erhob sich und eilte zur Türe , welche sie weit öffnete . Sie hörte die Stimme eines Mannes auf der Schwelle und trat näher .
„ Ah , Sie sind’s , Herr Deaken ? “ rief Frau von Ellissen verwundert .
„ Ja , “ antwortete dieser , „ gestatten Sie mir , ein Wort mit Ihnen zu sprechen ? “
„ Ja , ja , kommen Sie mit Stella . “
Aber Herr Deaken kam allein ; sein offener Überzieher ließ den Frack und im Knopfloch die weiße Blume sehen . Um seine riesige Glatze von vorne zu verbergen , pflegte er den Kopf hoch zu tragen und seinen noch blonden , langen spitzen Bart vorzustrecken . Selbst beim Grüßen bog er den Hals und hielt die Stirne hoch .
„ Stella ? Aber wo ist Stella ? “ fragte die junge Frau .
„ Ich komme gerade , um Sie zu beruhigen und bin glücklich , gnädige Frau , aus diesem Anlaß bei Ihnen vorsprechen zu dürfen , das heißt … “
„ Gut , gut , aber wo ist Stella ? “
„ Sie sandte mich her , um Ihre Erlaubnis einzuholen , daß sie noch über den Kotillion bleiben darf … “
„ O ! “ sagte Frau von Ellissen , „ sie sprach doch davon , vor dem Kotillion fortgehen zu wollen … “
„ Sie wollte auch , doch mußte sie den Bitten der Frau Werner nachgeben . “
„ Ein schöner Grund ! Sie können es ihr von mir ausrichten : Was man versprochen hat , das hält man ! “
„ Ich glaube , daß Fräulein Stella in der Tat nicht anders konnte . Es ist eine ganze Geschichte . “
„ Wie ? Was gibt’s ? Nehmen Sie doch Platz . “
„ Ein herrlicher Ball , “ fing Herr Deaken an , „ die ganze Stadt ist dort , ein wahnsinniges Gedränge . Der Adel hat sich zahlreich eingefunden . Und das muß man ihm lassen , er versteht’s , sich anzuziehen , sollte ich sagen . “ Und er lachte , entzückt von seinem feinen Witz .
Aber das rote Pantöffelchen , das Frau von Ellissen trug , trommelte auf dem Teppich . Jeder weiß , was das bedeutet , und deshalb beeilte sich Herr Deaken fortzufahren :
„ Sie wissen , daß der junge von Eulenburg … “
„ Wer ist das ? “ fragte Frau von Ellissen .
„ Der seit kurzem neuernannte Generalsekretär der Präfektur . “
„ So . Und ? “
„ Den man den schönen Fernand nennt . “ Hier seufzte Herr Deaken , der ehemals in der ganzen Stadt der „ schöne Franz “ hieß – jetzt nur mehr Herr Deaken . Da ihm aber seine Kleidung und das gedämpfte Licht gut standen , richtete er den Oberleib auf , lächelte fein und wiederholte mit einiger Ironie :
„ Dieser Mann , den man , ich weiß nicht recht warum , den schönen Fernand nennt , wird als Freier des Fräuleins von Werner bezeichnet . “
„ Dieser Fratz ! “ rief die junge Frau .
„ Eigentlich ja . Aber das Alter sagt anders , sie zählt zwanzig Jahre . “
„ Es ist wahr , “ entgegnete sie , indem sie an Stella dachte . „ Wie schnell die Zeit vergeht ! “
„ Wem sagen Sie das , schöne Frau ! “ Herr Deaken seufzte abermals . Indessen vermochte er nicht das banale Kompliment zu unterdrücken : „ Ich begreife , daß Sie es nicht merken , denn niemand , der Sie sieht , glaubt an Ihre dreißig . “ Und er sang den Vers aus Lamartine’s Gedicht „ Le lac “ vor sich hin :
„ Ihr , die die Zeit verschont , ja selbst verjüngt … “
„ Nein , nein , “ widersprach die junge Frau , „ manchmal sehne ich das Ende herbei . “
Dieser Ausspruch tönte wie eine Mahnung an Herrn Deaken’s Ohr . Er ließ seinen Claque vom rechten Knie auf ’s linke gleiten , zog die Manschette hervor und fuhr fort :
„ Kurz heute abend ging man so weit , von Fräulein Alicens Verlobung zu sprechen . Die jungen Leute walzten zusammen , plauderten zusammen . Auch sollten sie den Kotillion vortanzen . “
„ Nun , und …? “
„ Nun , und plötzlich verschwindet Fräulein von Werner , und es geht das Gerücht , daß sie unwohl geworden sei und sich in ihr Zimmer zurückziehen mußte . “
„ War es auch so ? “
„ Ah , das ist ’s eben . Die Damen tuschelten einander hinter den Fächern zu , daß Fräulein Alice einen kleinen Streit mit dem schönen Fernand hatte , infolge – aber , es ist zu dumm , wissen Sie ! “
„ Was denn , so sprechen Sie doch ! “
„ Na – Herr von Eulenburg , der schöne Fernand , hätte mit Fräulein Stella geflirtet . “
„ Stella ! “ rief Frau von Ellissen . „ Waren Sie dabei ? Antworten Sie schnell , was hat Stella …? “
„ Nichts ernstliches . Es ist wahr , Fräulein Stella sah heute ganz entzückend aus , sie war sehr umringt , tanzte fortwährend , aber beinahe immer mit dem schönen Fernand , obgleich die andern Tänzer auf sie warteten . “
„ Es ist entsetzlich ; und konnte Ihre Schwester das nicht verhindern ? “
„ Ja , wissen Sie , das geht schwer . Fräulein Stella tut ja doch nur , was ihr gefällt . “
„ Sie haben recht . Aber gerade da hätte man sie nach Hause bringen sollen . “
„ Meine Schwester war auch empört über das verstohlene Lachen der Damen , in diesen kleinen Städten ist man ja so bissig – es ist aber nur der Neid . “
„ Darum soll man sich vor diesen Menschen hüten , sich ihrem Spott so wenig als möglich preisgeben . “
„ Er aber schien sich darüber nicht zu kränken . Fräulein Stella tanzt gerne Walzer , er ist bekanntlich der beste Tänzer , und so gaben sich beide dem Vergnügen hin und – – auch um die beste Freundin zu kränken . Und Frau Werner ignorirte alles und
bat sogar Fräulein Stella , ihre Tochter zu vertreten und den Kotillion vorzutanzen . “
„ Mit dem Verlobten ihrer Tochter ! “
„ Nein der schöne Fernand hatte sich ins Spielzimmer zurückgezogen . “
„ Und ? “
„ Und – raten Sie ! Fräulein Stella antwortete , sie sei einverstanden , den Kotillion vorzutanzen , aber unter der Bedingung , daß der Baron Seuriet ihr Tänzer sei . “
„ Fred ? “ sagte die junge Frau mit kaum merklichem Beben der Stimme , „ Fred ? Stella weiß doch , daß Fred nicht tanzt , wenigstens nicht gerne tanzt . “
„ Vielleicht bis jetzt nicht . Aber heute hat er sich wie ein Rasender dem Tanze hingegeben . “
„ Er ! “ wiederholte Frau von Ellissen . Ihr starrer Blick schien die Vision dieses unerhörten Ereignisses zu verfolgen : Fred tanzend . Sie suchte sich ihn vorzustellen , wie er sich einladend verbeugte , wie er den Claquehut auf den leeren Sessel seiner Tänzerin legte , wie er den Arm um eine zarte Gestalt schlang und sich in das Gewühl jener Walzer stürzte , deren Rhythmen er so haßte . Es gelang ihr jedoch nicht , sich Fred vorzustellen und sie schüttelte traurig das Haupt :
„ Nicht möglich ! “ sprach sie wiederholt leise vor sich hin .
Herr Deaken versicherte ihr nochmals , daß es wahr sei .
Die junge Frau fuhr fort :
„ Und wenn auch – wie kann er den Kotillion vortanzen ? Das ist ja eine Art Wissenschaft , die er nicht kennt . “
„ Das war auch seine erste Antwort , als Frau von Werner ihn zu Fräulein Stella führte . Aber sie , seinen Arm nehmend , erklärte kategorisch : Das ist meine Sache . Und sie eilten fort , das Nötige zu holen . “
Nun wirbelten die verschiedensten Gedanken durch den Kopf der jungen Frau ; sie konnte das Gehörte kaum glauben . Wie hatte er sich so schnell ändern können ! Seine Ansichten über das Tanzen hatte sie ja noch gestern vernommen ! Und heute – er selbst ein rasender Tänzer ! Ein schmerzlicher Zug legte sich über das Gesicht der jungen Frau und sie seufzte laut auf .
„ Ich versichere Sie , “ erzählte Herr Deaken weiter , „ es steht ihm ganz famos . Während Fraulein Stella mir einen blauen Schmetterling mitten auf das Herz steckte , sagte sie : ‚ Ach , Herr Deaken , eilen Sie doch zu Mama , nein , zu Mira , – wissen Sie , sie ist doch
zu jung für die Anrede Mama – eilen Sie also zu ihr und teilen Sie ihr mit , welche Suppe mir da eingebrockt worden ist , und bitten Sie sie , nicht auf mich zu warten . Sie war so bleich , ich glaube sie ist leidend , die Arme . Sagen Sie ihr , daß ich ihr befehle zu Bett zu gehen , sagen Sie ihr , daß ich mit Fred tanze ‘ ?! “
„ Da wird sie wohl spät nach Hause kommen ? “ fragte Frau von Ellissen .
„ Sicher nicht vor fünf Uhr . “
Frau von Ellissen neigte traurig das Haupt mit dem Ausdruck solcher Müdigkeit , daß Herr Deaken , der seiner nachsichtigen Freundin herzlich zugetan war aufstand und ihr empfahl , ein wenig zu ruhen .
„ Ich werde schlafen gehen , “ erwiderte die junge Frau , und wie gewöhnlich reichte sie zum Abschied Herrn Deaken die Hand , der sie ehrfurchtsvoll an seine Lippen führte .
Frau von Ellissen läutete . Vom Diener gefolgt , zog sich Herr Deaken zurück .
In die Knie gesunken , lag das junge Weib vor ihrem Bett . Sie weinte .
IV . Andern Tages gegen Mittag schlief Stella noch und alles ging auf den Fußspitzen , ihren Schlaf nicht zu stören .
Frau von Ellissen öffnete leise die Türe ihres Zimmers und trat ein . Das Kleid zusammenfassend , schlich sie hinein , schob einen Sessel zurecht , setzte sich an Stellas Bett und schaute das junge Mädchen lange an , das mit losen zerwühlten Haaren , in ein leichtes weißes Batisthemd gehüllt , in tiefem Schlafe lag . In diesem einfachen , mit Kreton überzogenem Bette träumte Stella , das Gesicht rosig , der Mund leise lächelnd . Ihr regelmäßiger Atem entströmte den halbgeöffneten Lippen , die noch Spuren aufgelegten Karmins zeigten , wie auch die Augenwinkel eine feine schwarze Linie , ein von Frau von Ellissen streng untersagtes Herausputzen , das Stella dennoch in Alice Werners Toilettezimmer vorgenommen . Unzufrieden schüttelte die junge Frau das Haupt und nahm sich vor , Stella eine ernste Rüge zu erteilen . Verstimmt ließ sie die Blicke im Zimmer umherschweifen , wo auf einem Stuhl das Schmetterlingskleid zerknittert lag , der Rocksaum voller Staub , der Blumenschmuck
heruntergerissen , die Spitzen und Rüschen abgetreten , die Taille mit Kotillionssträußen geschmückt .
„ Wie schön doch dies Kleid war ! Wie schnell hat es Schönheit und Frische eingebüßt ! Ein Bild des Lebens ! “
Da schlug Stella die Augen auf .
„ Ah , du bist hier ? Guten Morgen , wie geht’s ? O , weißt du , ich bin hin , zerschlagen ! “
„ Ich kann mir’s denken , “ antwortete Mira , beugte sich zum jungen Mädchen hin und strich ihr die Haare aus der Stirne . „ Hast du dich wenigstens gut unterhalten ? “
„ Es geht an , “ antwortete Stella , während der Triumph ihr aus den Augen leuchtete .
„ So spät kamst du zurück . “
„ Ich finde nicht . Die Zeit ist immer zu kurz , wenn man sich unterhält ; nur das Unangenehme hält gewöhnlich länger . “
„ Du sagst dies wegen deiner Freundin Alice ? “
Stella stieß ein helles höhnisches Lachen aus . „ Ach , hat dir Vater Deaken die Geschichte erzählt ? Ich dachte mir Alice nicht als eine so alberne Gans . Arme Alice ! Ich hielt sie für vernünftiger , mehr ins Leben eingeweiht . “
„ Aber Stella , du hättest doch gewiß auch selbst so gehandelt und wärst nicht entzückt gewesen , wenn – “
„ Ich ? Ich hätte mich einfach gerächt , das wäre alles gewesen . Es hätte ihr nicht an Bewerbern gefehlt . “
„ Das wäre das häßliche Spiel einer Kokette , Stella . – Sie ist ja verlobt mit dem jungen Manne . “
„ Na , und ? Sie wird sich doch nicht einbilden , daß sie die einzige sein und bleiben wird ! Ha ! Ich hoffe , sie denkt nicht so , denn wenn sie so dächte , wäre es besser , sie heiratete Fernand nicht , Übrigens ist es ganz gleich , Fernand oder ein anderer , alle sind sie eines Schlags . Geh , ich geb’ auf Männertreue doch nichts – aber ich , ich werde auch keine Treue halten . “
„ Du bist aber für dein Alter sehr gut unterrichtet , Stella , deine Ansichten stimmen mich nachdenklich . Ich kann es doch nicht glauben , daß du bei solcher Gesinnung dich zu verheiraten gedenkst . “
Stella erwiderte lebhaft :
„ Ach , es ist ja wahr , ich hab’ mit dir zu sprechen , liebstes , teuerstes , reizendes Stiefmütterchen . “ Sie erhob sich , sprang aus dem Bett und setzte sich mit den Füßen baumelnd auf dessen Rand . Ihr langes , am Halse rund ausgeschnittenes Nachthemd bedeckte
sie bis über die Füße , und wäre nicht der beunruhigende Ausdruck ihres unregelmäßigen Gesichts gewesen , mit seinen nach den Schläfen gezogenen Spitzbubenaugen , so hätte sie in ihrer keuschen Verhüllung und dem blonden Heiligenschein ihres gekrausten Haares einem der naiven Engelchen geglichen , denen Fra Angelico hinter den Armen Flügel ansetzte .
„ Erzähle mir doch , was du heute nacht erlebt hast ? Ist deine Toilette bewundert worden ? Waren viele schöner als du ? “
Stella lächelte und zuckte leise mit den Achseln :
„ Ach , es waren so viele Menschen ! Du weißt , ich kümmere mich nicht um andere , ich sehe nur was mich interessiert . Die Patronesse war sehr zuvorkommend , nur zu viel mit Diamanten beladen . Sie meint aber , die Leute sollen nur wissen , wie reich man ist . Alice war sehr hübsch , aber zu tief dekolletiert . “
„ Ah – “
„ Ja : es erregte im Clan der Mütter unliebsames Aufsehen , besonders bei jenen , die gezwungen sind , das fleischlose Gerippe ihrer antiquierten Sprossen schamhaft zu verhüllen .
Die wohlgeborenen Töchter waren im allgemeinen gut herausgeputzt mit etwas gewollter Einfachheit , als wenn es sich um eine bedeutungslose Gesellschaft bei Personen handelte , die man nicht beleidigen will . Trotzdem mit Cachè . Diese Leute haben Geschmack . Die Rüdens zum Beispiel , mit ihrer Bonbonfabrik , machten ihrem Hause Ehre . Die Mutter spazierte herum , – viel zu viel , nebenbei gesagt – mit einer riesiglangen Schleppe , einer Schleppe wie ein Mantel , sehr fein mit Gold gestickt . “
„ Und die Mädchen ? “
„ Die Zwillinge ? Die waren sehr schick , trotz ihrer runden Schultern und schiefen Nasen . Freilich nicht ihre Schuld , die Armen ! Sie werden ohne jeden Sport erzogen . Frau Rüden sagt nur immer : ‚ Die Erziehung , die ich meinen Töchtern gebe , ist die wahre , die einen Mann fesselt und glücklich macht‘ . Zum Glück kann sie ihnen auch eine hübsche Mitgift geben , es wird sich immer jemand finden , der das Geld mit den Mädchen nimmt , “ meinte Stella spöttisch , „ wie ? Ach ja , zur Sache , ich – ich – “
„ Haben die jungen Rüdens viel getanzt ? “ fragte Frau von Ellissen , Stella’s letzten Worten keine Achtung schenkend .
„ O ja . Warum auch nicht ? Mich ließen die Mitgiftjäger in Ruhe . “
„ Ja , aber die andern , “ sagte lächelnd die junge Frau .
Diesmal gab Stella keine Antwort .
„ Sag , mein Liebstes , meine herzige Mira , “ sprach Stella zärtlich , „ wäre es sehr neugierig , wenn ich dich nach der Höhe meiner Mitgift fragte ? “
„ Ich … ich weiß es nicht , “ sagte Frau von Ellissen nachlässig , „ wieviel dir dein Vater zugedacht hat . Wir werden sehen – Herr Palm wird es schon ausrechnen , wenn es Zeit sein wird . “
„ Wenn es Zeit sein wird ? Ich glaube , es wäre Zeit , daß du es wissen solltest . Papa ließ doch dir das Recht , sie zu bestimmen , und wenn du dich dafür interessiertest … “
„ Ich werde deine ernsten Bewerber zu Herrn Palm senden , “ antwortete etwas ärgerlich die junge Frau .
„ Und ich , muß ich auch zu Herrn Palm gehen , um es zu erfahren ? “
„ Wozu brauchst du es zu erfahren ? “
„ Um meine Ansprüche feststellen zu können , ganz einfach aus diesem Grund ; daß ich meine Wahl nicht
auf einen zu reichen oder zu armen jungen Mann lenke , darum muß ich es wissen , daß ich dir keinen Unrechten vorstelle , sondern einen der dir paßt . “
„ Ich habe dir schon gesagt , Stella , ich wünsche nicht , daß du dich auf solche Weise verheiratest . “
„ Ach , weißt du , Mira , das überlasse mir ; ich habe meine Angel ausgeworfen , es kommt nur noch auf den richtigen „ Biß “ an . “
„ Aber Stella , lerne doch zuerst deine Gefühle kennen . Ich will dir gewiß dein Glück gönnen , worauf du volles Anrecht hast . Aber gerade darum muß ich dir die Pflicht auferlegen , an den Ernst eines solchen Schrittes zu denken … “
„ Du willst mich auf deine Weise glücklich sehen , es ist dies aber ganz und gar nicht mein Wunsch . Wir sind von völlig anderer Denkungsart . “
„ Darum fürchte ich , Stella , daß du voreilig handelst . Deines Vaters letzte Worte an mich waren : Ich weiß Stella’s Leben , Stella’s Glück in deiner Hand geborgen ! “
“ Danke , Mira , ich kenne dich ; aber es läßt sich doch nicht dagegen ankämpfen , ich werde auf der Hut sein . Ich sehe nur , daß die Heiratsfrage dir unheimlich ist , was ich nicht verstehe . Du selbst
solltest doch dein Leben nicht ohne einen Mann verbringen . Siehst du denn nicht , wie schön , wie begehrenswert du bist ? “
„ O , Stella , laß das , sprich nicht von mir , ich bin ja dreißig Jahre alt und habe eine so große Tochter , wie dich ! “
„ Ja , die man dir auf den Hals geladen hat ; danke für solche Mutterpflichten , und alles , was drum und dran hängt . “
„ Du denkst nicht so , wie du sollst , Stella . “
„ Das heißt , du fürchtest , daß ich eine schlechte Wahl treffen werde ? “
„ Die du bald bereuen könntest , “ erwiderte Mira .
„ Und wozu gibt ’s die Scheidung ? “
„ Siehst du ? Wie soll mir da nicht bange werden ? Es ist nicht nur meine Pflicht , als Frau deines Vaters , dich so viel als möglich vor einem solchen Leben zu bewahren , ich bin auch zugleich deine beste Freundin , Stella , ich kann dich nicht ruhig anhören . Ich befehle dir , dich darüber zu beruhigen und nicht weiter nachzudenken . “
„ Aber du bist doch auch der Meinung , daß ich einmal heirate und zwar bald – einen mit blondem
oder braunem Schnurbart – geh , laß nur , ich hab’ schon einen ! “
„ Wen hast du ? “ fragte Frau von Ellissen beinahe neugierig .
„ Meinen Auserwählten , meinen Erkorenen ! Lassen wir ’s – denn du erbarmst mir , wenn ich dich so zitternd , so erregt sehe über das , was du von mir hören wirst . Schau mich doch nicht mit so verstörten Augen an , Mira , Mütterchen . Was würdest du sagen , wenn ich dir jemand vorstellte , der dir der idealste Schwiegersohn wäre , den du dir nur träumen könntest , ein ganz unfehlbares Wesen , das völlig meinen Ideen entspricht und alle Eigenschaft besitzt , die ein Ehemann haben soll , der mir paßt ; einen Mann von Namen , von Zukunft und noch andern Eigenschaften , die ich dir erst später enthüllen werde . Würdest du mich für verrückt halten , wenn ich dir sage , daß ich ihn an der Angel halte ? “
Frau von Ellissen hielt ihre Hände krampfhaft gefaltet , sie wollte nicht hören , nicht verstehen , ein kalter Schauer überlief sie . Sie schwieg .
„ Warum antwortest du mir nicht – he ? “
„ Weil ich nachdenke , wer – wen – ich warte darauf , den Namen von dir zu hören . “
„ Kennst du einen zweiten , der so sein könnte ? Nein , er steht allein da , es ist dein Schützling , der Baron Fred Seuriet , ja , dein lieber Fred , den du leitest , den du beschütztest . Fred ist es – Fred ! “ rief das junge Mädchen aus .
Frau von Ellissen schien bleich wie eine Tote , ein leises „ O ! “ kam über ihre fahl gewordenen Lippen .
„ So sag doch . Er paßt dir nicht ? Trau dich doch , es zu sagen , du , die ihn für den Besten hältst . “
„ Wie , “ sprach Frau von Ellissen und ihre Stimme bebte , „ wie kannst du jemanden lieben , der der größte Gegensatz zu deinem Charakter ist ? “
„ Habe ich dir denn gesagt , daß ich ihn liebe ? “ fragte Stella etwas nervös und verblüfft von dieser Meinung .
„ Wie , du willst ihn heiraten und du liebst ihn nicht einmal ? “ fragte Mira entsetzt .
„ Ich habe ihn mir gewählt und damit fertig . “
„ Hat Fred dir von Liebe gesprochen ? Sicher nicht , das glaube ich nicht , “ entgegnete die junge Frau in entschiedenem Tone .
„ Nein , niemals , “ antwortete Stella .
Frau von Ellissen’s Augen glänzten , sie atmete wie erleichtert auf .
„ Also , er liebt dich nicht , du liebst ihn nicht , warum willst du gerade ihn zur Erfüllung dieser Phantasie ? “
„ Das ist ganz einfach , meine Liebe . Es paßt mir , ihn zu meinem Manne zu machen , und ich bin doch für ihn eine Partie , eine gute Partie . Fred hat ja keine Liason , nicht einmal einen Flirt konnte man bei ihm bemerken – so glaube ich kaum , daß er mich ablehnen wird . Du hast ihm sein Leben gerettet , du hast sein Talent erweckt ; du hast ihn zu dem großen Manne gemacht , der er binnen kurzem sein wird ; du hast ihm Manieren beigebracht , du hast aus ihm eben das gemacht , was er heute ist . An dem Tag , an dem du ihm sagen wirst : ‚ Stella will Sie , ich gebe Ihnen Stella ,‘ wird er dir die Hand küssen und alles ist gemacht . “
„ Wenn mir aber Fred antwortet , daß er – er sich nicht verheiraten will , auch nicht mit dir ? “
„ Na , das möcht’ ich hören , “ rief das junge Mädchen gereizt .
Stella hatte ihre Füße zur Erde gleiten lassen ; hochaufgerichtet stand sie da , den hinter dem feinen
Batist sich abzeichnenden Körper stolz nach rückwärts gebogen . Sie schlang die entblößten Arme um den schlanken Nacken unter dem aufgelösten Haar und lachte herausfordernd im Glanze ihrer Anmut , die sie für unwiderstehlich hielt . Eine neue Verneinung erstarb auf Frau von Ellissen’s blassen Lippen . Sie blickte auf das junge Mädchen , wie auf ein fremdes Weib und entdeckte , daß es mit allen verführerischen Reizen des Körpers ausgestattet war , geeignet , die sehnsüchtigen Wünsche eines Mannes zu erwecken , der , wie Fred , bis dahin die Freuden der Liebe nicht kennen gelernt .
Sie erinnerte sich der letzten Bestürmungen , die sie hatte erdulden müssen , des Geständnisses seiner heimlichen Leiden , und wie er erklärte , unmöglich länger nur bei der idealen Nahrung ihrer engelhaften Freundschaft leben zu können . Hatte sie ihm nicht gesagt , daß er eines Tages die Braut finden würde , deren triumphierende Jugend ihn über den unvermeidlichen Schmerz ihrer Weigerung trösten werde ? Immerhin , indem sie so gesprochen , hatte sie keine Angst empfunden , da sie sich mit der tiefen Liebe geliebt wußte , die sie in Freds Jünglingsherz entfacht .
Jetzt aber stand Stella vor ihr , von vorne herein siegreich durch die Macht ihrer Reize und die Zähigkeit ihres herrischen Willens . Sollte denn die grausame Stunde schon so nahe sein ? Nun erklärte sie sich den schmerzlichen Schauder ihres Herzens , daß wohl den furchtbaren Schlag geahnt , der es treffen , ja vielleicht gar brechen sollte ? Die junge Frau wagte nicht , die Hände an ihre Kehle zu heben , die ein plötzliches Erstickungsgefühl verkrampfte ; ihre Niederlage fühlend , bewachte sie sich mit der heroischen keuschen Kraft des liebenden Weibes , das zugleich Mutterpflichten trägt und – dreißig Jahre alt ist . Sie hat nicht mehr das Recht , ihre Liebe einzugestehen . Kein Wort kam über ihre Lippen . Wenn Stella ihr wenigstens eine noch so kindische Liebe für Fred gestanden hätte ! Gewiß hätte sie , die Opferfreudige , die Bitterkeit der Entsagung gern auf sich genommen , und trotzdem kam ihr ein Trost aus dem unverfrorenen Geständnis des jungen Mädchens . Kam es ihr unter diesen Umständen zu , Fred zu einer Verbindung zu nötigen , die Stella nur in einer hochmütigen Laune wünschte ?
Sie wandte den Blick von dem jungen Mädchen ab , daß jetzt spielend seinen geschmeidigen Körper
nach rückwärts bog , um ihre rosige Ferse mit den Spitzen ihrer blonden Haare zu streicheln . Dann sprach sie mit ungewohnter Festigkeit :
„ Was du von mir verlangst , Stella , fällt mir schwer und gegen mein Gewissen kann ich nicht handeln . So weit kann ich dir nicht nachgeben , daß ich meinen Willen gerade demjenigen aufzwinge , der mir alles dankt und sich mir gegenüber vielleicht zu blindem Gehorsam verpflichtet glaubt . Ich denke übrigens , daß dein Stolz mit solch einer Zustimmung kaum zufrieden wäre . Du bist es wert , geliebt , begehrt , und nicht blos geduldet zu werden . “
„ Ich danke dir , “ sagte Stella ironisch und in kühlem Tone . „ Aber du vergißt , daß Freds Vermögensverhältnisse ihn hindern könnten , die Augen zu mir zu erheben , und daß es unter diesen Umständen an dir ist , mich ihm anzutragen . Und ich bin ganz überrascht , daß du dir das nicht schon lange gedacht hast . Ich gestehe , ich bin ganz erstaunt über dich . Wie ! Dieser junge Mann , der seit zehn Jahren in unserem Hause verkehrt und fast sein ganzes Leben bei uns zugebracht hat , dem du so zugetan bist … Ist es nicht natürlich , daß du trachtest , deine beiden Schützlinge miteinander zu verbinden ? Ich gab mich
der Uberzeugung hin , daß dies von der ersten Minute an deine Idee war , als du uns beide um dich hattest , und jetzt machst du eine Miene , die mir ganz das Gegenteil beweist . Hältst du ihn vielleicht nicht für reich genug ? “
„ Du weißt , daß ich wenig Wert auf Geld lege , “ erwiderte Frau von Ellissen .
„ Oder hältst du mich nicht für würdig , dieses Genie zu besitzen ? “ fügte das junge Mädchen schnippisch hinzu .
„ Einander würdig sind jene , die sich treu genug lieben , daß sie sich ewig angehören wollen ! “ sagte die junge Frau schwer atmend .
„ Ich bitte dich , Mira , keine Sentimentalitäten , das geht mir auf die Nerven . Das alles sind nur Worte – nichts als Worte . Liebe ! Das ist ja recht schön , aber in den ernsten Lagen des Lebens darf man nicht darauf rechnen . “
„ Und die Liebe ist doch das Leben selbst ! “
Stella zuckte die Achseln .
„ Sie ist ein amüsanter Teil seiner Ausstattung , mehr nicht . Blick nur um dich und sieh’ das herrliche Dasein verliebter Frauen : du wirst nur Tränen , Tragödien , nur blöde oder wilde Eifersucht sehen .
Ah , wenn man mir mit der großen Leidenschaft kommt ! Nein , wahrhaftig , das ist zu läppisch ! Was ich will , ist ein Mann , der mir Ehre macht . Das ist das erste … “
„ Welche Eitelkeit ! “
„ Richtig : das ist das gescheiteste der Todsünden . Und weiter soll er nicht ein Vieh sein , ich meine , nicht einer , der von seinen Mannesrechten durchdrungen ist , mich seinem Willen unterwerfen und den meinigen unterdrücken will . Mit einem solchen ging ’s schief , das sag ich im voraus . Nun , der kleine Fred ist die Sanftmut in Person . Wenn man ihn nur nicht bei seinem Komponieren stört , so schert er sich den Teufel um’s übrige . Daher bin ich an seiner Seite , der unbegrenzten Freiheit meines Tuns gewiß . Sein Charakter bietet mir Sicherheit gegen innere Kämpfe und Vorwürfe , diesem Zeitvertreib der besten Ehen . Außerdem wird mir seine Stellung einen bedeutenden Einfluß in der Gesellschaft sichern , und ich liebe , die anderen zu beherrschen . Wenn ich noch hinzufüge , daß seine persönlichen Vorzüge den Neid der andern Frauen erwecken werden , so wird meine kleine Eitelkeit , wie du’s zu nennen beliebst , auf dem Gipfel ihrer Wünsche sein . Wenn ich somit alles
wohl erwäge , fällt meine Wahl auf ihn . Ich bin entschlossen . Übrigens , um dich über unsere gegenseitige Sympathie zu beruhigen , kann ich dir sagen , daß er mir gestern abend in einem ganz neuen Lichte erschienen ist , welches ihm nicht geschadet hat – im Gegenteil ! “
„ Weil er tanzte ! “ warf die junge Frau ein .
„ Nicht darum allein , “ entgegnete Stella , indem sie ihre spitzbübigen Augen halb schloß , „ nein , weil er zu tanzen versteht ! Wenn er aus seiner Ruhe erwacht , dieser Schelm , entdeckt man erst seine Leidenschaftlichkeit . Wie er bei all den Kotilliontouren so mit mir dahinflog , entfaltete er eine seltene Eleganz . Nein , weißt du , er gefällt mir wirklich ! Nein , nein , ohne Spaß ! “
Die Augenlider der jungen Frau zuckten , sie fühlte ihre Kraft weichen , und ihrer selbst nicht mehr mächtig , sank sie in den Lehnstuhl . Sie wollte fliehen , fort , weit fort , vor dem grausamen Martyrium , das ihrer harrte .
„ Aber sag’ , was ist dir ? “ fragte Stella .
„ Zieh ’ dich schnell an , “ entgegnete Frau von Ellissen , „ mir ist nichts . “
„ Du hast recht , “ rief Stella aufspringend , „ ich will mich heute recht schön machen . Schau ich nicht ganz übernächtig aus ? Nein ? “
Sie blieb vor einem Spiegel stehen , schnitt Fratzen , nahm erschrockene Mienen an und lachte sich schließlich ins Gesicht . Und mit einer plötzlichen Wendung zu Frau von Ellissen .
„ Ich übe mich in meiner Haltung als Braut . Hier meine Verbeugung . “
Sie fasste mit beiden Händen ihr Nachthemd , zog es auseinander und verneigte sich feierlich .
Da Frau von Ellissen nicht lachte , wandte sich Stella ab und trippelte ernsthaft mit bloßen Füßen in ihr Toilettezimmer , dessen Tür sie hinter sich mit kurzem Schlag zuwarf . Aber sie öffnete sie sofort wieder , steckte den Kopf heraus und sagte :
„ Weißt du , Mira , heute kann man dich nicht mal mit der Zange angreifen . “ Bums , schlug die Türe wieder zu , aber ohne sie ganz zu schließen und legte das Auge an die Spalte .
Frau von Ellissen , befreit , da sie sich allein glaubte , strich mit ihrer weißen Hand über die Augen und legte sie dann auf’s Herz , worin alles Blut zusammenströmte .
Dann erhob sie sich ganz gebrochen und schleppte sich mühsam in ihr Zimmer .
Jetzt erst schloß Stella die Türe , schüttelte den Kopf und dachte :
„ Die Arme – muß mich hergeben ! Bah , sie wird sich schon gewöhnen und noch glücklich darüber sein ! Und dann , geben ! geben ! Sie wird gar nichts geben . Ist das ein Ausdruck ! Was man sich um uns scheren wird , in hundert oder zweihundert Jahren ! “
V . Das heraufkommende Osterfest wurde dies Jahr in der Fabrikstadt besonders schön gefeiert . Die Fastenpredigten waren von einem geistig hochstehenden Dominikaner , dem Pater Patry , gehalten worden und hatten die Gesellschaft zu ungewohntem Nachdenken erhoben . Die ersten Predigten hatten sogar eine gewisse Verblüffung im Gefolge , denn nur die wenigen gebildeten Geister waren fähig , die Unterweisung des gelehrten Dominikaner richtig zu würdigen . Während er in der Großstadt schon eine ziemlich zahlreiche und
auserlesene , mit den Theorien einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie vertraute Zuhörerschaft um sich geschart hatte , war er in dieser Provinz auf Unwissenheit und Gleichgültigkeit gegen seine tiefen Probleme gestoßen . Er hatte eine Art von Dezentralisation des modernen Religionsunterrichtes versucht , in der Hoffnung , in dieser , aus den verschiedensten Kreisen stammenden Zuhörerschaft , genug geistig hochstehende Elemente zu finden , die sich zu einem festen Kern zusammenschließen ließen , fähig , den Keim seiner Lehre zu empfangen und weiterzutragen .
Seine Predigten bewegten sich nicht im Buchstaben , sondern im Geiste des Dogmas . Seine Lieblingsgleichnisse waren dem Wortschatz der Wissenschaften entnommen , seine Rede endete in lyrischem Schwung , dessen Poesie der Mehrzahl verständlich war .
Obgleich die Geistlichkeit diese ungewohnte Art zu predigen kühl aufnahm , oder vielleicht gerade aus diesem Grunde , gewann Pater Patry schnell die Sympathien der Männer . Zuerst scharten sie sich aus Neugierde um seine Kanzel , dann kamen sie aus Interesse eifrig wieder . Bei den Frauen wäre er beinahe gescheitert infolge jenes umgekehrten Snobismus , der den Provinzlerinnen eigen zu sein pflegt .
Sie mißtrauen verächtlich allem und jedem , dessen Ruf und Glanz schon fertig aus der Hauptstadt , der viel beneideten und viel verlästerten , zu ihnen dringt .
Der rückständige Geist der Provinz entspringt diesem angeborenen Gefühl , das wohl nichts sein mag , als der instinktive Widerstand gegen die Zentralisation der Intelligenz , – die Abwehr gegen die Vermischung der individuellen Eigenheiten verschiedener Rassen , – endlich die stolze Wahrung des Rechtes , den Gefühlen nach der Überlieferung der eigenen Heimat Ausdruck zu geben .
So waren die Frauen anfänglich zurückhaltend , da sie ihre Inkompetenz nicht eingestehen wollten . Indes erwachte in ihnen der Wetteifer , den Prediger zu verstehen . Und endlich gewonnen durch einige von ihnen selbst , Großstädterinnen , litterarisch Gebildete , – auch durch die Begeisterung der Männer – stürzten sie sich in einem wahren Kampf auf die dem Prediger zunächststehenden Stühle , ganz aufgewirbelt durch die auserlesene Zerstreuung , die das tödliche Einerlei ihres Daseins unterbrach .
Das geistige Leben ist in der Provinz beinahe erstorben , obwohl man bei entsprechendem Bemühen
genug Elemente finden könnte , um geistige Bildung zu unterhalten und zu entwickeln .
Es scheint aber , daß sich die Provinz nicht zur Ausübung ihrer Kräfte und Wahrung ihrer Autonomie aufraffen kann : sie siecht dahin , sie welkt , sie vergißt und wird von den andern vergessen , sie liegt in einem Schlummer , der einer gewissen Annehmlichkeit nicht entbehrt , aber freudlos ist .
Die Gesellschaft blickte mit einigem Stolz auf den wachsenden Ruhm des jungen Komponisten Seuriet , wenn auch nicht ohne eine gewisse Eifersucht . Aus Furcht , durch eine zu lebhafte Äußerung ihrer Begeisterung die eigene Unwissenheit in schmerzlicher Weise bloßzustellen , geizte sie eher mit dem Ausdruck ihres Beifalls , als der junge Mann in der Karwoche sein stolzes Talent offenbarte . Er aber konnte sich trösten . Außer seinen nahen Freunden , deren Freude sich in vielleicht überschwenglichen Ausdrücken äußerte , war er vom Erfolg beglückt , den er bei einigen schon anerkannten jungen Komponisten und bei mehreren Kritikern fand . Eine Anzahl seiner Musikstücke , die kürzlich in den großen Konzerten von Lamoureux und bei Colonne gespielt worden waren , hatten dieselben so sehr gepackt , daß sie die Mühe nicht scheuten , zur
bisher vollständigsten Aufführung seiner geistlichen Musik in die Provinz zu reisen .
Man redete ihm zu , sich mit einem seiner in der stillen ländlichen Zurückgezogenheit ausgereiften Werke kühn auf einer lyrischen Bühne der Hauptstadt vorzustellen .
Am Schlusse der großen Woche sah sich Fred allein ; sein Fieber war vergangen und er blieb geschwächt , weil er an das bewegte Leben der jungen Künstler in der Hauptstadt nicht gewohnt war . Er fühlte sich völlig zerschlagen , sogar entmutigt , weil er entdeckte , daß er zu schwach sei , nicht nur zum Kampfe , sondern auch zum Streben .
Diese Krise hatte indessen seinem Herzen sozusagen Erholung gebracht . Ohne die Qual seiner Liebesenttäuschung zu vergessen , hatte er weniger unter ihr gelitten . Sein Verkehr in Frau von Ellissens Haus war notwendigerweise eingeschränkt , sein Alleinsein mit Mira oder Stella hatte beinahe ganz aufgehört . In diesen Tagen hatten sie alle wie in einem Wirbel von neuen und darum beruhigenden Sensationen gelebt .
Die Stille brachte aber die gewohnten Zusammenkünfte wieder und die Leidenschaft trat in ihre Rechte , umso heftiger , als sie beinahe ganz unterdrückt gewesen war .
Frau von Ellissens physische Leiden hatten ihre Schönheit noch erhöht , die Blässe stand ihr gut , die Leute fanden sie anziehender als je .
Als Fred sie so wiedersah , war er geblendet und seine Begierde flammte neu auf . Auf ihren Spaziergängen im Park verfolgte er sie und suchte sie beharrlich allein zu treffen . Die wenigen Minuten aber , die er mit ihr zubringen konnte , wurden immer seltener , sei es , daß sie ihm auswich , sei es , daß Stellas ständige Gegenwart ein natürliches Hindernis bildete .
Wenn es ihm gelang , sie ohne Zeugen zu sprechen , hielt Frau von Ellissens beinahe schmerzliche Verwirrung den Ausbruch seiner Klagen hintan . Fred ’s Erregung stieg auf einen solchen Grad , daß er eines Abends vor ihr und vor Stella erklärte , daß er an einem Kummer sterben würde , der seine Kräfte überstiege , daß sein Wille ganz dahinschwände und daß man eines schönen Tages erfahren würde , er habe die Flucht ergriffen .
„ Und wohin würden Sie gehen ? “ fragte Stella .
„ Überallhin und nirgends , “ erwiderte er finster .
Und als Fred sich entfernt hatte , ohne daß die eine noch die andere auch nur die Hand ausgestreckt
hätte , ihn zurückzuhalten , stellte sich Stella vor Frau von Ellissen auf und sagte hart :
„ Wahrhaftig , Mira , ich erkenne ihn nicht mehr , du brauchst nur ein Wort zu sagen , um ihn zum glücklichsten der Sterblichen zu machen und du sitzest , mit einer mir unerklärlichen Grausamkeit stumm da . “
Mira wußte wohl , daß sie nur ein Wort zu sagen hätte , aber ein Wort , das Stella nicht kennen durfte und das sie nie aussprechen würde . Nein , nie und nimmer ! Besonders jetzt nicht . Ach , warum hatte sie es nicht früher gesprochen , dachte sie in plötzlich aufsteigender Leidenschaft , gesprochen , bevor Stella’s launische Wahl auf den Mann gefallen war , der sie selbst mit allen Fasern seines Herzens und seines Leibes liebte . Allein es war zu spät . Die Gabe oder Hingabe ihrer selbst wäre nur eine Schmach . Es blieb ihr nur übrig , den endgültigen Verzicht auf ihn auszusprechen . Sie suchte sich den Mut dazu einzuflößen und rief übermenschliche Hilfe an , die ihr nicht gewährt wurde . Gewiß , sie wußte , daß sie ihre Pflicht tun würde , aber woher würde sie die Kraft nehmen , sie zu erfüllen , ohne daß eine Schwäche ihr Märtyrertum verriet ?
„ Du willst also mit Fred nicht sprechen ? “ wiederholte Stella , deren Zorn wuchs . „ Nun gut ! Klage nur dich an , wenn ich etwas nach euren Gebräuchen Unpassendes begehe – . Ich werde selbst mit ihm reden ! “
„ Ich verbiete es dir , “ rief Frau von Ellissen .
„ Und ich verteidige mein Recht auf Glück , “ entgegnete das junge Mädchen .
„ Stella , nimm dich in acht . Denk doch erst darüber nach . “
„ Ganz richtig ! damit mir ihn eine andere wegnimmt , oder er sich eine Kugel vor den Kopf schießt . Du hörst doch , daß er fortwill ! Ich werde großmütiger sein als du und ich werde mich selbst anbieten . Finde dich drein . “
Dann drehte sie sich frech um sich selbst und ging ohne ein Wort in ihr Zimmer .
Es gab kein Zögern mehr . Gut , sie würde es ihm hinwerfen , das elende zerrissene Herz . Aber vor den schrecklichen Worten , die sie dem in sie verliebten Fred zu sagen hatte , versagten ihr die Gedanken ; ihr Körper sträubte sich , sobald sie den entsetzlichen , entwaffnenden Schwindel nahen fühlte , der jeden Widerstand gegen die Tränen dessen , den man liebt und der einen begehrt , lähmt .
Sie bebte vor Entsetzen , wenn sie sich vorstellte , daß sie Fred schwach finden könnte , und sie verwarf einen Plan , der zu dieser ärgsten aller Gefahren führen könnte . Wenn sie sich die geöffneten Arme des weinenden Fred vorstellte , kam ihr die Sache unmöglich vor . Sie konnte nicht glauben , daß Fred auf eine Heirat mit Stella eingehen würde , obgleich sie sich gestehen mußte , daß ihn ihr entschieden ausgesprochener Wunsch zu diesem Entschlusse wohl bringen würde .
Ihre Gedanken webten , wirbelten , flohen und klammerten sich an die Unmöglichkeit , wie an Rettungsanker , die plötzlich nachgeben , gekappt durch die offen zu Tage liegende Pflicht . Und sie rieb sich auf in diesen schrecklichen Kämpfen und über die traurige Wahrnehmung , daß sie angesichts der Tat so arm an Energie , so kindisch furchtsam war . Sie fand keine Stütze in einer unbeugsamen praktischen , auf gründlichem Denken aufgebauten Logik . Waffenlos setzte sie sich dem Kampfe aus , willenlos opferte sie sich , im natürlichen Instinkt einer rückhaltlosen Hingebung . Ihr schwacher Wille ließ sie regungslos in der erschreckten Stellung eines untätigen Tieres , das sich erschlagen läßt , ohne auch nur zu versuchen , sich
dem Martertod zu entziehen , sondern sich darauf beschränkt , seine Henker mit seinen tiefen klagenden Augen anzusehen .
Das Geräusch eines fallenden Stuhls weckte sie aus ihrem Brüten . Gewiß wachte Stella noch , gereizt wie sie war , und morgen würde sie , Auge in Auge mit ihr , mit ihren schrecklichen hartnäckigen Blicken in der Seele wühlen . Indem sie sich die Haltung des jungen Mädchens vorstellte , fragte sie sich mit noch größerer Angst , was geschehen würde , wenn Fred , auf irgend eine Weise befragt , mit einer Weigerung antwortete . Es war doch möglich . Würde ihm Stella diese Schlappe verzeihen ? Es war kaum wahrscheinlich . Und dennoch ? Nun keimte der etwas feige Gedanke in ihr , sich der ganzen Verantwortung zu entziehen . Sie war ja nicht verpflichtet den jungen Mann selbst auszuforschen , irgend ein anderer konnte das übernehmen . Wäre dies nicht auch für alle am passendsten ? Dieser Gedanke erleichterte sie , sie wurde ruhiger , kampfesmutiger . Lange brauchte sie nicht zu suchen .
Die Deaken’s waren am passendsten für diesen Schritt . Franz hatte sich an ihrem Werk beteiligt , so mußte er natürlich auch an Fred’s Zukunft Anteil
nehmen . Könnte er ihm beibringen , daß er autorisiert sei , ihm Stella anzubieten ? Man würde sehen ! Frau von Ellissen wollte sich ’s nicht selbst gestehen , daß sie aus dieser Kombination neue Hoffnung schöpfte . Beglückt diese Auskunft gefunden zu haben , erhob sie sich und ging in Stellas Zimmer . Als diese sie eintreten sah , schloß sie die Augen und stellte sich schlafend . Aber unter den Küssen , die ihre Stirne streiften , enthüllte sie ihre ironischen Blicke .
„ Warum weckst du mich auf , warum störst du meine Träume ? “
„ Nein , du Böse , “ sprach die junge Frau leise , „ im Gegenteil , damit du ruhig schläfst , ohne Ärger und ohne Zwietracht . – “
„ Du willst also mit Fred sprechen ? “
„ In einigen , in ganz wenig Tagen , wirst du seine Antwort haben . “
„ Also bald die Hochzeit . “ Stella beugte sich vor , um Mira zu küssen .
„ Wir werden sehen , ich hoffe … “ erwiderte Mira .
„ Du zweifelst ? “
„ Ich weiß nicht , wenn er … “
„ Wenn er mich ausschlägt , mich nicht will , meinst du , wie ? “
„ Denke doch daran , wie er über die Ehe spricht ! Nur die , die er wirklich liebt , und die ihn liebt , will er zur Frau nehmen . “
„ Ach , das sind leere Worte , leeres Gewäsch interessanter junger Leute . Wenn sie aber die Richtige treffen , dann sagt doch keiner nein . – Übrigens umbringen würde ich mich deswegen nicht , davon kannst du überzeugt sein . Wenn Fred mich nicht will , ist er einfach ein Esel , und es würde mir nicht schwer fallen , mich zu trösten – und ihn zu ersetzen . “
„ Wie , du hast einen andern auch ? Du hast einen in der Reserve ? “ murmelte Frau von Ellissen .
„ Ah ! hältst du mich für so dumm , daß ich alle meine Hoffnungen auf den einen setze , alle Nummern in einen Sack werfe ? O nein , wenn es mit dem einen fehlschlägt , gehts eben mit dem andern , der auch nicht zu verachten ist . “
„ Wer ist’s ? “
„ Du bist zu neugierig . “
„ Sag ’ schnell ! “
„ Wenn es dich amüsiert , meinetwegen . Es ist Fernand von Eulenburg . “
„ Wie , “ rief die junge Frau . „ Der Verlobte deiner Freundin Alice ! Bist du bei Sinnen – Stella ! “
„ Ein bißchen verrückt , aber sehr wenig , “ erwiderte schelmisch das junge Mädchen . „ Fernand heiratet Alice einzig und allein ihres Geldes wegen , ich weiß es . Wenn ich ihn wollte , bin ich sicher , daß ich ihn gleich hätte und Alice wäre durchgefallen . Eigentlich wäre es ganz amüsant , ihr einen solchen Streich zu spielen . “
„ Stella ! Du könntest ihr ruhig den Verlobten wegnehmen ? “
„ Die Freundschaft , Mira , ist wie die Liebe : eine kleine Zerstreuung , die mit den ernsten Lebensfragen nichts zu schaffen hat . Fernand ist eine gute Partie und ein schöner , junger Mann . Ich mag ihn weniger gerne zum Manne haben , als Fred , aber er mißfällt mir durchaus nicht und ich prophezeihe dir , wenn ich auf einer Seite durchfliege , so gelingt’s mir auf der andern . “
„ Man kann dich nicht anhören , Stella . “
„ Ja , ich weiß , du hast deine Ideen . Ich aber habe die meinen , die ich für besser halte . Siehst du , das ist das Gesetz dieser Welt : Sein Glück fassen ,
wo man es findet und sich um das Übrige nicht mehr kümmern . “
„ Das heißt um die andern ? “
„ Gewiß . “
„ Ach , Stella , wenn du wüßtest , wie entsetzlich deine Worte sind und wie wenig am Platze . “
„ Ich verstehe dich nicht . “
„ Wenn alle so dächten . “
„ Ich denke wie die Mehrzahl . Alle gesunden vernünftigen Menschen denken und handeln , wie ich . Die Kranken und Entarteten haben den Altruismus erfunden . Da es ihnen an Kraft fehlte , sich allein im Leben zu verteidigen , haben sie die Pflicht erfunden , daß man sich zusammenschließen müsse , um einander zu verteidigen . Der Individualismus wird sie ebenso vertilgen wie in Amerika , und die Schwachen werden notwendigerweise verschwinden . Nein , siehst du , Mira , jeder für sich und durch sich : Das ist das Gesetz der Lebenskraft . Es wird sich durchsetzen . “
„ Es ist die Herrschaft des Hasses , die du proklamierst ! “
„ Und wenn auch ? “
„ Aber ich , “ rief die junge Frau leidenschaftlich aus , „ will an die ewige Macht der Liebe glauben . “
Und die Unglückselige eilte davon und preßte beide Hände auf ihr armes Herz , worin in schweren Schlägen ein Trauergeläute ertönte .
VI . Am nächsten Morgen hielt Frau von Ellissen in ihren zitternden Händen einen Brief von Fred :
„ Verzeihen Sie , Mira , daß ich Sie gestern nicht benachrichtigt habe . Ich reise ab . Ich bin körperlich und geistig krank . Ein Luft- und Szenenwechsel wird mir gewiß heilsam sein . Geben Sie mir Nachricht von sich poste restante nach Rom , ich werde mir die Briefe nachschicken lassen . Zürnen Sie mir nicht und glauben Sie an meine zärtliche Liebe .
Fred . “
Er hatte mit einem riesigen Strich , als Geständnis gleichsam der Ursache seiner Flucht , das verhaßte Eigenschaftswort unterstrichen , das eine unüberbrückbare
Kluft für ihre gegenseitige – lächerliche Liebe bildete .
Der Waggon , der Fred entführte , sprang weniger auf den Schienen , als sein Herz in seiner Brust . Seine Nerven bebten . Er floh , wie ein verwundeter Vogel , der vergebens den spitzen Pfeil abschütteln will , der ihn durchbohrt .
Er floh den Vogelsteller , den er doch selbst hätte bald zitternd und besiegt aufheben können , wenn er im Bereich seiner zärtlichen und doch so mörderischen Hände geblieben wäre . Ach , diese Hände , die Frau von Ellissens Finger kneteten , die sich in ihr Fleisch vergruben , ihre Fläche an deren Fläche preßten , die empfindlich wie Lippen waren . Sie fieberte , wenn er so von ihnen Besitz ergriffen hatte . Welche Schande ! Ihr moralischer Wille war ihre einzige Kraft , und sie wollte dieser Liebe in extremis nicht nachgeben .
Eine Aussprache zwischen ihnen war unvermeidlich geworden . Sei’s . Sie würde hören und erwidern , aber aus solcher Ferne , daß ihre armselige physische Schwäche geschützt wäre . –
Wie sollte Frau von Ellissen Stella die Nachricht von Fred’s Abreise mitteilen , die sie selbst mitten ins
Herz traf , in das arme zertretene Herz , das in einer sich täglich enger zusammenziehenden Hülle steckte .
Fred versuchte sich zu zerstreuen , indem er Venedig ohne Führer durchstreifte . Er genoß die Erschütterung , die ihn bei jedem neuen Kunstwerke erfaßte , daß er nach Mira’s Schilderungen erkannte , und ihre enthusiastische Stimme begleitete ihn überall hin und gab ihm die Illusion ihrer Gegenwart . In dieser Sinnestäuschung wanderte er umher , von ihr geführt , ihrer bilderreichen Sprache begeistert und empfänglich gemacht für die schwermütige Schönheit der edlen Ruinen , für die grandiose Pracht der Paläste , die rührende Anmut der abbröckelnden Bogen , die majestätischen Trümmer der antiken Paläste .
Fred war überrascht vom Anblick , der sich ihm in dieser hellen Sternennacht darbot . Girlanden von Rosen und Lorbeer , tanzende Ketten von farbigen japanischen Laternen lassen das dunkle Gewässer in allen Farben spielen und verwandeln es in eine schreiend bunte Harlekinsjacke . Langsam gleitet ein Boot mit Musikanten und Sängern von San Marko , mit Champagner trinkenden , verliebten Paaren besetzt , den Canal grande hinab .
Geigen , Flöten , Mandolinen , Sänger mit kräftigen oder schrillen Stimmen , überbieten einander und erwecken durch ihre alten Karnevalsmelodien die Erinnerung an vergangene Freuden , himmlische Intriguen , herausfordernde Masken , wollüstige Dominos . Sie preisen die Stadt der Versuchung , des Entzückens , des Traumes , die war und ewig sein wird : Venedig .
Wie um das Festschiff zu grüßen , tauchen nacheinander die Marmorstufen der Kirche Santa Maria della Salecte und die Paläste aus dem Dunkel , vom plötzlich entflammten bengalischen Licht grell beleuchtet , auf . Die kleinen Kanäle färben sich purpurrot durch einen heitern Streifen Lichtes , die Fenster werden geöffnet , auf den Balkonen erscheinen braune und blonde Köpfe , auf die auch ein Lichtstrahl fällt .
Hunderte von Gondeln drängen sich , gleichsam ins Schlepptau genommen , vom Festschiff , als wären sie von einer einzigen Hand gelenkt . So folgt in der Finsternis ein langer unförmlicher Fisch der leuchtenden Spur eines Schiffes .
Beim Rialto , dessen stolzer mit goldschimmernden Platten besetzter Bogen der Tiara eines Riesengötzenbildes gleicht , bleibt das Schiff lange stehen . Auf den illuminierten Kais und auf der Brücke wimmelt
eine immer dichter werdende Menge . Wie berauscht von der Musik , klatschen die Weiber in bis Hände , verlangen jedes Lied , jede Opernarie noch einmal , singen den Refrain aus vollem Halse mit , kurz : sie verlangen ihren Teil am Tumult und an der Freude und brechen in begeisterte Hochrufe aus , wie beim Einzuge eines volkstümlichen Monarchen .
Plötzlich wird alles dunkel , alles zerstreut sich ; das blumen- und laternengeschmückte Schiff , die Gondeln und die Menge . Paläste , Kirchen , Kanäle versinken wieder in die Dunkelheit , schlafen oder träumen , das Wasser spiegelt nur Mond und Sterne wieder .
In der erstorbenen Stadt widerstehen nur die Leidenden und die Liebenden der ansteckenden Betäubung dieser Stille , dieses Friedens .
Fred seufzte und dachte bei sich : „ Ich soll dich also nie vergessen , Mira ! Hier bin ich . Sind wir nun weit genug voneinander ? “ Und es fielen ihm die grausamen Worte ein , die sie einst zu ihm gesagt hatte :
„ Bringen Sie doch einmal eine dreißigjährige Frau auf die Bühne und in meinem Zustand der Leidenschaft : die ganze Kritik wird sich dagegen erheben und es abgeschmackt finden . Unsere berühmtesten
Psychologen haben noch nichts gefunden , um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen . Und sie werden es nicht einmal versuchen , aus Furcht , selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen . Woran liegt das ? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe . Die Religionen haben sie geduldet , um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen . Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein : folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen . Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe . Wenn die Schönheit vergeht , muß die Liebe schwinden . Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz , und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife . So lange sie aber auch seien , man darf nicht mehr lieben . Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist , muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben , seine Zeit ist vorüber . Wehe dem Herzen , das sich unterfinge , von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern . Schlaft , ihr Alten , aber schlaft allein ! “
„ Welches Weib ! “ rief er aus . „ Sie , die in vollem Glanze , in voller Schönheit verzichtet ! Es war nicht
das Werk eines banalen Geistes oder eines leichtfertigen Herzens . “
Und da dieses düstere unheilschwangere Meer sein Herz ganz melancholisch gestimmt hatte , begann er zu weinen .
Die Fledermäuse schwebten lautlos und unruhig . Er beneidete nicht mehr jene , die ihr Geschick in die Ferne treibt , die ihre Tage und Nächte zwischen Himmel und Wasser verbringen , die nach unbekannten Fernen auswandern . Wozu an Trennung denken , an freiwillige Verbannung in die Fremde , hinter den schaumbekrönten Wogen , da die Stunden der Bitterkeit , des Zornes , der Enttäuschung verrauscht sind ? Da die Stimmen der Ebbe und Flut , die ihn früher riefen , die ihm ewigen Frieden boten , die mit ihm schluchzten , ihn verspotteten in der langen schmerzlichen Dämmerung heute nur fröhliche Osterglocken , Glocken der Auferstehung , der Freude erklingen lassen , mit dem Rate lange , ja ewig zu lieben .
Fred bedauerte die , die er beneidete , denen er auf ihren Abenteuern folgen wollte . Und als Streifen schwarzen Rauches sich über der großen smaragdgrünen Mauer erhoben , die dort dem Himmel abschließen , als Silhouetten von Schiffen mit ausgespannten Segeln
auf dem grauen Nebel erschienen und mit schrillem Geschrei , als ob sie sich verloren fühlten , die Seevögel klagten .
Er empfand eine unsagbare Bangigkeit und eilte zum zarten goldigen Lampenlicht zurück . Die Vorhänge waren geschlossen , alle nächtlichen Geräusche verschwimmen in ein langes eintöniges Rauschen , die Rosen durchduften die laue Luft mit ihrem feinen Wohlgeruch .
„ Ach , einer liebt immer stärker als der andere . Jetzt bin ich es , später wirst du es sein . Das ist das Leben ! “ …
Ein Monat verging . Frau von Ellissen war allein in ihrem Zimmer , als man ihr einen Brief brachte ; sie erkannte sofort Freds Schrift .
„ O Mira , ich liebe Sie ! Lassen Sie mich noch hoffen . Sagen Sie nicht Ihr letztes Wort , sagen Sie es noch nicht . Lassen Sie mir noch eine Frist . Überlegen Sie . Quälen Sie nicht Ihren Geist , um Gründe gegen Ihr Herz zu finden , da Sie mich lieben . Ja oder nein , lieben Sie mich ? Wenn Sie mich lieben , werden Sie die Meine . Wie groß könnte unser Glück sein , wenn Sie wollten . Wir würden die Provinz verlassen , wir würden uns in einer herrlichen Gegend
einnisten , in einem kleinen Gebäude aus roten Ziegeln , dessen Galerie direkt über dem Meer gelegen ist , dessen Woge an steilen Felsenklippen brandet und schäumt in seinem heimlichen wiegenden Gesang . Wir würden uns im Tale von Bangar herumtreiben , wo das Gras so hoch wächst , daß man darin verschwindet , wo die üppige Vegetation orientalische Töne annimmt , wo der Ginster ein Baum ist , wie die Mimosen des Esterel . Wir würden zum Leuchtturm von Kervillavuen wandern , um das Meer zu betrachten , das die Seele mit der Energie seiner Wogen erfüllt und sie mit seinem Sprühregen in unauslöschlichem Glauben an ein unendliches Leben tauft .
Aneinandergelehnt würden wir über den schönen Hafen von Sauzon heimkehren , dessen Boote wie närrisch tanzen , ihre Ketten ertönen lassen , und mit den Schiffskörpern zusammenschlagen wie Kastagnetten .
Dies war mein Traum . Haben Sie ihn nie geahnt ? Also , Mira , eine gute Regung : antworten Sie mir endlich ! Rufen Sie mich zurück , zu sich , auf immer . Wenn flüchtige Geister , wie Sie , Mira , über diese Fragen debattieren , halten Sie sich an die landläufigen Vorurteile , an die fertigen Ideen , an den
Schein mit einem Worte . Sie sprechen darüber ab , ohne irgend einen triftigen Grund .
Gestatten Sie mir , Ihnen zu sagen , daß ich außerdem in meinen eigenen Angelegenheiten Urteil genug besitze . Ich bin mir vollständig klar darüber , daß sich in meine leidenschaftliche Bewunderung Ihrer geliebten Person keinerlei Illusion mengt . Ich sehe Sie so schön , wie Sie sind , wie Sie in meinen Augen immer sein werden . Mira , antworten Sie mir nur ein Wort : Komm ! Lassen Sie mich endlich das ersehnte Wort von Ihren Lippen hören : Ich liebe Dich ! Ich zittere , ich bebe ! Ich hoffe , ich warte ! Ich lebe , aber wie !
Fred . “
VII. Nach Empfang von Freds Brief hatte Frau von Ellissen einen dringenden Ruf an Miß ergehen lassen . Sobald sie sie herbeieilen sah , so gut es ihre armen , schwergewordenen Beine gestatteten , führte sie sie in ihr Zimmer . Stella turnte indessen in der Halle , die
ihr dazu reserviert war , am Trapez , mit Handeln , am Reck , Übungen , die ihren Körper geschmeidig machten und entwickelten , ihn zur Äußerung einer Lebenskraft anspornten , deren Reflex auch in ihrem Intellekt zum Ausdruck kommen mußte .
Der Versuch von Miß war eine Erholung für Frau von Ellissen , die durch Stellas stetes plötzliches Auftauchen fortwährend zusammenschreckte . Das junge Mädchen verfolgte sie durchs ganze Haus , als ob sie sie mit ihrer Gegenwart , mit ihrem Geplauder quälen wollte .
„ Kommen Sie schnell , Miß , ich habe Ihnen so viel zu sagen . “
Miß ahnte wohl , daß sich hinter der bleichen Stirne der jungen Frau ein großer Kummer verbarg . Schon lange fürchtete ihre verständige Freundschaft die traurige Stunde . Auch ohne Miras Geständnis ahnte sie das zärtliche Geheimnis , das sie wie eine Schuld verbarg . Sie wäre auch weiter gar nicht darüber erschrocken , da sie , die Reine , auch an die Reinheit der Liebe dieser beiden so vertrauten Wesen glaubte , hätte sie nicht Stellas despotischen Charakter gefürchtet . Sie sah einen Konflikt heraufbeschworen ,
wenn sich das junge Mädchen in den Kopf setzte , Fred für sich zu erobern .
Daher war ihr auch , bei Frau von Ellissens ersten , etwas verlegenen Worten sofort alles klar und sie konnte in ihrem Herzen , wie in der Wage der hohen Gerechtigkeit die Rechte und Pflichten eines jeden gewissenhaft abwägen . Es fiel ihr nicht schwer , Frau von Ellissen zuzustimmen , daß diese es sich selbst schuldig sei , das schwere Opfer zu bringen .
„ Wenn Sie statt um zwei Jahre älter , um zwei Jahre jünger wären , meine sehr Verehrte , “ erklärte sie ihr , „ dann würde ich Ihnen sagen , Sie haben unrecht , nicht schon lange die ehrlichen Liebeserklärungen Seuriets anzunehmen . Aber ich verstehe , daß Sie vor den zukünftigen Gefahren einer nicht passenden Vereinigung zurückgeschreckt sind . Gewiß – Sie stehen jetzt in Ihrer vollsten Schönheit – alles vereinigt sich in Ihnen , ein Herz zu berücken … Freds Charakter ist schwach … und zwei Jahre , Sie haben nicht unrecht , machen viel aus ! Die Frau altert schneller , als der Mann . Ein Gelübde hält Sie zurück ! die Furcht , eines Tages von ihm nicht mehr geliebt zu sein ! So drängt sich ein loyaler Entschluß auf und das einzige , was ich möchte , ist , Sie getröstet
zu sehen . Denn schließlich – man muß ein Ende machen ! Fred wird sich Ihnen eines Tages entziehen – er wird heiraten ! “
„ Er würde bei mir ausharren , “ erwiderte die junge Frau bebend , „ davon bin ich überzeugt , wenn nichts seine Ruhe störte , denn er liebt mich . “
„ Aber er liebt Sie – zu tief – , Sie haben mirs gestanden . Und da Sie seinen Wünschen nicht nachkommen werden , wird er sich für immer von Ihnen entfernen ; während gerade seine Anhänglichkeit an Ihnen in dem vorgeschlagenen Verhältnis ein reines Glück bringen kann . “
Die junge Frau seufzte , ohne zu antworten : ihre Hochachtung vor der bewunderungswürdigen , seelischen und körperlichen Jungfräulichkeit dieses idealen alten Mädchens hinderte sie , die grausamen Erschütterungen ihres Herzens zu verraten , das eine neue Eifersucht quälte .
„ Würden sie nicht von ihm , « fuhr die Miß fort , » alles haben , was Sie wünschen , die zärtliche Zuneigung , das fast tägliche Beisammensein und , noch mehr , die Kinder , deren Mutter Sie beinahe wären ? Ja , ich finde geradezu , daß Ihnen das Leben ein Wohlwollen entgegenbringt , wie es für so viele andere ein gleiches nicht hat ! “
„ O , liebe Miß , sprechen Sie mir nicht vom Wohlwollen des Lebens – ich darf nicht klagen . Und doch , ich leide , leide entsetzlich ! “
„ Bedenken Sie , “ sagte das alte Fräulein gradheraus , „ um wieviel schrecklicher Ihr Leid wäre , wenn Sie diesen jungen Mann anders geliebt hätten ? Dann wäre nicht ihr Herz allein zerrissen , sondern Ihr ganzes Sein . “
„ Und wenn ich mich vergessen hätte , ihm mein ganzes Sein geboten ! “
„ Mira ! nein – das glaub’ ich nicht . Gott hat Sie beschützt , denn trotz aller , übrigens so natürlichen , Versuchungen , sind Sie ohne Fehl geblieben . Welche Befriedigung müssen Sie in dieser Stunde empfinden , die unabwendbar schlagen mußte ! Sie würden sich demjenigen , der Ihnen allzusehr angehört hätte , aus Anstand und aus Achtung für sich selbst , verpflichtet sehen ! Vergessen Sie nicht , Sie waren die Gattin von Stellas Vater ! Danken Sie Gott , teuere Ungläubige , der Sie zärtlich aber keusch werden ließ , und bereiten Sie ruhig selber , mit ihren eigenen Händen , diese Heirat vor , die die beste Lösung der Frage bietet . “
„ Werde ich den Mut dazu haben ? “ murmelte Frau von Ellissen .
„ Sie müssen ihn haben . Sie müssen es wollen . Und vor allem , nur einzig Sie können dieses Projekt zur Durchführung bringen . Die Auseinandersetzung muß zwischen Fred und Ihnen allein stattfinden . An Ihnen ist es , ihn durch eine überzeugte feste Sprache zu diesem Ende zu führen , dem glücklichsten , ich wiederhole es , für Sie alle drei : für ihn , der mit seinem schwachen und weichen Charakter im Zusammensein mit Ihnen den teuren Einfluß , den liebevollen fast mütterlichen Schutz finden wird , den niemand anderes ihm leihen kann , als nur Sie ; für Stella , deren Herrschsucht , ihrer selbst unbewußt , unter der Einwirkung Ihres Verzichtes sich mäßigen wird , die sich weniger frei fühlen wird , obgleich sie daran denkt , gegen eueren beiderseitigen würdigen Ernst mit den äußersten Mitteln anzukämpfen ; und für Sie endlich , die sich bald daran gewöhnen wird – die dahinfließende Zeit beruhigt manches Verlangen , glauben Sie mir ! – gewöhnen wird , nicht mehr unerfüllt vergöttert zu sein , sondern geliebt und zärtlich verehrt von jenem , der Ihnen das ganze Glück seines Lebens verdanken wird . “
„ Aber wenn Stella ihn nicht liebt ! “ rief die junge Frau .
„ Lassen Sie doch , kümmern Sie sich nicht darum – sie liebt ihn auf ihre Art – und ich glaube , daß Stella ihn nicht nur lieben , sondern ihm auch als Gattin – Treue bewahren wird ! “
„ Sie glauben ? – Oh ! wenn ich wüßte , wenn ich nur die Wahrheit erfahren könnte , wenn es mir möglich wäre , in ihre Seele zu blicken . “
„ Ich glaube , Sie verkennen sie . Sie ist aufrichtig bis zur Grausamkeit ! “ sagte die Miß .
„ Sie halten sie – nur für aufrichtig ? – “
„ Ja . – Sie – nicht ? “
„ Ich fürchte , Miß ! “
„ Man muß nicht fürchten , sondern hoffen . Man muß die Welt für besser halten als sie vielleicht ist . Ein bißchen Optimismus und viel Barmherzigkeit , und das Übel , das man fürchtet , verflüchtigt sich und das Gute , das man wünscht , geht in Erfüllung . “
„ Ich habe große Angst … “ hauchte noch die junge Frau .
„ Das ist nicht das Mittel zum Siege . Ah ! wenn Sie so beginnen , dann sind Sie von vornherein besiegt . Glauben Sie mir . Als Christus zum Lahmen sagte : ‚ Erhebe dich , werfe deine Krücken von dir und gehe ! ‘ hätte da jener gezweifelt , so würde er
sich nicht erhoben haben und gegangen sein . Also , arme Freundin , etwas Mut , und alles wird sich wohl gestalten . “
„ Also , Sie wollen , ich soll ihn zurückrufen , um ihm Stella zu geben ? “
„ Ja , “ sagte die Miß einfach , – „ Sie werden es tun , nicht wahr ? “ fügte sie fragend in einer Weise hinzu , die deutlich sagte : Sie müssen es wollen .
„ Gewiß ! ich will es , “ stammelte Frau von Ellissen und verbarg ihre Stirne in den Händen . Sie weinte – während die Miß , über das traurige Antlitz geneigt , einen erschütterten Blick , erfüllt von barmherzigem Mitleid , zum Himmel warf , wo alle ihre Gedanken endeten .
Die Türe wurde mit einem plötzlichen Ruck aufgerissen , und Stella , leuchtend und frisch vom Bade , noch feucht von der Brause , die Haare wie einen Mantel über das helle Kammtuch gebreitet , stürmte wie der Wind herein .
„ Was ! Sie , Miß ! I beg your pardon ! Ich glaubte Mira allein . Was macht Ihr da , alle beide , eingesperrt ? Ihr seht aus , als hättet Ihr eine düstere Verschwörung vor ? Darf man wissen ? Ich
störe wohl ? Geh’ auch schon . Fahrt nur in euerem kleinen Geplauder fort . “
Und ihre beiden stechenden Augen in den ernsten Blick der Miß , die sie kritisch betrachtete , versenkend , fragte sie plötzlich :
„ Ich wette , man hat von Fred und mir gesprochen ? “
Diese platzte heraus :
„ Ja , Mama wird ihn zurückrufen . Also , kleine Braut – bald die Hochzeit ! “
„ Ha ! ja – endlich ! – wann ? “
„ Bald – heute noch geht der Brief ab – nicht wahr ? “
„ Wenn du ihm schriebest ? “ warf Stella hin .
„ Ganz richtig , ich werde ihm schreiben . Ich schreibe „ Dringend “ darauf und gebe ihm drei Tage Zeit nach Ankunft des Briefes , “ meinte naiv die junge Frau .
„ Nein , das wäre ungeschickt . Richte es nur so ein , ihn verstehen zu machen , daß du ihm einen ernsten Wunsch mitzuteilen hast . “
Frau von Ellissen ging in ihr Zimmer . Sie war allein . Sie setzte sich vor ihre Schreibmappe und verharrte davor , die Feder in der Hand . Diese
zitterte , denn ein plötzlicher Entschluß erfüllte sie mit Schauer . Von ihrer Erschütterung zu ungewohntem Mute gedrängt und übrigens auch allzusehr von der Frage hingenommen , um die ruhigere Stimmung des nächsten Morgens abzuwarten , schrieb sie ohne einzuhalten , mit zitternden Buchstaben , welche dem unregelmäßigen Rhythmus ihres Herzens folgten .
„ Fred ! Reisen Sie so schnell Sie können . Kommen Sie ! Gleich , noch am Abend Ihrer Ankunft , und wäre es ein Freitag – ich zähle auf diesen Tag . Kommen Sie – welche Stunde es auch immer sei hören Sie ? Und wäre es Mitternacht , wäre es noch später ! Kommen Sie heimlich durch den Park , den ich offen lassen werde : ich erwarte Sie bei mir – im Parterre , Sie wissen schon …
Mira . “
Sie schellte , während sie mit dem Finger über das geschlossene Kuvert strich .
Doch Stella trat ein .
„ Schon erledigt ? “ sagte sie lachend .
Frau von Ellissen hatte gerade nur Zeit , den Brief in die Mappe zu werfen .
„ Noch nicht . Ich möchte nur wissen , ob Jacques schon zu Haust ist . “
„ Ich will nachsehen , “ sagte Stella .
Als Mira die Schritte Stellas im Korridor nicht mehr vernahm , steckte sie den Brief in die Tasche und eilte die Treppe hinab .
„ Tragen Sie diesen Brief sofort zur Post , “ sagte sie dem Diener , „ geben Sie ihn rekommandiert expreß auf und bringen Sie mir das Rezepiße in mein Zimmer . “
Als Stella zurückkehrte , fand sie das Zimmer leer . Sie lief zum Schreibtisch und nahm die Feder in die Hand , die noch voll Tinte war .
„ Endlich ! “ sagte das junge Mädchen aufatmend .
Die Miß verlor den Atem , als sie die Stufen zu ihrem Heim hinanstieg . Aber dieses kokette Heim war von zahlreichen Nippsachen erfüllt , Geschenke ihrer Schülerinnen , zierliche kleine Nichtigkeiten , von überallher zusammengetragen . Dieses naive und liebevoll zusammengestellte Museum war ihrem Herzen teuer und bot ihr eine wohlige Umgebung . Sobald sie es erreicht , atmete sie erleichtert auf , beruhigend , lächelnd . Ihr Blick streifte über die zerstreuten
Gegenstände , liebkoste sie mit sinnender Freude . Sie fühlte sich durch dieselben umgeben von der ständigen Zeugenschaft so vieler schon alter freundschaftlicher Gefühle . Alle Mühe , die sie sich genommen und sich noch immer in ihrem Lehrerberufe nahm , verflüchtigte sich in der unausgesetzten Erinnerung der tausend freundschaftlichen Bande , die sie sich geschaffen , die sie umgaben , ja , sie beinahe über ihre Einsamkeit trösteten . Alte Jungfer , war sie doch mehr als irgend eine Frau auf der Erde geliebt gewesen . Die Herzen hatten sich um ihre Güte geschart , wie kleine Küchlein unter dem mütterlichen Flügel . Und ihre Brut , die sich jedes Jahr mehrte , zerstob vergebens in alle Winde , sie fand die Erinnerung an alles und an alle wieder , an den Wänden , in den Ecken , auf Schritt und Tritt , ihr Nest mit Blüte und Duft erfüllend .
Als Stella eintrat , blieb sie stehen und stieß hervor :
„ Ich hatte Angst , zu spät zu kommen . “
„ Nein , “ erwiderte die Miß , „ der Tee bei den Hennebergs ist heute erst um neun Uhr , wir haben vollauf Zeit . Wie geht es Mira heute abend ? “
„ Ganz fertig , Nerven , und bleicher als je , aber immer schön ! Sie werden sehen , daß sie in der
Unterredung mit Fred alle möglichen Weitläufigkeiten suchen wird . Anstatt mich ihm sieghaft auf einer Silbertasse anzubieten , wie eine für ihn unschätzbare Gabe ! “
„ Bescheiden sind Sie gerade nicht ? “
„ Wozu auch ? Ist es nicht die Wahrheit ? Können Sie denn sagen , daß ich für Fred , dem fast noch unbekannten , reich an Gaben und Hoffnungen , aber arm an Geld , nicht eine sehr annehmbare Partie bin ? “
„ Ich leugne es nicht , meine Liebe , aber … “
„ Aber ? Nun – sprechen Sie Ihren Gedanken aus … “
„ Ich will sagen , “ sprach die Miß langsam , ihre Worte suchend , um den leicht erregbaren Stolz Stellas nicht zu treffen , „ ich will sagen , daß Ihnen für den Augenblick vielleicht noch die sanften Tugenden , die Ergebenheit , die Resignation , der opferwillige Geist mit einem Wort , fehlen , die wertvollsten Eigenschaften , die der Mann in dem Weibe sucht , das sein Leben zu teilen berufen ist . Sind Sie überzeugt , ihn genug zu lieben , um das ganze Streben seines Genies zu unterstützen , werden Sie ihm durch die Feinfühligkeit
jener Mittel helfen können , die das Herz allein gebiert , zu arbeiten , zu leiden , sich zu überwinden ? “
„ Wenn ich ihm nur nicht im Wege bin , was wird er mehr von mir verlangen können ? “
„ Ihn zu lieben , Stella , ihn tief zu lieben und es verstehen , ihn zu lieben . “
„ Bravo ! Ganz wie Mira , Sie auch , mit eurem Rappel von der Liebe . Gott ! was seid ihr romantisch . “
„ Sehen Sie wohl , Stella , daß Sie für die Ehe nicht reif sind , Sie kennen ja noch nicht einmal das oberste göttliche Gesetz derselben . “
„ Sie selber , Miß , sind altmodisch , Ihr Herz gleicht einem kleinen , toll gewordenen Kuckuck , der den Schwanz hin und herwirft und nach allen Seiten tanzt , um : Liebe ! Liebe ! zu singen . Heute , sehen Sie , ist das Handwerkzeug des Herzens vervollkommnet . Es ist ein Chronometer erster Güte geworden , tüchtig , wohlgeregelt ; und da man das ganze Räderwerk kennt , wissen wir , daß es eine Maschine darstellt und nichts als eine Maschine , die durch eine rein physische Hygiene in gutem Zustand erhalten werden muß . Dann kann man ruhig seinen kleinen Geschäften nachgehen , indem man dieses recht vernünftige Herz hinter seinem Mieder trägt , wie die Uhr in einem Armband :
einfach , um ab und zu die Zeit zu erkunden , z. B. , wenn einen jemand langweilt , ihm zu sagen : ‚ Verzeihen Sie , ich habe keine Zeit ‘ . “
„ Und das ist die Antwort , die Sie mir geben ? “ fragte traurig die Miß .
„ Teufel ! Wenn Sie von mir verlangen , mich in Rührseligkeit zu ergehen … “
Die Miß murmelte fast gegen ihren Willen :
„ Sie sind nicht gut , Stella . “
„ Ein Wort noch ! “ erwiderte das junge Mädchen , mit den Achseln zuckend . „ Schauen Sie , Miß , wozu dient die Güte , wenn nicht dazu , Leid zu bereiten ? Betrachten Sie Mira – die wird ganz krank davon , Sie ist die Güte für alles , was sie „ den Kummer der andern “ nennt . Sie ist fertig ; sie war so stark , so kräftig , und jetzt – ist sie im Begriff , sich eine Herzkrankheit zu holen . Schöner Erfolg , das ! Warum denkt sie nicht daran , sich wieder zu verheiraten , sie , so schön , so liebreizend , alles was man nur wünschen kann , um das Glück eines Mannes auszumachen . “
„ Sie bedenken nicht , mein Kind , daß Mira , indem sie so handelte , wie sie es tat , gar manches Weh einer größeren Menge gestillt hat , als Sie es
wohl ahnen ! Sie hat gelitten und leidet noch , gewiß ! Aber sie ist eine Einheit , die sich für das Glück einer Vielheit ausgegeben hat . Das Ergebnis ihres persönlichen Schmerzes ist eine Riesensumme um sie verbreiteter Wohltaten . Und wenn jeder mit ihren Gaben ausgestattet wäre , würde das Elend , dieses fürchterliche Elend , das die Menschheit zerfrißt wie eine Wunde , wohl rasch verschwinden ! “
„ Wieder eine Utopie , Miß – . Das Elend ist notwendig , um das Glück genießen zu können . Wenn alle Welt glücklich wäre , wüßte man nicht , was Glück ist : man ist nur glücklich durch den Vergleich . “
„ Kann man glücklich sein , wenn man nicht an jene denkt , die es nicht sind ? “
„ Wenn man mit gesunder Vernunft daran denkt , ja . Gesund sein , das ist das einzige Geheimnis . Das Leben ist eine Macht , Miß . Haben Sie schon darüber nachgedacht ? An uns ist es , mit allen Kräften den Odem des Lebens einzuatmen , der in der Luft liegt , der uns berührt und sich anderswo niederläßt , wenn wir ihn nicht festhalten . Schlürfen wir davon so viel als möglich , in langen Zügen , so wie man trinkt , wenn man großen Durst hat . Und dann freuen wir uns unseres Glückes , ohne der
Verdurstenden zu achten , die die ungeschickten Trinker des Lebens sind , die schwachen , die anämischen , die Kranken endlich ! Glauben Sie , es ginge schlechter zu auf der Welt , wenn es da nur Starke gäbe , solche im Gleichgewicht ? Die Gleichheit der Kräfte bewirkt die Gleichheit der Rechte . Seien wir stark , um nicht in unseren Hoffnungen betrogen zu werden . Ich bin nur ein Weib , aber ich hab’ in meinem Kopf etwas , das mich denjenigen gleichstellt , die unsere Herren sind : die Männer . “
„ Das ist Ihr Stolz und Ihre Härte , “ stieß die Miß , endlich ärgerlich geworden , hervor .
Stella aber , voll Verachtung :
„ Nein , Miß , das ist mein Wille ! Nun , werden Sie auch die Macht des Willens und seines Verdienstes leugnen ? “
„ Nein , vorausgesetzt , daß man das Gute will . “
„ Aber ich will es , Miß . Ich will sogar nur das ! “
„ Ja , das Gute für Sie ! “
„ Natürlich ! Ich verfüge nicht über die anderen ! Ich habe die Freiheit des Handelns nur über mich selbst . Ich kann niemanden dazu anhalten , für die Vergrößerung seines Glückes und seiner Freiheit zu
arbeiten , also , warum wollen Sie , daß ich mich dafür interessiere ? Aber ich halte in meinen Händen ein Wesen , das mir gehört , das mein Ich ist , über das ich nach meinem Gutdünken verfügen kann ; und dieses Wesen seinem Ziele zuzuführen , habe ich das Recht und die Pflicht . “
„ Aber diese Ideen , “ seufzte die Miß etwas entwaffnet , „ wie sind sie Ihnen gekommen ? “
„ Ganz einfach indem ich darüber nachgedacht , als ich viel gelesen , ein bißchen durcheinander , es ist wahr ; wenn aber die Ideen in der Luft liegen , begegnet man ihnen überall wieder unter verschiedenen Gestalten . Man muß sie nur suchen , vereinigen , vergleichen . Und wenn man ein bissel Grütze hat , dann findet alles seinen Platz . Aber schauen Sie , – da ich schon im Zuge bin , eine Beichte abzulegen , kann ich Ihnen ja alles gestehen – wissen Sie , wer mich zur Auflehnung gegen das gefährliche Spiel der Empfindsamkeit und aller ihrer üblen Folgen gebracht hat ? – Mira selbst . “
„ Die teuere Mira ! “
„ Gewiß , allzu gut , allzu weich ! Als Mira Papa heiratete , war ich zwar noch ein Kind , trotzdem aber entging mir das Leben nicht , welches sie
an der Seite meines Vaters führte . Mira reichte meinem Vater nicht aus Liebe die Hand – nein , sie wurde seine Gattin , sie war ihm die treueste , ergebenste Lebensgefährtin , die beste Freundin , jung , schön – nicht so schön wie heute – sie lebte ausschließlich der Pflicht , Gattin , Mutter zu sein und diese Pflicht , welche ihr mit ihrem Schritt auferlegt war , ganz zu erfüllen . Ihr Leben blieb leer und öde . Sie ertrug alle Schroffheiten Papa’s mit Geduld und Ergebung , trotzdem der Stolz sich oft in ihr aufbäumte , ihre Augen von Zorn auffunkelten ! Bald aber änderten sich die Gefühle und eine Art Mitleid überkam sie – Mitleid für den alten ergrauten Mann . – Ich wuchs zum Mädchen heran und wurde von ihr nach dem Tode meines Vaters mit der gleichen hingebenden Liebe behandelt , wie vorher . Mira ist mir Mutter , ist mir aber auch die teuerste Freundin . Ich möchte sie eben glücklich sehen – auf ihre Art – die allerdings nicht die meine ist . Ich habe eingesehen , daß , wenn ich mich von einer übertriebenen Empfindsamkeit hinnehmen ließe , mein Dasein dem ihrigen gleichen würde ; daß ich allen Mut verlöre , jede Energie , um mich zu verteidigen . Nicht alle haben eine so starke Seele
und einen so festen Charakter , wie sie . Wenn mir der Himmel einen solchen Grobian bestimmte , würde ich zusammenknicken , wie sie und mein ganzes Leben ergösse sich aus meinen Augen . Da hab’ ich mich denn aufgerichtet , mir einen Standpunkt gewählt . Ich habe unter meinen Anlagen die männlichen Eigenschaften gesucht , die mir von meinem Vater überkommen waren und bildete sie aus . Und da es sich darum handelte , ihm zu gleichen , um so glücklich zu sein , wie er es war , habe ich in mir alle Mittel entwickelt , dieses Ziel zu erreichen . Das hat mir im Anfang viel gekostet , warum soll ich es Ihnen verschweigen ? Mir war eine liebevolle Wärme gegeben , die mir im Wege stand . Auch ich hatte das Bedürfnis , zu lieben ! Aber das war zu dumm ! Jene , die lieben , werden nicht geliebt . Man dreht ihnen ihre Liebe zwischen den Zähnen um , wie ein falsches Gebiß , und zielt darauf . Ich habe es vorgezogen , die Zügel in der Hand zu haben . Und jetzt halte ich sie . Ich bin nicht schlecht , Miß , ich versichere Sie . Es gibt sogar Augenblicke , wo ich recht fähig wäre , gerührt zu werden . Aber ich will nicht . Ich spreize mich dagegen . Schauen Sie , wenn ich Angst habe , weich zu werden , denke ich an Mira
und das genügt . Ich werfe mich heftig zurück , und zwar auf den Gegensatz zu ihrem Denken ; das ist sogar meine einzige Verhaltungsmaßregel : sie macht dies , ich mache das , gerade das Gegenteil . Sie hat Herz – ich nicht mehr ! Sie überlegt mit dem Herzen , ich überlege mit dem Gehirn . Wenn sie gibt , so nehm’ ich , wenn sie weint , so lache ich ! Recht einfach , wie sie sehen : ich will ihr nicht ähnlich sein , ich will nicht leben , wie sie ; denn sie hat gelitten . Sagen Sie mir doch , warum sie von Tag zu Tag blässer wird ; ihre Augen verraten , daß sie leidet – an irgend einem Kummer leidet . Ich bin kein kleines Mädchen mehr – warum nennt sie mir nicht den Grund ? Warum immer ein Seufzer ? und das erst so recht , seitdem ich ihr gesagt , daß ich Fred will , daß ich seine Frau werden will . Ich muß doch eines Tages heiraten ? “
„ Das Leid erschreckt Sie also sehr , mein Kind ? “
„ Ich finde es ungerecht und unnütz , vor allem unnütz . “
„ Das ist nicht meine Ansicht . Sie wissen , daß ich aus eigener Kenntnis der Sache sprechen kann , nicht wahr ? “
„ Gewiß . “
„ Nun ! Im Alter , daß ich erreicht , nachdem ich alle Grausamkeit eines Lebens ertragen , das ich mir
selbst gewählt , mit eigenem Willen , mit aller Einsicht , schwöre ich Ihnen , Stella , – und ich leihe diesem Schwur eine ganz besondere Feierlichkeit , mein Kind , – schwöre ich Ihnen , daß ich durchaus stolz und glücklich bin , in mir eine Freude entwickelt zu fühlen in Berührung mit dem Leid , das geheiligt ist , wenn es freiwillig ist oder doch würdig getragen wird . Eine fast göttliche Empfindung der Freude ist es , die sich ihres reinen Ursprungs bewußt ist , einer souveränen Genugtuung über die Kraft meiner Entsagung , – ein Stolz , möchte ich sagen , darüber , daß ich durch meine Aufopferung im erhabenen und schöpferischen Willen das Glück oder wenigstens den Frieden jener Geschöpfe um mich her gesichert habe , die mir teuer waren . Ich fühle mich ganz anders stark , als Sie , die Sie nur für sich selbst kämpfen , daß ich für jene gekämpft und gesiegt habe . Sie werden vielleicht Ihre Befriedigung finden : ich habe die Befriedigung jener erobert und habe sie ihnen gegeben . Das Weib , das den Hochgenuß des Opfers nicht kennen gelernt , wird nie das gekostet haben , was es Bestes auf Erden gibt und vielleicht darüber hinaus . Geben , sich geben , das ist der Inbegriff von Seligkeit . Und ich bedaure Sie , Stella , o , ich bedaure Sie von ganzer
Seele , wenn Sie nicht eines Tages dem Schmerze begegnen werden , der die nüchterne Härte Ihres Herzens brechen wird , um daraus die unendliche Quelle einziger Glückseligkeit sprudeln zu lassen . “
„ Ich danke Ihnen , Miß , “ erwiderte das junge Mädchen kalt ; „ aber ich hoffe niemals dem Hammer zu begegnen , der auf diesen Felsen schlagen wird . “
Und das junge Mädchen berührte mit leichtem Finger die Stelle , wo ihr Herz schlief .
Sie verblieben einen Augenblick in Schweigen , um den inneren Tumult ihrer heftig erregten , aufgewirbelten Gedanken sich beruhigen zu lassen , wie im Kielwasser eines Schiffes die Wogen sich türmen und glätten . Sie wechselten noch gleichgültige Worte , um die Zeit auszufüllen und der Verlegenheit einer vollen Verstummung auszuweichen . Die Miß versuchte , ostentativ ein Heft der englischen Schularbeiten durchzublättern : aber Stella wendete das Haupt zur Uhr , die von dem sentimentalen Museum der Nippsachen auf dem Kamin umgeben war .
Die Miß sagte :
„ Sie wissen ganz gut , daß ich zu früh komme . Aber einerlei , gehen wir . “
VIII . Seit dem Ball auf der Präfektur hatten sich Alice von Werner und Stella nicht unter vier Augen gesehen : Alice schmollte .
Jeden Dienstag , an welchem sie auf den Besuch der Damen Ellissen rechnete , richtete sie es so ein , von einer Gruppe junger , an ihre Rockfalte gehefteter Leute umringt zu sein , getrennt von ihrer übermütigen Freundin . Aber die Damen Ellissen ließen auf sich warten , und während dieser paar Wochen wurde Alicens Brautstand besiegelt . Der schöne Fernand hatte seinen offiziellen Antrag gestellt und wurde angenommen , und der Groll Alicens zum triumphierenden Gefühl gewandelt , nahm sein Ende . Es blieb ihr nur noch der Wunsch Stella wiederzusehen , um ihr mit schadenfroher Freude den Sieg zu verkünden . Sie hoffte innig , daß dieser Dienstag nicht wie die anderen vorübergehen würde , denn Frau von Ellissen konnte nicht wohl , ohne unartig zu sein , ihren Besuch länger hinausschieben . Die andern Familien hatten schon alle ihren Kratzfuß gemacht . Für heute , als letzten Termin , wurde nur noch der Adel erwartet .
Frau von Werner thronte gewappnet in einer Pariser Toilette dernier cri – perlgrauer Sürah Liberty – in ihrem Salon . Die Zierde dieses offiziellen Raumes schienen einzig und allein Blumen und Pflanzen etwas gewöhnlicher Art auszumachen , aber riesengroß und auffallend . Frau von Werner erging sich eifrig in Ausführungen über die Aufzucht und die Kultur der Pflanzen und bemühte sich mit gespreizter Liebenswürdigkeit , Interesse an dem einzigen Geplauder zu nehmen , das diesen Provinzlern zur Verfügung stand . Sie bat sogar Platz zu nehmen : darüber allerseits eitel Freude .
In dem kleinen anstoßenden Salon , der mit dem andern durch eine weitgeöffnete Flügeltür verbunden war , vereinigten sich die bei ihrer Ankunft von Alice sogleich mit Beschlag belegten jungen Mädchen . Dort plauderte man in freierer Art unter hellem Lachen , das zu dem ernsten , monotonen Gespräche der Mütter die begleitende lustige Musik zu bilden schien .
Alice , weniger feierlich , befleißigte sich nicht des von Frau von Werner absichtlich verscheuchten Entgegenkommens , sie dominierte und herrschte , mit aller Ruhe , durch ihre Überlegenheit des intelligenten
Mädchens , mit imponierender Ungezwungenheit . Man riß sich um sie , suchte sich ihr zu nähern , bewunderte sie in etwas grotesker Weise , um ihr nachzuahmen . Aber nur wenigen gelang es : ihre beste Schülerin darin war noch Stella Ellissen . So wurde auch die Freude der kleinen Mädchen nicht früher vollständig , als bis die beiden jungen Mädchen , Aug in Aug , ihre Retourkutschen hin und herfliegen ließen , oft im Pariser Jargon , den die andern nicht kannten , aber applaudierten als verstünden sie ihn . Eine ihrer gewöhnlichen Klagen war die Abwesenheit der Herren , denen ein Provinzbrauch den Zutritt in diesen Winkel versagte . Ein Brauch , den zu brechen gefährlich gewesen wäre .
Alice von Werner war in der Großstadt erzogen worden , in einem sehr gemischten Milieu . Ihr Vater , Sohn eines bäuerlichen Grundbesitzers , hatte sich im Kielwasser eines einflußreichen Abgeordneten und mehrmaligen Ministers auf die Politik geworfen ; dieser behielt ihn als Sekretär an seiner Seite bis zu dem Tage , an dem er ihm eine wichtige Präfektur zu verschaffen in der Lage war . Die etwas dunkle Herkunft des Herrn von Werner hatte ihm nicht gestattet , seinen Weg in der Gesellschaft ebenso leicht zu
machen , wie in der Politik . Eine gewisse Schüchternheit war ihm geblieben , welche ihn an den Verkehr geringerer Beziehungen bannte .
Bis zu ihrem fünfzehnten Jahre erhielt Alice zwischen den sehr verschiedenartigen Freunden der Familie von Werner eine oberflächliche Kenntnis aller jener Fragen , die die Großstadt von oben bis unten bewegen . Sie entwickelte sich unter dem minderwertigen Einfluß oberflächlicher Reden , erwarb die banale Kunst , von allem und über alles zu sprechen , von Theaterprinzessinnen , den modernen Ideen , von der Politik , den Sitten und einer ihrem Geschmacke angepaßten Moral , die sie sich zwecks Benutzung ihrer persönlichen Freiheit zurechtlegte , und als sie ihren Eltern in die Provinz folgte , brachte sie den gefährlichen Keim ihrer bedauernswerten Erziehung dahin mit , der in der seltsamen Energie ihres Temperamentes schnell Wurzel schlug . Jetzt war sie ein hübsches Mädchen voller Güte , nervös , leidenschaftlich , mit einschmeichelnden , etwas katzenartigen Manieren , unter einer gewissen tragischen Maske .
Für Fernand von Eulenburg hatte sie eine heftige Leidenschaft gefaßt und erwiderte unverzüglich die ersten zerstreuten Annäherungen des jungen Mannes ,
der nur einen bequemen Flirt suchte , um seine Zeit auszufüllen . Bald aber war es ihr gelungen , der Sache eine ernste Richtung zu geben . Eulenburg gehörten dem herabgekommenen Adel der Umgebung an . Durch den wenig skrupulosen Ehrgeiz seiner Familie in den Staatsdienst verwiesen , hatte er die niedrigeren Stellen der Unterpräfekturen rasch genug durchlaufen , um dann auf den Posten eines Generalsekretärs zu gelangen und noch bessere Aussichten im Auge zu haben . Der Protektor , den man für ihn geangelt , war eben jener Abgeordnete und mehrmalige Minister , der sich das Fortkommen von Werners zur Aufgabe gemacht .
Alice erklärte dem schönen Fernand die Vorteile einer Heirat , die gleichzeitig reich und so zu sagen in jeder Richtung entsprechend wäre . Er ergab sich , ohne großen Kampf ; die Beute war schön . Aber die Gefährlichkeit der Lage war in erster Linie in seinem unbeständigen Charakter gelegen . Er war ein hübscher Junge , hatte hellbraunes Haar und jenen südlichen Typus , der mit dem glänzenden Haar das auffallende Weiß der Haut und die lebhafte Färbung der Wangen vereint und der Augen und Zähne erglänzen läßt , wie die Farben eines Lichtdruckes ;
er war groß und schlank , mit einer natürlichen Eleganz , welche das Provinzleben in eine gewisse Nachlässigkeit , die nicht ohne Anmut war , verwandelt hatte .
Er kleidete sich gut , wenn auch mit auffallend englischem Geschmack ; aber die einfache Vornehmheit seiner Haltung milderte die etwas übertriebenen Nuancen , welche in dem Provinzmilieu nicht richtig verstanden wurden .
Er war sehr begehrt , viel geliebt , wie er wohl merkte , und widerstand den zahlreichen Verführungen . Die Art seiner Schönheit , seine liebenswürdigen Manieren verwirrten die Frauen .
Alle sprachen sie von ihm , hinter dem Fächer , mit geheimnisvollem Lächeln . Doch mißfiel ihm dieses Leben keineswegs ; er hätte es noch länger fortgeführt , als er sich plötzlich vor eine Heirat gestellt sah , deren Ablehnung seine Karriere möglicherweise unterbunden hätte . Er hatte außerdem auch gar keinen Grund , um sich ihr zu entziehen . Frau von Eulenburg , die Mutter , die gleichfalls entzückt war , kam eines Tages in ihrem alten sehr heruntergekommenen Wagen , um Alicens Hand zu erbitten , liebenswürdig und herablassend , wie jemand der weiß , das er mit aller Rücksicht ,
die ihm zukommt , empfangen werden wird . Ihr schwarzes Kleid mit geblümten Muster und unmodernem Schnitt , – es stammte noch von ihrer Aussteuer , – schien in jeder Falte von verflossenem Glanz zu sprechen , der jedem falschen Luxus moderner Toiletten dadurch trotzte , daß er ihn verachtete . Sie grüßte Frau von Werner auf altmodische Art , ein wenig ungewohnt , aber die vollkommene Korrektheit ihrer Sprache hielt den Spott der Dame der großen Welt im Zaun . –
Frau von Eulenburg wollte gern entzückt von ihrer künftigen Schwiegertochter erscheinen , die sie mit einem Blick richtig gewertet hatte ; sie behielt sich aber vor , ihr später das heilsame Sturzbad ihrer Ratschläge zu teil werden zu lassen .
Da Eulenburg nun glücklicher Bräutigam war hörte er auf , Alice öffentlich den Hof zu machen ; er überzeugte sie freundschaftlich von dem Unpassenden einer allzuzärtlichen Haltung , und das junge Mädchen ergab sich , scheinbar sehr willfährig , im Grunde genommen fand sie es einen unnötigen Zwang . Aber die Entschädigung , der sie entgegensah , ließ sie doch einen gewissen Ernst in der Haltung bewahren ; auch versprach sie , sich weder jetzt noch jemals von den
Liebenswürdigkeiten , die Fernand für andere Frauen übrig hatte , und die wie er behauptete unerläßlich waren , um vorwärts zu kommen , beirren zu lassen . „ Notwendige Höflichkeit “ wiederholte er ihr und sie , ganz aufgeregt durch ihren Sieg , ging so weit , daß sie sogar eines Abends Stella Ellissen ihren Flirt mit Fernand verzieh .
Als das junge Mädchen hinter ihrer Mutter erschien , streckte Alice ihr lächelnd die Hand entgegen . Stella , sehr erfreut , umarmte ihre Freundin und folgte ihr in den kleinen Salon , welcher für sie reserviert war . –
Als sie allein waren , sahen sich Alice und Stella an ; die Braut blickte düster , Stella scharf und spöttisch .
Diese brach los :
„ He ! albernes Ding – kannst du mich nicht mehr leiden ? “
„ Ich , meine Liebe ? Aber warum sollte ich dich nicht mehr leiden können ? Ich bin die Glücklichste aller Sterblichen ! “
„ Also ist alles in Ordnung ? “
„ Alles … ich bin verlobt … ich bin Braut … “
„ Meine Gratulation , meine Liebe , wenn du nur glücklich bist . “
„ Das wäre noch schöner , wenn das nicht der Fall wäre . “
„ Nun , das kommt auf den Geschmack an . “
„ Mein Geschmack ist dem deinen gerade entgegengesetzt . “
„ Bis zu den Antipoden , meine Kleine . “
„ Du Duckmäuserin . “
„ Nein wirklich ! Du bildest dir ein , daß ich in deinen Fernand verliebt bin ? “
„ Nun … es schien so . “
„ Du bist ein Dummchen ! Also du hast nichts verstanden ? “
„ Was verstanden ? “
„ Du bist nicht so schlau , wie ich gedacht habe . Ich habe an dem Abend deinen Fernand genommen , weil ich einen anderen ärgern mußte . “
„ Welchen anderen ? “
„ Meinen Bräutigam , meine Liebe ! “
„ Nein … du … du auch ! Oh ! welches Glück . “ Alice stürzte sich ganz entzückt auf Stella um sie zu umarmen .
„ Du darfst nichts davon wissen , … es ist noch nicht offiziell . Ich sage es dir nur im Geheimen , denn wir verraten einander doch nicht , nicht wahr ? “
„ Oh ! Du glaubst nicht , Stella , wie glücklich ich bin , daß auch du verlobt bist , so können wir ganz aufrichtig aussprechen , uns alle unsere Gedanken mitteilen … hat er dich geküßt … wie hat er dich geküßt … sag rasch … ich möchte nämlich wissen ob … “
„ Ich habe dir gesagt , es ist noch nicht offiziell . “
„ Ja , es ist wahr … nicht wahr , es ist der Baron Seuriet.. ? “
„ Er in seiner ganzen Größe.. ! “
„ Ich glaubte aber , daß er dir nicht gefiele . . du sagtest doch . . “
„ Ach Liebste … ich bin nicht für die großen Leidenschaften … er mißfällt mir nicht und das genügt mir.. “
„ Ach richtig , du bist ja kalt wie Eis . – Ich nicht , ich brenne . Aber lasse es nur gut sein , das wird noch kommen . “
„ Ich glaube kaum . “
„ Gewiß … wenn du ihn … weißt , du es ist ja ganz etwas anderes … hat er dich schon umfaßt ? Sag ’ ? “
„ Du , ich fürchte , das wird mir überdrüssig . “
„ O ! Du Unschuld ! Wenn du wüßtest , was ich weiß ? “
„ Ach , du bist ja wie elektrisiert von deinem Fernand ? “
„ Ein verliebtes Haus , meine Liebe ! O ! seine Hände , die bleiben nie ruhig ! – Aber Fred – wie ist denn der so plötzlich in dich verliebt geworden ? – Man hat ihm doch gar nichts angesehen . Du hast mir ihn immer so kühl geschildert ? “
„ Ach , du weißt ja … seine großen Talente ! Solche Menschen sind immer mehr mit ihrer Kunst beschäftigt , als sie plaudern würden . Das ist nicht wie bei Politikern , – … … Und das gefällt mir eben . Ein Mann , der immer hinter mir her wäre , den würde ich bald spazieren schicken . Im Gegenteil ich würde entzückt sein , wenn er den anderen Frauen ein bischen den Hof machen würde . “
„ Ich nicht , “ protestierte Alice energisch . „ Ich gestehe dir sogar , daß mich Fernand in dieser Hinsicht erschreckt . Er fühlt sich verpflichtet mit Allen liebenswürdig zu sein , und ich komme darüber in Wut . “
„ Was für eine Eifersucht ! Lache doch darüber . “
„ Ich leugne es auch gar nicht – ich will ihn ganz allein für mich haben und nicht für die anderen .
Wenn ich daran denke , daß er mich je einmal betrügen könnte … mir wird jetzt schon schwarz vor den Augen . “
„ Brrr ! … Gleich ein Drama ! Das wird ihm in seiner Stellung schaden . “
„ Wenn ich einmal verheiratet bin , … liegt mir gar nichts am Avancement . “
„ Fernand wäre sicher nicht zufrieden , wenn er dich hören würde . “
„ Ich sage es ihm ja auch nicht … das kannst du dir doch denken . “
„ Ja , gib acht , daß er nichts davon merkt … siehst du , da kommt er eben . “
Eulenburg blieb ein wenig im großen Salon . Kraft seiner Rechte als Bräutigam ging er auf die beiden jungen Mädchen zu , die dicht bei einanderstehend ihn kommen sahen . Lachend schritt er so weit vor , daß man sie vom Nebenzimmer aus nicht mehr sehen konnte , und umarmte dann beide gleichzeitig . Stella drückte er fest an sich und Alice schlang er seinen Arm um den Hals .
„ Nun , geniert Euch nur nicht , “ sagte Stella sanft .
„ Ach Pardon “ sagte er – „ Sie sind beide so schlank , daß ich glaubte nur eine in Händen zu haben . “
Stella warf ihm , während sie ihrer Freundin den Rücken kehrte , einen schelmischen Blick zu .
„ Meinen Glückwunsch , mein Herr ! “ …
Alice rief lebhaft :
„ Gratuliere ihr auch , Stella ist ja auch verlobt ! “
„ Wirklich ! “ rief er erstaunt .
„ Bist du aber eine Plaudertasche , Alice … ich habe dich doch um Geheimhaltung gebeten ! “
„ Ist es wirklich wahr … gnädiges Fräulein ? “
„ Wie die Heirat selbst , … wie das Amen im Gebet “ … erwiderte Stella lachend .
„ Aber du … Fred ist ja gar nicht hier … oder ist er schon zurückgekommen ? “
„ Ja … es ist … sicher … das Weitere kümmert Euch nicht . – Fred war weg … er ist schon da … oder kommt heute . “
„ Ach ! Fred ist der Glücklichste … aller Sterblichen , “ setzte er mit beinahe scharfer Stimme hinzu . –
„ Man darf absolut nicht wissen wer er ist ! “
„ Gut , gut , “ antwortete das junge Mädchen , das mehr damit beschäftigt war ihren Bräutigam zu betrachten , als sich für irgend etwas Anderes zu interessieren . „ Deine Befehle sollen befolgt werden . Nicht wahr Schatz ? “
Fernand ergriff die Hände seiner Braut , und begann ruhig , ihre Fingerspitzen zu küssen . Dabei zeigte er eine Miene , die mehr nach Gewohnheit als nach Überzeugung aussah .
Indessen betrachtete ihn Stella neugierig und als er erriet , daß sie auf seine schweigsame Unbeweglichkeit aufmerksam geworden war , setzte er , sich selbst übertreffend , seine Tätigkeit fort .
„ Alice “ rief Frau von Werner , „ komme die Damen begrüßen . – “
Sehr verwirrt stürzte das Mädchen fort , und ließ die beiden allein .
Sogleich neigte sich Fernand zu Stella .
„ Ist es denn wahr , wirklich wahr ? “ fragte er mit einem beinahe traurigen feurigen Blick .
„ Wie … wahr … wovon sprechen Sie ? “ fragte Stella .
„ Sie werden sich verheiraten ? “
„ Ja , mein Lieber … es ist das traurige Schicksal , das doch den meisten beschieden ist . “
„ Aber Si e , Sie müssen doch nicht … Sie ? “
„ Wie Sie ? “
„ Nein , intelligent und stark , wie Sie sind , haben Sie das Recht und die Pflicht frei zu bleiben . “
„ Werde ich , nach Ihrer Meinung , wenn ich verheiratet bin weniger frei sein ? “
„ Oh ! Sie verstehen mich wohl ! Sie ! Sie ! Sie heiraten ohne Liebe , denn Sie lieben diesen zukünftigen Gatten nicht ! O ! sagen Sie mir Stella , daß Sie ihn nicht lieben ! “
„ Ich liebe augenblicklich Niemanden . Und daß ist sehr bequem , glauben Sie mir , um seinen Weg in der Welt zu machen . Später dann , wenn ich es mir im Leben nach meinem Geschmack und nach meinen Ideen eingerichtet haben werde , werde ich ja sehen ! Aber Sie selbst , wie mir scheint machen es ebenso wie ich . “
„ Ja , bei einem Mann ist das etwas Anderes . “
„ Wirklich ! Jetzt wollen Sie Unsinn reden . Nun gut ! Umso schlimmer , daß ich will , daß es „ nichts Anderes “ sei . Was wollen Sie ? Ich fühle mich Ihnen gleichwertig und beanspruche dieselben Menschenrechte . Es hat mir nie einleuchten wollen , daß ich Sklavin eines Menschen sein sollte . Ich gehe geradeaus durch das Leben , ohne mich durch konventionelle Dummheiten beirren zu lassen . Die Ehe , die ich eingehe , gefällt mir , ohne Zweifel , weil sie meinem Naturtrieb schmeicheln und meine Freiheit nicht fesseln
wird . Ach , ich würde mir niemals einen wild eifersüchtigen Wächter nehmen . “
„ Wie Alice , nicht wahr ? “
„ Da geben Sie nur acht ! “
Sie lachte , er zuckte die Achseln , und lachte auch . „ Die eifersüchtigen Frauen sind am leichtesten zu beruhigen . Glauben Sie vielleicht , daß ich die Absicht habe mir mein Leben verderben zu lassen ? Gewiß nicht ! “
„ Das sind Illusionen , mein Lieber … das werden Sie bald bemerken . “
„ Aber “ protestierte der schöne Fernand . „ Sie hat mich noch nicht ganz in der Tasche . “
„ Aber sehen Sie doch ! Seien Sie aufrichtig gegen mich . Sie nimmt das Leben von der praktischen Seite , und Sie wären sehr dumm , wenn Sie das nicht ausnützen und die Vorteile die sie Ihnen mit ihrem Gelde bietet , annehmen würden . Aber betreiben Sie Ihr Spiel klug und mit Vorsicht . “
„ Sie sprechen wie eine Freundin , meine liebe Stella . Wie schade , daß Ihr Herz nicht so entwickelt ist , wie Ihr Verstand ! “
„ Weil … “ sagte sie nervös , ihm liebevoll in die Augen blickend .
„ Weil … “ wiederholte er , … aber warum … Sie lieben doch Niemanden … sagten Sie ? “
Sie lächelte .
„ Also gebrauchen Sie keine Ausflüchte , haben Sie zum mindesten den Mut Ihre Ideen und Ihre Handlungen zu verteidigen . Ich habe den Mut dazu ! “
„ O ! Sie sind ein herrliches Mädchen “ seufzte Eulenburg . Er versuchte , sich Stella zu nähern und ergriff ihre Hand .
Stella blieb ruhig und blickte ihm scharf in die Augen . Er sagte leise :
„ Sie sind zu schön ! Sie machen mir Angst ! “
„ Angst … vor was ? “
Er hielt ihre Hand krampfhaft fest : „ Angst , daß ich den Kopf verliere ! “
Er erwartete , daß sie abwehren würde , was jedoch nicht geschah . Dann beugte er sich fast mechanisch über Stellas Hände und begann geschickt das Geschnäbel , daß er so eben an den Händen seiner Braut geübt hatte .
Einen Augenblick ließ ihm Stella fast mit Genuß gewähren , als ob sie die Stimme seiner Gefühle vernähme . Dann entzog sie ihm mit entschlossenem Ausdruck ihre Hände .
„ Hören Sie doch auf ! Das ist albern , was Sie da tun ! Wenn Alice zurückkäme ? “
Er hörte auf und griff mit der Hand nach dem Knoten seiner Kravatte .
„ Sie gehen zu weit ! “ sagte sie beinahe ärgerlich . „ Versuchen wir doch ernst zu sein , ja ? “
Er antwortete kalt :
„ Sie haben Recht . . ich habe vergessen , daß Ihre Hände schon einem Anderen gehören . “
„ Ja . “
Der schöne Fernand war bei seinem Flirt gestört worden . Er seufzte , und begann den Angriff auf einen anderen Punkt .
„ Ich werde mich fügen “ sagte er , „ weil Ihr grausamer Wille es von mir verlangt . Aber lassen Sie mich nicht verzweifeln … versprechen Sie mir … schwören Sie mir ? daß wir Freunde bleiben … trotz alledem … ja , wollen Sie , Stella ? “
„ Aber ich sehe darin nichts Unpassendes , “ antwortete sie . „ Warum sollte der Mann meiner besten Freundin nicht mein Freund sein ? “
„ Aber ein Freund … Stella … ein Freund , dem man sich anvertraut … O ! Die Zärtlichkeit eines
erlesenen verborgenen Gefühls , das man nur allein kennt … welch ein Trost in der Bitternis des Lebens ! “
„ Wer sagt Ihnen , daß unser Leben bitter sein wird ? Das Leben ist so wie man es sich gestaltet … und ich will , das mein Leben glücklich sein soll … ich werde es mir glücklich gestalten . “
„ Ich auch ! “ rief Fernand entschlossen . –
„ Bravo ! “
„ Und wir werden also künftig sehr gut befreundet sein . Wir werden uns oft sehen ? “
„ Zu vieren . “ antwortete Stella .
„ Gut ; was geht uns die Anzahl jener an , die ärgerlich sind , wenn das Herz sich abwendet . “
„ Aber sagen Sie doch , Fernand , wenn Alicens Herz auch darauf verfallen würde … sie … auch .. sich abwenden würde ? “
„ Das wäre … mir nur angenehm “ vollendete er ungeniert .
„ Hm ! “ sagte sie empfindlich , mein Verlobter ist ein reizender Mensch … und es wäre möglich … …
Fernand erwiderte : „ Umso besser ! “
„ Nur “ antwortete Stella „ er ist nicht … sehr . . lustig … nicht sehr gesellig . “
„ Prächtig ! Er wird das Haus hüten und wir … “
„ Pst ! Alice ! “
Das junge Mädchen kam gelaufen … sie rief den beiden entgegen : „ Was treibt Ihr ? “
„ Zukunftspläne , meine Teure , “ entgegnete Stella „ wie es sein wird , wenn wir verheiratet sein werden . “
„ Wer ! “ sagte sie plötzlich und sah auf die Uhr , „ es ist spät.. “ „ Mira wird böse sein , wenn wir so spät kommen … auf Wiedersehen … meine Freunde ! “
IX. Mit fieberhafter Ungeduld erreichte Fred den heimatlichen Boden .
Er bereute damals , abgereist zu sein … aber hätte er denn bleiben können ?
Hätte er nicht in Zukunft seine Besuche einschränken müssen , auf das geringe Glück , Mira täglich einen Augenblick zu sehen , verzichten müssen , ihre zarten Hände nicht mehr heimlich küssen dürfen ?
Was blieb ihm anderes übrig , als den Schmerz zu ertragen , und in der Einsamkeit zu leben , da seine
Liebe und der Wille von Frau von Ellissen ihm das auferlegten ?
Wäre es nicht besser dieses ferne Land zu verlassen , wo er doch keinen Trost finden konnte ?
Wenn Mira wenigstens mit gewesen wäre , um ihn zu trösten . Er hatte sich so sehr daran gewöhnt , alles von ihr zu empfangen , Mut , Hoffnung , die Richtung jeder seiner Handlungen ! Er hatte bei ihr so gern auf sein eigenes , so schwaches Wollen verzichtet ! Ihm fehlte die Erfahrung um nachzudenken , zu urteilen und selbst zu entscheiden . Seine traurige Kindheit , seine dahin geopferte Jugend hatten ihn stets gehindert , seine Willenskraft selbstätig auszuüben . Er war unfähig – ohne seine Retterin – mit seinen entfalteten seelischen Kräften zu handeln .
Fred , fühlte sich , fern von ihr , sich selbst überlassen , und begann zu sinken , wie ein Mensch , der mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen sich verzweifelt ertränkt .
Aber Mira konnte ihn nicht verlassen .
So gleichgiltig sie gegen sich selbst war , hatte sie sich nicht , was ihn betraf , zu heroischer Tapferkeit aufgeschwungen ?
Gewiß , keine übelwollenden Auslegungen und auch kein ungerechter Zorn , besonders nicht von Stella , konnten ihn erschrecken , aber konnte er erlauben , dulden , daß sie seinetwegen Qualen erleiden mußte ? An ihm war es , das notwendige Opfer zu bringen . . sich von ihr zu trennen !
Er verzweifelte bei diesem Gedanken . Sein Gang war unsicher auf dem weiten Weg nach Hause .
Wie grausam war das Leben ! Dieses Leben hatte sich so ganz anders gestaltet , dieses zusammenhangslose unordentliche Leben , verächtlich wie ein Glückspiel ! Dieses Leben von dem man sagt : O ! wenn man es doch noch einmal beginnen konnte ! Aber man kann es nicht wieder beginnen . Man lebt es zu Ende wie eine Maschine , feig oder heroisch , je nach dem Maß von Kraft , über welches man verfügt . Und er zeigte sich feig , feig , immer gleich bereit ein Ende zu machen . Anstatt die Ereignisse herauszufordern und zu bekämpfen , erwartete er sie und ließ sie über sich ergehen .
Bei diesem Punkt seiner inneren Betrachtung wuchs seine Verzweiflung bei dem Gedanken , daß seine Kunst infolge seines Charakters fortwährend im Sinken war .
Weit entfernt davon , von der verzweifelten Energie erfüllt zu sein , welche allein zum angestrebten Siege führt , war er Zufällen preisgegeben , äußeren Einflüssen , dem Übelwollen der Neidischen und seiner eigenen Entmutigung . Aus sich selbst heraus konnte er nicht vorwärts kommen . Und doch fühlte er die Flamme schöpferischer Inspiration in sich glühen . Er wußte es , daß er in sich die Möglichkeit trug , einen neuen und machtvollen künstlerischen Ausdruck zu schaffen ! Manchmal erfaßte ihn ein brennender Wunsch mit seiner genialen Sprache die erwartete Formel hinauszurufen .
Langandauernde Schauer erschütterten ihn , als ob eine unsichtbare Hand sein Wesen in seinen Grundfesten aufrütteln würde , ihn vorwärts schleudern würde , gleich einem Thyrsusstab , und ihn gleich einem Gotte dem Rythmus übermenschlischer Harmonien unterwerfen würde .
In diesen heiligen Minuten , die schmerzhaft und göttlich zugleich waren , unterwarf er sich dem Aufwallen seiner Seele , und stürzte sich in die eigensinnigste Arbeit , ohne die jede Inspiration vergeblich ist .
Wenn ihm aber irgend ein materielles oder moralisches Leid in den Weg kam , sanken gleich die
versengten Schwingen leblos , kaum zitternd im Todeskampfe , zurück . –
„ Ich bin ein Unglücklicher “ murmelte er dann .
Ich kann nur in einer Atmosphäre von Liebe leben , schaffen , bestehen . Und ich bin einsam … so einsam !
Er küßte den Brief von Frau von Ellissen wie wahnsinnig . Der Inhalt des Briefes verwirrte ihn . Zum ersten Male rief sie ihn zu sich , – – am Abend – – , und in welchen Ausdrücken ! „ Unauffällig “ … zu welcher Stunde immer ! … Er las und las wieder , und ein Gedanke faßte Wurzel in ihm . Sein Herz schlug freudig , mannigfache Bilder jagten ihm von Schwindelanfällen unterbrochen durch den erregten Kopf .
Mit einem Schlage verwandelte sich seine Hoffnungslosigkeit in schwärmerische Freude .
Wenn dies alles eine Entscheidung Miras bedeuten sollte , einen schnell gefaßten Entschluß , endlich der Stimme der Liebe nachzugeben ? Wenn sie ihn annehmen würde , wenn sie ihm die erhabenen Worte sagen würde : „ Fred ich liebe dich . Ich werde die deine sein ! “
Da sich Mira entschlossen hatte , ihn in der Nacht zu empfangen , … allein ! Konnte er daraus eine andere Absicht ersehen ?
Er empfand plötzlich das Gefühl , als ob seine Brust an dem liebeglühenden Körper Miras , die sich ihm hingab , ruhen würde . Er breitete rufend die Arme aus , und preßte sie , als er wieder zu sich kam , auf sein Herz .
Endlich entströmten Tränen der Freude und Wollust seinen Augen und benetzten ihn wie der Morgentau .
Und er kehrte tatsächlich nach Hause zurück ; seine Stunde war gekommen . Seine lebhafte Einbildungskraft räumte alle bangen Sorgen mit einem einzigen Schlag aus dem Weg .
Als er in der Stadt ankam , traf er Frau von Kannenberg . Sie bat Fred zum Tee zu kommen . Sie war erfreut , ihn nach so langer Zeit wiederzusehen .
Fred nahm an . Was wollte er auch von 4 Uhr Nachmittag bis zum Einbruch der Nacht beginnen ? So verging wenigstens die Zeit schneller !
Die Rouleaux waren herabgelassen . Weit weg von dem Fauteuil , in dem Frau von Ellissen ruhte , stand die kleine Lampe mit dem rosa Spitzenschirm . Sie verbreitete einen schwachen Schein , ähnlich der Helligkeit der Nachtlampe eines Krankenzimmers . Diese Beleuchtung war einladend zu sanftem Hindämmern , zum Stillsitzen , ohne sich zu regen , zum Dämpfen der Stimme , zum Flüstern halb zu erratender Worte . Kein lautes Geräusch schien hier möglich , ebensowenig als man es sich einfallen ließe , im Halbdunkel einer Kapelle zu schreien .
„ Ich werde ihm sagen … ich werde ihm sagen , ja , daß mein Herz mein ganzes Wesen ihm gehört , “ wiederholte sich Mira . Er wird mir antworten , daß ich grausam bin .
Plötzlich ertönten scharf markierte Schritte auf den Fließen des Vorzimmers und die Türe wurde leise geöffnet .
Frau von Ellissen erschrak heftig und stieß einen Schrei aus .
„ Ich bin es , falle nicht in Ohnmacht ! “ sagte Stella während sie eintrat .
„ Ach ! “ sagte die junge Frau , und sah das Mädchen mit erschreckten Augen an .
Stella sprudelte gleich los :
„ Fred ist angekommen … aber frage nur nicht , wo er ist ! … Fred … ja , wo ist Fred ? Ich habe ihn eben zu Kannenbergs hinaufgehen gesehen … ah das ist also sein erster Weg , … und nicht zu uns ? “
Die junge Frau wußte wohl , daß sie ihn geschrieben hatte , er solle in der Nacht kommen , daß Niemand davon wissen solle , damit er ohne Aufsehen kommen könne !
„ Sie doch , Stella , überhäufe mich nicht gleich mit Vorwürfen . Er wird schon kommen . – Und übrigens ist es denn meine Schuld ? “
„ Doch , ja , es ist deine Schuld ! Ach ! das machst du gut ! Hättest du nicht so lange gezögert ! … Hättest du mit ihm gesprochen , als ich es dir gesagt habe ! Dann wäre er da ! Ich wäre schon verlobt , und unser Leben wäre schon im ruhigen Geleise . Jetzt aber ist er vielleicht für mich schon verloren , und ich muß vielleicht einem Anderen nachlaufen . Denn ich will unbedingt jetzt heiraten . Wer weiß , ob nicht eine von den Kannenbergs jetzt auch in Italien war und für mich jetzt alles verloren ist . Du siehst , daß sein erster Weg zu ihnen war . “
„ O , mein Gott ! “ stöhnte die junge Frau , das Gesicht in den Händen verbergend . Wenn es wahr wäre , daß Fred … von ihr zurückgestoßen … sich an ein anderes Herz geklammert hätte ? … daß er sich aus Ärger , um sie zu verletzen , zu quälen , in ein Abenteuer verstrickt hätte , das ihn von ihr auf ewig trennte ? … Wie entsetzlich ! Ihn zu verlieren ohne den bitteren Trost , ihn wenigstens durch die Fesseln der Pflichten , … mütterlicher Pflichten … wiederzufinden ! So grausam diese auch wäre , ein Schimmer von Freude war doch am Grunde des Leidenskelches … Aber ihn vollständig verlieren ! … Ihn niemals wiedersehen ! …
Sie regte sich wahnsinnig auf . Trotzdem sie geglaubt hatte , daß sie niemals von einer tieferen Trauer hätte ergriffen werden können , wurde sie jetzt inne , daß ihr früheres Leid nur eine Freude war , im Vergleiche zu den Schrecknissen , die sie nun kommen sah –
Ein instinktiver Gedanke bemächtigte sich ihrer . Sie mußte mit Stella vereint kämpfen , um Fred für sie beide zu erlangen . Sie rief fast in Tränen ausbrechend :
„ Was tun ? Sage es mir , mein Gott ! “ –
Während Fred zurückkehrte , zügelte er seine Sehnsucht , unaufhaltsam vorwärts zu eilen . Nein , er wollte nicht , daß andere von der köstlichen Stunde , die Mira ihm versprochen hatte , erfahren sollten . Er würde warten , bis alles schlief , und sie allein wäre , ganz allein mit ihm , dem Liebenden , dem Gatten …
Lautlos , im Verborgenen wollte sie ihn treffen , bei flüsternden Worten , Lippe … an Lippe ! …
Wie die Zeit lang wurde ! Er füllte sie in etwas kindlicher Weise damit aus , daß er sich ankleidete , wie für ein Fest . Sogar ein Jasminsträußchen steckte er sich ins Knopfloch .
Dann dachte er daran , daß er immerhin schon um den Park herumstreifen , dem Spiel der Lichter , die allmählich ausgelöscht würden folgen konnte , um dann schließlich hinter den Scheiben von Miras kleinem Salon das Licht der verschleierten Lampe aufflammen zu sehen , welches ihm sagen würde , daß sie da wäre .
Er ging fort . Die dem Hause zunächst liegende Tür des Parkes … die Türe beim Eichenrondeau hatte er geschlossen , aber nicht zugeriegelt gefunden . Er ging und schlich zwischen den Schatten umher ,
die der große noch tief am Himmel stehende Mond längs den Hecken verbreitete . Er verbarg sich hinter dem Gebüsch , erschreckt durch das leise Geräusch von Schritten , lauschte mit nervöser Angst , daß er von den Spaziergängerinnen , die sich manchmal verspäteten , gehört werden könnte . Vorsichtig erreichte er so den Rand des Gehölzes und blieb dort regungslos im Schutze eines Baumes . Noch niemals hatte er die Sensationen einer so romantischen Ankunft zu einem nächtlichen Rendez-vous empfunden ; er genoß sie als prickelnde ganz ungewohnte Freuden , in seinem so sittsamen Leben . Eine köstliche Erregung verzehnfachte seine Erwartung . Sein junges Blut pochte in seinen Adern , da es nun das leidenschaftliche Glück physischer Erregung empfinden sollte . Er war außer sich vor Freude über das sanfte Dunkel des Abends .
Das Fluidum des Mondes durchdrang ihn durch den Blättervorhang mit einem bis dahin unbekannten Gefühl eines unaussprechlichen Geheimnisses . .
Nicht einen Augenblick zweifelte er an den Wonnen , die ihm zuteil werden sollten . Nicht aus Ungeduld zählte er die Stunden , welche die Glocken des alten romanischen Turmes dort oben langsam von Viertel- zu Viertelstunde verkündeten . Er hätte von der Sehnsuchtswonne
eines sicheren Wartens nichts verlieren wollen . Doch ließ er seine Blicke dahin und dorthin schweifen , um den Veränderungen der Lichter im Hause zu folgen . –
Die Fenster leuchteten in der Abendluft , die ganz von dem berauschenden Duft der Maienblüte erfüllt war und drin wurden die Vorschriften getroffen , um zur Ruhe zu gehen .
Bald erhellte sich Stellas Zimmer und eine schmale Silhouette mit wallendem Haar stützte sich mit den Ellenbogen auf das Fensterbrett und sah hinaus . Nicht lange . Sie entfernte sich , kam dann wieder , ging auf und ab , ging an dem Fenster vorbei und zeigte eine Aufregung , die sich nicht beruhigen wollte .
Dann trat langsam ein dichter Schatten dazwischen .
Fred erriet , daß Mira Stella veranlaßt hatte zur Ruhe zu gehen . Sie selbst kam ans Fenster , schloß die Fenster und er glaubte zu sehen , daß sie sich vorher ein wenig verneigte um die Alleen des Parkes auszuspähen . Er murmelte in großer Erregung : „ Mira , Mira ! … ich bin hier ! “
Endlich erschien sie am Fenster ihres Zimmers . In diesem Augenblicke schlug es zehn Uhr . Sie
zählte die Schläge , unbeweglich . Dann bei dem letzten verklingenden Schlag sank sie in einen nahen Fauteuil und Fred bemerkte , wie der nachdenkliche , abgewendete Kopf sich nicht bewegte , so als sie versuchen würde zu schlummern .
Wie ruhig sie in einem solchen Augenblicke ist , dachte Fred , enttäuscht , daß Mira sich nicht ebenso erregt zeigte , wie er . Er hörte sogar auf , sie anzusehen , denn diese Ruhe konnte er nicht ertragen und er begann wieder zwischen den geneigten Brettchen der Fensterläden hindurch , bei Stella die Bewegungen ihres Schattens , der sich noch immer nicht beruhigen wollte , zu verfolgen .
Eine unbestimmte Traurigkeit trübte seine Freude , er seufzte ; er trug einen Groll im Herzen gegen all die Dinge die in seinem Leben so unharmonisch waren . Er fühlte etwas von der Enttäuschung , die ihm zuteil wurde , wenn er zu dem Text einer heiteren Melodie nur eine dumpfe , schwere , matte Begleitung hörte . Das , was an diesem Abend mit dem Frühlingslied , das in ihm klang und ihn bis in die Fingerspitzen erheben ließ , harmoniert hätte , wären köstlich verlaufende , gewandt gegriffene Arpeggien , bis in die höchsten Stimmlagen hinauf gewesen .
Und Mira … so unbeweglich … schlummernd ? Endlich erlosch das Licht in Stellas Zimmer .
Jetzt war die Fassade des Hauses ganz dunkel , ausgenommen das viereckige helle Fleckchen , daß Miras abgewendeten Kopf umrahmte .
Das Schweigen wurde tiefer , als die große Mondscheibe hinter den Hügeln verschwand .
Fred verließ seinen geschützten Platz , und ging um das Gebüsch , das ganz von blühendem Flieder eingefaßt war , herum .
Es schlug elf Uhr . Er zitterte : Die Tür des Glasvestibuls öffnete sich unter dem langsamen Druck einer unsichtbaren Hand . Dann drang durch die Stores des kleinen Salons ein Licht hindurch .
Mit einem leichten Satz durchmaß Fred den Raum , der ihn von dem Hause trennte , trat durch die halboffene Türe ein , fand seinen Weg zwischen dem Grün , welches den Eingang umgab und schob leise die Portiere beiseite , welche die einzige Türe des Boudoirs sorgsam verhüllte .
Mira , die nicht gehört hatte , daß er sich näherte weilte hier . Sie saß in einem schwarzen geschlossenen Kleide ganz zusammengekauert , die Ellenbogen auf die Knie gestützt , die Stirne in die Hände vergraben .
Das hatte Fred sich nicht vorgestellt , daß sie ihn so erwarten würde ! Ein erkältendes Gefühl hielt den Schwung seiner Gefühle zurück . Er rief sich den Brief ins Gedächtnis , in der schrecklichen Angst , sich vielleicht getäuscht , vielleicht schlecht gelesen zu haben .
Seine Hoffnungen verflogen , alles brach zusammen . Er erwachte aus seiner trügerischen leidenschaftlichen Aufwallung mit jenem Stich im Herzen , der den Unglücklichen eigen ist , die sich falschen Hoffnungen hingeben und die , wenn die scharfen Krallen der Wirklichkeit sie anfassen , die früheren Leiden wieder empfinden .
Er flüsterte ganz leise , fast klagend :
„ Mira ! “
Die junge Frau richtete sich erschreckt auf , und erstickte einen Schrei .
Sie sahen sich sehnsüchtig , liebeglühend an , bestrebt die gegenseitigen Gedanken zu erraten . Aber Mira hatte sofort den Gesellschaftsanzug und das angesteckte Jasminsträußchen bemerkt .
So war es also wahr , was Stella gesagt hatte ? Er kam von dort – – – von den Kannenbergs ? Die Gefahr belebte sie . Sie machte ihm ein Zeichen .
Er näherte sich um zu den Füßen Miras niederzuknieen , wie er es sonst immer getan hatte . Sie hielt ihn aber durch eine Bewegung zurück .
„ Sie haben meinen Brief in Rom erhalten ? Und Sie sind gekommen … Fred ! … “
„ Ja , und , … und ! … “
„ Und Ihr erster Gang war zu Kannenbergs Mädchen ? Sie haben sie aber sehr bald verlassen ; es ist erst elf Uhr ? “
„ Ja Mira , ich war dort , die Ungeduld , die Stunden bis zur Nacht , … in der ich kommen durfte , … schnell vergehen zu lassen , Mira . “
„ Sie hätten wenigstens die Blumen entfernen können . “
Und sie deutete mit der Hand nach dem Aufschlag seines Rockes . Er nahm die Blumen mechanisch haben . Den zarten und närrischen Grund , warum er sie so verklärt und so stolz angesteckt hatte , wagte er nicht zu gestehen : „ Ich habe sie erst später genommen ! Um meiner Liebe für Sie Ausdruck zu geben , der Freude Sie wiederzusehen , Sie , die mir Ihr zusagendes Wort gegeben hat ! “
Die junge Frau schüttelte den Kopf :
„ Ich stehe Ihnen doch wie mir scheinen will , nahe genug , daß Sie mich ein wenig zur Vertrauten hätten machen können ? “
„ Was hätte ich Ihnen anzuvertrauen , daß Sie nicht ebenso gut wüßten als ich ? “ antwortete er traurig . „ Ich war so unglücklich ohne Sie . O , so unglücklich , … so unglücklich ! “ sagte er , den Kopf senkend .
„ Kommen Sie zu mir , Fred , … ganz nahe zu mir , damit ich Sie ganz … so ganz bei mir habe … daß ich Ihre Augen sehe ! “
Fred stürzte vor ihr auf die Knie und breitete die Arme aus , um sie zu umschlingen ; aber sie faßte seine kühnen Hände und hielt sie fest in den ihren .
„ Fred … Sie haben mich nicht mehr lieb ? “
„ O Mira ! … “ Er barg seinen Kopf an Miras Brust und begann zu schluchzen . –
Die junge Frau wurde rot ; ihre Nasenflügel bebten ; ihre traurigen Augen bekamen wieder einen freudigen Glanz .
Fred war noch der Ihre ! Man würde ihr ihn also nicht wegnehmen . Aber er war am Ende seiner Kräfte , der arme Fred … gequält durch die lange Dauer seiner keuschen Liebe . Also vorwärts ! Sie
brauchte nur ein wenig Mut in diesem letzten Kampf , damit der Geliebte , der in ihren Armen weinte , sich wiederaufrichtete … … als ihr … … Schwiegersohn !
Ihr Sohn ! Sie versuchte sich von dieser unbefleckten Zärtlichkeit gefangen nehmen zu lassen ; sie drängte ihre liebeglühenden Triebe heftig zurück ; sie legte dieses Wort wie ein Siegel auf ihre Lippen um ihnen zu befehlen ihr Zittern zu beruhigen , das sie bei der Berührung mit diesem lieben weinenden Gesichte empfand , das auf ihrer Brust ruhte und über die Lauheit dieser Wiederbegegnung erblaßte . Sie rief sich zu , daß sie ihn nicht lieben dürfe … trotzdem umschlangen ihn ihre Arme mit unbewußter Heftigkeit , und umarmten ihn mit wahnsinnigem Druck , wie sie es sich erträumt hatte .
„ Oh ! Mira , hab’ Erbarmen ! Hab’ mich lieb … rief Fred . Wenn du nicht mein sein willst , so jage mich fort , töte mich , aber mache mich nicht wahnsinnig ! Du mußt mein sein … Mira … du mußt endlich mir gehören ! “ … Und er stürzte sich über den erblaßten halbgeöffneten Mund der jungen Frau ! Sie sträubte sich , stieß ihn weit von sich weg und erhob sich mit einer Bewegung , wie um zu fliehen . Aber er versperrte ihr den Weg . Überreizt , wie
er war , von ihr heftig zurückgestoßen , zitterte sein ganzer Körper vor Begierde und vor Wut . Er schrie mit heiserer Stimme , er weinte und zeigte dabei die Zähne , als ob er sie beißen wollte !
„ Sie sind grausam , Sie sind widerwärtig ! Ich hasse Sie ! Was wollen Sie denn ? Warum haben Sie mich diesen Abend gerufen , diese Nacht , allein , zu Ihnen ? Warum haben Sie mich mit Ihren Armen umschlungen ? “
Beleidigt , verwundet , aber auch erschreckt stammelte sie ; während sie sich an die Wand lehnte :
„ Also Sie haben geglaubt ?!! … O ! Fred … Sie haben glauben können ? “
„ Ja , ich weiß , ich hätte es wissen sollen , daß Sie eine von jenen Frauen sind , die von der Liebe alles wollen … ausgenommen die Liebe selbst ! … Ich habe genug daran gelitten während dieser langen Jahre ! Verrückt , dumm war ich , mein Leben , mein Herz zu verlieren , um zu Ihren Füßen hinzukriechen wie ein Hund , dem man schmeichelt und den man mit dem Fuß zurückstößt , wenn er es wagt Ihnen die Hände zu lecken . Aber noch einmal , da Sie doch wußten , daß ich Sie liebe , warum haben Sie mich heute Abend kommen lassen ? “
„ O Fred ! Sprechen Sie nicht so mit mir ! Ich erkenne Sie nicht wieder ! “ murmelte Mira … während sie sich in ihrer Schwäche mit ausgebreiteten Armen an die Wand klammerte wie an ein Kreuz . „ Sie töten mich ! … “ Ich wollte Ihnen … … ich wollte dir … …
Er beruhigte sich , da er sie so bedauernswürdig stehen sah und schon wand sich sein weiches Herz vor Reue . Aber er blieb vor der Türe in der früheren wilden Haltung stehen .
„ Fred “ sagte sie ihm , „ da ich sprechen muß , weil Sie mich zu einem Geständnis verpflichten , das die Furcht auf meinen Lippen zurückgehalten hat , und das ich Ihnen mit halben Worten zu verstehen geben wollte , ohne es mit fester Stimme aussprechen zu müssen … wissen Sie also … “
Fred stürzte sich zu ihr hin , da er sie so schwach , fast sterbend glaubte . Aber vor Schreck über seine Berührung beendete sie den angefangenen Satz , während sie die Hände abwehrend von sich streckte , und ihre Augen voll Tränen standen :
„ Stella liebt Sie ! “
Dann sank sie mit geschlossenen Augen , und schlaffen Armen in einen Stuhl . Sie hatte den Abgrund überschritten ,
der sie auf immer von ihrer einzigen Liebe trennte . Nun , da das Werk vollendet war , brach sie zusammen , wie um ins Grab zu sinken , nur noch von einer ewigen Ruhe träumend .
Während Fred , der starr vor Schrecken , wie ein vielfaches Echo den Wiederhall der Worte hörte , die sie ihm eben gesagt hatte , erbebte jede Faser seines Wesens :
„ Stella liebt Sie ! “
Ein instinktives Zittern überfiel ihn . Dann dachte er über die Wahrscheinlichkeit dieses Geständnisses nach . Sein Herz schwoll , als ob er ersticken müsse und er glaubte zu leiden .
„ Mira “ murmelte er „ welche Worte haben Sie ausgesprochen ? Und , wenn Sie aufrichtig sind warum müssen Sie mir dies dann sagen ? “
Sie regte sich ein wenig , wollte erklären , machte Bewegungen die ihre Sprache nicht ausdrücken konnte . Dann nickte sie mit dem Kopf , und erwiederte : „ Ja , Stella liebt Sie ! “
„ Nun wohl ! “ antwortete er ungeduldig „ wenn das der Fall wäre … “
Sie sah ihn an .
„ Verstehen Sie den nicht ? Sie müssen Stella heiraten ! “
„ Ich !!! “ Strahlende Bilder glitten an seinem geistigen Auge vorbei . Er erwiderte :
„ Sie denken doch nicht daran ? “ Sie antwortete entschieden : „ Sehen Sie , Sie wollten doch heiraten ! Sie haben mir gesagt , daß Sie so nicht weiter leben könnten , daß Ihr Herz der Zärtlichkeit bedürfe , daß die Einsamkeit in der Sie leben , dem Fluge Ihres Genius hinderlich wäre . “
„ Gewiß ! “ sagte er feurig .
„ Nun wohl ? “
„ Nun wohl , aber Sie sind es , die ich zu meiner Gattin , meiner einzigen Liebe ersehne ! “
„ Sprechen wir nicht von mir Fred … die Pflicht … das Alter … haben mich von Ihnen getrennt … ich darf für Sie nicht mehr vorhanden sein . “
„ Mira ! “
„ Lassen Sie mich für immer ! “
Ein Schweigen folgte . Die junge Frau sank mit gefalteten Händen auf ihre Knie , sie dachte auch , daß es sinnlos sei , sich so das Herz zu zerreißen , da es ihr doch frei stand ihre Leiden in innigen Umarmungen zu lindern . Sie begriff weder , warum sie sich opfern mußte , noch , daß sie machtvoll ihre Pflichten fühlte , gegen die sie sich , wenn nicht aus instinktiver Erregung ,
so doch wenigstens mit dem Wunsch der Hingabe , auflehnte .
Tief in ihrem Inneren trug sie ihre Liebe eingegraben , die sich all ihren Handlungen aufdrängte . Weil sie liebte , fügte sie sich in die Leiden . Das Glück anderer begeisterte sie . Dem Aufruhr ihres Herzens zum Trotz , gehorchte sie ihrem Pflichtgefühl . Ihr Eigensinn in diesem Punkte beharrte unbeugsam auf den scheinbaren Eingebungen ihrer instinktiven Gefühle . Trotz ihrer Schwäche ging sie mit gesenktem Kopfe gegen das Ziel los , das sie als das beste erkannt hatte , und war sich wohl bewußt zu straucheln wenn sie sich vergaß .
Sie antwortete ihm :
„ Ich kann und darf Ihnen nicht angehören , ich bin eine Frau von dreißig Jahren … meine Pflichten gegen Stella … verstehen Sie … und meine Zärtlichkeit für Sie gebieten mir dies . Stella hat diese Verbindung erträumt ! . . Ich betrachte Sie wie meinen Sohn … so wie Stella meine Tochter ist ! … … … Stella ist schön , jung , … Sie brauchen eine Gefährtin … und Sie gefallen ihr … Sie werden sie lieben . Ich muß für Sie tot sein … aber ich will Ihnen die Hand drücken , Fred . . Ich wende
mich an Ihre Ehre . Sie müssen Stella lieben , wie Sie mich geliebt haben … Sie müssen Sie lieben … das ist eine Ehrenpflicht . Das ist die Aufgabe unserer Seelen . Sehen Sie mich an , erheben Sie sich , über alle Kleinigkeiten ! … Seien wir groß , der Unendlichkeit der Liebe gegenüber !!! Das muß sein ! … “
„ Mira … also niemals werde ich die Worte hören : „ Ich bin Dein “ … „ auf immer “ ? “
„ Nein “ sagte sie mit erstickter Stimme .
„ Hören Sie … Stella will morgen Antwort ! … Also Morgen Abend … erwarte ich Sie zum Verlobungsdiner . “
„ Und wenn ich nicht komme ? “
„ Dann … “ murmelte die junge Frau . Wortlos stürzte Fred hinaus , Mira ganz verstört zurück lassend .
Ganz plötzlich dachte sie , daß er entfloh , daß er ihr entwischte , daß er nicht wiederkommen würde , daß alles zu Ende wäre . Aber er hatte gesagt :
„ Lassen Sie mich nachdenken ! “
Sie stürzte ihm nach , rief ihn , leise erschrocken … ihm zu sagen … ich liebe dich , … ich bin dein ! Aber im Dunkel des Parkes sah sie keinen Schatten ; im Schweigen der Nacht hörte sie nicht den leisesten Hauch !
„ O ! “ seufzte sie von neuem mit ausgebreiteten Armen die leer waren wie ein offener Käfig :
„ O Fred … Fred ! “ Die finstere Nacht hüllte sie ein , wie in ewige Finsternis . –
Drei Monate waren vergangen ! –
Die Wagen durcheilten die Straßen um die Gäste aufzunehmen . Die alten Arbeiter der Fabrik hatten die Nacht hindurch gearbeitet um Zweige abzuschneiden und damit das Gittertor des Hauses und das Tor der Kirche zu bekränzen , ihre Frauen entblätterden die weißen Rosen , welche sie abgepflückt hatten um die Wege zu bestreuen . Die Junisonne brannte herab .
Als Stella Ellissen dem Wagen entstieg und zwischen das Spalier neugieriger Köpfe trat , war sie verwirrt . Ihre kunstvolle Frisur , ihrer eigenartigen , persönlichen jede Banalität ausschließende Kleidung , ihre einfache und stolze Haltung , ihr offenes Gesicht von idealer und vollkommener Anmut , ließen sie hervorragend geeignet erscheinen , um unwiderstehlich zu verführen und zu herrschen . –
Keinerlei Kritik ließ sie aufkommen . Man blieb erstaunt vor dieser Erscheinung . Keine Unbeholfenheit , nichts Linkisches , keine Schüchternheit . Hinter ihrem Schleier war sie rosig , von jugendlicher Frische , und nicht infolge der Erregung . Ihre hellblauen Augen leuchteten unter den halbgesenkten Wimpern . Die leicht in die Höhe gezogenen Mundwinkel schienen zu ihrem natürlichen Ausdruck zu gehören , und drückten fast ein Lächeln aus ; aber sie lächelte nicht . Stella ging ohne Hast , jedoch rasch genug , um das gewohnte Ungestüm ihrer Bewegungen durchblicken zu lassen . Sie war kindlich und königlich … jedoch nicht jungfräulich . Herr Deaken führte sie , denn sie hatte keinen Verwandten , der diese Pflicht hätte erfüllen können . Sie zog so sehr die Blicke auf sich , daß man trotz des Zuges auserlesen eleganter Frauen , der ihr folgte , nur sie sah . Mira , die den Zug schloß , wäre unbemerkt geblieben , wenn man sie nicht so sehr verehrt hätte . Aber die Leute wurden traurig , als sie sie so blaß mit einem wild entschloßenen Ausdruck sahen , den man an ihr nicht kannte .
Die unglückliche junge Frau , die gezwungen war , ihre Hand auf den Arm Freds zu stützen nahm sich mit äußerster Willenskraft zusammen , aus Angst , daß
der junge Mann das unaufhörliche Zittern , das sie durchlief , bemerken könnte . Sie allein eilte , so schwach sie sich fühlte , und die Schleppe ihres Kleides knisterte unter der Hast ihrer Schritte . Man fand sie sehr schön in ihrer Toilette aus lichtblauen Crepe de chine mit schwarzen Margueriten und reicher Spitzengarnierung . Tapfer , mit grausamer Anstrengung , hielt sie sich aufrecht .
Miß , welche dem Zuge vorausgegangen war , um ihn nicht aufzuhalten , sah sie herankommen , und suchte ihre Blicke , um sie mit frischer Kraft und Mut zu beleben . Als Frau von Ellissen von Fred befreit in ihrem Lehnstuhl niedergesunken war , atmete sie auf .
Hörbar entströmte der Atem ihrer zusammengepreßten Kehle . Das Geräusch verlor sich im brausenden Orgelklang . Jetzt wagte sie es , die Augen zu Fred der vor ihn kniete zu erheben , und sie versenkte sich in eine letzte und schmerzliche Anbetung .
Fred war bleich … er frohlockte , sein Herz zitterte vor Entzücken und Gewissensbissen und plötzlich trieb ihm eine Blutwelle fieberhafte Röte auf die Wangen .
Seine Aufregung verriet sich durch nervöse Bewegungen . Er wäre am liebsten fortgestürzt , um das
Weinen Miras nicht zu hören . Manchmal war es ihm , als ob der stoßweise Atem der unglücklichen Frau bis zu ihm hindrang und ihn streifte und seine Augen füllten sich mit Tränen .
Als der Geistliche die Hand Stellas in die seine gelegt hatte , vergaß er alles . In der Sakristei blieb die junge Frau zurück und begleitete Fred mit einem letzten Blick .
Von Miß unterstützt , von den Gästen umringt zeigte sie sich gerührt , ohne ihren inneren Schmerz zu zeigen . Als sie ermüdete , unterbrach Miß die Gespräche und antwortete für sie .
Indessen erfüllte Stella mit viel Anmut ihre gesellschaftlichen Pflichten als Neuvermählte . Vollkommen in Allem , traf sie den richtigen Ton , und blieb vertraulich und heiter mit ihren jungen Freundinnen , mit denen sie ihre Herzensergüsse austauschte .
„ Ihr werdet auch an die Reihe kommen , meine Kleinen , “ sagte sie „ und ich werde euch helfen . Ihr werdet schon sehen ! Wenn ich erst wieder zurückkomme … aber erst müßt ihr mich abreisen lassen . Ich muß doch jetzt den Schleier ablegen , der mich überall zieht und spannt ! Sehe ich nicht dumm aus , was ? “
„ Du bist anbetungswürdig ! Aber , sag’ uns , bist du zufrieden ? “ fragten sie , lüstern nach einem Geständnis , neugierig wie sie in ihrer Unschuld waren .
„ Das werde ich euch sagen , wenn ich zurückkomme , “ antwortete sie mit geheimnisvoller Wichtigtuerei , die Nase in ihr Bouquet steckend .
„ Übrigens , “ fragte sie Alice , die selbst zu viel wußte , als daß sie sich für Stellas Gefühle interessiert hätte : „ Werdet ihr lange wegbleiben ? “
Eine andere flüsterte ihr in ’s Ohr :
„ Du ! Wie lange wird deine Reise dauern ? Fernand hat nur einen Monat Urlaub , meine Liebe . “
„ Du möchtest mehr haben , du Unbescheidene ! “
„ Wo ist denn Fernand ? Ich habe ihn noch nicht gesehen . “ Sie log . Versteckt hinter einer Gruppe von Herren , war er seit dem Eintritt in die Sakristei damit beschäftigt , ihr leidenschaftliche Blicke zuzuwerfen . Und mit seinen feinen , weißen Zähnen an seinen Handschuh beißend , warf er ihr gleichsam rasche Küsse zu , die sie mit halbgeschlossenen Augen , leise nickend , empfing .
„ Wahrhaftig “ rief Alice aus , „ warte doch ! Ich werde ihn dir suchen . “
Aber während sie in das dichte Gedränge der Ärmelbauschen und der raschelnden Schleppen glitt , näherte sich Fernand , der seine Braut hatte verschwinden sehen Stella . Er beugte sich nieder , als ob er die kleine Hand , welche er in der seinen festhielt , an seine Stirn pressen wollte und murmelte :
„ Wann kommen Sie wieder ? “
„ In fünf Wochen , denke ich “ antwortete Stella :
„ Oh wie ich Sie sehnsüchtig erwarten werde ! “ sagte er leiser . „ O Stella , Sie sind schön ! Schön zum Verrücktwerden ! “
„ Finden Sie ? “ sagte sie ein wenig erfreut .
„ Sie wissen es recht gut ! Aber ich habe ihr Bild in mein Gedächtnis eingegraben und behalte Sie so in Erinnerung , für immer . Das dürfen Sie nicht vergessen ! “
„ Auf Wiedersehen “ sagte Stella etwas verwirrt .
„ Auf baldiges Wiedersehen … später … “
„ Zu spät , vielleicht ! “
Sie wendete sich um , Alice kam herbei .
Das Lunch war auf der großen Terrasse in den Parterr-Salons vorbereitet worden und die kleinen blumengeschmückten Tische standen bis zur Mitte der großen Alleen im Park unter dem grünen Dom ,
durch welche wie Sternengefunkel die Sonnenstrahlen durchschimmerten , entfalteten sich die hellen Toiletten , wogten hin und her , und veränderten ihre Farbenwirkungen , je nachdem sie zufällig zusammentrafen . Dort erstrahlte eine Gruppe blau , das plötzlich durch darauffallende Schatten dunkler wurde , oder sich von düster gefärbten Toiletten heller abhob . –
Und all das war entzückend in der hellen durchsichtigen Luft . Stella hatte Kranz und Schleier abgelegt . Unbekümmert ließ sie ihr langes Kleid schleifen . Schlank und weiß schritt sie dahin mit dem Sternenglanz ihrer goldigen Frisur , die der Luftzug ein wenig zauste und sie wie mit einem Glorienschein umgab .
Die Freundinnen begleiteten sie in einiger Entfernung wie ein respektvoller Hofstaat , wie eingeschüchtert durch die königliche Haltung der Jungvermählten .
Die Mütter waren erstaunt über die ruhige Dreistigkeit der neuen Baronin Seuriet . Man sagte mit halblauter Stimme : „ Es fehlt ihr ein wenig an Bescheidenheit … “
„ Ach nein , “ antworteten die Wohlwollenden , „ daß ist ihre allzugroße Unschuld , die sie so dreist erscheinen
läßt . Ein junges Mädchen , daß errötet … gesteht . “
Und Mira , noch so jung , kaum dreißig Jahre alt , würde sie nicht schon die sonst ihrem Alter eigene Unruhe an einem kritischen Tage dazu drängen ein neues Leben , eine neue Sommerzeit der Liebe herbeizusehnen ? Ob sie wohl daran dachte ?
Herr Deaken richtete sich zu einer verliebten , stillschweigend geduldeten Pose stolz auf . Als er einen Augenblick mit Frau von Ellissen allein war , erkühnte er sich sogar sanft ihren Arm zu drücken und ihr eine seiner schmeichelhaftesten Phrasen zuzuflüstern . Aber sie unterbrach ihn mit einer fast zornigen Bewegung .
„ Nein , nein , jetzt ist ’s genug , Herr Deaken ! Bis heute habe ich dieses Spiel geduldet , weil … weil ich noch nicht so alt war , als daß mir ein wenig harmlose Galanterie mißfallen hätte … Aber heute … “
„ Nun wohl , heute ? Niemals sind Sie schöner gewesen , niemals begehrlicher . “
„ Spotten Sie nicht , mein Freund , das heißt lügen Sie nicht , um mich zu trösten . “
„ Ich lügen … ! Sie trösten ! Worüber ? “
„ Ich meinte “ sagte lebhaft Frau von Ellissen „ mich trösten , weil ich heute in die Kategorie der Schwiegermütter und der … Großmütter eintrete . Ich tue es sehr gerne , und nichts hält mich zurück . Ach … nichts , nichts ! Als daß ich die alte unbedeutende Dame sein werde , die man „ die gute Mama “ nennt und die man sich mit ganz weißem Haar … und mit trippelnden Schritten vorstellt . Ja , ja , so geht es , so werde ich bald sein ! Ja … mit meinen dreißig Jahren ! “
„ Sie gestatten mir also nicht , Sie zu lieben ? “ seufzte Herr Deaken .
„ Nein mein Freund , ich will kein Wort mehr darüber hören . “
„ Sie verzichten also auf daß Leben … so schön und so jung ? “
„ Jung ! “ sagte die junge Frau leise . . „ ach wenn ich noch jung wäre ! Von heute an kommt mir das weiße Häubchen und die Brille zu … ich fühle mich auch schon so matt … daß ich mich am liebsten zurückziehen würde . “
„ Darf ich Sie hinauf führen … Sie Grausame ? “
„ Nein , ich danke … aber ich sehe Stella nirgends … und meine beiden Kinder wollen ja
bald abreisen … O wie sehne ich mich nach dem Alleinsein … das ist alles , was ich wünsche ! “
„ Ich werde Ihnen dazu verhelfen ! “
Mira ging in ihr Zimmer … da kam Stella ihr schon im Reisekleid entgegen .
„ Ist es schon zu spät ? “ fragte die junge Frau , während sie sich krampfhaft an dem Treppengeländer festhielt .
„ Ach , wir kommen sicher nicht zu spät “ antwortete Stella unwillig „ wie dumm mich so zu eilen … doch Fred zittert vor Ungeduld … ja Fred … er eilt so sehr … Aber Mira , fasse dich doch … du bist ja ganz verstört … ich komme ja wieder … du irrst , wenn du denkst , daß es mir leicht wird , dich so zurückzulassen … lache doch ein wenig ! “
„ Bist du jetzt glücklich … Stella … sag’ mir ’s schnell ! O bitte sag’ es mir ! “
„ Gewiß , ja … gehe aber in dein Zimmer , wir kommen gleich , um dich zum Abschied noch zu küssen … Fred kommt auch ! “
„ Nein er braucht nicht zu kommen “ schrie Frau von Ellissen beinahe … „ sorgt euch nicht um mich Ich will euch lieber nicht sehen ! “ Stella war schon fort , sie flog die Treppen hinab und rief : „ Fred ! Fred ! “
Mira , durch die Angst vor den Abschiedsküssen angespornt , schleppte sich längs des Treppengeländers hinauf und ging ganz verstört in ihr Zimmer . In diesem Augenblick hätte sie sterben , verückt werden mögen , um ihren Schmerz nicht mehr zu fühlen .
Nur die Angst , sich Fred zu verraten , war während der Todeszuckungen ihres Herzens in ihr lebendig . Sie rief jammernd aus :
„ Nur noch eine Minute Mut ! Noch eine einzige Kraftanstrengung ! … Dann ist es vorüber … ich werde befreit sein … ich werde endlich weinen können ! “
Sie ermahnte sich , wie der Kranke unter den Händen eines Operateurs , nicht zu weinen so lange die Qual ihre Seele zerfleischte . Die Hände auf ihrer Brust schienen das Rieseln des Blutes aufhalten zu wollen . Sie drückte ein mit Äther befeuchtetes Tuch gegen ihr Gesicht und atmete den Geruch heftig ein . Sie suchte die Schmerzlosigkeit . Jedes Geräusch , das sie vor ihrer Tür hörte , ließ sie in einem langen Schauder erheben .
Stella trat ein .
„ Arme Mira “ sagte sie , sie an den Schultern fassend und sie an ihr stolzes Herz drückend . Und zum ersten Mal wieder zärtlich : „ Ich habe dich ja so
lieb … hörst du mein Kleines ? Willst du , daß ich hier bleibe ? “
„ Ach nein … gehe … sei glücklich … reise ! Oh , ich will es … gehe , laß mich … es ist gut . “
„ Wirklich ? Also auf Wiedersehen … bald . Ich werde sehr bald schreiben . “
„ Ja , ja , … gehe nur rasch … glückliche Reise ! “
Stella lief die Treppen hinunter . Der Wagen stand im Hofe schon bereit . Unten traf sie Fred .
„ Nun gehe noch rasch zur Mama … zu Mira … schnell … schnell … Gib ihr einen Kuß von mir . “
Er zögerte . Sie drängte ihn ein wenig derb :
„ Das würde sich nicht schicken ! “
Er schien sich beeilen zu wollen . Aber auf der Treppe blieb er stehen . Seine Knie zitterten . –
„ Nein , er würde nicht den Mut dazu haben . Aber was würde Stella , die jetzt seine Frau war , davon denken ? Umsomehr als Mira ihn erwartete . An der Türe angekommen wandte er sich ab , seine Hände zitterten . Wenn sie am Ende beide laut aufschrieen , wenn sie sich umarmten ! “
Stella rief von unten :
„ Mache schnell , wir werden den Zug versäumen , beeile dich ! “
Er glaubte , daß Stella noch einmal heraufkomme und klopfte an die Türe . Niemand antwortete . Er dachte . „ Mira ist vielleicht nicht mehr drin . Oder sie muß sich eingeschlossen haben ! “
Er öffnete die Türe .
Frau von Ellissen hatte sich wieder aufgerichtet . Mit ausgestreckten Armen wehrte sie sein Näherkommen ab . Auf ihrem Gesichte konnte man aus den geschlossenen Augen die Tränen fließen sehen . Schmerzlich betroffen wich er zurück . Oh ! wie sie litt ! Wenn er das zu glauben gewagte hätte , das geahnt hätte , … niemals … nein niemals .. !
Aber sie rührte sich nicht , streng und eigensinnig blieb sie bei ihrer Abweisung . Eine Ehrfurcht ergriff ihn . Mit verwirrtem Blick trat er vor dieser schrecklichen Erscheinung zurück , fühlte sich durch die abwehrenden Hände zurückgestoßen , hingestoßen zum Glück , durch diese Frau und Mutter , die in der Apotheose ihres Opfers zu tragischer Erhabenheit und Größe emporwuchs .
„ Auf Wiedersehen … Mira … Mutter “ sagte er im Hinausgehen .
Als der Wagen davon rollte senkte die junge Frau ihre Arme ; und als das Gittertor krachend geschlossen
wurde , warf sie sich nieder , als ob sie ihres Lebensinhaltes beraubt sei , und preßte ihren Körper in die Kissen . Eine Weile blieb sie so in der Trägheit ihrer jetzt unnützen Kräfte ; nur die fließenden Tränen verrieten , daß sie noch immer an ihr Schicksal dachte . Dann ließ sie eine Berührung , ein Murmeln neben ihr , die Augen öffnen . Miß beugte sich über sie , mit gutem mitleidsvollem Gesicht und energischen suggestiven Blick stolzer Tapferkeit .
„ Nun , meine Liebe , Kopf hoch ! Sie leiden , aber Ihr Leid ist edel und rein . Seien Sie stolz darauf . “
Mira schüttelte kläglich den Kopf .
„ Ich kann nicht getröstet werden ! “
„ Weil Sie es nicht wollen . Aber man muß es wollen , um seinen Weg weiter zu gehen . “
„ Alles ist zu Ende … “
„ Alles beginnt . Niemals mehr als heute . Ihre Kinder haben Sie nicht mehr nötig … “
„ Oh ! nein … sie genügen sich gegenseitig . “
„ Heute noch , vielleicht ! Aber die Zukunft wird nicht leicht sein . Fred ist schwach , … er wird leiden . Was würde daraus werden , wenn Sie , die Tapfere , die Ergebene , nicht über ihn wachen ! “
Die junge Frau hatte sich erhoben .
„ Die Liebe drückt sich nur durch die Ergebenheit aus , “ fuhr das alte Fräulein fort . „ Sie werden sehen , daß Sie nicht das Recht haben auf Ihren Leiden auszuruhen wie auf einem Ruhebett , das zwar ein wenig hart ist , aber auf dem man schließlich doch einschläft . Kopf hoch , meine liebe Freundin , jetzt mehr als jemals ! So lange man geben kann und noch gibt , muß man sich aufrecht halten , bereit zu jedem Sühnopfer . Das ist Ihre Aufgabe , die Sie sich hienieden erwählt haben und für die Sie der Gott , den Sie nicht lieben konnten , dem Sie aber nach seinem ewigen und geheimnisvollen Willen dienten , mit unbeschreiblichen Freuden belohnen wird . Ach , wenn Sie ihn lieben würden , den Bruder der Menschheit , der sein blutiges Opfer gebracht hat , der Ihre liebende Seele geschaffen hat , der unbekannte Gott , der von flammernder Liebe erfüllt , durch die erhabenen Seelen der Menschheit leuchtet ! Wie glücklich Sie sein werden ! … Ja sehr glücklich , so wie ich es bin , ich , die ebenso gelitten hat wie Sie , mehr als Sie , denn ich habe keine Freude auf der Welt kennen gelernt und ich sterbe mit einem Herzen , das zum Lieben und zur Mutterschaft geschaffen war . Aber ich habe den göttlichen Willen erkannt , und ich
habe denjenigen geliebt , der der Welt die Liebe gegeben hat , als Offenbarung seiner Existenz . Ich habe ihn geliebt und ich habe mich ihm angeboten . Er hat mich ganz hingenommen . Ich glaube ihn manchmal in mir zu tragen , wie man ein Licht trägt , das man mit den Händen schützen muß , damit der Hauch der Leidenschaften es nicht auslösche , während man geht … “
Die junge Frau murmelte :
„ Ich kann nicht beten , ich habe verlernt zu beten . “
„ Doch , weil Sie lieben können . Jedes Gebet entspringt der Liebe und jeder Liebesakt ist ein herrliches Gebet . Was fehlt Ihnen um die Freude in Ihren Leiden zu erkennen und zu genießen ? Nichts , als zu wissen , daß Sie ihm sie darbieten , … ihm … , dem Gott der sie von Ihnen fordert . Glauben Sie mir , liebe Mira , breiten Sie Ihre leeren Arme gegen die große wärmende Sonne aus und Sie werden eine wundervolle Ernte idealer Glückseeligkeiten empfangen , die wie Frühlingsblüten Ihres ergebungsvollen Lebens sind . Auf ! Erheben Sie sich und gehen Sie Ihren Weg . Ihre schönsten Tage kommen und Sie müssen die Kräfte zur Vollendung Ihrer
Aufgabe wiederfinden . Gott entfernt sich von denjenigen , die ihn verlassen , aber er nähert sich jenen die zu ihm kommen … tun Sie den Schritt . “
„ Ich bin sehr erschöpft , Miß . “
„ Er wird Sie stärken . “
„ Ach wenn er mir nur helfen würde ! “ murmelte die unglückliche Frau , fortgerissen von dem kühnen Wollen dieser stolzen Seele . Und schon hörte sie auf zu weinen . – –
Ein Jahr war vergangen .
Stella , die junge Baronin Seuriet war in guter Stimmung , sie amüsierte sich . Einer ihrer Verehrer , ein junger Leutenant richtete täglich wohlgeformte Verse an sie , sehr leidenschaftlich in sehr zarten Ausdrücken , welche ihren Stolz und auch ein leises Prickeln erregten . Der Autor war ein sehr junger Mann mit unbedeutendem Gesicht , schüchtern , ungefährlich . Seine zarte Anbetung gefiel Stella ; sie füllte eine Leere aus ; es war ihr amüsant , in dieser Weise geliebt zu werden ; das war doch eine Abwechslung gegen die stürmischen Angriffe Fernands
und die friedliche Begehrlichkeit Freds . Sie hatte ihren Dichter : „ Die kleine blaue Blume “ getauft und ihre Koketterie pflegte diese Blume nicht ohne Ergötzen .
Sie kam zu Mira , schön geputzt , strahlend , sonnig mit dem Auftreten einer jungen sieghaften Königin , der sich Alles und Alle zu unterwerfen haben .
„ Was gibt es ? Du bist krank ? Wie siehst du aus , Liebe ? “
„ Ach Stella ! Du bist unvorsichtig , meine Liebe . Ich habe es dir ja gesagt , daß das schlecht enden würde , “ antwortete die junge Frau .
„ Gott ! … immer dieselben Geschichten ! … Ich sage dir , daß ich nichts davon wissen will … alles ist in schönster Ordnung , wenn ich mich amüsiere , und das genügt mir . “
„ Du mußt mich trotzdem anhören , Stella . “
„ Dann gehe ich … auf Wiedersehen ! “
„ Aber Unglückliche ! “ rief die junge Frau aus , indem sie ihr den Weg versperrte .
„ Ach was , Gott , wie langweilig ! … Beeile dich , sage schnell , was du willst ; ich muß zu Alice gehen , sie ist krank , wie ich höre ! “
„ Gehe nicht hin ! “ sagte Mira erschrocken .
„ Warum sollte ich nicht hingehen … was denkst du denn ? “
„ Weil … weil … du gewiß nicht empfangen wirst . “
„ Nun , das möchte ich doch sehen … warum nicht … aus welchem Grunde nicht ? “
„ Alice sprach über dich … es ist … wegen ihres Mannes … “
Stella lächelte nervös , wahrend eine leichte Blutwelle ihre Wangen färbte .
„ Mit wem sprach Frau von Eulenburg darüber ? Mit dir ? “
„ Nein … mit ihrer Schwiegermutter . “
„ Der Witwe ? nicht möglich ! “
Mira schüttelte schmerzlich den Kopf … sie dachte an Fred . Dann wurde sie ernst .
„ Sie war hier … “
„ Hier bei dir ? “
„ Ja , bei mir , sie kam , um mir davon Mitteilung zu machen , daß sie sich , falls du deine Koketterien und Intimitäten mit ihrem Sohn nicht aufgeben würdest , an deinen Mann wenden wird . “
In Stellas Zorn mischte sich eine gewisse Unruhe . Sie hatte , wenn sie zu lange fort gewesen war , an
Fred öfter mürrische , manchmal auch eifersüchtige Stimmungen bemerkt . Diese Angelegenheit konnte sein Vertrauen erschüttern und in ihr Zusammenleben jene Wortgefechte und Kämpfe bringen , die ihr so widerwärtig waren . Sie wollte Frieden haben und so sehr sie noch die Kraft in sich fühlte ihn zu erhalten , konnte doch ihre unbedingte Freiheit , die sie forderte , darunter leiden . Eine kalte Wut darüber , daß man ihrem Willen entgegentrat , spiegelte sich in ihrem Gesicht und ließ jede Anmut daraus verschwinden . Nach kurzer Überlegung wandte sie sich entschlossen nach der Türe .
„ Wo gehst du hin ? “ frug Mira ängstlich .
„ Dorthin gehe ich , wohin ich dir eben sagte , zu Alice . Mache dir keine Sorgen , ich werde mich schon mit ihr auseinandersetzen . Wenn sie es war , die diese Geschichte heraufbeschworen hat … werde ich sie nicht wiedersehen … Ich zweifle daran , aber sollte es doch so sein , so wird sie es noch bereuen . “
„ Und ihre Mama ? “ frug Mira , entsetzt über Stellas Antwort .
Schon an der Türe , kehrte Baronin Seuriet um :
„ Ich habe weder das Recht noch die Lust und die Absicht mich mit Fernand von Eulenburg zu entzweien .
Er ist ein liebenswürdiger und charmanter Kamerad , der mir gefällt , der mich unterhält und den ich mir bewahren werde . Da hast du die volle Wahrheit , und die bitte ich dich auch seiner alten mürrischen Mutter zu sagen . Auf Wiedersehen Mira ! … “
Und so wie sie es gesagt hatte ging Stella zur Präfektur , wo Alice mit ihrem Manne wohnte . Stella kannte sie gut . Tückisch und falsch , wie Stella war , sehr nachgiebig , fähig sich entzückt zu zeigen und dabei die bösesten Hintergedanken zu haben , spielte sie seit lange dieses Spiel , und hielt es durch die Überlegenheit ihrer Kraft und ihres beherrschenden Willens auch aufrecht . Sie fühlte , daß Alice sich fürchtete , ohne jedoch noch zu wagen genau anzugeben wogegen sich ihre Befürchtigungen richteten .
Naiv wie Alice übrigens war , ließ sie sich leicht überzeugen und war durch einen Rest romantischer Gefühle leicht in Rührung zu versetzen . Mit einem Herzenserguß war sie schnell zu erobern . Ihre Nerven gaben selbst bei einer banalen Umarmung , wenn diese nur mit der nötigen Leidenschaft ausgeführt wurde , so schnell nach , daß sie , wenn jemand ihr nur Liebe heuchelte , sich ihm ganz unterwarf .
Auch ihr Mann gab sich nicht viel Mühe mit ihr , denn er war sicher , mit Liebkosungen , denen er den Anschein leidenschaftlicher Wärme gab , über ihre eifersüchtigen Launen Herr zu werden . In seiner Gegenwart unter seinen Küssen vergaß Alice ihre Leiden ; aber sie wurde wieder von ihnen ergriffen , sobald er fortging . Dann litt sie und beklagte sich . Ihre Mutter hatte sie gleich nach den ersten Worten verspottet , und setzte ihren Liebeswunden gewöhnliche Scherze entgegen .
Dann ging sie zu Frau von Eulenburg . Sie war sicher , daß sie Stella dadurch keine brennendere Wunde zufügen konnte , denn die Witwe verstand in Konvenienzangelegenheiten keinen Spaß . Ihre hochmütige Strenge gab den geringsten Zeichen ihrer Ungnade eine Schärfe , die unerträglich war . Alice hatte in ihr , Fernand betreffend , eine Verbündete gefunden , und brauchte sich nun blos verteidigen zu lassen .
„ Gewiß bin ich für die Baronin Seuriet zu Hause , “ antwortete sie sehr laut , als man ihr Stella meldete , sodaß diese es hören konnte .
„ Falsche “ murmelte Stella , während sie ruhig und lächelnd eintrat . „ Nun ? Wie geht ’s meine Liebe ? “ frug sie und umarmte Alice .
„ Ach du weißt , ich schleppe mich so weiter , aber es geht schon . Mit Bébé geht ’s gut und das ist das Wichtigste . “
„ Arme Kleine ! Was für eine Last so ein Kind ist , nicht ? “
„ Ach nein , ich beklage mich nicht . “
„ Du hältst es aus . Ich , wenn ich so den ganzen Tag liegen müßte , würde ich wütend werden . Wenn ich Mutter würde , so wäre das so , wie man Fieber bekommt ohne es zu wollen . “
„ Wie , du willst kein Kind ? “
Stella unterbrach sie mit einer Bewegung .
„ Alice , bring’ mir nicht Pech ! Male mir nicht den Teufel an die Wand ! Kinder locken mich nicht , im Gegenteil . Das ist ein Hindernis im Leben , das ist alles . Wenn ich keine bekomme , was hoffentlich der Fall sein wird , so werde ich sehr glücklich sein . “
„ Ach du … du mußt immer in Bewegung sein , laufen , tanzen . “
„ Ich muß mich amüsieren , ja . Das Leben scheint mir dazu da zu sein . Es wäre sehr langweilig , wenn man sich nicht zerstreuen würde . “
„ Nun , mache es wie ich , sticke eine Wickeldecke ; sieh einmal , ist das nicht hübsch , diese kleine Ausstattung ? “
„ Du möchtest damit am liebsten Puppe spielen . Machst du das alles selbst ? “
„ Ich muß mich wohl zerstreuen . Ich fühle mich jetzt so oft einsam . “
„ Ach einsam ! Du hast genug Menschen , die dir Gesellschaft leisten können . “
„ Du irrst dich . Meine Freundinnen vernachlässigen mich ein wenig . Seit ich leidend bin , macht es ihnen keinen Spaß mehr mit mir zusammen zu sein . Mama sitzt nicht gern ruhig , sie kommt herein und geht wieder . Und mein Mann hat zu tun … hat sich … zu … zu amüsieren … … … “
„ Ja , was ich sagen wollte , wegen Fernand “ sagte Stella kühn , „ weißt du die neueste Erfindung deiner Schwiegermutter ? Nachdem sie mich ohne Grund gequält hat , möchte ich es dir sagen , damit du etwas von dem unheilvollen Dasein , welches das Schicksal der alten Frauen und Gott sei Dank nicht das deine ist , kennen lernst . Sie fällt heute über mich her und will mich zwingen auf meine Vergnügungen , auf meine Bekannten zu verzichten … Das ist wirklich Übereifer ! “
„ Was erzählst du mir da ? “ rief Alice aus , während sie sich bemühte die Augen groß aufzumachen , um ihre Lüge glaubwürdiger zu machen .
„ Die Wahrheit , meine Liebe ! Deine vortreffliche Schwiegermutter war darauf bedacht , sich bei Mira zu beklagen … errätst du ein wenig , weshalb ? “
„ Ich habe keine Ahnung … sag’ rasch ! “
„ Wegen zu häufiger Besuche , ja , so sagte sie , wegen zu häufiger Besuche deines Gatten bei mir ! Sie ist wirklich köstlich ! “
„ Nicht möglich … du machst Spaß ! “
„ Das scheint so , aber es ist die volle Wahrheit . Sie fügte noch hinzu , du hättest sie beauftragt ? “
„ Ich ! … Das glaubst du doch nicht ! “ rief Alice erregt .
„ Nein und deswegen bin ich hier “ antwortete Stella ruhig und zuckte die Achseln . „ Ich weiß , daß du weder so dumm bist , noch so falsch , um dir so etwas in den Kopf zu setzen , und es dann für gut zu finden , diese Launen , an welchen dein Zustand Schuld tragen würde … wie das vorkommen soll … diese Träume einer Kranken zu einer Anklage aufzuwerfen , die in ihrer Angeberei ebenso häßlich als heuchlerisch wäre . Nein , ich kenne dich ja ! Du bist solcher Gemeinheiten nicht fähig . Deshalb spreche ich offen mit dir , als Freundin , anstatt ärgerlich zu sein . “
„ Und du tust recht daran , ich schwöre dir ! “
„ Schwöre nicht , das ist überflüssig . Aber bitte deine Schwiegermutter , sich nicht mit mir zu beschäftigen . Wenn sie das quält , daß ihr Sohn mich auch jetzt , da du verheiratet bist , sieht , so soll sie ihm selbst Vorstellungen machen , sie soll aber so freundlich sein , Miras Ruhe nicht zu stören . Diese Sorte alter Frauen weiß nichts anderes als Erfindungen zu machen , womit sie die Jugend quält . Ich frage dich nur , wo ist die große Unschicklichkeit an seiner Freundschaft , die durch dich , durch unsere intime Freundschaft veranlaßt wurde , und die sich offen , frei vor den Augen aller fortsetzt ! “
„ Ganz sicher “ murmelte Alice , die durch Stellas aufrichtigen Ton verwirrt war . Außerdem fing sie wirklich an zu zweifeln . Fernand hatte sie heute nachmittag verlassen , trotz ihrer Bitten , trotz ihrer Tränen und sie war überzeugt gewesen , daß er fortging , um sich mit Stella zu treffen . Aber Stella war hier . Eine unbefangene Freude ließ ihr Herz höher klopfen .
„ Hör zu ! “ sagte sie „ es ist möglich , daß meine Schwiegermutter zu Mira gekommen ist , weil sie bei einer Szene dabei war , die ich , … ich kann … es
ja gestehen … vor ein paar Tagen mit Fernand gehabt habe . Unter uns , nicht wahr ? Fernand vernachlässigt mich sehr , seit ich leidend bin . “
„ Das bildest du dir ein … hänge nicht solchen Gedanken nach … höre auf mit diesen Dingen … du wirst dir und deiner Umgebung damit schaden … ohne es zu wollen … “
„ Nein , nein , das sind nicht blos Gedanken , Einbildungen … es ist wirklich so ! Glaubst du , daß er je auf einen Ball , auf eine Gesellschaft verzichten würde , um bei mir zu bleiben , mich zu pflegen oder zu zerstreuen ? “
„ Aber liebe Alice , wenn du von einem Manne sentimentale Zartheit verlangst , wenn du dich an diese Kleinigkeiten hängst … dann bist du schon verloren ! Fernand ist kein rücksichtsvoller Mann … er hat dich sicher sehr lieb … aber ich glaube kaum , daß er der Charakter ist , der sich an das Rockband seiner Frau hängt und daran zappelt . Dazu ist er viel zu lustig und zu temperamentvoll . Ganz zufrieden dich hier wiederzufinden , so brav bemüht , ihm eine Vaterschaft zu bereiten , auf die er stolz sein kann , ist er aber auch erfreut , ein wenig entschlüpfen zu können , seine gute Laune zu genießen . Und ich würde
dich für sehr ungeschickt halten , erlaube mir , dir das zu sagen , wenn du die Zügel zu straff anspanntest . Vollblut geht leicht durch . Habe eine leichte Hand , lasse nach , so lange du in diesem Zustand bist , damit er nicht bemerkt , daß du stärker wirst , und daß ihn der Gedanke an deine Bürde nicht beeinfluße . Wenn du ihn aber den Zaum fühlen läßt , wird er sich bäumen und Purzelbäume machen . Deine Schwiegermutter hat dadurch , daß sie so eifersüchtig ist , eine besondere Ungeschicklichkeit begangen . Paß nur auf , daß dein Mann nichts davon erfährt . “
„ Du hast vielleicht Recht “ antwortete Alice , die zu der vollen Unschuld und Aufrichtigkeit der Baronin gelangte .
„ Aber es ist doch bitter zu sehen wie er sich eilt , von mir fortzukommen , um den Vergnügungen nachzulaufen , an denen ich nicht teilnehmen kann . So habe ich heute alles getan was möglich war , um ihn zurückzuhalten . Ach ja ! Bei Kannenbergs wird Tennis gespielt . Glaubst du , daß es wirklich so notwendig war , daß Fernand hinging um sich bei ihnen zu unterhalten ? “
„ Du lieber Gott ! Da oder wo anders , das ist um Bewegung zu machen , “ antwortete Stella , die
an das Rendez-vous dachte , das Fernand und sie sich bei den Kannenbergs gegeben hatten . Aber gleichzeitig beschloß sie , nicht hinzugehen , um Alice endgiltig zu überzeugen . Sie konnten sich ein anderes Mal treffen . Sie nahm eine winzige Nippfigur , eine Sängerin im Halbtrikot auf ihre Fingerspitzen , drehte sie nach allen Richtungen , und tat , als ob sie sich dafür interessieren würde .
Dann zog sie rasch ihre Handschuhe aus .
„ Wenn du ein wenig Zeit mit mir verbringen willst , da du heute allein bist , so gib mir die Nadeln , ich mache dir das herzige kleine Ding fertig . Willst du ? “
„ O ! Wie lieb du bist ! “ rief die junge Frau deren Argwohn gänzlich schwand und in der Schwäche ihres Zustandes schlang sie ihre Arme um Stellas Hals und umarmte sie schluchzend .
„ Aber , aber , beruhige dich doch , arme Kleine ! Umso besser wenn es dir Freude macht ! “
Und mit ihren feinen Fingern arbeitete sie mit den Nadeln , zwar nicht sehr geschickt , aber eifrig , und mit gesenkter Stirne , um das Triumphieren ihrer entarteten Augen nicht zu zeigen .
Nun plauderte sie in kindlicher Weise . Alice beruhigte sich . Nur leise Seufzer begleiteten von Zeit
zu Zeit ihre Worte . Während sie auf die Uhr sah , konnte sie sich nicht zurückhalten zu sagen :
„ Jetzt beginnen sie zu spielen . Fernand ist sehr geschickt und er liebt es zu glänzen . “
„ O und er entfaltet beim Spiel einen Eifer , “ antwortete Stella . „ Ich richte es immer so ein zu seiner Partie zu kommen . Es ist eine wahre Lust an seiner Seite zu spielen . “
„ Nicht wahr ? Du bist auch eine gute Spielerin . Fernand wird es heute bedauern , daß du nicht mit von der Partie bist . “ Spuren von ihrer vorgefaßten Meinung bekamen wieder die Oberhand .
„ Aber die kleinen Kannenbergs spielen auch recht gut “ entgegnete Stella . „ Es ist nur schade , daß sie so eine schlechte Haltung haben . Ihr Mangel an Grazie zeigt sich in ihrer Art wilden Herumzuspringens . Und dann hat ihre Mutter die Manie sie in langen Kleidern spielen zu lassen ! “
„ Das tut sie schamhafterweise , um ihre Füße nicht sehen zu lassen , “ fügte Alice hinzu .
„ Klugerweise , “ ergänzte Stella . „ Freilich verhindert dies nicht , daß sie Verehrer gefunden haben ; die beiden de Ressace machen es gut . Sie sind finanziell ruiniert , wie man es ärger gar nicht sein
kann , und zu nichts zu gebrauchen . Dabei sind sie anspruchsvoll , übertreiben jede Mode , als ob sie dafür bezahlt würden , möglichst grotesk zu erscheinen . Und die Unglücklichen halten sich für elegant . Ich habe mich nie entschließen können , mit ihnen zu tanzen . “
„ Ich auch nicht “ sagte die Baronin laut auflachend . – Alice begann wieder :
„ Gehst du zum Verlobungsabend zu Kannenbergs ? “
„ Ich werde dort gewiß nicht fehlen , denn das Schauspiel wird unbezahlbar sein . – Und du ? “
„ Oh , ich , mir wurde verboten , mich zu rühren , bis neue Befehle erfolgen werden . “
„ Das ist schade . Wir hätten uns halbtot gelacht . “
„ Fernand … wird dort sein . “
„ Das ist etwas anderes . Fred wird auch kommen . Aber er kann nicht lachen , er ist immer ernst . Er findet an den Menschen und Situationen nie die komische Seite heraus . Alles gipfelt bei ihm entweder in Harmonien , die ihn außer sich bringen oder in Mißlauten , vor welchen er sich hütet , und sich in seine inneren lyrischen oder tragischen Entzückungen zurückzieht . “
„ Was willst du meine Liebe , das ist seine geniale Natur . Aber du , du hast ihn wenigstens ! “
„ Besser gesagt , das Haus bewahrt ihn . Was mich betrifft , so weißt du , daß ich weder für das Amt einer Kerkermeisterin , noch zur Gefangenen die Anlage habe . “
„ Du bist ein Schelm , der nichts ernst nehmen kann ! “
„ Ach Gott ! nein … Und du glaubst nicht , wie wahr du sprichst . Es gibt nichts Ernstes , siehst du ! “
„ Doch , die Liebe ist es . Ja wahrhaftig , die Liebe , die wie eine Krankheit kommt und verschwindet , die man mit erfahrungsgemäßen Mitteln pflegt , und die für gewöhnlich nicht nachläßt , ehe sie ihre normale Wandlung durchgemacht hat . Sie ist eine Krankheit , welche sich durch Widerspruch verschlimmert . Man muß sie , glaube ich , ruhig ihren Weg verfolgen lassen . Das ist das beste Mittel , sich ihrer schnellstens zu entledigen . “
„ O du profanes Wesen ! Du wirst davon ergriffen und sehr zufrieden sein . “
„ Du machst es rasch ! “ antwortete Stella . Plötzlich öffnete sich die Türe und Fernand erschien . Die beiden Frauen wandten die Köpfe , beide mit derselben Überraschung . Alice war plötzlich erblaßt und eine lebhafte Unruhe bemächtigte sich Stella . „ Ei “
sagte er . Und ungeschickter Weise sah er fortwährend die Baronin Seuriet an .
Alice hatte begriffen , was vorging . Fernand hatte das Spiel verlassen , weil Stella nicht dort war , das war klar . Er verfolgte sie also . Aber sie ?
„ Du hast mir angekündigt , daß du den ganzen Tag über fort sein würdest “ .. sagte sie scharf zu ihrem Gatten , „ Was für ein Zwischenfall führt dich denn wieder zu mir ? “
Fernand machte sich nichts aus dem bitteren Ton seiner Frau ; was ihn erregte , war die Stille Stellas , die bei ihm in der Wohnung war , während er sie , wie verabredet , anderswo erwartet hatte .
Er brummte :
„ Ich habe mich gelangweilt . Ich glaube , daß dir das genügt . “
„ Es muß mir genügen , weil du mir keinen anderen Grund angeben kannst ; ich nehme ihn also an . “
„ Nimm an was du willst , meine liebe Freundin , aber vor allem verschone mich mit einer Szene , wenn es dir möglich ist . Übrigens siehst du , daß sich Stella keineswegs gelangweilt hat . Ich muß ihr den Vorwurf machen , daß sie nicht gekommen ist . “
Zwischen ihren vor Zorn zusammengepreßten Zähnen zischte Stella :
„ Dummkopf ! “
Sie erhob heftig den Kopf und sagte hochmütig :
„ Sie irren sich , mein Lieber . Ich war fest entschlossen zur Tennispartie zu gehen ; aber ich fand Alice hier allein , betrübt , traurig , und da habe ich es vorgezogen , ihr Gesellschaft zu leisten , da Sie doch nicht bei ihr bleiben . “
„ Was ist mit Stella , daß sie so spricht ? “ fragte sich Fernand im Stillen .
Aber Stella fiel nicht aus ihrer Rolle .
„ Und ich versichere Ihnen , daß Alice sehr , sehr gut ist , daß sie Sie gar nicht anklagt . Wenn Sie glauben , daß Alice sich glücklich fühlen kann , wenn sie mit ansehen muß , wie Sie allen Vergnügungen , nachjagen , und sie allein auf ihrer Chaiselongue mit einem Knäul Wolle zurückbleiben muß … so irren Sie sich . Schämen Sie sich , Fernand . “
„ Ich danke Ihnen für Ihre Lehre , “ erwiderte er kalt .
„ O bitte , steigen Sie nicht allzu hoch aufs Roß , zwischen uns ist das nicht nötig . “
„ Und jetzt , da Sie gekommen sind , verabschiede ich mich … es ist schon spät … guten Abend , Kinder … auf Wiedersehen ! “
„ O meine Liebe , wie gut du bist ! “ sagte Alice . Eine neue Vermutung erwachte in ihrer eifersüchtigen Seele . Stella liebte Fernand nicht , aber er begehrte Stella . Die Gefahr war geringer , wenn auch die Demütigung die ihr Stolz und ihre Liebe erlitten , nicht weniger schmerzhaft waren . Sie stand auf . Trotz ihres entstellten Körpers noch immer geschmeidig umarmte sie ihre Freundin . Diese flüsterte ihr ins Ohr :
„ Jetzt söhne dich wieder aus , ja … gleich ! Du mußt wissen , ich habe vor Fernand ganz das Gegenteil gesagt von dem was ich mir dachte . Aber die Männer wollen betrogen sein . Auf Morgen , mein Kleines ! “
„ Ich habe dich sehr lieb , wirklich ! “ murmelte die junge Frau gerührt .
„ Und ich dich auch ! “ antwortete Stella , „ Auf Wiedersehen “ sagte sie , als sie an Fernand vorbei ging , ohne ihn anzusehen .
Aber er eilte auf sie zu , um sie hinaus zu begleiten . Sie blieb plötzlich stehen und sagte kurz :
„ Bitte , machen Sie mir das Vergnügen , hier zu bleiben . Ich weiß wo die Türe ist . Guten Abend ! “
Sie ging , er blieb unbeweglich stehen , ungeheuer erstaunt . Dann höhnte ihn Alice :
„ So gehe doch , mein Freund ; geniere dich nicht , begleite sie ! “
„ Gewiß ! “ rief er wütend . Sie mußte die Treppe hinuntergelaufen sein , denn er erreichte sie erst auf dem Vorplatz , den man von oben durch das gläserne Vordach sehen konnte . Stella vermutete , daß Alice ihr aus einem Fenster mit den Blicken folgen würde . Sie ging also , ohne sich umzusehen so rasch , daß er sie nicht erreichen konnte ; sie sprach deutlich ohne eine Miene zu verziehen :
„ Ungeschickter Mensch ! “
„ Stella ! “
„ Bitte , schweigen Sie ! Verstehen Sie denn gar nichts ? Alice hat sich über Sie und mich bei Ihrer Mutter beklagt . Ich habe sie , was mich anbetrifft , von ihrem Irrtum überzeugt , tun Sie für Ihren Teil das Ihrige , gehen Sie rasch zurück ! “
„ Wann sehe ich Sie ? “
„ Morgen ist mein Empfangstag ! “
„ Nein , außerdem ? “
„ Morgen … sage ich Ihnen … spät ! “
Dicht am Gitter tat sie , als ob sie bemerken würde , daß er da war , winkte mit der Hand gleichgültig zum Abschied und ging längs des Trotoirs in der Platanenallee , stolz und ruhig wie eine junge Königin .
„ Verteufelt ! “ murmelte Fernand , während er die Treppe zu seiner Frau hinaufstieg , „ das wäre dumm , wenn mir da etwas dazwischen käme ! “
Die Baronin Seuriet ging oft allein aus , zu Fuß . Huldigungen ließen sie nicht gleichgiltig ; und sie hatte das Gefühl den Tag nicht verloren zu haben , wenn sie einige neue Bewunderer auf ihrem Wege gefunden hatte . Sie hatte es gern , wenn man ihr folgte , sie blieb dann lange aus und kehrte angenehm ermüdet nach Hause zurück .
Sie verschmähte es auch nicht , elegant angezogen und in koketter Haltung , durch die Straßen zu schlendern , und vor den bescheidenen Schaufenstern kleiner Läden , die wenig besucht werden , und ihren Angestellten Muße lassen , stehen zu bleiben .
Diese versäumten die Gelegenheit nie , sie anzusehen und ihre flammenden Blicke belustigten die
leichtsinnige junge Frau . Das war ihr Lieblingszeitvertreib , da sie nichts Besseres zu tun hatte . Und an diesem verlorenen Nachmittag bot sich wieder die Gelegenheit dazu . Es war jetzt zu spät um zu den Kannenbergs zu gehen und da Fernand nicht dort war , hatte sie auch keine Lust dazu . Dieser einzige Grund veranlaßte sie zu Mira , zu ihrer Mutter , hinaufzugehen .
Der Empfangstag der Baronin Seuriet war besonders angeregt , laut und heiter . Der Grund dazu war die Anwesenheit vieler junger Männer und der Mangel an ernsten Frauen ; der Ruf ihrer Leichtfertigkeit ging doch schon so weit , daß man sich von ihr fernhielt .
Die Menschen , die sich „ achteten “ , zogen sich allmählig zurück ; nur die leichtfertigsten ihrer Freundinnen blieben ihr treu , entschuldigten sie sogar , und zogen aus dieser Entschuldigung ebenso Vorteil , als sie ihre Vergnügungen ausnützten .
Und sie fühlten sich freier „ unter sich “ diese jungen Frauen , in Flirts , die die Grenzen des Erlaubten oft überschritten .
Stella hatte für diese Empfänge besonders geschmückte Kleider eingeführt . Sie selber strahlte in einem weißen Kleid , unter der Brust gegürtet , eng an die Hüften anschließend , über dem Mieder lose , ein wenig ausgeschnitten , die Arme nackt bis zu den Ellenbogen . Mit frischen Blumen parfümiert … das war das Geheimnis ihres lebhaften , berauschenden Duftes … verbreitete sie eine bestrickende Lieblichkeit . Jede ihrer Bewegungen verbreitete die Düfte eines Buketts . Sie hatte Treibhäuser für ihren eigenen und intimen Gebrauch . Die Blumen waren in die Falten ihrer Röcke genäht oder wurden auf ihrer warmen Haut zerdrückt . Der zarteste Geruch anderer Frauen wirkte störend ; der ihre erweckte einen wahren sinnlichen Rausch . Der junge Leutnant fragte sie , während er ihren Duft gierig einsog , in welchem Hyazinthenbeet sie im Morgentau gelegen sei .
Gegen Abend , als man schon etwas warm geworden war , wirkte sie auf die Schüchternsten verwirrend bis zur Besinnlosigkeit , besonders wenn sie sich darin gefiel , die Naive zu spielen , oder eine fast
kindliche Arglosigkeit inmitten all der flammenden Wünsche die sie entfesselte , zu heucheln .
Fernand war , zur Zeit des allgemeinen Aufbruches , den sie beschleunigte , noch nicht gekommen .
Auch der junge Offizier blieb hartnäckig zurück , er enthielt ihr die gewohnte tägliche Ration poetischer Anbetung vor , indem er forderte ihr seine Verse persönlich vorlesen zu dürfen .
Und als sie sich mit einer Wendung ihres schmiegsamen Körpers auf den Rand eines Sofas niederließ , die Ellenbogen sanft aufstützte und durch ihre schneeigen Arme den jungen Poeten blendete , wurde er so verwirrt , daß er nur auf den Knien zu ihr sprechen konnte .
Stella hielt die Verse für mittelmäßig , weil ihr Autor pockennarbig , schlecht gewachsen war , und ein unbedeutendes Gesicht hatte . Sie lächelte kaum , ärgerlich , daß er ihr sein Gedicht verdarb , und mit Verdruß dachte sie daran , daß sie diese Verse ohne Zweifel wundervoll gefunden hätte und geeignet , sie zu einer verliebten Narrheit hinzureißen , wenn Fernand , ganz nahe bei ihr , und in derselben Stellung , sie ihr vorgelesen hätte .
Bis jetzt hatte sie niemand anderen getroffen , der ihre Phantasie so beschäftigt hätte , auf den sie es so abgesehen gehabt hätte , wie der kühne braune Kamerad , der allem im Stande gewesen war sie zu erregen . Ihre lasterhaften Vorstellungen hatten ihr vorgeschmeichelt , die flatterhaften Galanterien der Männer nachzuahmen . Sie hatte gehofft , daß sie im Umgange mit mehreren Anbetern die Wonnen unbeständiger Wünsche , den Stolz so vielfacher Verehrung fühlen werde . Und nun blieb sie kühl gegen alle , ausgenommen den Einzigen . Jedoch auch ihn , der ihre erwachende Sinnlichkeit beherrschte , liebte sie nicht . Ihr Herz blieb frei … als ob es im Schlafe liege . Selbst in ihren Träumereien mußte sie sich gestehen , daß sie für ihren Mann nur eine Art Zärtlichkeit fühlte , die ohne Zweifel aus einem außerordentlichen Mitleid für dieses schwache Wesen hervorging , daß sich der Liebe , die er sich erträumte , hingab . Es war ein eigenartiges Gefühl , daß sie niemand anderem gegenüber hatte , und das ihr Herz , das sie so sicher zum Schweigen gebracht zerstört zu haben glaubte , ein ganz klein wenig ergriff .
Der Beweis dafür war ihr das Wohlgefallen , das sie der aufwallenden Liebe Freds entgegenbrachte .
So freimütig wie sie war , hätte sie ihn zurückgestoßen , wenn sie ohne Begehren gewesen wäre , wenn sie nicht diese Art Zärtlichkeit gefühlt hätte , die sie zur Sanftheit ihm gegenüber geneigt machte . Übrigens gab sie zu , daß er reizend war , und wenn er sie auch nicht anzog , so erregte er in ihr auch keine Abneigung . Aber ihr ganzes Wesen war von Fernand unterjocht , stand unter dem Einfluß seiner starken Anziehungskraft , erbebte vor seiner Begehrlichkeit .
Sie dachte also an ihn , als sie den flammenden hinreißenden Versen zuhörte , die der junge Offizier , gleich einem Sklaven , zu ihren Füßen hinhauchte .
Stella seufzte , kokett schmachtend :
„ Das ist alles wunderschön , lieber Herr , aber mein Mann wird gleich kommen , und Sie müssen schnellstens eine andere Stellung annehmen . Also vorwärts , stehen Sie auf und … … guten Abend ! “ …
„ O , gnädige Frau , Sie jagen mich fort ! Und ich sterbe vor Liebe ! “
Sie fand ihn so jämmerlich , daß sie sich vor Lachen schüttelte . Sie sah diabolisch aus , wie sie ihren geschmeidigen Körper hintenüberbeugte .
„ O ! Sie töten mich … “ sagte er .
Er umschlang , ganz den Kopf verlierend , ihre Knie und küßte sie .
Die junge Frau sprang auf , stieß ihn so heftig zurück , daß er im Aufstehen wankte ; er war ganz bleich , seine Augen waren verstört , seine Hände zitterten . Ein Gefühl von Entrüstung erfaßte Stella . Diese Berührung brachte sie wieder zu sich selbst … erfüllte sie mit Besorgnis um eine Seelenreinheit von deren Besitz sie bisher selbst nichts wußte , und die plötzlich in ihr unter einem Schauer von Abscheu erblühte .
„ O ! “ murmelte sie in ihrem Ärger . „ Sie sind merkwürdig kühn , mein Herr ! “
„ Entschuldigen Sie “ flüsterte der junge Offizier , „ ich liebe Sie so sehr ! Ich hoffte … “
„ Was ? Weil ich Ihre Verse lese und Ihnen manchmal einen freundlichen Blick zuwerfe und sie anhöre , … da setzen Sie gleich voraus … “
„ Ach ! Ja ! Ich hoffte , Ihnen nicht allzu sehr zu mißfallen , gnädige Frau ! “
„ Als Dichter … das ist möglich … aber als … Liebhaber ? “
„ O Sie sind grausam ! “
„ Und Sie sind sehr waghalsig , daß Sie mich behandeln , wie ein alter Haudegen eine eroberte Festung . Nein ! . . Ich verbiete ihnen , sich mir zu nähern … “
„ Ach … ich sterbe vor Liebe ! “
„ Nun mein Herr trachten Sie sich zu sammeln . Guten Abend … nun so gehen Sie doch . “
Als der Offizier endlich fortgegangen war , setzte sich Stella wieder nieder . Ihre Knie zitterten .
„ Da haben wir die Geschichte ! “ sagte sie sich , ebenso überrascht über ihren Zorn , als über den Angriff des Leutnants . „ Wie dumm ich bin , so zu poltern ! was geht mir denn dabei so nahe ? Ist es etwa die saubere Geschichte da ? Nein , ich glaubte mich ganz einfach nicht genug Lucretia in diesem Punkt ! “
Sie dachte ein wenig nach ; dann lächelte sie . „ Ich wette , daß ich weniger Skandal gemacht hätte , wenn es Fernand gewesen wäre . – Aber er kommt nicht , die Zeit ist vorüber . Er wird nicht kommen . Welche Katastrophe ihm wohl zurückgehalten hat ? Er scheint mir im Grunde genommen Angst zu haben , seine Frau zu sehr zu kränken , der Ehrgeizige !!! “
„ Ich hielt ihn für beständiger in der Liebe ! Das ist schade ! Ich hätte ihn heute Abend wirklich gern hier gehabt ! “
Ein leichter Schritt wurde hörbar : die Portiere öffnete sich und Fred trat ein .
„ Allein ! Und traurig ? Wirklich ? Was drückt dich , meine Liebe ? Bist du zu schön ? Nicht ? O … du bist schön ! Ein Märchen . Ich traue mich nicht , dir nahe zu kommen ? du blendest mich ! “
Mit leisem Rauschen ihres Kleides , dessen mit Perlen besetzter Stoff glitzerte , stand sie auf und ging auf ihren Mann zu , schlang ihre nackten Arme um seinen Hals und legte langsam ihren Kopf an dieses zarte schwache Herz , … das ganz ergriffen war … das vor Freude stärker pochte … weil er sich endlich geliebt wähnte ! …
Dann murmelte sie , fast kindlich :
„ Ich langweile mich ! “
Er umarmte sie :
„ Aber sei doch glücklich … du beglückst mich so sehr … so … “
„ Gewiß “ dachte Stella , „ wenn ich es könnte ! Aber ich kann es nicht … das Glück der anderen ist mir gleichgültig … Gott , wie ich mich langweile ! “
Sie hätte beinahe geweint bei den innigen Liebkosungen , die er ihr zu Teil werden ließ . Dieser Abend wurde sehr stimmungsvoll . Ihre Melancholie harmonierte mit Freds sehr trauriger Seele .
„ Wenn sie ernst würde … dachte er … so könnte sie wie Mira werden … o wie schön das wäre … Ich glaube , das würde mir Kraft geben zu arbeiten … “
Er arbeitete wohl , doch es schien ihm , daß sie ihm nie zuhörte , wenn sie auch scheinbar aufmerksam war …
Er spielte Violine .
Dann fragte er :
„ Gefällt dir das , Liebste ? “
„ Reizend “ antwortete sie , „ aber sorge dich nicht um mich … gehe … spiele … arbeite . “
Dann fing sie wieder an zu träumen . Und Fred fühlte , wie die Flügeln seines Genius sich schlossen , erlahmten . Es war ihm nicht möglich , seine Frau zu sich zu ziehen , mit fortzureißen , aber er wollte noch bei ihr bleiben , und so stieg er wieder zur Alltäglichkeit des Lebens herab … zu kraftlos , um stolz und schmerzerfüllt in der einsamen Welt allein zu stehen .
Am nächsten Tag brachte die erste Post Stella einen Brief von Fernand , datiert aus einem vom Sitz
der Präfektur entlegenen Arondissementshauptort . In korrekten Ausdrücken aber mit Worten , die zwischen den Zeilen zu lesen erlaubten , entschuldigte er sich , daß er den vergangenen Abend nicht kommen konnte ; die Wahlen stehen vor der Tür . Man hatte ihn in aller Eile fortgesendet . Er würde mehrere Tage abwesend sein . Und er drückte seine Verzweiflung , seine Ungeduld in Worten aus , welche sich auf den Kummer beziehen konnten , daß er von seiner Frau fern bleiben mußte , die er so sehr liebte , die sein Leben bedeutete .
Stella beruhigte sich , aber sie erkannte , welche leere Fernands Abwesenheit in ihrer Tagesbeschäftigung verursachte .
Gewöhnt daran , sich fast täglich zu sehen … , gewöhnt viele Stunden bei ihr oder auswärts mit ihm zu verbringen , sich gegenseitig mit ihren unbefriedigten Wünschen aufzuregen , ihre Blicke in einander zu versenken , ihre Hände zu drücken , gemeinsam die Spiele zu spielen , die für sie nur Interesse hatten , wenn sie zufällig oder verabredet zusammen waren , suchte sie jetzt nach einem Mittel um die Stunden zu verkürzen , diese Leere die ihr unermeßlich schien , auszufüllen , ohne es zu fiinden finden .
Das Leben , wie sie es sich eingerichtet hatte , machte sie unfähig zu irgend einem geistigen oder seelischem Genuß .
Ihre Einbildungskraft hatte alle anderen Fähigkeiten vernichtet . Sie lebte in einer fortwährenden Überreiztheit ihrer Gedanken . Und wie ihr Gehirn sich durch ungewöhnliche Vorstellungen abnormal ernährt hatte , so machte ihr nichts Freude , als die Verwirklichung dieser Vorstellungen , so wie es für einen Dichter der einzige Genuß ist , die in seinem Kopf gleich einem Bienenschwarm vor dem Ausflug aus dem Bienenkorb summenden Reime in volltönende Verse zu ordnen .
Stella beging die Unvorsichtigkeit eine der vergnügten Nachmittagszusammenkünfte im Rondell ihres Parkes abzusagen . Die Unzufriedenen erkundigten sich nach der Ursache , errieten sie und man war entrüstet . Die Baronin war in ihren Launen wirklich zu weit gehend .
Nur der junge Leutnant ergriff ihre Partei . Er glaubte sie so ernsthaft gekränkt zu haben , daß er sich zum Rückzug verurteilte , aus Scham und vielleicht aus Angst .
Trotzdem traf sie ihn bei der Verlobungssoireé bei Kannenbergs , tanzte mit ihm und ließ sich verehren .
Der junge Mann , der glaubte in Gnaden wieder aufgenommen zu sein , wurde wieder mutig . Aber sie hörte ihn nicht an , war mit ihren vom Fieber des langen Wartens erregten Gedanken abwesend .
Die Tage vergingen .
Jetzt festigte sich in ihr der Entschluß , sich Fernand hinzugeben , weil sie erkannte , wie unentbehrlich er ihr war . Vielleicht glaubte sie so seinen Bestürmungen ein Ende zu machen und ihre Verachtung moralischer Bedenken ließ sie durch diese Bekräftigung ihrer Freiheit vor sich selbst höher erscheinen .
Stella hatte Alice nicht wieder gesehen ; sie fürchtete jetzt , sich auf ein Terrain zu begeben , auf dem sie nicht sicher war , daß sich wie sie wußte , verändern konnte . Endlich erhielt sie Nachricht von der Präfektur : „ Komme schnell , meine Liebe . Habe dir eine große Neuigkeit mitzuteilen . “
Stella eilte hin .
„ Was für eine Nachricht ? Ist das Baby zur Welt gekommen ? Das ist aber unmöglich . Es wäre noch zu früh . “
„ Ach natürlich ! Aber wenn du wüßtest ! “
Und indem sie ihr tief in die Augen sah , sagte sie :
„ Wir verreisen . “
„ Ihr verreist … eine Reise in deinem Zustand ? Bist du von Sinnen ? “
Stella war bleich geworden , aber behielt ihre gewohnte Selbstbeherrschung .
„ O , die Doktoren haben es mir erlaubt … mit aller Vorsicht natürlich … und übrigens ist es ja keine Reise … sondern eine Versetzung meines Mannes . Er wurde zum ersten Sekretär des Ministers des Innern ernannt . Was für ein Avancement ! Nicht wahr ? Es ist Frau von Eulenburgs Verdienst , die , ohne uns etwas zu sagen , in dieser Angelegenheit vorgearbeitet hat . Fernand war auf einer Dienstreise begriffen . Man berief ihn telegraphisch ein . Ich erwarte ihn heute Abend zurück , und morgen sollen wir schon abreisen . Du kannst dir vorstellen , was für eine Unordnung und Aufregung wir jetzt im Hause haben . “
„ Das glaube ich dir ! “ erwiderte Stella ruhig . „ Die Großstadt , dein liebe Großstadt ! Jetzt bist du doch zufrieden … endlich ?! … “
„ O ja , gewiß , “ entgegnete die junge Frau erfreut .
„ Du Undankbare ! … Denkst du denn gar nicht an deine Freundinnen ? Du verläßt uns ohne den geringsten Schatten von Traurigkeit ! “
„ Glaube das nicht , Stella ! Ich bedauere dich sehr , meine liebe Stella , aber was ist da zu machen ? “
„ Ich sehe , wie leid es dir tut . “
Alice entgegnete lebhaft :
„ Aber du wirft uns recht , recht bald besuchen , und ich werde auch wiederkommen . Dann schon mit dem Baby ! So werden wir uns ja doch wiedersehen . “ „ Ich hoffe es … aber auch wir sind nicht darnach geschaffen unser Leben in der Provinz zu verbringen . Sobald das lyrische Drama Freds fertig ist , wollen wir … und zwar wird das sehr bald fein … nach Sauron , wo wir die große rote Villa gemietet haben . Ich hoffe , wir treffen uns also bald in der Großstadt für immer . “
„ Umso besser ! “ murmelte Alice mit vor Ärger zusammengebissenen Zähnen .
Nachdem sie sich gegenseitig bemüht hatten ruhig zu bleiben , umarmten sie sich . Aber ihre Blicke trafen sich , hart und drohend .
Bei diesem raschen Stimmungswechsel beherrschten sie sich nicht mehr so wie früher , und Stella wich
instinktiv zurück , als ob sie sich ertappt fühlen würde . Alice ging auf sie zu um sie hinauszubegleiten . Sie ging mit schlangenartigen Bewegungen , furchtbar in der Niedertracht ihres Lächelns .
„ Das wirst du mir büßen , meine Kleine , “ dachte Stella , während sie wie gejagt fortging , „ Ah ! Du entführst mir Fernand ! Nun gut , wenn noch etwas zu meinem Entschluß gefehlt hätte … das entscheidet jetzt . Ich werde dich lehren mir zu trotzen ! “
Sie kehrte in voller Eile nach Hause zurück , da sie ahnte , daß wenn Fernand bei sich zu Hause erwartet wurde , er zuerst zu ihr kommen würde . Er kam in der Tat . Er hatte , um am Bahnhof nicht erkannt zu werden , die Post genommen und kam nun staubig , seinen schönen schwarzen Bart zerzaust und mit zerdrückten Kleidern zu Stella .
Diese schloß mit kühnem Griff die Türe hinter ihm zu und während sie sich an die Mauer lehnte , zitternd vor Begehren , sah sie ihn an .
„ Wie sehen Sie denn aus ! “ sagte sie , nun schon ruhiger , indem sie ihn prüfend ansah , während er heftig und stoßweise atmete , da er , um nicht gesehen zu werden , die Treppe in großen Sätzen hinaufgelaufen war .
„ Verzeihen Sie … ich hatte kein anderes Mittel Sie zu sehen , als mich so zu zeigen . – Fünf Stunden Wagenfahrt im sausenden Galopp . Ich bin gerädert . Und welchen Kummer ich habe ! Wenn Sie wüßten ! … “
„ Ich weiß es schon . Alice hat es mir geschrieben , ich komme eben von ihr . Nehmen Sie Ihre Versetzung an ? “
Er antwortete sehr überrascht .
„ Aber es ist ganz unmöglich abzulehnen … meine ganze Zukunft wäre verloren . “
„ Ach ! Sie ziehen vor … wie es mir scheint … etwas anderes zu verlieren … “
„ Sie ? Niemals ! Ich weiß genau , daß der Streich gegen Sie , von Alice und meiner Mutter geführt wurde , die mit vereinten Kräften dahin gewirkt haben … uns zu trennen . . Aber nichts , o nichts auf der Welt kann uns trennen , nicht wahr , meine innigst geliebte Stella ? “
„ Wenn es nur die Entfernung von hier zur Hauptstadt sein soll , das gewiß nicht . “
„ Sie werden kommen … Sie müssen kommen und auch dort wohnen . “
„ Glauben Sie , daß das so leicht ist , daß es allein in meiner Macht steht ? “
„ Sie müssen kommen . Kann ich denn ohne Sie leben ? Und wir sollen uns so … so … trennen ; … ist das nicht entsetzlich ! Ich bin elend , krank vor Verzweiflung . Wenn ich Sie mit mir nehmen könnte , so an meiner Brust , … so ganz nahe bei mir , … an mich gepreßt … endlich mein … Stella ! “
Sie wurde ironisch , ohne zu wissen warum , und während sie ihm ihre Hände überließ , die er leidenschaftlich drückte und sie heranzuziehen versuchte , streckte sie die Arme von sich , um ihn von sich fernzuhalten .
„ Die Götter haben es anders beschlossen , “ sagte sie , sie war jetzt kaum gelockt dadurch , daß die Stunde ihr günstig war .
„ Nicht die Götter , sondern Sie selbst , die Sie mich zurückstoßen … jetzt noch und immer . Eigensinnige Närrin ! Die unsere schönsten Tage der Freiheit vergeudet hat ! “
„ Das finde ich nicht , “ sagte sie . „ Und wer weiß . Die schönsten Stunden sind vielleicht jene , die wir schon durchlebt haben . Sie sind flatterhaft , mein Lieber . Ich fürchte Ihre Vergeßlichkeit , wenn Sie nichts mehr zu begehren haben . “
„ O ! Stella , die Plaudereien und Flirts sind vorbei . Jetzt ist es die Leidenschaft … die Leidenschaft allein , die ihre Rechte fordert ! Ich liebe Sie ! Ich will , ich muß Sie besitzen ! Seien Sie gut und aufrichtig … und lieben wir uns ! “
„ Sie wissen es ja , daß ich nicht lieben kann ! “
„ O , es tut wenig zur Sache , was für einen Namen Sie dem Gefühl geben , daß Sie zu mir hintreibt . Denn das Vergnügen an unseren Zusammenkünften , den Schauer unserer gegenseitigen Berührung können Sie doch nicht leugnen ! “
„ Das hängt davon ab , “ sagte sie , während sie sich mit ihren Armen , die er an sich riß , verteidigte . „ Ja , das hängt davon ab … was ich gerade für einen Tag habe . “
Ein Schrecken erfaßte sie , ein wirklicher Schrecken vor dem heftigen Angriff , den sie in den funkelnden , drohenden Blicken Fernands las ! Noch immer bewahrte sie die Reinheit ihres Fleisches vor der Lasterhaftigkeit ihrer Gedanken .
Plötzlich stürzte er sich auf sie los , und preßte sie so fest an sich , die Hand in ihrem Haar , um ihr Gesicht an seinen Mund zu beugen , daß sie über diesen zu heftigen Anprall ärgerlich wurde , und ihn
mit ihren kräftigen Fäusten , mit einem Ausdruck des Ekels zurückstieß .
Der schöne Fernand war aufs Höchste überrascht , gab sie frei .
„ O ! “ sagte er gekränkt , „ wie es Ihnen gefällig ist . Ich wollte nur eine Umarmung , einen Kuß . Aber ich sehe , daß ich mich geirrt habe ; Sie mögen mich allem Anschein doch nicht ! “
„ Nicht s o , “ sagte sie . „ Es würde mir nicht zusagen , brutal behandelt zu werden ! “
„ Also was sagt Ihnen denn zu ? Haben Sie die Gnade das einmal zu sagen ! “
Wußte sie es denn ? Das hätte sie sich selbst fragen mögen . Sicher war es , daß sie von einem komplizierteren , von einem romantischeren Laster geträumt hatte . Sie hatte für ihre Nerven auf den Rausch einer höchsten Begierde gerechnet . Die unfreiwillige Kälte machte sie bestürzt .
Sie murmelte naiv :
„ Ich weiß es nicht . “
Er lächelte und näherte sich wieder . Dann begann er demütig gerührt :
„ Stella , ich werde abreisen ! O ich leide so sehr ! Es ist ein wunderlicher Seelenzustand ! “
Diese leichten Phrasen reizten sie .
„ Nun gut , “ sagte sie , „ reisen Sie ab , da ich sie nicht zurückzuhalten vermag . Denn ich knüpfe eine Bedingung an das , um was Sie mich bestürmen . Wenn ich einwilligen würde , würden Sie mir Ihr Wort geben , die Stellung abzulehnen , die man Ihnen angeboten hat ? “
Er wurde bestürzt , ungeheuer überrascht .
„ Daran denken Sie doch nicht im Ernst , meine Liebe ! Ist es denn möglich ? Bin ich denn frei , ach Gott ! “
„ Man ist immer frei wenn man will ! “
„ Nein Stella , nein . Sie sind ein großes Kind , eigensinnig und hartnäckig . Sie wollen das Leben nicht begreifen ; Sie glauben es sei so leicht sich von allem loszusagen … und seine Existenz aufs Spiel zu setzen ! Ja wenn ich reich wäre ! Ach ! dann , ich schwöre es Ihnen … ! “
„ Schwören Sie nicht , mein Freund . Ich bin entschlossen . Sie wollen mich besitzen , aber ein Held sind Sie nicht . “
„ Also nicht Liebe begehren Sie , sondern das Heldentum ? “
„ Vielleicht … “
„ Ich dachte nicht , daß Sie so phantastisch wären . “
„ Ich dachte es auch nicht “ sagte sie offenherzig . „ Aber es scheint , daß alles möglich ist . Ja , es scheint mir jetzt … daß ich Sie lieben würde , wenn Sie eines großen Opfers fähig wären . “
„ Sind das wirklich Sie , die so spricht ? “
„ Ich weiß nicht ; nehmen wir an , daß das meine Laune ist . “
„ Oder ihr Hochmut . “
„ Nun also ! Da ist der Hochmut doch zu etwas nützlich ? “
„ Ja , um mich zur Verzweiflung zu bringen . “
„ Ach nein ; Sie machen keinen verzweifelten Eindruck . “
„ Weil ich noch hoffe , Sie Grausame ! “
„ Sie machen sich über mich lustig ? “
„ Ja oder nein ; vielleicht “ sagte sie ernst : „ Ich langweile mich , sehen Sie ! O wie ich mich langweile ! Also mein Freund … trennen wir uns ! “
„ Sie brechen mir das Herz . “
„ Das ist ihre Schuld ! “
„ Also Stella , seien Sie vernünftig . Fordern Sie nicht unmögliches von einem armen Mann . “
„ O , ich fordere gar nichts , mein Lieber . Ich fühle mich , ich gestehe es , ganz vereinsamt . Lassen sie mich . Sie erreichen heute nichts und wir könnten am Ende noch Zank miteinander bekommen . Gehen Sie ; und wer weiß … eines Tages vielleicht , an einem anderen Ort … der mich mehr beeinflußt … in einem glücklicheren Augenblick … ich bin nervös seit einigen Tagen . Und wenn das über mich kommt , so weiß ich nicht mehr , was ich will . Die Krankheit des Willens . Ich werde mich bemühen , sie zu kurieren und hoffe , daß wir uns wiederfinden . “
Plötzlich dachte Fernand daran , daß bei ihm zu Hause die Minuten bis zu seiner Ankunft gezählt würden . An seinem unmerklichen Zurückweichen , und an seinem veränderten Blicken konnte man bemerken , daß er daran dachte .
Er seufzte :
„ Also auf Wiedersehen ! Meine schöne , vielgeliebte Stella ! … Ich trage Sie in meinem Herzen … auf Wiedersehen ! “
„ Sie werden jeden Morgen Briefe von mir erhalten . Ich werde Ihnen schreiben , wohin ich Antwort erwarte … Bleiben wir gute Freunde ! “
Er küßte ihr die Hände und die Handgelenke ; aber er wagte nicht , seine Umarmung zu wiederholen . Dann , als sie ihn ruhig sah wurde sie wieder mutiger , bot ihm ihre Wange , welche sie , nach dem Kuß , den er darauf gehaucht hatte , ganz kühl wieder zurückzog .
So trennten sie sich .
Hinter ihrem Fenster stehend , sah ihn Stella fortgehen , staubig auf der staubigen Straße und eilig ohne sich noch einmal umzudrehen . Als er verschwunden war , fühlte sie sich sehr unglücklich .
„ Ich bin dumm … zum prügeln “ murmelte sie , „ nein dumm zum heulen . “ „ Was werde ich jetzt tun ? “
Nach düsteren verstimmten Tagen , an denen sie sich nicht einmal bemühte , den Abglanz ihrer schlechten Laune , die sie um sich verbreitete zu verbergen , erhielt Stella den ersten Brief von Fernand . Er war nicht unterzeichnet und in einer unkenntlichen Schrift … eine Vorsicht , die kindlich erschienen wäre , wenn es
sich jemand hätte einfallen lassen die Korrespondenzen der Baronin Seuriet zu berühren . Aber der Briefträger hatte ihr die Post zuerst gebracht und niemand bekam den Brief früher als sie selbst zu Gesicht .
Dieser flammende stürmische Brief beruhigte sie . Fernand verzichtete nicht auf sie . Stella sollte ihm ins Ministerium schreiben mit einem verabredeten Zeichen auf dem Kuvert . Angeregt durch diese Art der Verführung auf Entfernung , tat sie es auch . In ihrem Zimmer eingeschlossen , in Sicherheit vor brutaler Verwegenheit , gefiel sie sich darin , diese durch jene weibliche Geheimtuerei herauszufordern , die Niemanden gleichgültig läßt . Einige Wochen vergingen für sie ganz angenehm in der Ausübung dieses Spieles , in dem sie Großartiges leistete . Die Antworten Fernands zeigten ihr , wie geschickt sie darin war , er schrieb wie irrsinnig . – Aber ihren Versprechungen und Drohungen zum Trotz kam er nicht sie aufzusuchen .
Vielleicht fürchtete er , daß die Ankündigung seiner Abreise schlecht aufgenommen werden würde . Vielleicht auch verpflichtete ihn das Verhältnis seiner Frau gegenüber zur Schonung .
Stella neckte ihn damit . Da teilte er ihr den Unfall mit , der Alice zugestoßen war … Infolge
der Reise , welche sie , wie er eingestand , gegen den Willen der Ärzte unternommen , hatte ihr Zustand plötzlich zu ernsten Besorgnissen Anlaß gegeben . Und trotz äußerst sorgfälltiger Pflege hatte die junge Frau den Schmerz , vorzeitig ein totes Kind zur Welt zu bringen . Die ganze Familie war verzweifelt und verwünschte die Haupturheberin dieses Unglückes .
„ Das ist gut ! Jetzt habe i ch ein Kind getötet ! “ brummte Stella vor sich hin , war aber doch ein wenig beunruhigt . Wenn es wenigstens zu irgend einem Zweck gedient hätte ! Aber für einen Flirt und für das Wenige an brieflicher Unterhaltung , war das doch ein zu teurer Preis .
„ Ba ! Ich bin noch immer mehr zu bedauern , denn ich langweile mich . “
„ Schon blasiert ? “ frug sie Mira eines Abends . –
„ Ja “ antwortete die Baronin . „ Nicht eine Katze ist hier , für die es wert wäre , sich herauszuputzen und in Gesellschaft zu gehen . Und was für eine Gesellschaft . Geistig Zurückgebliebene , Naive und Dummköpfe . “
„ Nun gut , mein Liebling … suche dir ein anderes Mittel , dich zu zerstreuen , dich zu beschäftigen . “
„ Ich verstehe dich ! Danke ! Das Leben einer Provinzlerin führen , nicht wahr ? “
„ Ach nein , aber beschäftige dich mit etwas … und auch mit deinem Mann ! “
„ Über das sprechen wir wieder , wenn es Fred gefällig sein wird ernstlich zu arbeiten ! “
„ Er arbeitet also nicht ? “
„ Er ? Er raucht … er träumt und das ist alles . Ich habe wirklich nichts von ihm für mein Geld ! “
„ Pfui ! Stella “ … sagte Mira … die für Stella errötete .
Wirklich verfiel die künstlerische Kraft Freds mehr und mehr ; jede Flamme war erloschen . Und das Benehmen seiner Frau war nicht darnach angetan sie wieder anzufachen . Er … der träumte geliebt zu sein … er mußte leer ausgehen !
Nicht einmal jetzt , da sie tagsüber zu Hause blieb , sah er sie öfter als früher . Und wenn er sie nach einem langen einsam verlebten Tage aufsuchte , den sie einzig und allein damit verbracht hatte , in ihrem Sessel hingestreckt extravagante Pläne in ihrem Gehirn auszuspinnen ; in ihre ungesunden Träume versunken , wie stehendes Wasser in einem Abgrund , war sie nicht einmal so gefällig ihm das Almosen der
Heiterkeit zu reichen , mit dem sie ihn in früherer Zeit erfreut hatte .
Er erriet an ihrer mißachtenden Schweigsamkeit , daß sie ihm darüber grollte , daß es ihm bisher nicht gelungen war den Ruhm zu ernten … den sie sich binnen Kurzem erwartet hatte . Sie wandte den Kopf mit ungnädigem Lächeln ab , wenn er sich vergaß und in ihrer Gegenwart laut träumte . Und das ließ ihn vollständig in dem schrecklichen Nebel seines stummen Gehirnes versinken . –
Dieses oftmalige Sichwiederholen , daß er um jeden Preis ein Meisterwerk schaffen müsse , und die Furcht davor , daß er es nicht leisten könnte , lähmten ihn vollständig . Was sollte daraus werden ? Wohin steuerten sie ? Stella verzieh ihm auf keinen Fall . Ohne Zweifel fühlte sie sich betrogen , verraten , hintergangen .
Seine Qualen nahmen zu , aber sein Mut verringerte sich . Er fühlte sich manchmal unaufhaltsam jener Schwäche zutreiben , die damit endet , daß die Hand mit ihrer letzten Bewegung eine Waffe sucht , um mit einem Schlage eine langsame und grausame Agonie abzukürzen .
„ Eines ist sicher , “ dachte er , … mein Leben ist verloren . Ich werde mich töten . Verflucht sei meine elende Schwäche . Sie wird meine Schuld tilgen , indem sie Stella von mir befreit . – Aber warum hatte sie das Verlangen meine Frau zu werden ?! … Mira ! … Mira ! … Wie glücklich hätten wir sein können ! Aber ich habe nicht mehr die Kraft zu arbeiten , sie heute anzurufen ! Es scheint mir , als ob mein Herz seinen Platz verändert und die Stelle meines Gehirnes eingenommen hättet . Dort schlägt es nun , dort leidet es . Und der Liebesschmerz hat mein Genie verscheucht . Ich hätte geliebt werden müssen und ich wurde es nicht . Eine einzige Frau hatte ihr Herz an mein Herz gelegt … und diese Frau hat mich einer anderen gegeben , denn sie glaubte mein Glück damit zu begründen . O ! Mira ! wenn sie mich behalten hätte ! Ja , sie hatte Angst zu alt für mich zu sein … und jetzt sind ihre Haare noch nicht gebleicht … wie die meinen , ihre Stirne noch nicht getrübt . Mir wäre der Balsam der Liebe zuteil geworden … o ! Mira ! Mira ! … Du bist jung mit deinen dreißig Jahren , und ich bin ein Greis !
„ Wahrlich , “ sagte die Baronin … mit erheuchelter Verlassenheit , „ ich langweile mich sehr .
Erfinde doch etwas um die blöde Existenz die wir führen zu ändern , “
„ Aber sprich doch , “ sagte er , „ ordne an . Was willst Du , daß wir tun sollen ? “
„ Hast du keine Ideen … Du ? du glaubst , alles ist so am besten , wie es ist ? Dir fehlt nichts ? “
In einem plötzlichen Anfall von Aufrichtigkeit antwortete er :
„ Wenn ich eine liebende Gattin an meiner Seite habe … nichts ! “
„ Das ist ja sehr lieb von dir . Aber ich frage nicht nach deinen Gefühlen , ich frage dich nach einer Idee ! “
Traurig lächelnd antwortete Fred : „ Gib mir eine Idee , und ich werde eine haben . “
„ Das ist alles was du an Phantasie aufbringst ? “
„ Ja “ .
„ Na , sieh doch Fred , denke doch ein wenig vernünftig nach … willst du ? Du mußt doch sehen , daß ich vermeide mit dir über gewisse Dinge zu reden . Da du sie aber auch vermeidest , muß i ch mit der Sprache heraus . Was schlägst du vor zu tun ? Du hast doch nicht die Absicht , nicht wahr , ewig in deinem Turm eingeschlossen zu bleiben und durch die
Fenster zuzusehen wie die Schwalben vorbeifliegen , während ich in meinem Zimmer vergraben bleibe und damit beschäftigt bin , den Plafond mit einer Hartnäckigkeit zu betrachten , die ich anfange unerträglich zu finden . Wenn ich dich richtig beurteilt habe , so muß ich sagen , daß das Milieu in dem wir leben , – wenn man das „ leben “ nennen kann – deinen Inspirationen nicht günstig ist . Wir müssen also auf eine Einsamkeitsexistenz im entferntesten Provinzwinkel verzichten , wo dein Gehirn keine Nahrung , keine Anregung erhält . Ist das nicht wahr ? “
„ Das ist richtig “ sagte er .
„ Man baut nicht ein Monument , wenn man nur den Grundriß dazu macht . Man braucht auch Marmor für den Aufbau . – .. Strebe doch der Laufbahn zu , die allen offen ist , der Quelle zu , aus der alle schöpfen . Lasse uns in der Hauptstadt leben ! Dort wirst du mit berühmten Künstlern Verkehr haben , wirst ihre Ideen kennen lernen , und wirst daran deine Phantasie entzünden . Das kritische Betrachten schöner Kunstwerke wird deine schöpferische Kraft anspornen . Du wirst es anders machen wollen , und wirst es besser machen , und der Erfolg wird riesenhaft anwachsen . Es ist meine Pflicht dich mit
der ganzen mir zu Gebote stehenden Energie auf den Weg zu drängen , der dich zum Ziel führt , und den du , magst du nun wollen oder nicht , gehen wirst . – Willst du mir antworten ? “
„ Wie gut du bist , solche Gedanken zu haben ! Ich danke dir . “
„ Ich habe dich nicht gebeten mir zu danken sondern mir bei dem , was ich unternehmen will , zu helfen . Denn , du weißt , so etwas hängt nicht ganz allein von uns ab . Da ist Mira ! Es ist unerläßlich , daß sie uns hilft . Wir sind nicht reich genug um in der Hauptstadt auf einem entsprechenden Fuß von unseren Revenuen zu leben . “
„ Glaubst du ? “ sagte er plötzlich unruhig .
Stella zuckte die Achseln .
„ Wenn du nicht immer in den Wolken wärst , würdest du schon bemerkt haben , daß wir sogar hier einen tüchtigen Biß in meinen Mitgiftkuchen gemacht haben . Wie wird es erst dort sein ! Und wenn der Rest dort zu Ende ist ?! “
„ Und wenn es mir nicht gelingt , ihr alles zurückzugeben ? “
„ Du … Zurückgeben ? “
„ Wir könnten unsere Ausgaben einschränken . “
„ Danke ! Der Meinung bin ich nicht . Das einzig Vernünftige ist , von Mira einen Zuschuß zu erlangen . Das ist nur richtig , sie ist reicher als wir ; sie hat doch alles von meinem Vater … und sie ist allein . Braucht sie jährlich eine Rente von dreißigtausend Franks ? Das ist beinahe schändlich … Sie ist eine Egoistin . “
„ O Stella sag’ das nicht ! “
„ Warum nicht ? Was sage ich denn Ungewöhnliches ? Sieh mich doch nicht mit so jammernden Augen an . Ich kenne deine Bewunderung für Mira und ich teile sie auch , ich habe sie sehr lieb . Sie ist zu gut ! Aber wenn es sich für mich darum handelt fortzugehen , wird sie aus Angst davor ganz wild . Wenn du wüßtest , was für Geschichten ich erzählen mußte , und was für Szenen ich ihr machen mußte um von ihr die Einwilligung zu unserer Heirat zu erhalten ! Und alles das , um mich bei sich zu behalten … ausschließlich bei sich … “
„ Du glaubst …? “
„ Unter diesen Umständen kannst du sie veranlassen , uns etwas Geld zu geben , “ nahm Stella wieder das Wort .
„ Ich ! “ rief Fred aus , ganz erschrocken . „ Ich soll sie um Geld bitten … sie ! “
„ Nun ja … warum nicht … ist das denn nicht ganz natürlich ? “
„ Nie … mals … hörst du ! … Nie ! … Stella ! Alles eher … aber das nie … nie ! “
„ O , o ! wie zartfühlend du bist ! “ sagte sie , grausam in ihrer Frechheit . „ Und doch wirst du dich dazu entschließen müssen . Das ist mein Ultimatum . Verstehe mich gut … und ich liebe es nicht zu warten . Wenn du in einigen Tagen bei Mira nicht Erfolg gehabt hast , gehe ich allein fort … ja … ganz allein … “
„ Das wirst du nicht tun , Stella ! “
Sie lachte ihr häßliches , gezwungenes Lachen .
„ Du wirst dich davon überzeugen … demnächst . Erinnere dich unseres Übereinkommens vor der Hochzeit . – Ich bin frei … habe vollkommene Freiheit zu handeln wie ich will , bin frei ebenso wie du . Wenn du fortgehen wolltest , würde ich dich nicht zurückhalten . Bemühe dich , mir gegenüber dasselbe Verhalten zu beobachten . “
Fred war dieses Mal nicht schwach gewesen . Stella hatte Schulden gemacht , und sie waren abgereist .
Als Fred vor seiner Abreise bei Mira war , hatten sie sich nur zu gut verstanden . Ihre beiden liebenden Herzen schlugen im Gefühle unsagbarster Reinheit zusammen . Wohltätige Beruhigung sank sanft und traurig auf sie herab . Er tröstete sich fast , in dem Gefühle , von dieser großen Seele so herrlich geliebt zu sein . Sie genoß seine zarte Verehrung wie ein Glück , daß sie für alle Schmerzen ihres Lebens entschädigte .
Sie sahen sich zum ersten Mal seit Stellas Hochzeit tief und ernst in die Augen , als ob sie ihre geblendeten Blicke in übermenschlichem Verstehen in das Geheimnis unendlicher Weiten versenken wollten .
So sahen sie sich im gegenseitigen Verstehen an , ganz hingegeben dem Entzücken , daß ihre magnetisch sich anziehenden Augen sich wiedergefunden hatten , die doch von jeher für einander bestimmt waren . Es war wie eine bräutliche Entkleidung ihrer hohen Seelen . Eine physische Erregung konnte nicht mehr an sie herankommen .
Und künftig , wenn sie es wollte , sollte sie alles erfahren . Fred würde ihr alle seine Gedanken gestehen und sie trug Sorge in ihrer erhabenen Seele , daß sie in seiner unendlichen Liebe unpersönlich blieb .
So ging die Zeit hin .
Zitternd hielt Frau von Ellissen einen Brief in ihrer Hand …
„ Nun also , meine liebe Mira , liebe Mama , höre zu : Alles ist zerstört . Wenn du diese Zeilen erhältst , habe ich unsere gemeinsame Wohnung verlassen , und wohne allein . Die Adresse wird sich aber noch ändern , ebenso wie der Name , den ich trage . Endlich bin ich frei !
Es würde mir leid tun , wenn du dadurch Unannehmlichkeiten hättest , aber ich kann nichts dafür . Jeder lenkt sein Leben so , wie es ihm paßt , das ist sein Recht . Ich mache ganz einfach von diesem Recht Gebrauch . Unter uns gesagt , Fred ist ein Dummkopf .
Ich hätte ihn lieben können , wenn er mich besser verstanden hätte . Und ich gestehe es … einen Augenblick habe ich es gehofft . Ich habe mich geirrt . Das war eine Dummheit . Sprechen wir nicht mehr davon . Also , arme Mira , ein wenig Mut , alles wird sich früher oder später ausgleichen .
Wir waren nicht für einander geschaffen . Solche Entdeckungen kommen täglich vor . Nur wenn man vernünftig ist , schweigt man und fügt sich . Fred hat
es vorgezogen , die Scheiben zu zerbrechen ; wie er will . Es ist doch natürlich , nicht wahr , wenn man das Gitter des Käfigs zerbricht , daß der Vogel davonfliegt . Das ist doch nur logisch . Mein einziges Bedauern ist der Kummer , den ich euch beiden bereite . Aber schließlich , es ist zu spat für alles … da ich in den Armen eines Anderen sein werde . Also , meine Liebe , ich umarme dich und sage dir adieu , auf Wiedersehen , wenn der Zufall es so fügt .
Stella . “
Mira stand stumm und totenblaß da . Da trat der Diener ein und reichte ihr auf einer kleinen Tasse ein Telegramm . Es enthielt nur die beiden Worte :
„ Kommen Sie !
Fred . “
Herzzerreißend schrie das junge Weib auf : „ Er ruft mich – – – das heißt , daß er stirbt ! “
Noch in derselben Nacht reiste Frau von Ellissen ab . Es war ihr unmöglich zu warten ; wie verzweifelt stürzte sie sich in den nächsten Zug . Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf diese eine Zeile , die sie in der nahenden Dämmerung noch lesen konnte . Unter den aufgetürmten Wolkenmassen glänzte noch ein grüngoldener Schein am Horizont . Dort war Fred , von dort aus rief er sie .
Sie litt qualvoll , von einer stets wachsenden Angst gemartert .
Ihr Herz schlug fast nicht mehr . Es war nur noch ein dumpfes Rollen das ihr in den Ohren klang , und das sie mechanisch , mit einer Bewegung , als ob es sie belästigen würde , vertrieb .
An der Vorderseite des Hauses war eine Tür in der niederen Mauer , welche Aussicht in einen schmalen Garten gewährte , der in voller Blüte stand ; die Blumen strömten einen starken Duft aus , den der Wind ihr entgegentrieb als ob er sich über ihr Kommen freute .
Sie stürzte in das fremde Haus und rief mit aller Kraft :
„ Fred ! Fred … ich bin es ! Ich bin hier ! “ Sie ging mit ausgestreckten Händen , erschreckt über die Geräusche die sie beim Anstoßen an verschiedene Gegenstände erregte . Dann stürzte sie denselben Weg wieder zurück , wie wahnsinnig , wandte sich um , und glaubte fernes Ächzen zu hören , als wenn jemand seine letzten Seufzer aushauchen würde .
In den hellen Vorraum zurückgekommen , suchte sie sich zu beruhigen und sich mit Überlegung zurechtzufinden .
Da hörte sie … … ja … sie hörte das einzige Wort „ Mira “ . Sie hörte ein Geräusch , wie das Aufklinken einer Türe , indessen war keine Türe geöffnet worden . Aber sie erkannte jetzt die Türe , welche ihr bezeichnet worden war . Sie ging mit schnellen und bestimmten Schritten bis zum Ende des Ganges , drehte ohne zu besinnen den Türknopf um , den sie in die Hand bekam und trat ein .
Es war richtig .
Da lag Fred , unbeweglich … seine Haare und sein Schnurrbart waren weiß geworden wie seine Bettücher … … er hatte das erhabene und verehrungswürdigste Gesicht eines Greises . Was war aus Fred in dieser kurzen Zeit geworden ! Ein Leuchter mit drei Kerzen brannte auf dem Tische nächst seinem Bette , und ließ die Umrisse seiner so rasch abgezehrten Züge scharf hervortreten .
Von Schmerz ergriffen schritt sie vorwärts , die Hände gefaltet wie zum Gebet , und wiederholte einförmig klagend :
„ Fred ! Fred , ich bin da … um Ihren Namen , Ihre Ehre zu retten ! “
Als sie ganz nahe an ihn herangekommen war , beugte sie sich mit ausgebreiteten Armen über ihn , in
zu später Erlösung ihres Herzens , das dem seinen zugeneigt war , ihrer Lippen , die sie auf seine Stirne preßte . – – –
„ Hören Sie mich an , Fred . Ich werde fortgehen um Stella , die Ihrer noch würdig ist , zurückzubringen . Und ich befehle Ihnen , auf mich zu warten , Fred . Nur einige Stunden verlange ich von Ihnen … von Ihrem Leben ! Ich habe das Recht dazu … weil … erwarten Sie mich Fred … weil – ! “
„ Seien Sie barmherzig , bleiben Sie , um mir die Augen zuzudrücken ! “
„ Nein , nein … noch nicht … ich wende mich an Ihre Ehre . Ihr Name , Ihre Ehre müssen gerettet werden … dann … werden wir beide … dorthin gehen … dorthin … wo wir uns lieben werden … um uns niemals zu trennen . “
Fast mechanisch ging sie nach der Türe und verschwand .
„ Lange Gasse 420 ! “ rief sie dem Kutscher zu . Vor dem hohen , neuen Hause angekommen , ging sie wie eine Nachtwandlerin an der Portiersloge vorbei , ohne zu fragen und schritt aufrecht dahin , die Blicke
starr und durchdringend vor sich hin gerichtet . Der Portier kam heraus , doch sie erschien ihm so majestätisch und würdevoll , bis in die Falten ihres schwarzen Kleides , daß er es nicht wagte , sie anzurufen . Trotzdem hielt er es für vorsichtiger sie sich anzusehen und folgte ihr in einiger Entfernung :
„ Irrt sich die Gnädige Frau nicht ? “ frug er .
„ Nein , ich gehe zur Baronin Seuriet “ antwortete Frau d’ Ellissen kurz , wandte sich ein wenig um und ließ dabei ihr fahles Gesicht sehen . –
„ Schön , schön , “ sagte der Portier respektvoll und um zu erklären warum er ihr folgte , fuhr er fort : „ Im Halbstock , die Türe links . “
Sie stieg hinauf .
Stella öffnete die Türe und wich erschreckt vor dem Anblick , der sich ihr bot , zurück .
Sie hatte geahnt , daß es Mira , ihre Mutter sein würde .
„ Ja , ich bin es “ sagte Mira ruhig .
Und sie trat ein , während sie ihre Tochter sanft zurückdrängte . Der Ton ihrer Stimme befreite Stella von dem Schrecken ihres Anblicks ; sie täuschte sich nicht ; sie träumte nicht , es war wirklich Mira , die
es wagte , sie bis hierher zu verfolgen . Aus Ärger , vielleicht aus Verwirrung wurde sie purpurrot .
„ Was willst du hier ? “ frug sie trocken . „ Da du den Weg hieher gefunden hast , mußt du auch wissen , daß du hier nichts zu suchen hast ! Lasse mich in Ruhe , gehe ! Ich bin für dich nicht mehr vorhanden , ebensowenig als für Fred ! “
„ Ich komme “ rief Mira jetzt zitternd aus , „ um Freds Ehre zu retten … … “
„ Du kommst von ihm … “
„ Ja . “
„ Es ist zu spät … gehe … Fernand kann jeden Augenblick kommen … “
„ Elendes Geschöpf ! … “ sie ging wortlos .
Sie eilte dem Lager zu , wo Fred im Sterben lag . Der kleine Revolver lag vor ihm auf dem Nachtkästchen . Mira warf sich auf ihn , preßte seine feuchte , warme Hand an sich . –
Sie nahm sein Antlitz zwischen ihre Hände , und hielt ihre Wange zu seinem Munde . –
Er atmete noch … o ! … ganz leise .
Dann rief sie ihn mit all ihrer Kraft , mit ihrem ganzen Willen , rief ihn wieder … vielleicht war
seine Seele noch nicht ganz entflohen . Zu spät kamen die Wort , die sie ihm in ihrer Selbstvergessenheit nun zurief : „ Ich liebe dich … höre mich an … ich liebe dich … nimm mich mit dir . “
Sie hatte es nicht zu hoffen gewagt … seine Augen öffneten sich langsam , sein Blick der schon ganz abwesend war , irrte einige Sekunden umher , blieb dann auf ihr haften … die Augen erweiterten sich … seine Lippen erzitterten , und dann trat die endgiltige Ruhe ein . … … … Ein Schuß krachte , und Mira sank tot auf seine Brust .
Sie waren beide verschieden . Sie hatte seinen Brautkuß empfangen … diesen Kuß , den die liebende Seele der geliebten Seele Auge in Auge , in erhabener Verzückung gibt . … … … …
Die Baronin Seuriet erhielt inzwischen ein Telegramm .
Sie öffnete es und las :
„ Hm “ , dachte Stella , „ er kommt nicht , das ist schade . “
„ Geliebte , welches Unglück . Alice weiß alles , sie hat uns beobachten lassen , Sie und mich ! Sie weiß die Adresse dieser Wohnung , wo wir unsere Zusammenkünfte hatten . Entsetzlich ! Um sie zu beruhigen ,
habe ich schwören müssen , daß ich abreise . Und ich reise noch in dieser Stunde nach London , wo sie mit mir zusammentreffen wird . Wenn ich anders handeln würde , wäre alles verloren . Scheidungsdrohung , Stellung verloren , Skandal unvermeidlich ! Fügen wir uns … und warten wir . Aber ich bin verzweifelt ! Adieu , vielleicht auf Wiedersehen !
Fernand . “
„ Der Feigling “ murmelte Stella .
Ende .