Bekenntniſſe
eines Ungeſchickten.
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Julius an Lucinde
Die Menſchen und was ſie wollen
und thun, erſchienen mir, wenn ich
mich daran erinnerte, wie aſchgraue
Figuren ohne Bewegung: aber in
der heiligen Einſamkeit um mich her
war alles Licht und Farbe und ein
friſcher warmer Hauch von Leben
und Liebe wehte mich an und rauſchte
und regte ſich in allen Zweigen des
üppigen Hains. Ich ſchaute und ich
genoß alles zugleich, das kräftige
Grün, die weiße Blüthe und die
goldne Frucht. Und ſo ſah ich auch
mit dem Auge meines Geiſtes die
Eine ewig und einzig Geliebte in
vielen Geſtalten, bald als kindliches
Mädchen, bald als Frau in der vol-
len Blüthe und Energie der Liebe
und der Weiblichkeit, und dann als
würdige Mutter mit dem ernſten
Knaben im Arm. Ich athmete Früh-
ling, klar ſah ich die ewige Jugend
um mich und lächelnd ſagte ich:
Wenn die Welt auch eben nicht die
beſte oder die nützlichſte ſeyn mag,
ſo weiß ich doch, ſie iſt die ſchönſte.
In dieſem Gefühle oder Gedanken
hätte mich auch nichts ſtören können,
weder allgemeine Zweifel noch eigne
Furcht. Denn ich glaubte einen tie-
fen Blick in das Verborgne der Na-
tur zu thun; ich fühlte, daß alles
ewig lebe und daß der Tod auch
freundlich ſey und nur eine Täu-
ſchung. Doch dachte ich daran ei-
gentlich nicht ſehr, wenigſtens zum
Gliedern und Zergliedern der Be-
griffe war ich nicht ſonderlich ge-
ſtimmt. Aber gern und tief verlor
ich mich in alle die Vermiſchungen
und Verſchlingungen von Freude und
Schmerz, aus denen die Würze des
Lebens und die Blüthe der Empfin-
dung hervorgeht, die geiſtige Wolluſt
wie die ſinnliche Seligkeit. Ein fei-
nes Feuer ſtrömte durch meine Adern;
was ich träumte, war nicht etwa
bloß ein Kuß, die Umſchließung dei-
ner Arme, es war nicht bloß der
Wunſch, den quälenden Stachel der
Sehnſucht zu brechen und die ſüße
Gluth in Hingebung zu kühlen; nicht
nach Deinen Lippen allein ſehnte ich
mich, oder nach deinen Augen, oder
nach deinem Leibe: ſondern es war
eine romantiſche Verwirrung von al-
len dieſen Dingen, ein wunderſames
Gemiſch von den verſchiedenſten Er-
innerungen und Sehnſuchten. Alle
Myſterien des weiblichen und des
männlichen Muthwillens ſchienen mich
zu umſchweben, als mich Einſamen
plötzlich deine wahre Gegenwart und
der Schimmer der blühenden Freude
auf deinem Geſichte vollends ent-
zündete. Witz und Entzücken be-
gonnen nun ihren Wechſel und wa-
ren der gemeinſame Puls unſers ver-
einten Lebens; wir umarmten uns
mit eben ſo viel Ausgelaſſenheit als
Religion. Ich bat ſehr, du möch-
teſt dich doch einmal der Wuth ganz
hingeben, und ich flehte dich an, du
möchteſt unerſättlich ſeyn. Dennoch
lauſchte ich mit kühler Beſonnenheit
auf jeden leiſen Zug der Freude, da-
mit mir auch nicht einer entſchlüpfe
und eine Lücke in der Harmonie
bleibe. Ich genoß nicht bloß, ſon-
dern ich fühlte und genoß auch den
Genuß.
Du biſt ſo außerordentlich klug,
liebſte Lucinde, daß du wahrſchein-
lich ſchon längſt auf die Vermuthung
gerathen biſt, dies alles ſey nur ein
ſchöner Traum. So iſt es leider
auch, und ich würde untröſtlich
darüber ſeyn, wenn ich nicht hoffen
dürfte, daß wir wenigſtens einen
Theil davon nächſtens realiſiren könn-
ten. Das Wahre an der Sache iſt,
daß ich vorhin am Fenſter ſtand;
wie lange, das weiß ich nicht recht:
denn mit den andern Regeln der
Vernunft und der Sittlichkeit iſt auch
die Zeitrechnung dabey ganz von
mir vergeſſen worden. Alſo ich ſtand
am Fenſter und ſah ins Freye; der
Morgen verdient allerdings ſchön
genannt zu werden, die Luft iſt ſtill
und warm genug, auch iſt das Grün
hier vor mir ganz friſch, und wie
ſich die weite Ebne bald hebt bald
ſenket, ſo windet ſich der ruhige,
breite ſilberhelle Strom in großen
Schwüngen und Bogen, bis er und
die Fantaſie des Liebenden, die ſich
gleich dem Schwane auf ihm wiegte,
in die Ferne hinziehen und ſich in
das Unermeßliche langſam verlieren.
Den Hain und ſein ſüdliches Colorit
verdankt meine Viſion wahrſcheinlich
dem großen Blumenhaufen hier ne-
ben mir, unter denen ſich eine be-
trächtliche Anzahl von Orangen be-
findet. Alles übrige läßt ſich leicht
aus der Pſychologie erklären. Es
war Illuſion, liebe Freundin, alles
Illuſion, außer daß ich vorhin am
Fenſter ſtand und nichts that, und
daß ich jetzt hier ſitze und etwas
thue, was auch nur wenig mehr
oder wohl gar noch etwas weniger
als nichts thun iſt.
So weit war an dich geſchrie-
ben, was ich mit mir geſprochen
hatte, als mich mitten in meinen
zarten Gedanken und ſinnreichen Ge-
fühlen über den eben ſo wunderba-
ren als verwickelten dramatiſchen
Zuſammenhang unſrer Umarmungen
ein ungebildeter und ungefälliger
Zufall unterbrach, da ich eben im
Begriff war, die genaue und ge-
diegne Hiſtorie unſers Leichtſinns
und meiner Schwerfälligkeit in klaren
und wahren Perioden vor dir auf-
zurollen, die von Stufe zu Stufe
allmählig nach natürlichen Geſetzen
fortſchreitende Aufklärung unſrer den
verborgenen Mittelpunkt des feinſten
Daſeyns angreifenden Mißverſtänd-
niſſe zu entwickeln, und die mannich-
fachen Produkte meiner Ungeſchicklich-
keit darzuſtellen, nebſt den Lehrjah-
ren meiner Männlichkeit; welche ich
im Ganzen und in ihren Theilen
nie überſchauen kann, ohne vieles
Lächeln, einige Wehmuth und hin-
längliche Selbſtzufriedenheit. Doch
will ich als ein gebildeter Liebhaber
und Schriftſteller verſuchen, den ro-
hen Zufall zu bilden und ihn zum
Zwecke geſtalten. Für mich und für
dieſe Schrift, für meine Liebe zu ihr
und für ihre Bildung in ſich, iſt
aber kein Zweck zweckmäßiger, als
der, daß ich gleich Anfangs das
was wir Ordnung nennen vernichte,
weit von ihr entferne und mir das
Recht einer reizenden Verwirrung
deutlich zueigne und durch die That
behaupte. Dies iſt um ſo nöthiger,
da der Stoff, den unſer Leben und
Lieben meinem Geiſte und meiner
Feder giebt, ſo unaufhaltſam pro-
greſſiv und ſo unbiegſam ſyſtematiſch
iſt. Wäre es nun auch die Form,
ſo würde dieſer in ſeiner Art einzige
Brief dadurch eine unerträgliche Ein-
heit und Einerleyheit erhalten und
nicht mehr können, was er doch
will und ſoll: das ſchönſte Chaos
von erhabnen Harmonien und in-
tereſſanten Genüſſen nachbilden und
ergänzen. Ich gebrauche alſo mein
unbezweifeltes Verwirrungsrecht und
ſetze oder ſtelle hier ganz an die un-
rechte Stelle eines von den vielen
zerſtreuten Blättern die ich aus Sehn-
ſucht und Ungeduld, wenn ich dich
nicht fand wo ich dich am gewiſſe-
ſten zu finden hoffte, in deinem Zim-
mer, auf unſerm Sopha, mit der
zuletzt von dir gebrauchten Feder,
mit den erſten den beſten Worten,
ſo jene mir eingegeben, anfüllte oder
verdarb, und die du Gute, ohne daß
ich es wußte, ſorgſam bewahrteſt.
Die Auswahl wird mir nicht
ſchwer. Denn da unter den Träu-
mereyen, die hier ſchon den
ewigen Lettern und dir anvertrauet
ſind, die Erinnerung an die ſchönſte
Welt noch das gehaltvollſte iſt, und
noch am erſten eine gewiſſe Art von
Ähnlichkeit mit den ſogenannten Ge-
danken hat: ſo nehme ich vor allen
andern die dithyrambiſche Fantaſie
über die ſchönſte Situazion. Denn
wiſſen wir erſt ſicher, daß wir in
der ſchönſten Welt leben: ſo iſt es
unſtreitig das nächſte Bedürfniß uns
über die ſchönſte Situazion in dieſer
ſchönſten Welt durch andre oder
durch uns ſelbſt gründlich zu be-
lehren.
Dithyrambiſche Fantaſie über
die ſchönſte Situazion.
Eine große Thräne fällt auf das
heilige Blatt, welches ich hier ſtatt
deiner fand. Wie treu und wie ein-
fach haſt du ihn aufgezeichnet, den
kühnen alten Gedanken zu meinem
lieb-
liebſten und geheimſten Vorhaben.
In dir iſt er groß geworden und
in dieſem Spiegel ſcheue ich mich
nicht, mich ſelbſt zu bewundern und
zu lieben. Nur hier ſehe ich mich
ganz und harmoniſch, oder vielmehr
die volle ganze Menſchheit in mir
und in dir. Denn auch dein Geiſt
ſteht beſtimmt und vollendet vor mir;
es ſind nicht mehr Züge die erſchei-
nen und zerfließen: ſondern wie eine
von den Geſtalten, die ewig dauern,
blickt er mich aus hohen Augen freu-
dig an und öffnet die Arme, den
meinigen zu umſchließen. Die flüch-
tigſten und heiligſten von jenen zar-
ten Zügen und Äußerungen der
Seele die dem, welcher das höchſte
nicht kennt, allein ſchon Seligkeit
Lucinde I. B
ſcheinen, ſind nur die gemeinſchaft-
liche Atmoſphäre unſers geiſtigen
Athmens und Lebens.
Die Worte ſind matt und trübe;
auch würde ich in dieſem Gedränge
von Erſcheinungen nur immer das
eine unerſchöpfliche Gefühl unſrer
urſprünglichen Harmonie von neuem
wiederholen müſſen. Eine große Zu-
kunft winkt mich eilends weiter ins
Unermeßliche hinaus, jede Idee öff-
net ihren Schooß und entfaltet ſich
in unzählige neue Geburten. Die
äußerſten Enden der zügelloſen Luſt
und der ſtillen Ahndung leben zu-
gleich in mir. Ich erinnere mich an
alles, auch an die Schmerzen, und
alle meine ehemaligen und künftigen
Gedanken regen ſich und ſtehen
wider mich auf. In den geſchwollnen
Adern tobt das wilde Blut, der
Mund durſtet nach Vereinigung und
unter den vielen Geſtalten der Freude
wählt und wechſelt die Fantaſie und
findet keine, in der die Begierde ſich
endlich erfüllen und endlich Ruhe
finden könnte. Und dann gedenke
ich wieder plötzlich und rührend der
dunkeln Zeit, da ich immer wartete,
ohne zu hoffen, und heftig liebte,
ohne daß ich es wußte; da mein
innerſtes Weſen ſich ganz in unbe-
ſtimmte Sehnſucht ergoß und ſie
nur ſelten in halb unterdrückten Seuf-
zern aushauchte.
Ja! ich würde es für ein Mähr-
chen gehalten haben, daß es ſolche
Freude gebe und ſolche Liebe, wie
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ich nun fühle, und eine ſolche Frau,
die mir zugleich die zärtlichſte Ge-
liebte und die beſte Geſellſchaft wäre
und auch eine vollkommene Freun-
din. Denn in der Freundſchaft be-
ſonders ſuchte ich alles, was ich ent-
behrte und was ich in keinem weib-
lichen Weſen zu finden hoffte. In
dir habe ich es alles gefunden und
mehr als ich zu wünſchen vermochte:
aber du biſt auch nicht wie die an-
dern. Was Gewohnheit oder Ei-
genſinn weiblich nennen, davon
weißt du nichts. Außer den kleinen
Eigenheiten beſteht die Weiblichkeit
deiner Seele bloß darin, daß Leben
und Lieben für ſie gleich viel bedeu-
tet; du fühlſt alles ganz und un-
endlich, du weißt von keinen Ab-
ſonderungen, dein Weſen iſt Eins
und untheilbar. Darum biſt du ſo
ernſt und ſo freudig; darum nimmſt
du alles ſo groß und ſo nachläſſig,
und darum liebſt du mich auch ganz
und überläßt keinen Theil von mir
etwa dem Staate, der Nachwelt
oder den männlichen Freunden. Es
gehört dir alles uudund wir ſind uns
überall die nächſten und verſtehn uns
am beſten. Durch alle Stufen der
Menſchheit gehſt du mit mir von
der ausgelaſſenſten Sinnlichkeit bis
zur geiſtigſten Geiſtigkeit und nur in
dir ſah ich wahren Stolz und wahre
weibliche Demuth.
Das äußerſte Leiden, wenn es
uns nur umgäbe, ohne uns zu tren-
nen, würde mir nichts ſcheinen als
ein reizender Gegenſatz für den hohen
Leichtſinn unſrer Ehe. Warum ſoll-
ten wir nicht die herbeſte Laune des
Zufalls für ſchönen Witz und aus-
gelaſſene Willkühr nehmen, da wir
unſterblich ſind wie die Liebe? Ich
kann nicht mehr ſagen, meine Liebe
oder deine Liebe; beyde ſind ſich
gleich und vollkommen Eins, ſo viel
Liebe als Gegenliebe. Es iſt Ehe,
ewige Einheit und Verbindung un-
ſrer Geiſter, nicht bloß für das was
wir dieſe oder jene Welt nennen,
ſondern für die eine wahre, untheil-
bare, namenloſe, unendliche Welt,
für unſer ganzes ewiges Seyn und
Leben. Darum würde ich auch,
wenn es mir Zeit ſchiene, eben ſo
froh und eben ſo leicht eine Taſſe
Kirſchlorberwaſſer mit dir ausleeren,
wie das letzte Glas Champagner,
was wir zuſammen tranken, mit den
Worten von mir: »So laß uns den
»Reſt unſers Lebens austrinken.« —
So ſprach und trank ich eilig, ehe
der edelſte Geiſt des Weins ver-
ſchäumte; und ſo, das ſage ich noch
einmal, ſo laß uns leben und lie-
ben. Ich weiß, auch du würdeſt
mich nicht überleben wollen, du wür-
deſt dem voreiligen Gemahle auch
im Sarge folgen, und aus Luſt und
Liebe in den flammenden Abgrund
ſteigen, in den ein raſendes Geſetz
die Indiſchen Frauen zwingt und
die zarteſten Heiligthümer der Will-
kühr durch grobe Abſicht und Befehl
entweiht und zerſtört.
Dort wird dann vielleicht die
Sehnſucht voller befriedigt. Ich bin
oft darüber erſtaunt: jeder Gedan-
ke und was ſonſt gebildet in uns
iſt, ſcheint in ſich ſelbſt vollendet,
einzeln und untheilbar wie eine Per-
ſon; eines verdrängt das andre, und
was eben ganz nah und gegenwär-
tig war, ſinkt bald in Dunkel zu-
rück. Und dann giebt es doch wie-
der Augenblicke plötzlicher, allgemei-
ner Klarheit, wo mehrere ſolche Gei-
ſter der innern Welt durch wuuder-
barewunder-
bare Vermählung völlig in Eins
verſchmelzen, und manches ſchon ver-
geſſene Stück unſers Ich in neuem
Lichte ſtrahlt und auch die Nacht
der Zukunft mit ſeinem hellen Scheine
öffnet. Wie im Kleinen ſo, glaube
ich, iſt es auch im Großen. Was
wir ein Leben nennen, iſt für den
ganzen ewigen innern Menſchen
nur ein einziger Gedanke, ein un-
theilbares Gefühl. Auch für ihn
giebts ſolche Augenblicke des tiefſten
und vollſten Bewußtſeyns, wo ihm
alle die Leben einfallen, ſich anders
miſchen und trennen. Wir beide
werden noch einſt in Einem Geiſte
anſchauen, daß wir Blüthen Einer
Pflanze oder Blätter Einer Blume
ſind, und mit Lächeln werden wir
dann wiſſen, daß was wir jetzt nur
Hoffnung nennen, eigentlich Erin-
nerung war.
Weißt du noch, wie der erſte
Keim dieſes Gedankens vor dir in
meiner Seele aufſproßte und auch
gleich in der deinigen Wurzel faßte?
— So ſchlingt die Religion der
Liebe unſre Liebe immer inniger und
ſtärker zuſammen, wie das Kind die
Luſt der zärtlichen Eltern dem Echo
gleich verdoppelt.
Nichts kann uns trennen und
gewiß würde jede Entfernung mich
nur gewaltſamer an dich reißen. Ich
denke mir, wie ich bey der letzten
Umarmung im Gedränge der hef-
tigen Widerſprüche zugleich in Thrä-
nen und in Lachen ausbreche. Dann
würde ich ſtill werden und in einer
Art von Betäubung durchaus nicht
glauben, daß ich von dir entfernt
ſey, bis die neuen Gegenſtände um
mich her mich wider Willen über-
zeugten. Aber dann würde auch
meine Sehnſucht unaufhaltſam wach-
ſen, bis ich auf ihren Flügeln in
deine Arme ſänke. Laß auch die
Worte oder die Menſchen ein Mis-
verſtändniß zwiſchen uns erregen!
Der tiefe Schmerz würde flüchtig
ſeyn und ſich bald in vollkommenere
Harmonie auflöſen. Ich würde ihn
ſo wenig achten, wie die liebende
Geliebte im Enthuſiasmus der Wol-
luſt die kleine Verletzung achtet.
Wie könnte uns die Entfernung
entfernen, da uns die Gegenwart
ſelbſt gleichſam zu gegenwärtig iſt.
Wir müſſen ihre verzehrende Gluth
in Scherzen lindern und kühlen und
ſo iſt uns die witzigſte unter den
Geſtalten und Situazionen der Freude
auch die ſchönſte. Eine unter allen
iſt die witzigſte und die ſchönſte:
wenn wir die Rollen vertauſchen
und mit kindiſcher Luſt wetteifern,
wer den andern täuſchender nach-
äffen kann, ob dir die ſchonende Hef-
tigkeit des Mannes beſſer gelingt,
oder mir die anziehende Hingebung
des Weibes. Aber weißt du wohl,
daß dieſes ſüße Spiel für mich noch
ganz andre Reize hat als ſeine eig-
nen? Es iſt auch nicht bloß die Wol-
luſt der Ermattung oder das Vor-
gefühl der Rache. Ich ſehe hier
eine wunderbare ſinnreich bedeu-
tende Allegorie auf die Vollendung
des Männlichen und Weiblichen zur
vollen ganzen Menſchheit. Es liegt
viel darin, und was darin liegt,
ſteht gewiß nicht ſo ſchnell auf wie
ich, wenn ich dir unterliege.
Das war die dithyrambiſche
Fantaſie über die ſchönſte Situazion
in der ſchönſten Welt! Ich weiß noch
recht gut, wie du ſie damals gefun-
den und genommen haſt. Aber ich
glaube auch eben ſo gut zu wiſſen,
wie du ſie hier finden und nehmen
wirſt; hier in dieſem Büchelchen, von
dem du mehr treue Geſchichte, ſchlichte
Wahrheit und ruhigen Verſtand, ja
ſogar Moral, die liebenswürdige
Moral der Liebe erwarteſt. »Wie
»kann man ſchreiben wollen, was
»kaum zu ſagen erlaubt iſt, was
»man nur fühlen ſollte?« — Ich
antworte: Fühlt man es, ſo muß
man es ſagen wollen, und was man
ſagen will, darf man auch ſchreiben
können.
Ich wollte dir erſt beweiſen und
begründen, es liege urſprünglich und
weſentlich in der Natur des Man-
nes ein gewiſſer tölpelhafter Enthu-
ſiasmus, der gern mit allem Zarten
und Heiligen herausplatzt, nicht ſel-
ten über ſeinen eignen treuherzigen
Eifer ungeſchickterweiſe hinſtürzt und
mit einem Worte leicht bis zur Grob-
heit göttlich iſt.
Durch dieſe Apologie wäre ich
zwar gerettet, aber vielleicht nur
auf Unkoſten der Männlichkeit ſelbſt:
denn ſo viel ihr auch im einzelnen
von dieſer haltet, ſo habt ihr doch
immer viel und vieles wider das
Ganze der Gattung. Ich will in-
deſſen auf keinen Fall gemeine Sache
mit einer ſolchen Race haben und
vertheidige oder entſchuldige daher
meine Freyheit und Frechheit lieber
bloß mit dem Beyſpiele der unſchul-
digen kleinen Wilhelmine, da ſie doch
auch eine Dame iſt, die ich überdem
auf das zärtlichſte liebe. Darum
will ich ſie auch gleich ein wenig
charakteriſiren.
Charakteriſtik der kleinen Wil-
helmine.
Betrachtet man das ſonderbare
Kind nicht mit Rückſicht auf eine
einſeitige Theorie, ſondern wie es
ſich ziemt, im Großen und Ganzen:
ſo darf man kühnlich von ihr ſagen,
und es iſt vielleicht das beſte was
man überhaupt von ihr ſagen kann:
Sie iſt die geiſtreichſte Perſon ihrer
Zeit oder ihres Alters. Und das iſt
nicht wenig geſagt: denn wie ſelten
iſt harmoniſche Ausbildung unter
zweyjährigen Menſchen? Der ſtärkſte
unter vielen ſtarken Beweiſen für
ihre innere Vollendung iſt ihre hei-
tere Selbſtzufriedenheit. Wenn ſie
gegeſſen hat, pflegt ſie beide Ärm-
chen auf den Tiſch ausgebreitet ih-
ren kleinen Kopf mit närriſchem Ernſt
darauf zu ſtützen, macht die Augen
groß und wirft ſchlaue Blicke im
Kreiſe der ganzen Familie umher.
Dann richtet ſie ſich auf mit dem
lebhafteſten Ausdrucke von Ironie
und
und lächelt über ihre eigne Schlau-
heit und unſre Inferiorität. Über-
haupt hat ſie viel Bouffonerie und
viel Sinn für Bouffonerie. Mache
ich ihre Gebehrden nach, ſo macht
ſie mir gleich wieder mein Nachma-
chen nach; und ſo haben wir uns
eine mimiſche Sprache gebildet und
verſtändigen uns in den Hierogly-
phen der darſtellenden Kunſt. Zur
Poeſie glaube ich hat ſie weit mehr
Neigung als zur Philoſophie; ſo
läßt ſie ſich auch lieber fahren und
reiſet nur im Nothfall zu Fuß. Die
harten Übelklänge unſrer nordiſchen
Mutterſprache verſchmelzen auf ihrer
Zunge in den weichen und ſüßen
Wohllaut der Italiäniſchen und In-
diſchen Mundart. Reime liebt ſie
Lucinde I. C
beſonders, wie alles Schöne; ſie
kann oft gar nicht müde werden,
alle ihre Lieblingsbilder, gleichſam
eine klaſſiſche Auswahl ihrer kleinen
Genüſſe, ſich ſelbſt unaufhörlich nach
einander zu ſagen und zu ſingen.
Die Blüthen aller Dinge jeglicher
Art flicht Poeſie in einen leichten
Kranz und ſo nennt und reimt auch
Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Be-
gebenheiten, Perſonen, Spielwerke
und Speiſen, alles durch einander
in romantiſcher Verwirrung, ſo viel
Worte ſo viel Bilder; und das ohne
alle Nebenbeſtimmungen und künſt-
lichen Übergänge, die am Ende doch
nur dem Verſtande frommen und
jeden kühneren Schwung der Fan-
taſie hemmen. Für die ihrige iſt alles
in der Natur belebt und beſeelt; und
ich erinnere mich noch oft mit Ver-
gnügen daran, wie ſie in einem Al-
ter von nicht viel mehr als einem
Jahre zum erſtenmal eine Puppe ſah
und fühlte. Ein himmliſches Lächeln
blühte auf ihrem kleinen Geſichte und
ſie drückte gleich einen herzlichen Kuß
auf die gefärbten Lippen von Holz.
Gewiß! es liegt tief in der Natur
des Menſchen, daß er alles eſſen
will, was er liebt, und jede neue
Erſcheinung unmittelbar zum Munde
führt, um ſie da wo möglich in ihre
erſten Beſtandtheile zu zergliedern.
Die geſunde Wißbegierde wünſcht
ihren Gegenſtand ganz zu faſſen, bis
in ſein Innerſtes zu durchdringen
und zu zerbeißen. Das Betaſten
C 2
dagegen bleibt bey der äußerlichen
Oberfläche allein ſtehn, und alles
Begreifen gewährt eine unvollkom-
mene nur mittelbare Erkenntniß.
Indeſſen iſt es doch ſchon ein in-
tereſſantes Schauſpiel, wenn ein geiſt-
reiches Kind ein Ebenbild von ſich
erblickt, es mit den Händen zu be-
greifen und ſich durch dieſe erſten
und letzten Fühlhörner der Vernunft
zu orientiren ſtrebt; ſchüchtern ver-
kriecht und verſteckt ſich der Fremd-
ling und ämſig iſt die kleine Philo-
ſophin hinterdrein, den Gegenſtand
ihrer angefangenen Unterſuchung zu
verfolgen. —
Aber freylich iſt Geiſt, Witz und
Originalität bey Kindern gerade ſo
ſelten wie bey Erwachſenen. Doch
alles dies und ſo vieles andre ge-
hört nicht hieher und würde mich
über die Gränzen meines Zweckes
führen! Denn dieſe Charakteriſtik
ſoll ja nichts darſtellen als ein Ideal,
welches ich mir ſtets vor Augen hal-
ten will, um in dieſem kleinen Kunſt-
werke ſchöner und zierlicher Lebens-
weisheit nie von der zarten Linie
des Schicklichen zu verirren, und
dir, damit du alle die Freyheiten
und Frechheiten, die ich mir noch zu
nehmen denke, im voraus verzeihſt,
oder doch von einem höhern Stand-
punkte beurtheilen und würdigen
kannſt.
Habe ich etwa Unrecht, wenn
ich die Sittlichkeit bey Kindern, Zart-
heit und Zierlichkeit in Gedanken
und Worten vornehmlich beym weib-
lichen Geſchlecht ſuche? —
Und nun ſieh! dieſe liebenswür-
dige Wilhelmine findet nicht ſelten
ein unausſprechliches Vergnügen da-
rin, auf dem Rücken liegend mit
den Beinchen in die Höhe zu geſti-
culiren, unbekümmert um ihren Rock
und um das Urtheil der Welt.
Wenn das Wilhelmine thut, was
darf ich nicht thun, da ich doch bey
Gott! ein Mann bin, und nicht zar-
ter zu ſeyn brauche wie das zarteſte
weibliche Weſen?
O beneidenswürdige Freyheit von
Vorurtheilen! Wirf auch du ſie von
dir, liebe Freundin, alle die Reſte
von falſcher Schaam, wie ich oft
die fatalen Kleider von dir riß und
in ſchöner Anarchie umherſtreute.
Und ſollte dir ja dieſer kleine Roman
meines Lebens zu wild ſcheinen: ſo
denke dir, daß er ein Kind ſey und
ertrage ſeinen unſchuldigen Muth-
willen mit mütterlicher Langmuth
und laß dich von ihm liebkoſen.
Wenn du es mit der Wahrſchein-
lichkeit und durchgängigen Bedeut-
ſamkeit einer Allegorie nicht ſogar
ſtrenge nehmen und dabey ſo viel
Ungeſchicklichkeit im Erzählen erwar-
ten wollteſt, als man von den Be-
kenntniſſen eines Ungeſchickten fodern
muß, wenn das Coſtum nicht ver-
letzt werden ſoll: ſo möchte ich dir
hier einen der letzten meiner wa-
chenden Träume erzählen, da er
ein ähnliches Reſultat giebt wie die
Charakteriſtik der kleinen Wilhel-
mine.
Allegorie von der Frechheit.
Sorglos ſtand ich in einem kunſt-
reichen Garten an einem runden Beet,
welches mit einem Chaos der herr-
lichſten Blumen, ausländiſchen und
einländiſchen, prangte. Ich ſog den
würzigen Duft ein und ergötzte mich
an den bunten Farben: aber plötz-
lich ſprang ein häßliches Unthier
mitten aus den Blumen hervor. Es
ſchien geſchwollen von Gift, die durch-
ſichtige Haut ſpielte in alle Farben
und man ſah die Eingeweide ſich
winden wie Gewürme. Es war
groß genug, um Furcht einzuflößen;
dabey öffnete es Krebsſcheeren nach
allen Seiten rund um den ganzen
Leib; bald hüpfte es wie ein Froſch,
dann kroch es wieder mit ekelhafter
Beweglichkeit auf einer unzähligen
Menge kleiner Füße. Mit Entſetzen
wandte ich mich weg: da es mich
aber verfolgen wollte, faßte ich
Muth, warf es mit einem kräftigen
Stoß auf den Rücken, und ſogleich
ſchien es mir nichts als ein gemei-
ner Froſch. Ich erſtaunte nicht we-
nig, und noch mehr, da plötzlich
Jemand ganz dicht hinter mir ſagte:
»Das iſt die öffentliche Meinung,
»und ich bin der Witz; deine fal-
»ſchen Freunde, jene Blumen ſind
»ſchon alle welk.« — Ich ſah mich
um und erblickte eine männliche Ge-
ſtalt mittlerer Größe; die großen
Formen des edlen Geſichts waren ſo
ausgearbeitet und übertrieben, wie
wir ſie oft an römiſchen Bruſtbil-
dern ſehn. Ein freundliches Feuer
ſtrahlte aus den offnen lichten Au-
gen, und zwey große Locken warfen
und drängten ſich ſonderbar auf der
kühnen Stirn. »Ich werde ein al-
»tes Schauſpiel vor dir erneuern,
»ſprach er: einige Jünglinge am
»Scheidewege. Ich ſelbſt habe es
»der Mühe werth gehalten, ſie in
»müſſigen Stunden mit der göttli-
»chen Fantaſie zu erzeugen. Es ſind
»die ächten Romane, vier an der
»Zahl und unſterblich wie wir.« —
Ich ſchaute wohin er winkte, und
ein ſchöner Jüngling flog kaum be-
kleidet über die grüne Ebne. Schon
war er fern und ich ſah nur noch
eben, daß er ſich auf ein Roß
ſchwang und davon eilte als wollte
er den lauen Abendwind überflügeln
und ſeiner Langſamkeit ſpotten. Auf
dem Hügel zeigte ſich ein Ritter in
voller Rüſtung, groß und hehr von
Geſtalt, beynah ein Rieſe: aber die
genaue Richtigkeit ſeines Wuchſes
und ſeiner Bildung nebſt der treu-
herzigen Freundlichkeit in ſeinen be-
deutenden Blicken und umſtändlichen
Gebehrden gab ihm dennoch eine
gewiſſe altväteriſche Zierlichkeit. Er
neigte ſich gegen die untergehende
Sonne, ließ ſich langſam auf ein
Knie nieder und ſchien mit großer
Inbrunſt zu beten, die rechte Hand
aufs Herz, die linke an der Stirn.
Der Jüngling, der zuvor ſo ſchnell
war, lag nun ganz ruhig am Ab-
hange und ſonnte ſich in den letzten
Strahlen; dann ſprang er auf, ent-
kleidete ſich, ſtürzte in den Strom
und ſpielte mit den Wellen, tauchte
unter, kam wieder hervor und warf
ſich von neuem in die Fluth. Fern-
ab im Dunkel des Hains ſchwebte
etwas in Griechiſchem Gewande wie
eine Geſtalt: aber wenn es eine iſt,
dachte ich, ſo kann ſie kaum der
Erde angehören; ſo matt waren die
Farben, ſo eingehüllt das Ganze in
heiligen Nebel. Da ich länger und
genauer hinſah, zeigte ſich's, daß
es auch ein Jüngling ſey, aber von
ganz entgegengeſetzter Art. Haupt
und Arme lehnte die hohe Geſtalt
an eine Urne; ſeine ernſten Blicke
ſchienen bald ein verlohrnes Gut
auf dem Boden zu ſuchen, bald die
blaſſen Sterne, die ſchon zu ſchim-
mern begannen, etwas zu fragen;
ein Seufzer öffnete die Lippen, um
die ein ſanftes Lächeln ſchwebte. —
Jener erſte ſinnliche Jüngling
war unterdeſſen der einſamen Leibes-
übungen überdrüſſig geworden und
eilte mit leichten Schritten gerade auf
uns zu. Er war nun ganz bekleidet,
faſt wie ein Schäfer, aber ſehr bunt
und ſonderbar. Er hätte ſo auf
einer Maskerade erſcheinen können,
auch ſpielten die Finger ſeiner Lin-
ken mit den Fäden, an denen eine
Maske hing. Man hätte den fan-
taſtiſchen Knaben eben ſo gut für
ein muthwilliges Mädchen halten
mögen, das ſich aus Laune verklei-
det. Bisher ging er in gerader
Richtung, aber plötzlich wurde er
unſicher; er ging erſt auf die eine
Seite, dann eilte er zurück nach der
andern und lachte dabey über ſich
ſelbſt. »Der junge Menſch weiß
»nicht, ob er ſich zur Frechheit oder
»zur Delikateſſe halten ſoll,« ſagte
mein Begleiter. Ich ſah zur Linken
eine Geſellſchaft ſchöner Frauen und
Mädchen; zur Rechten ſtand eine
große allein, und da ich hinſehen
wollte nach der gewaltigen Form,
begegnete ihr Blick dem meinen ſo
ſcharf und kühn, daß ich die Augen
niederſchlug. Mitten unter den Da-
men war ein junger Mann, den ich
ſogleich für einen Bruder der an-
dern Romane erkannte. Einer von
denen wie man ſie gegenwärtig ſieht,
aber viel gebildeter; ſeine Geſtalt
und ſein Geſicht war nicht ſchön,
aber fein, ſehr verſtändig und äuſ-
ſerſt anziehend. Man hätte ihn eben
ſo gut für einen Franzoſen wie für
einen Deutſchen halten können; ſeine
Kleidung und ſeine ganze Art war
einfach, aber ſorgfältig und völlig
modern. Er unterhielt die Geſell-
ſchaft und ſchien ſich für alle lebhaft
zu intereſſiren. Die Mädchen waren
ſehr beweglich um die vornehmſte
Dame und ſchwatzten viel unter
einander. »Ich habe doch noch mehr
»Gemüth wie du, liebe Sittlichkeit!
»ſagte die eine; aber ich heiße auch
»Seele und zwar die ſchöne.« Die
Sittlichkeit wurde etwas blaß und
die Thränen ſchienen ihr nahe zu
ſeyn. »Ich war doch geſtern ſo tu-
»gendhaft, ſagte ſie, und mache im-
»mer größere Fortſchritte in der An-
»ſtrengung. Ich habe genug an
»meinen eignen Vorwürfen, warum
»muß ich noch welche von dir hö-
»ren?« — Eine andre, die Beſchei-
denheit, war neidiſch auf die welche
ſich die ſchöne Seele nannte und
ſprach: »Ich bin böſe mit dir, du
»willſt mich uurnur als Mittel brau-
»chen.« — Die Decenz, da ſie die
arme öffentliche Meinung ſo hülf-
los auf dem Rücken liegen ſah, ver-
goß drittehalb Thränen und gebehr-
dete ſich dann auf eine intereſſante
Weiſe,
Weiſe, das Auge zu trocknen, wel-
ches aber gar nicht mehr naß war. —
»Wundre dich nicht über dieſe Of-
»fenheit, ſagte der Witz; ſie iſt we-
»der gewöhnlich noch willkührlich.
»Die allmächtige Fantaſie hat dieſe
»weſenloſen Schatten mit ihrem Zau-
»berſtabe berührt, damit ſie ihr In-
»neres offenbaren. Du wirſt gleich
»noch mehr hören. Aber die Frech-
»heit redet von freyen Stücken ſo.«
»Der junge Schwärmer da, ſagte
»die Delikateſſe, ſoll mich recht amü-
»ſiren; der wird immer ſchöne Verſe
»auf mich machen. Ich werde ihn
»in der Ferne halten wie den Ritter.
»Der Ritter iſt freylich ſchön, wenn
»er nur nicht ſo ernſthaft und feyer-
»lich ausſähe. Der klügſte von
Lucinde I. D
»allen iſt wohl der Elegant, der jetzt
»mit der Beſcheidenheit ſpricht; ich
»glaube, er perſifflirt ſie. Wenig-
»ſtens hat er über die Sittlichkeit
»und ihr fades Geſicht viel hübſches
»geſagt. Er hat doch mit mir am
»meiſten geſprochen, und könnte mich
»wohl einmal verführen, wenn ich
»mich nicht anders beſinne, oder
»wenn keiner erſcheint, der noch mehr
»nach der Mode iſt.« — Der Ritter
hatte ſich der Geſellſchaft nun auch
genähert; die linke Hand ſtützte ſich
auf den Griff des großen Schwerdtes,
und mit der rechten bot er den An-
weſenden höflichen Gruß. — »Ihr
»ſeyd doch alle gewöhnlich und ich
»habe Langeweile,« ſagte der mo-
derne Mann, gähnte und ging fort.
Ich ſah nunmehr, daß die Frauen,
die ich beym erſten Blick für ſchön
gehalten hatte, eigentlich nur blü-
hend und artig übrigens aber un-
bedeutend waren. Sah man genau
zu, ſo fanden ſich ſogar gemeine
Züge und Spuren von Verderbt-
heit. Die Frechheit ſchien mir nun
weniger hart, ich konnte ſie dreiſt
anſehen und mußte es mir mit Ver-
wunderung geſtehn, daß ihre Bil-
dung groß und edel ſey. Sie ging
haſtig auf die ſchöne Seele zu und
griff ihr gerade ins Geſicht. »Das
»iſt nur eine Maske, ſagte ſie;
»du biſt nicht die ſchöne Seele, ſon-
»dern höchſtens die Zierlichkeit,
»oft auch die Coquetterie.« — Dann
wandte ſie ſich zum Witz mit den
D 2
Worten: »Wenn du die gemacht
»haſt, die man jetzt Romane nennt,
»ſo hätteſt du deine Zeit auch beſſer
»anwenden können. Kaum hie und
»da finde ich in den beſten etwas
»von der leichten Poeſie des flüchti-
»gen Lebens: aber wohin iſt ſie ent-
»flohen, die kühne Muſik des liebe-
»raſenden Herzens, ſie die alles mit
»ſich fortreißt, ſo daß der Wildeſte
»zärtliche Thränen vergießt und die
»ewigen Felſen ſelber tanzen? Kei-
»ner iſt ſo albern und keiner ſo nüch-
»tern, der nicht von Liebe ſchwatzt:
»aber wer ſie noch kennt, hat kein
»Herz und keinen Glauben, ſie aus-
»zuſprechen.« Der Witz lachte, der
himmliſche Jüngling winkte Beyfall
aus der Ferne, und ſie fuhr fort:
»Wenn die, welche unvermögend am
»Geiſt ſind, Kinder mit ihm zeugen
»wollen; wenn die, welche es gar
»nicht verſtehn, zu leben wagen: das
»iſt höchſt unanſtändig, denn es iſt
»höchſt unnatürlich und höchſt un-
»ſchicklich. Aber daß der Wein
»ſchäumt und der Blitz zündet, iſt
»ganz richtig und ganz ſchicklich.« —
Der leichtfertige Roman hatte nun
gewählt; er war bey dieſen Worten
ſchon um die Frechheit und ſchien
ihr ganz ergeben. Sie eilte Arm
in Arm mit ihm davon und ſagte
nur im Vorbeygehn zu dem Ritter:
»Wir ſehn uns wieder.« — »Das
»waren nur äußerliche Erſcheinungen,
»ſprach mein Beſchützer, und du wirſt
»gleich das Innere in dir ſchauen.
»Übrigens bin ich eine wahre Perſon
»und der wahre Witz; das ſchwöre
»ich dir bey mir ſelber, ohne den Arm
»in die Unendlichkeit auszuſtrecken.«
Alles verſchwand nun, und auch der
Witz wuchs und dehnte ſich, bis er
nicht mehr war. Nicht mehr vor
und außer mir, wohl aber in mir
glaubte ich ihn wieder zu finden;
ein Stück meines Selbſt und doch
verſchieden von mir, in ſich leben-
dig und ſelbſtſtändig. Ein neuer
Sinn ſchien mir aufgethan; ich ent-
deckte in mir eine reine Maſſe von
mildem Licht. Ich kehrte in mich
ſelbſt zurück und in den neuen Sinn,
deſſen Wunder ich ſchaute. Er ſah
ſo klar und beſtimmt, wie ein gei-
ſtiges nach Innen gerichtetes Auge:
dabey waren aber ſeine Wahrneh-
mungen innig und leiſe wie die des
Gehörs, und ſo unmittelbar wie die
des Gefühls. Ich erkannte bald die
Scene der äußern Welt wieder, aber
reiner und verklärt, oben den blauen
Mantel des Himmels, unten den
grünen Teppich der reichen Erde,
die bald von fröhlichen Geſtalten
wimmelte. Denn was ich nur im
Innerſten wünſchte, lebte und drängte
ſich gleich hier, ehe ich ſelbſt den
Wunſch noch deutlich gedacht hatte.
Und ſo ſah ich denn bald bekannte
und unbekannte liebe Geſtalten in
wunderlichen Masken, wie ein großes
Carneval der Luſt und Liebe. Innre
Saturnalien, an ſeltſamer Mannich-
faltigkeit und Zügelloſigkeit der
großen Vorwelt nicht unwürdig.
Aber nicht lange ſchwärmte das gei-
ſtige Bacchanal durch einander, ſo
zerriß dieſe ganze innre Welt wie
durch einen elektriſchen Schlag und
ich vernahm ich weiß nicht wie und
woher die geflügelten Worte: »Ver-
»nichten und Schaffen, Eins und
»Alles; und ſo ſchwebe der ewige
»Geiſt ewig auf dem ewigen Welt-
»ſtrome der Zeit und des Lebens
»und nehme jede kühnere Welle wahr,
»ehe ſie zerfließt.« — Furchtbar ſchön
und ſehr fremd tönte dieſe Stimme
der Fantaſie, aber milder und mehr
wie an mich gerichtet die folgenden
Worte: »Die Zeit iſt da, das innre
»Weſen der Gottheit kann offenbart
»und dargeſtellt werden, alle My-
»ſterien dürfen ſich enthüllen und die
»Furcht ſoll aufhören. Weihe dich
»ſelbſt ein und verkündige es, daß
»die Natur allein ehrwürdig und
»die Geſundheit allein liebenswürdig
»iſt.« — Bey den geheimnißvollen
Worten, die Zeit iſt da, fiel wie
eine Flocke von himmliſchem Feuer
in meine Seele. Es brannte und
zehrte in meinem Mark; es drängte
und ſtürmte ſich zu äußern. Ich
griff nach Waffen, um mich in das
Kriegsgetümmel der Leidenſchaften,
die mit Vorurtheilen wie mit Waf-
fen wüthen, zu ſtürzen und für die
Liebe und die Wahrheit zu kämpfen:
aber es waren keine Waffen da.
Ich öffnete den Mund, um ſie in
Geſang zu verkündigen, und ich
dachte, alle Weſen müßten ihn ver-
nehmen und die ganze Welt ſollte
harmoniſch wiederklingen: aber ich
beſann mich, daß meine Lippen die
Kunſt nicht gelernt hätten, die Ge-
ſänge des Geiſtes nachzubilden. —
»Du mußt das unſterbliche Feuer
»nicht rein und roh mittheilen wol-
»len,« ſprach die bekannte Stimme
meines freundlichen Begleiters. »Bil-
»de, erfinde, verwandle und erhalte
»die Welt und ihre ewigen Geſtalten
»im ſteten Wechſel neuer Trennun-
»gen und Vermählungen. Verhülle
»und binde den Geiſt im Buchſta-
»ben. Der ächte Buchſtabe iſt all-
»mächtig und der eigentliche Zauber-
»ſtab. Er iſt es, mit dem die un-
»widerſtehliche Willkühr der hohen
»Zauberin Fantaſie das erhabene
»Chaos der vollen Natur berührt,
»und das unendliche Wort ans Licht
»ruft, welches ein Ebenbild und
»Spiegel des göttlichen Geiſtes iſt,
»und welches die Sterblichen Uni-
»verſum nennen.«
Wie die weibliche Kleidung vor
der männlichen, ſo hat auch der
weibliche Geiſt vor dem männlichen
den Vorzug, daß man ſich da durch
eine einzige kühne Combination über
alle Vorurtheile der Cultur und bür-
gerlichen Conventionen wegſetzen und
mit einemmale mitten im Stande
der Unſchuld und im Schooß der
Natur befinden kann.
An wen ſollte alſo wohl die Rhe-
torik der Liebe ihre Apologie der
Natur und der Unſchuld richten als
an alle Frauen, in deren zarten
Herzen das heilige Feuer der gött-
lichen Wolluſt tief verſchloſſen ruht,
und nie ganz verlöſchen kann, wenn
es auch noch ſo ſehr verwahrloſt und
verunreinigt wird? Nächſtdem frey-
lich auch an die Jünglinge, und an
die Männer die noch Jünglinge ge-
blieben ſind. Bey dieſen iſt aber
ſchon ein großer Unterſchied zu ma-
chen. Man könnte alle Jünglinge
eintheilen in ſolche, die das haben,
was Diderot die Empfindung des
Fleiſches nennt, und in ſolche die es
nicht haben. Eine ſeltne Gabe!
Viele Maler von Talent und Ein-
ſicht ſtreben ihr ganzes Leben um-
ſonſt danach, und viele Virtuoſen
der Männlichkeit vollenden ihre Lauf-
bahn, ohne eine Ahndung davon
gehabt zu haben. Auf dem gemei-
nen Wege kommt man nicht dahin.
Ein Libertin mag verſtehen mit ei-
ner Art von Geſchmack den Gürtel
zu löſen. Aber jenen höhern Kunſt-
ſinn der Wolluſt, durch den die
männliche Kraft erſt zur Schönheit
gebildet wird, lehrt nur die Liebe
allein den Jüngling. Es iſt Elek-
trizität des Gefühls, dabey aber im
Innern ein ſtilles leiſes Lauſchen,
im Äußern eine gewiſſe klare Durch-
ſichtigkeit, wie in den hellen Stellen
der Malerey, die ein reizbares Auge
ſo deutlich fühlt. Es iſt eine wun-
derbare Miſchung und Harmonie
aller Sinne: ſo giebt es auch in der
Muſik ganz kunſtloſe, reine, tiefe
Accente, die das Ohr nicht zu hö-
ren, ſondern wirklich zu trinken
ſcheint, wenn das Gemüth nach Liebe
durſtet. Übrigens aber möchte ſich
die Empfindung des Fleiſches nicht
weiter definiren laſſen. Das iſt auch
unnöthig. Genug ſie iſt für Jüng-
linge der erſte Grad der Liebeskunſt
und eine angeborne Gabe der Frauen,
durch deren Gunſt und Huld allein
ſie jenen mitgetheilt, und angebildet
werden kann. Mit den Unglückli-
chen, die ſie nicht kennen, muß man
nicht von Liebe reden: denn von
Natur iſt in dem Manne zwar ein
Bedürfniß aber kein Vorgefühl der-
ſelben. Der zweyte Grad hat ſchon
etwas Myſtiſches, und könnte leicht
vernunftwidrig ſcheinen wie jedes
Ideal. Ein Mann der das innere
Verlangen ſeiner Geliebten nicht ganz
füllen und befriedigen kann, verſteht
es gar nicht zu ſeyn, was er doch
iſt und ſeyn ſoll. Er iſt eigentlich
unvermögend, und kann keine gül-
tige Ehe ſchließen. Zwar verſchwin-
det auch die höchſte endliche Größe
vor dem Unendlichen, und durch
bloße Kraft läßt ſich alſo das Pro-
blem auch bey dem beſten Willen
nicht auflöſen. Aber wer Fantaſie
hat, kann auch Fantaſie mittheilen,
und wo die iſt, entbehren die Lie-
benden gern, um zu verſchwenden;
ihr Weg geht nach Innen, ihr Ziel
iſt intenſive Unendlichkeit, Unzertrenn-
lichkeit ohne Zahl und Maaß; und
eigentlich brauchen ſie nie zu ent-
behren, weil jener Zauber alles zu
erſetzen vermag. Aber ſtill von die-
ſen Geheimniſſen! Der dritte und
höchſte Grad iſt das bleibende Ge-
fühl von harmoniſcher Wärme. Wel-
cher Jüngling das hat, der liebt
nicht mehr bloß wie ein Mann,
ſondern zugleich auch wie ein Weib.
In ihm iſt die Menſchheit vollendet,
und er hat den Gipfel des Lebens
erſtiegen. Denn gewiß iſt es, daß
Männer von Natur bloß heiß oder
kalt ſind: zur Wärme müſſen ſie erſt
gebildet werden. Aber die Frauen
ſind von Natur ſinnlich und geiſtig
warm und haben Sinn für Wärme
jeder Art.
Wenn
Wenn dieſes tolle kleine Buch
einmal gefunden, vielleicht gedruckt,
und gar geleſen wird, ſo muß es
auf alle glücklichen Jünglinge un-
gefähr den gleichen Eindruck machen.
Nur verſchieden nach den verſchiede-
nen Stufen ihrer Ausbildung. De-
nen vom erſten Grad wird es die
Empfindung des Fleiſches erregen;
die vom zweyten kann es ganz be-
friedigen; und denen vom dritten
ſoll bloß warm dabey werden.
Ganz anders würde es mit den
Frauen ſeyn. Unter ihnen giebt es
keine Ungeweihten; denn jede hat
die Liebe ſchon ganz in ſich, von
deren unerſchöpflichem Weſen wir
Jünglinge nur immer ein wenig
mehr lernen und begreifen. Schon
Lucinde I. E
entfaltet, oder noch im Keime, das
iſt gleich viel. Auch das Mädchen
weiß in ihrer naiven Unwiſſenheit
doch ſchon alles, noch ehe der Blitz
der Liebe in ihrem zarten Schooß
gezündet, und die verſchloßne Knoſpe
zum vollen Blumenkelch der Luſt
entfaltet hat. Und wenn eine Knoſpe
Gefühl hätte, würde nicht das Vorge-
fühl der Blume deutlicher in ihr ſeyn,
als das Bewußtſeyn ihrer ſelbſt? —
Darum giebt es in der weibli-
chen Liebe keine Grade und Stufen
der Bildung, überhaupt nichts all-
gemeines; ſondern ſo viel Indivi-
duen, ſo viel eigenthümliche Arten.
Kein Linné kann uns alle dieſe ſchö-
nen Gewächſe und Pflanzen im
großen Garten des Lebens klaſſifiziren
und verderben; und nur der einge-
weihte Liebling der Götter verſteht
ihre wunderbare Botanik; die gött-
liche Kunſt, ihre verhüllten Kräfte
und Schönheiten zu errathen und
zu erkennen, wann die Zeit ihrer
Blüthe ſey und welches Erdreich
ſie bedürfen. Da wo der Anfang
der Welt oder doch der Anfang
der Menſchen iſt, da iſt auch der
eigentliche Mittelpunkt der Origina-
lität, und kein Weiſer hat die Weib-
lichkeit ergründet.
Eines zwar ſcheint die Frauen
in zwey große Klaſſen zu theilen.
Das nämlich, ob ſie die Sinne ach-
ten und ehren, die Natur, ſich ſelbſt
und die Männlichkeit: oder ob ſie
dieſe wahre innere Unſchuld verloren
E 2
haben, und jeden Genuß mit Reue
erkaufen, bis zur bittern Gefühllo-
ſigkeit gegen innere Misbilligung.
Das iſt ja die Geſchichte ſo vieler.
Erſt ſcheuen ſie die Männer, dann
werden ſie Unwürdigen hingegeben,
welche ſie bald haſſen oder betrügen,
bis ſie ſich ſelbſt und die weibliche
Beſtimmung verachten. Ihre kleine
Erfahrung halten ſie für allgemein
und alles andre für lächerlich; der
enge Kreis von Rohheit und Gemein-
heit, in dem ſie ſich beſtändig drehen,
iſt für ſie die ganze Welt, und es
fällt ihnen gar nicht ein, daß es auch
noch andre Welten geben könne. Für
dieſe ſind die Männer nicht Men-
ſchen, ſondern bloß Männer, eine
eigne Gattung, die fatal aber doch
gegen die Langeweile unentbehrlich
iſt. Sie ſelbſt ſind denn auch eine
bloße Sorte, eine wie die andre,
ohne Originalität und ohne Liebe.
Aber ſind ſie unheilbar weil ſie
ungeheilt ſind? Mir iſt es ſo ein-
leuchtend und klar, daß nichts un-
natürlicher für eine Frau ſey, als
Prüderie (ein Laſter an das ich nie
ohne eine gewiſſe innerliche Wuth
denken kann) und nichts beſchwer-
licher als Unnatürlichkeit, daß ich
keine Gränze beſtimmen, und keine
für unheilbar halten möchte. Ich
glaube ihre Unnatur kann nie zu-
verläßig werden, wenn ſie auch noch
ſo viel Leichtigkeit und Unbefangen-
heit darin erlangt haben, bis zu
einem Schein von Conſequenz und
Charakter. Es bleibt doch nur
Schein; das Feuer der Liebe iſt
durchaus unverlöſchlich, und noch
unter der tiefſten Aſche glühen
Funken.
Dieſe heilige Funken zu wecken,
von der Aſche der Vorurtheile zu
reinigen, und wo die Flamme ſchon
lauter brennt, ſie mit beſcheidenem
Opfer zu nähren; das wäre das
höchſte Ziel meines männlichen Ehr-
geizes. Laß mich's bekennen, ich
liebe nicht dich allein, ich liebe die
Weiblichkeit ſelbſt. Ich liebe ſie
nicht bloß, ich bete ſie an, weil ich
die Menſchheit anbete, und weil die
Blume der Gipfel der Pflanze und
ihrer natürlichen Schönheit und Bil-
dung iſt.
Es iſt die älteſte kindlichſte ein-
fachſte Religion, zu der ich zurück-
gekehrt bin. Ich verehre als vor-
züglichſtes Sinnbild der Gottheit das
Feuer; und wo giebts ein ſchöneres,
als das was die Natur tief in die
weiche Bruſt der Frauen verſchloß?
— Weihe du mich zum Prieſter, nicht
um es müßig zu beſchauen, ſondern
um es zu befreyen, zu wecken, und
zu reinigen: wo es rein iſt, erhält
es ſich ſelber, ohne Wache und ohne
Veſtalinnen.
Ich ſchreibe und ſchwärme, wie
du ſiehſt, nicht ohne Salbung; aber
es geſchieht auch nicht ohne Beruf,
und zwar göttlichen Beruf. Was
darf ſich der nicht zutrauen, zu dem
der Witz ſelbſt durch eine Stimme
vom geöffneten Himmel herab ſprach:
»Du biſt mein lieber Sohn an dem
»ich Wohlgefallen habe.« — Und
warum ſoll ich nicht aus eigner
Vollmacht und Willkühr von mir
ſagen: »Ich bin des Witzes lieber
»Sohn;« wie mancher Edle, der
auf Abentheuer durch's Leben wan-
derte, von ſich ſagte: »Ich bin des
»Glückes lieber Sohn.« —
Übrigens wollte ich eigentlich
davon reden, welchen Eindruck die-
ſer fantaſtiſche Roman auf die Frauen
machen würde, wenn der Zufall
oder die Willkühr ihn fände und
öffentlich aufſtellte. Es wäre auch
in der That unſchicklich, wenn ich
dir nicht in aller Kürze mit einigen
kleinen Beweiſen von Weiſſagung
und Divination aufwartete, um mein
Recht auf die Prieſterwürde dar-
zuthun.
Verſtehen würden mich alle, keine
ſo mißverſtehen und ſo mißbrauchen
wie die uneingeweihten Jünglinge.
Viele würden mich beſſer verſtehen
als ich ſelbſt, aber nur Eine ganz,
und die biſt du. Alle übrigen hoffe
ich wechſelsweiſe anzuziehen und
abzuſtoßen, oft zu verletzen und
eben ſo oft zu verſöhnen. Bey je-
der gebildeten wird der Eindruck
ganz verſchieden, und ganz eigen
ſeyn; ſo eigen und ſo verſchieden
wie ihre eigenthümliche Art zu ſeyn,
und zu lieben. Clementinen wird
das Ganze bloß intereſſiren als eine
Sonderbarkeit, hinter der aber doch
wohl etwas ſeyn könnte; einiges in-
deſſen wird ſie richtig finden. Man
nennt ſie hart und heftig, und doch
glaube ich an ihre Liebenswürdig-
keit. Ihre Heftigkeit verſöhnt mich
mit ihrer Härte, obgleich beyde ſich
dem äußern Anſchein nach vermeh-
ren. Wäre die Härte allein, ſo
müßte ſie Kälte und Mangel an
Herz ſcheinen; die Heftigkeit zeigt,
daß heiliges Feuer da iſt, was durch-
brechen will. Du kannſt leicht den-
ken wie ſie einem mitſpielen würde,
den ſie im Ernſt liebte. Die weiche
und verletzbare Roſamunde wird ſich
eben ſo oft anneigen als wegwen-
den, bis »ſcheue Zartheit kühner
»wird und nichts als Unſchuld ſieht
»in inn'ger Liebe Thun.« Juliane
hat eben ſo viel Poeſie als Liebe,
eben ſo viel Enthuſiasmus als Witz:
aber beydes iſt zu iſolirt in ihr, da-
rum wird ſie bisweilen über das
kühne Chaos weiblich erſchrecken, und
dem Ganzen etwas mehr Poeſie und
etwas weniger Liebe wünſchen.
Ich könnte ſo noch lange fort-
fahren, denn ich ſtrebe aus allen
Kräften nach Menſchenkenntniß, und
ich weiß meine Einſamkeit oft nicht
würdiger anzuwenden, als indem ich
darüber reflektire, wie dieſe oder
jene intereſſante Frau in dieſem oder
jenem intereſſanten Verhältniſſe wohl
ſeyn und ſich verhalten dürfte. Doch
genug für jetzt, ſonſt möchte es dir
zu viel werden, und die Vielſeitig-
keit deinem Propheten übel gerathen.
Denke nur nicht ſo arg von mir
und glaube, daß ich nicht allein für
dich ſondern für die Mitwelt dichte.
Glaube mir, es iſt mir bloß um
die Objektivität meiner Liebe zu
thun. Dieſe Objektivität und jede
Anlage zu ihr beſtätigt und bildet
ja eben die Magie der Schrift, und
weil es mir verſagt iſt, meine Flamme
in Geſänge auszuhauchen, muß ich
den ſtillen Zügen das ſchöne Ge-
heimniß vertrauen. Dabey denke
ich aber eben ſo wenig an die ganze
Mitwelt, als an die Nachwelt.
Und muß es ja eine Welt ſeyn, an
die ich denken ſoll: ſo ſey es am
liebſten die Vorwelt. Die Liebe
ſelbſt ſey ewig neu und ewig jung,
aber ihre Sprache ſey frey und kühn,
nach alter klaſſiſcher Sitte, nicht züch-
tiger wie die römiſche Elegie und
die Edelſten der größten Nazion,
und nicht vernünftiger wie der große
Plato und die heilige Sappho.
Idylle über den Müſſiggang.
»Sieh ich lernte von ſelbſt, und
»ein Gott hat mancherley Weiſen
»mir in die Seele gepflanzt.« So
darf ich kühnlich ſagen, wenn nicht
von der fröhlichen Wiſſenſchaft der
Poeſie die Rede iſt, ſondern von
der gottähnlichen Kunſt der Faul-
heit. Mit wem ſollte ich alſo lie-
ber über den Müſſiggang denken
und reden als mit mir ſelbſt? Und
ſo ſprach ich denn auch in jener un-
ſterblichen Stunde, da mir der Genius
eingab, das hohe Evangelium der
ächten Luſt und Liebe zu verkündi-
gen, zu mir ſelbſt: »O Müſſig-
»gang, Müſſiggang! du biſt die Le-
»bensluft der Unſchuld und der Be-
»geiſterung; dich athmen die See-
»ligen, und ſeelig iſt wer dich hat
»und hegt, du heiliges Kleinod! ein-
»ziges Fragment von Gottähnlich-
»keit, das uns noch aus dem Pa-
»radieſe blieb.« Ich ſaß, da ich ſo
in mir ſprach, wie ein nachdenkli-
ches Mädchen in einer gedankenloſen
Romanze am Bach, ſah den fliehen-
den Wellen nach. Aber die Wellen
flohen und floßen ſo gelaſſen, ruhig
und ſentimental, als ſollte ſich ein
Narciſſus in der klaren Fläche be-
ſpiegeln und ſich in ſchönen
Egoiſmus berauſchen. Auch mich
hätte ſie locken können, mich immer
tiefer in die innere Perſpektive mei-
nes Geiſtes zu verlieren, wenn nicht
meine Natur ſo uneigennützig und
ſo praktiſch wäre, daß ſogar meine
Spekulazion unaufhörlich nur um
das allgemeine Gute beſorgt iſt.
Daher dachte ich auch, ungeachtet
mein Gemüth in ſeiner Behaglichkeit
ſo matt war, wie die von der ge-
waltigen Hitze aufgelöſten und hin-
geſunknen Glieder, ernſtlich über die
Möglichkeit einer dauernden Umar-
mung nach. Ich ſann auf Mittel
das Beyſammenſeyn zu verlängern,
und künftig lieber alle kindlich rüh-
renden Elegieen über plötzliche Tren-
nung zu verhüten, als uns wie bis-
her an dem Komiſchen einer ſolchen
Fügung des Schickſals zu ergötzen,
weil es nun doch einmal geſchehen
und unabänderlich ſey. Erſt nach-
dem die Kraft der angeſpannten
Vernunft an der Unerreichbarkeit des
Ideals brach und erſchlaffte, über-
ließ ich mich dem Strome der Ge-
danken, und hörte willig alle die
bunten Mährchen an, mit denen
Begierde und Einbildung, unwider-
ſtehliche Sirenen in meiner eignen
Bruſt, meine Sinne bezauberten. Es
fiel mir nicht ein das verführeriſche
Gaukelſpiel unedel zu kritiſiren, un-
geachtet ich wohl wußte, daß das
meiſte nur ſchöne Lüge ſey. Die
zarte Muſik der Fantaſie ſchien die
Lücken der Sehnſucht auszufüllen.
Dank-
Dankbar nahm ich das wahr und
beſchloß, was das hohe Glück mir
diesmal gegeben, auch künftig durch
eigne Erfindſamkeit für uns beide
zu wiederholen, und dir dieſes Ge-
dicht der Wahrheit zu beginnen. So
erzeugte ſich der erſte Keim zu dem
wunderſamen Gewächs von Willkühr
und Liebe. Und frey wie es ent-
ſproſſen iſt, dacht' ich, ſoll es auch
üppig wachſen und verwildern, und
nie will ich aus niedriger Ordnungs-
liebe und Sparſamkeit die lebendige
Fülle von überflüſſigen Blättern und
Ranken beſchneiden.
Gleich einem Weiſen des Orients
war ich ganz verſunken in ein hei-
liges Hinbrüten und ruhiges An-
ſchauen der ewigen Subſtanzen, vor-
Lucinde I. F
züglich der deinigen und der meini-
gen. Größe in Ruhe, ſagen die
Meiſter, ſey der höchſte Gegenſtand
der bildenden Kunſt; und ohne es
deutlich zu wollen, oder mich un-
würdig zu bemühen, bildete und
dichtete ich auch unſre ewigen Sub-
ſtanzen in dieſem würdigen Styl.
Ich erinnerte mich, und ich ſah uns,
wie gelinder Schlaf die Umarmten
mitten in der Umarmung umfing.
Dann und wann öffnete einer die
Augen, lächelte über den ſüßen
Schlaf des andern und wurde wach
genug um ein ſcherzendes Wort,
eine Liebkoſung zu beginnen: aber
noch ehe der angefangene Muth-
wille geendigt war, ſanken wir beide
feſt verſchlungen in den ſeeligen
Schooß einer halbbeſonnenen Selbſt-
vergeſſenheit zurück.
Mit dem äußerſten Unwillen
dachte ich nun an die ſchlechten
Menſchen, welche den Schlaf vom
Leben ſubtrahiren wollen. Sie ha-
ben wahrſcheinlich nie geſchlafen, und
auch nie gelebt. Warum ſind denn
die Götter Götter, als weil ſie mit
Bewußtſeyn und Abſicht nichts thun,
weil ſie das verſtehen und Meiſter
darin ſind? Und wie ſtreben die
Dichter, die Weiſen und Heiligen
auch darin den Göttern ähnlich zu
werden! Wie wetteifern ſie im Lobe
der Einſamkeit, der Muße, und ei-
ner liberalen Sorgloſigkeit und Un-
thätigkeit! Und mit großem Recht:
denn alles Gute und Schöne iſt
F 2
ſchon da und erhält ſich durch ſeine
eigne Kraft. Was ſoll alſo das un-
bedingte Streben und Fortſchreiten
ohne Stillſtand und Mittelpunkt?
Kann dieſer Sturm und Drang der
unendlichen Pflanze der Menſchheit,
die im Stillen von ſelbſt wächſt und
ſich bildet, nährenden Saft oder
ſchöne Geſtaltung geben? Nichts iſt
es, dieſes leere unruhige Treiben,
als eine nordiſche Unart und wirkt
auch nichts als Langeweile, fremde
und eigne. Und womit beginnt und
endigt es als mit der Antipathie ge-
gen die Welt, die jetzt ſo gemein
iſt? Der unerfahrne Eigendünkel
ahndet gar nicht daß dies nur Man-
gel an Sinn und Verſtand ſey und
hält es für hohen Unmuth über die
allgemeine Häßlichkeit der Welt und
des Lebens, von denen er doch noch
nicht einmal das leiſeſte Vorgefühl
hat. Er kann es nicht haben, denn
der Fleiß und der Nutzen ſind die To-
desengel mit dem feurigen Schwerdt,
welche dem Menſchen die Rückkehr
ins Paradies verwehren. Nur mit
Gelaſſenheit und Sanftmuth, in der
heiligen Stille der ächten Paſſivität
kann man ſich an ſein ganzes Ich
erinnern, und die Welt und das Le-
ben anſchauen. Wie geſchieht alles
Denken und Dichten als daß man
ſich der Einwirkung irgend eines
Genius ganz überläßt und hingiebt?
Und doch iſt das Sprechen und
Bilden nur Nebenſache in allen Kün-
ſten und Wiſſenſchaften, das Weſent-
liche iſt das Denken und Dichten,
und das iſt nur durch Paſſivität
möglich. Freylich iſt es eine abſicht-
liche, willkührliche, einſeitige, aber
doch Paſſivität. Je ſchöner das
Klima iſt, je paſſiver iſt man. Nur
Italiäner wiſſen zu gehen, und nur
die im Orient verſtehen zu liegen;
wo hat ſich aber der Geiſt zarter
und ſüßer gebildet als in Indien?
Und unter allen Himmelsſtrichen iſt
es das Recht des Müſſiggangs was
Vornehme und Gemeine unterſchei-
det, und das eigentliche Prinzip des
Adels.
Endlich wo iſt mehr Genuß, und
mehr Dauer, Kraft und Geiſt des
Genuſſes; bey den Frauen, deren
Verhältniß wir Paſſivität nennen,
oder etwa bey den Männern, bey
denen der Übergang von übereilen-
der Wuth zur Langenweile ſchneller
iſt, als der Übergang vom Guten
zum Böſen?
In der That man ſollte das
Studium des Müſſiggangs nicht ſo
ſträflich vernachläſſigen, ſondern es
zur Kunſt und Wiſſenſchaft, ja zur
Religion bilden! Um alles in Eins
zu faſſen: je göttlicher ein Menſch
oder ein Werk des Menſchen iſt, je
ähnlicher werden ſie der Pflanze;
dieſe iſt unter allen Formen der Na-
tur die ſittlichſte, und die ſchönſte.
Und alſo wäre ja das höchſte vol-
lendetſte Leben nichts als ein reines
Vegetiren.
Ich nahm mir vor, mich zufrie-
den im Genuß meines Daſeyns über
alle doch endliche, und alſo verächt-
liche Zwecke und Vorſätze zu erhe-
ben. Die Natur ſelbſt ſchien mich
in dieſem Unternehmen zu beſtärken,
und mich gleichſam in vielſtimmigen
Chorälen zum fernern Müſſiggang
zu ermahnen, als ſich plötzlich eine
neue Erſcheinung offenbarte. Ich
glaubte unſichtbarerweiſe in einem
Theater zu ſeyn: auf der einen Seite
zeigten ſich die bekannten Bretter,
Lampen, und bemalten Pappen; auf
der andern ein unermeßliches Ge-
dränge von Zuſchauern, ein wahres
Meer von wißbegierigen Köpfen und
theilnehmenden Augen. An der rech-
ten Seite des Vorgrundes war ſtatt
der Dekoration ein Prometheus ab-
gebildet, der Menſchen verfertigte.
Er war an einer langen Kette ge-
feſſelt, und arbeitete mit der größten
Haſt und Anſtrengung; auch ſtan-
den einige ungeheure Geſellen da-
neben, die ihn unaufhörlich antrie-
ben und geiſſelten. Leim und an-
dreder Materialien waren im Überfluß
da; das Feuer nahm er aus einer
großen Kohlenpfanne. Gegenüber
zeigte ſich auch als ſtumme Figur
der vergötterte Herkules wie er ab-
gebildet wird mit der Hebe auf dem
Schooß. Vorn auf der Bühne lie-
fen und ſprachen eine Menge ju-
gendlicher Geſtalten, die ſehr fröh-
lich waren, und nicht bloß zum
Schein lebten. Die jüngſten glichen
Amorinen, die mehr erwachſenen
den Bildern von Faunen: aber jeder
hatte ſeine eigne Manier, eine auf-
fallende Originalität des Geſichts,
und alle hatten irgend eine Ähnlich-
keit von dem Teufel der chriſtlichen
Maler oder Dichter; man hätte ſie
Satanisken nennen mögen. Einer
der kleinſten ſagte: »Wer nicht ver-
»achtet, der kann auch nicht achten;
»beides kann man nur unendlich,
»und der gute Ton beſteht darin,
»daß man mit den Menſchen ſpielt.
»Iſt alſo nicht eine gewiſſe äſtheti-
»ſche Bosheit ein weſentliches Stück
»der harmoniſchen Ausbildung?«
»Nichts iſt toller, ſagte ein andrer,
»als wenn die Moraliſten Euch
»Vorwürfe über den Egoiſmus ma-
»chen. Sie haben vollkommen Un-
»recht: denn welcher Gott kann dem
»Menſchen ehrwürdig ſeyn, der
»nicht ſein eigner Gott iſt? Ihr irrt
»freylich darin, daß Ihr ein Ich zu
»haben glaubt; aber wenn ihr in-
»deſſen euren Leib und Namen oder
»eure Sachen dafür haltet, ſo wird
»doch wenigſtens ein Logis bereitet,
»wenn etwa ja noch ein Ich kom-
»men ſollte.« — »Und dieſen Pro-
»metheus könnt ihr nur recht in Eh-
»ren halten, ſagte einer der größten;
»er hat euch alle gemacht, und macht
»immer mehrere eures gleichen.« —
In der That warfen auch die Ge-
ſellen jeden neuen Menſchen, ſo wie
er fertig war, unter die Zuſchauer
herab, wo man ihn ſogleich gar
nicht mehr unterſcheiden konnte, ſo
ähnlich waren ſie alle. »Er fehlt
»nur in der Methode!« fuhr der
Sataniskus fort: »Wie kann man
»allein Menſchen bilden wollen?
»Das ſind gar nicht die rechten
»Werkzeuge.« Und dabey winkte er
auf eine rohe Figur vom Gott der
Gärten, die ganz im Hintergrunde
der Bühne zwiſchen einem Amor und
einer ſehr ſchönen unbekleideten
Venus ſtand. »Darin dachte unſer
»Freund Herkules richtiger, der funf-
»zig Mädchen in einer Nacht für
»das Heil der Menſchheit beſchäftigen
»konnte, und zwar heroiſche. Er hat
»auch gearbeitet und viel grimmige
»Unthiere erwürgt, aber das Ziel
»ſeiner Laufbahn war doch immer
»ein edler Müſſiggang, und darum
»iſt er auch in den Olymp gekom-
»men. Nicht ſo dieſer Prometheus,
»der Erfinder der Erziehung und Auf-
»klärung. Von ihm habt ihr es, daß
»ihr nie ruhig ſeyn könnt, und euch
»immer ſo treibt; daher kommt es,
»daß ihr, wenn ihr ſonſt gar nichts
»zu thun habt, auf eine alberne
»Weiſe ſogar nach Charakter ſtreben
»müßt, oder euch einer den andern
»beobachten und ergründen wollt.
»Ein ſolches Beginnen iſt niederträch-
»tig. Prometheus aber, weil er die
»Menſchen zur Arbeit verführt hat,
»ſo muß er nun auch arbeiten, er
»mag wollen oder nicht. Er wird
»noch Langeweile genug haben, und
»nie von ſeinen Feſſeln frey werden.«
Da dies die Zuſchauer hörten, brachen
ſie in Thränen aus, und ſprangen
auf die Bühne um ihren Vater der
lebhafteſten Theilnahme zu verſichern;
und ſo verſchwand die allegoriſche
Komödie.
Treue und Scherz.
Du biſt doch allein Lucinde? —
Ich weiß nicht... vielleicht... ich
glaube — Bitte, Bitte! liebe Lu-
cinde. Weißt du wohl wenn die
kleine Wilhelmine, Bitte, Bitte! ſagt,
und man thut's nicht gleich, ſo
ſchreyt ſie's immer lauter und ernſt-
hafter, bis ihr Wille geſchieht. —
Alſo das haſt du mir ſagen wollen,
darum ſtürzeſt du ſo außer Athem
ins Zimmer und haſt mich ſo er-
ſchreckt? — Sey nicht böſe, ſüßes
Weib! o laß mich, mein Kind! du
Schöne! mach mir keine Vorwürfe,
gutes Mädchen! — Nun wirſt du
noch nicht bald ſagen: ſchließ die
Thüren zu? — So?... Gleich will
ich dir antworten. Nur erſt einen
recht langen Kuß, und wieder einen,
dann noch einige und viele andre
mehr. — O, du mußt mich nicht ſo
küſſen wenn ich vernünftig bleiben
ſoll. Das macht böſe Gedanken. —
Die verdienſt du. Kannſt du wirk-
lich lachen, meine verdrießliche Dame?
Wer hätte das denken ſollen! aber
ich weiß wohl, du lachſt bloß weil
du mich auslachen kannſt. Aus
Luſt thuſt du es nicht. Denn wer
ſah nur eben ſo ernſthaft aus wie
ein römiſcher Senator? Recht ent-
zückend hätteſt du ausſehen können,
liebes Kind! mit deinen heiligen
dunkeln Augen, mit deinen langen
ſchwarzen Haaren im glänzenden
Wiederſchein der Abendſonne, wenn
du nicht da geſeſſen hätteſt, als
ſäßeſt du zu Gericht. Bey Gott! du
haſt mich ſo angeblickt, daß ich or-
dentlich zurückfuhr. Ich hätte bald
das wichtigſte vergeſſen, und bin
ganz in Confuſion gerathen. Aber
warum ſprichſt du denn gar nicht?
Bin ich dir zuwider? — Nun das
iſt komiſch! du närriſcher Julius!
wen läßt du zum Reden kommen?
deine Zärtlichkeit fließt heute ja wie
ein Platzregen. — Wie dein Geſpräch
in der Nacht. — O das Halstuch
laſſen Sie nur, mein Herr. — Laſſen?
Nichts
Nichts weniger als das. Was ſoll
ſo ein elendes dummes Halstuch?
Vorurtheile! Aus der Welt muß es.
— Wenn uns nur nicht jemand
ſtört! — Sieht ſie nicht ſchon wie-
der aus, als ob ſie weinen wollte!
Du biſt doch wohl? Warum ſchlägt
dein Herz ſo unruhig? Komm laß
mich's küſſen. Ja du ſagteſt vorhin
von Thüren zuſchließen. Gut, aber
ſo nicht, nicht hier. Geſchwind her-
unter durch den Garten, nach dem
Pavillon, wo die Blumen ſtehn.
Komm! o laß mich nicht ſo lange
warten. — Wie Sie befehlen mein
Herr! — Ich weiß nicht, du biſt
heute ſo ſonderbar. — Wenn du an-
fängſt zu moraliſiren, lieber Freund,
ſo könnten wir eben ſo gut wieder
Lucinde I. G
zurückgehen. Lieber gebe ich dir noch
einen Kuß und laufe voran. — O
fliehen Sie nicht ſo ſchnell Lucinde,
die Moral wird Sie doch nicht ein-
holen. Du wirſt fallen, Liebe! —
Ich habe dich nicht länger warten
laſſen wollen. Nun ſind wir ja da.
Und du biſt auch eilig. — Und du
ſehr gehorſam. Aber jetzt iſt nicht
Zeit zu ſtreiten. — Ruhig, ruhig! —
Siehſt du, hier kannſt du weichlich
ruhn und wie es recht iſt. Nun wenn
du diesmal nicht... ſo haſt du gar
keine Entſchuldigung. — Wirſt du
nicht wenigſtens erſt den Vorhang
niederlaſſen? — Du haſt Recht, die
Beleuchtung wird ſo viel reizender.
Wie ſchön glänzt dieſe weiße Hüf-
te in dem rothen Schein!.... Warum
ſo kalt, Lucinde? — Lieber, ſetze die
Hyacinthen weiter weg, der Geruch
betäubt mich. — Wie feſt und ſelbſt-
ſtändig, wie glatt und fein! Das iſt
harmoniſche Ausbildung. — O nein,
Julius! laß, ich bitte dich, ich will
nicht. — Darf ich nicht fühlen, ob
du glühſt wie ich? O ſo laß mich
doch die Schläge deines Herzens lau-
ſchen, die Lippen in dem Schnee des
Buſens kühlen!.... Kannſt du mich
wegdrücken? Ich werde mich rächen.
Umarme mich feſter, Kuß gegen
Kuß; nein! nicht mehre einen ew-
gen. Nimm meine Seele ganz und
gieb mir deine!.... O ſchönes
herrliches Zugleich! Sind wir nicht
Kinder? Sprich doch! wie konn-
teſt du nur erſt ſo gleichgültig
G 2
und kalt ſeyn, und nachher wie du
mich endlich feſter an dich zogſt,
machteſt du in demſelben Augenblick
ein Geſicht, als wenn dir etwas
weh thäte, als ob es dir leid wäre,
daß du meine Gluth erwiederteſt.
Was iſt dir? du weinſt? Verbirg
nicht dein Geſicht! Sieh mich an,
Geliebte! — O laß mich hier an
dich liegen, ich kann dir nicht in die
Augen ſehen. Es war recht ſchlecht
von mir, Julius! Kannſt du mir
verzeihen, du liebenswürdiger Mann!
Wirſt du mich nicht verlaſſen? kannſt
du mich noch lieben? — Komm zu
mir, mein ſüßes Weib! hier an mei-
nem Herzen. Weißt du noch neu-
lich, wie ſchön es war, wie du in
meinen Armen weinteſt? wie leicht
dir wurde? Aber ſprich nun auch,
was iſt dir, Liebe? biſt du böſe auf
mich? — Auf mich bin ich böſe.
Ich könnte mich ſchlagen... Dir
freylich wäre ganz Recht geſchehen;
und wenn Sie ſich künftig wieder
einmal ehemännlich betragen, mein
Herr! ſo werde ich ſchon beſſer da-
für ſorgen, daß Sie mich auch wie
eine Ehefrau finden ſollen. Darauf
kannſt du dich verlaſſen. Ich muß
lachen, wie es mich überraſcht hat.
Aber bilden Sie ſich nur nicht ein,
mein Herr, daß du ſo unmenſchlich
liebenswürdig biſt. Diesmal war es
eigner Wille, daß ich meinen Vor-
ſatz brach. — Der erſte und der
letzte Wille iſt immer der beſte. Da-
für daß die Frauen meiſtens weniger
ſagen, als ſie meinen, thun ſie bis-
weilen mehr als ſie wollen. Das iſt
nicht mehr als billig: der gute Wille
verführt euch. Der gute Wille iſt
etwas ſehr gutes, aber das iſt
ſchlimm an ihm, daß er immer da
iſt, auch wenn man ihn nicht will.
— Das iſt ein ſchöner Fehler. Aber
ihr ſeyd voll von böſem Willen und
verſtockt euch darin. — O nein! wenn
wir verſtockt ſcheinen, ſo iſts bloß
weil wir nicht anders können und
alſo nicht böſe. Wir können nicht,
weil wir nicht recht wollen; es iſt
alſo nicht böſer Wille, ſondern Man-
gel an Willen. Und an wem liegt
da wieder die Schuld als an euch,
daß ihr uns nicht mittheilen wollt
von eurem Überfluß, und den guten
Willen allein behalten wollt? Übri-
gens iſts ganz wider Willen geſche-
hen, daß ich hier ſo in den Willen
gerathen bin, und ich weiß ſelbſt
nicht was wir damit wollen. In-
deſſen iſts immer beſſer, wenn ich
mein Müthchen an einigen Worten
kühle, als wenn ich das ſchöne Por-
cellan zerſchlüge. Bey dieſer Ge-
legenheit habe ich mich doch von
meinem erſten Erſtaunen über Ihr
unerwartetes Pathos, Ihre vortref-
liche Rede und Ihren rühmlichen
Vorſatz etwas erholen können. In
der That iſt dies einer der ſeltſam-
ſten Streiche von denen, die Sie
mir die Ehre verſchafft haben kennen
zu lernen; und ſoviel ich mich er-
innern kann, haben Sie ſchon ſeit
einigen Wochen bey Tage nicht in
ſo geſetzten und vollen Perioden ge-
redet, wie in Ihrer gegenwärtigen
Predigt. Iſt es Ihnen gefällig,
Ihre Meinung in Proſa zu über-
ſetzen? — Haſt du den geſtrigen
Abend und die intereſſante Geſell-
ſchaft wirklich ſchon ganz vergeſſen?
Freylich, das wußte ich nicht. —
Alſo darüber biſt du böſe, weil ich
zu viel mit Amalien geſprochen
habe? — Sprechen Sie doch ſo viel
Sie wollen und mit wem Sie wol-
len. Aber artig ſollſt du mir be-
gegnen, das will ich haben. — Du
ſprachſt ſo ſehr laut, der Fremde
ſtand gleich daneben, ich war ängſt-
lich und wußte mir nicht anders zu
helfen. — Als unartig zu ſeyn, weil
du ungeſchickt warſt? — Verzeih
mir nur! Ich bekenne mich ſchuldig,
du weißt wie verlegen ich mit dir
in Geſellſchaft bin. Es thut mir
leid in Gegenwart der Andern mit
dir zu ſprechen. — Wie ſchön weiß
er ſich heraus zu reden! — Laß mir
ſo etwas nie hingehen, und ſey
recht aufmerkſam und ſtrenge. Aber
ſieh, was du nun gethan haſt! Iſt es
nicht Entweihung? O nein! es iſt
nicht möglich, es iſt mehr als das.
Geſteh mir's nur, es war Eifer-
ſucht. — Den ganzen Abend hatteſt
du mich unfreundlich vergeſſen. Ich
wollte dir heute früh alles ſchreiben,
aber ich habe es wieder zerriſſen. —
Und da ich eben kam? — Verdroß
mich deine gewaltige Eil. — Könnteſt
du mich lieben, wenn ich nicht
ſo brennbar und elektriſch wäre?
biſt du es nicht auch? haſt du unſre
erſte Umarmung vergeſſen? In einem
Augenblick iſt die Liebe da, ganz
und ewig, oder gar nicht. Alles
Göttliche und alles Schöne iſt ſchnell
und leicht. Oder ſammelt die Freude
ſich etwa ſo wie Geld und andre
Materien durch ein conſequentes Be-
tragen? Wie eine Muſik aus der
Luſt, überraſcht uns das hohe Glück,
erſcheint und verſchwindet. — So
biſt du mir erſchienen, du Theurer!
Aber willſt du mir verſchwinden?
Das ſollſt du nicht, ich ſage es dir.
— Ich will nicht. Ich will bey
dir bleiben, überhaupt, und auch
jetzt. Höre ich habe große Luſt
einen langen Diſkurs über die Eifer-
ſucht mit dir zu halten: aber eigent-
lich ſollten wir erſt die beleidigten
Götter verſöhnen. — Lieber erſt den
Diſkurs, und hernach die Götter. —
Du haſt Recht, wir ſind noch nicht
würdig, und du fühlſt es lange
nach, wann du geſtört und verſtimmt
wurdeſt. Wie ſchön iſt es daß du
ſo empfindlich biſt! — Ich bin nicht
empfindlicher wie du, nur anders.
— Nun ſo ſage mir: ich bin nicht
eiferſüchtig; wie kommts, daß du
eiferſüchtig biſt? — Bin ich's denn
ohne Urſache? Antworten Sie mir!
— Ich weiß ja nicht was du
meinſt. — Nun eiferſüchtig bin ich
eigentlich nicht; aber ſage mir, was
Ihr den ganzen Abend zuſammen
geſprochen habt? — Auf Amalien
alſo? iſt das möglich? So eine Kin-
derey! Von gar nichts habe ich mit
ihr geſprochen, und darum war es
amüſant. Und habe ich nicht eben
ſo lange mit Antonio geſprochen,
den ich doch eine Zeit her faſt alle
Tage ſah? — Ich ſoll alſo wohl
glauben, du ſprichſt mit der koquet-
ten Amalia wie mit dem ſtillen ernſt-
haften Antonio? Nicht wahr, es iſt
nichts wie klare reine Freundſchaft?
— O nein, das ſollſt du nicht glau-
ben, und mußt es auch nicht glau-
ben; ſo iſt es gar nicht. Wie kannſt
du mir eine ſolche Albernheit zu-
traun? denn etwas recht albernes
iſt es, wenn ſo zwey Perſonen von
verſchiedenem Geſchlecht ſich ein Ver-
hältniß ausbilden und einbilden, wie
reine Freundſchaft. Mit Amalien
iſt es gar nichts, als daß ich ſie
zum Scherz liebe. Ich möchte ſie
gar nicht, wenn ſie nicht ein wenig
koquett wäre. Gäbe es nur mehr
ſolche in unſerm Cirkel! eigentlich
muß man alle Frauen im Scherze
lieben. — Julius! ich glaube, du wirſt
ganz närriſch. — Nun verſteh mich
wohl; nicht eigentlich alle, ſondern
nur alle, die liebenswürdig ſind und
die einem eben vorkommen. — Das
iſt alſo weiter nichts als was die
Franzoſen Galanterie und Coquett
nennen. — Weiter nichts, außer
daß ichs mir ſchön und witzig denke.
Und dann müſſen die Menſchen wiſ-
ſen, was ſie thun und was ſie
wollen, und das iſt ſelten der Fall.
Der feine Scherz verwandelt ſich in
ihren Händen gleich wieder in gro-
ben Ernſt. — Dieſes im Scherz lie-
ben iſt nur gar nicht ſcherzhaft zu-
zuſehen. — Daran iſt der Scherz
unſchuldig; das iſt nichts wie die
fatale Eiferſucht. Verzeih mir, Liebe!
ich will nicht auffahren, aber ich
begreife durchaus nicht wie man ei-
ferſüchtig ſeyn kann: denn Beleidi-
gungen finden ja nicht Statt unter
Liebenden, ſo wenig wie Wohltha-
ten. Alſo muß es Unſicherheit ſeyn,
Mangel an Liebe und Untreue ge-
gen ſich ſelbſt. Für mich iſt das
Glück gewiß und die Liebe Eins mit
der Treue. Freylich wie die Men-
ſchen ſo lieben, iſt es etwas anders.
Da liebt der Mann in der Frau
nur die Gattung, die Frau im
Mann nur den Grad ſeiner natür-
lichen Qualitäten und ſeiner bürger-
lichen Exiſtenz, und beyde in den
Kindern nur ihr Machwerk und ihr
Eigenthum. Da iſt die Treue ein
Verdienſt und eine Tugend; und da
iſt auch die Eiferſucht an ihrer
Stelle. Denn darin fühlen ſie un-
gemein richtig, daß ſie ſtillſchwei-
gend glauben, es gäbe ihres Glei-
chen viele, und einer ſey als Menſch
ungefähr ſo viel werth wie der
andre, und alle zuſammen nicht eben
ſonderlich viel. — Du hältſt alſo die
Eiferſucht für nichts anders als leere
Rohheit und Unbildung. — Ja oder
für Mißbildung und Verkehrtheit,
was eben ſo arg, oder noch ärger
iſt. Nach jenem Syſtem iſt es noch
das beſte, wenn man mit Abſicht
aus bloßer Gefälligkeit und Höflich-
keit heirathet; und gewiß muß es
für ſolche Subjekte eben ſo bequem
als unterhaltend ſeyn, im Verhält-
niß der Wechſelverachtung neben
einander weg zu leben. Beſonders
die Frauen können eine ordentliche
Paſſion für die Ehe bekommen; und
wenn eine ſolche erſt Geſchmack da-
ran findet, ſo geſchieht es leicht, daß
ſie ein halbes Dutzend nach einan-
der heirathet, geiſtig oder leiblich;
wo es denn nie an Gelegenheit ge-
bricht, mit Abwechſelung delikat zu
ſeyn und viel von der Freundſchaft
zu reden. — Du haſt ſchon vorhin
ſo
ſo geſprochen als hielteſt du uns zur
Freundſchaft unfähig. Iſt das wirk-
lich deine Meinung? — Ja! aber
die Unfähigkeit, glaube ich, liegt
mehr in der Freundſchaft als in euch.
Ihr liebt alles was ihr liebt ganz,
wie den Geliebten und das Kind.
Dieſen Charakter würde ſelbſt ein
ſchweſterliches Verhältniß bey euch
annehmen. — Darin haſt du Recht.
— Die Freundſchaft iſt für euch zu
vielſeitig und zu einſeitig. Sie muß
ganz geiſtig ſeyn und durchaus be-
ſtimmte Gränzen haben. Dieſe Ab-
ſonderung würde euer Weſen nur
auf eine feinere Art eben ſo vollkom-
men zerſtören wie bloße Sinnlichkeit
ohne Liebe. Für die Geſellſchaft
aber iſt ſie zu ernſt, zu tief und zu
Lucinde I. H
heilig. — Können denn Menſchen
nicht mit einander reden, ohne da-
nach zu fragen, ob ſie Männer oder
Frauen ſind? — Das dürfte ſehr
ernſthaft ausfallen. Aufs höchſte
möchte es einen intereſſanten Klubb
geben. Du verſtehſt was ich meine.
Es wäre ſchon viel, wenn man da
frey und witzig reden dürfte, und
weder zu wild noch zu ſteif wäre.
Das Feinſte und das Beſte würde
immer fehlen, was überall, wo ſich
ein bischen gute Geſellſchaft zeigt,
Geiſt und Seele davon iſt. Und
das iſt der Scherz mit der Liebe
und die Liebe zum Scherz, der ohne
den Sinn für jenen zum Spaß her-
abſinkt. Aus dieſem Grunde nehme
ich auch die Zweydeutigkeiten in
Schutz. — Thuſt du das im Scherz
oder zum Spaß? — Nein, nein!
ich thue es im vollen Ernſt. — Aber
doch nicht ſo ernſthaft und ſo feyer-
lich wie Paulline und ihr Liebha-
ber? — Gott behüte! ich glaube, die
ließen die Betglocken anziehen, wenn
ſie ſich umarmen, falls es nur ſchick-
lich wäre. O! es iſt wahr, meine
Freundin, der Menſch iſt von Na-
tur eine ernſthafte Beſtie. Man muß
dieſem ſchändlichen und leidigen Han-
ge aus allen Kräften und von allen
Seiten entgegenarbeiten. Dazu ſind
die Zweydeutigkeiten auch gut, nur
ſind ſie ſo ſelten zweydeutig, und
wenn ſie es nicht ſind und nur ei-
nen Sinn zulaſſen, das iſt eben
nicht unſittlich, aber zudringlich und
H 2
platt. Leichtfertige Geſpräche müſſen
geiſtig und zierlich und beſcheiden
ſeyn, ſo viel als möglich; übrigens
aber ruchlos genug. — Das iſt gut,
aber was ſollen ſie grade in der
Geſellſchaft? — Sie ſollen das Ge-
ſpräch friſch erhalten, wie das Salz
an den Speiſen. Es frägt ſich gar
nicht, warum man ſie ſagen ſoll,
ſondern nur wie man ſie ſagen ſoll.
Denn laſſen kann und darf mans
doch nicht. Es wäre ja grob mit
einem reizenden Mädchen ſo zu re-
den, als ob ſie ein geſchlechtsloſes
Amphibion wäre. Es iſt Pflicht und
Schuldigkeit immer auf das anzu-
ſpielen, was ſie iſt und ſeyn wird;
und ſo unzart, ſteif und ſchuldig,
wie die Geſellſchaft einmal beſteht,
iſt es wirklich eine komiſche Situa-
zion, ein unſchuldiges Mädchen zu
ſeyn. — Das erinnert mich an den
berühmten Buffo der ſelbſt oft ſehr
traurig war, während er alle zu
lachen machte. — Die Geſellſchaft iſt
ein Chaos, das nur durch Witz zu
bilden und in Harmonie zu bringen
iſt; und wenn man nicht ſcherzt und
tändelt mit den Elementen der Lei-
denſchaft, ſo ballt ſie ſich in dicke
Maſſen und verfinſtert alles. — So
mögen hier wohl Leidenſchaften in
der Luft ſeyn: denn es iſt beynah
finſter. — Gewiß haben Sie Ihre
Augen zugeſchloſſen, Dame meines
Herzens! Sonſt würde eine allge-
meine Klarheit unfehlbar das Zim-
mer durchſtrahlen. — Wer iſt wohl
leidenſchaftlicher, Julius! ich oder
du? — Wir ſind's beide genug.
Ohne das möchte ich nicht leben.
Und ſieh! darum könnte ich mich
mit der Eiferſucht ausſöhnen. Es
iſt alles in der Liebe: Freundſchaft,
ſchöner Umgang, Sinnlichkeit und
auch Leidenſchaft; und es muß alles
darin ſeyn, und eins das andre ver-
ſtärken und lindern, beleben und er-
höhen. — Laß dich umarmen, du
Treuer! — Aber nur unter einer
Bedingung kann ich dir die Eifer-
ſucht erlauben. Ich habe oft ge-
fühlt, daß eine kleine Doſis von ge-
bildetem, verfeinertem Zorn einen
Mann nicht übel kleidet. Vielleicht
iſt's dir ſo mit der Eiferſucht. —
Getroffen! und alſo brauche ich ſie
nicht ganz abzuſchwören. — Wenn
ſie ſich nur immer ſo ſchön und ſo
witzig äußerte wie heute bey dir! —
Findeſt du das? Nun wenn du das
nächſtemal ſchön und witzig auf-
fährſt, werde ich dir's auch ſagen
und dich loben. — Sind wir nun
nicht würdig, die beleidigten Götter
zu verſöhnen? — Ja, wenn dein
Diskurs ganz zu Ende iſt, ſonſt
ſage noch das übrige. —
Lehrjahre der Männlichkeit.
Pharao zu ſpielen mit dem An-
ſcheine der heftigſten Leidenſchaft
und doch zerſtreut und abweſend zu
ſeyn; in einem Augenblicke von Hitze
alles zu wagen und ſobald es ver-
loren war, ſich gleichgültig wegzu-
wenden: das war nur eine von den
ſchlimmen Gewohnheiten, unter de-
nen Julius ſeine wilde Jugend ver-
ſtürmte. Dieſe eine iſt genug, den
Geiſt eines Lebens zu ſchildern, wel-
ches in der Fülle der empörten Kräfte
ſelbſt den unvermeidlichen Keim ei-
nes frühen Verderbens enthielt. Eine
Liebe ohne Gegenſtand brannte in
ihm und zerrüttete ſein Innres. Bey
dem geringſten Anlaß brachen die
Flammen der Leidenſchaft aus; aber
bald ſchien dieſe aus Stolz oder aus
Eigenſinn ihren Gegenſtand ſelbſt
zu verſchmähen, und wandte ſich
mit verdoppeltem Grimme zurück in
ſich und auf ihn, um da am Mark
des Herzens zu zehren. Sein Geiſt
war in einer beſtändigen Gährung;
er erwartete in jedem Augenblick, es
müſſe ihm etwas außerordentliches
begegnen. Nichts würde ihn be-
fremdet haben, am wenigſten ſein
eigner Untergang. Ohne Geſchäft
und ohne Zweck trieb er ſich umher
unter den Dingen und unter den
Menſchen wie einer, der mit Angſt
etwas ſucht, woran ſein ganzes
Glück hängt. Alles konnte ihn rei-
zen, nichts mochte ihm genügen.
Daher kam es, daß ihm eine Aus-
ſchweifung nur ſo lange intereſſant
war, bis er ſie verſucht hatte und
näher kannte. Keine Art derſelben
konnte ihm ausſchließend zur Ge-
wohnheit werden: denn er hatte eben
ſo viel Verachtung als Leichtſinn.
Er konnte mit Beſonnenheit ſchwelgen
und ſich in den Genuß gleichſam ver-
tiefen. Aber weder hier noch in den
mancherley Liebhabereyen und Stu-
dien, auf die ſich oft ſein jugendli-
cher Enthuſiasmus mit einer ge-
fräßigen Wißbegier warf, fand er
das hohe Glück, das ſein Herz mit
Ungeſtüm forderte. Spuren davon
zeigten ſich überall, täuſchten und
erbitterten ſeine Heftigkeit. Am mei-
ſten Reiz hatte der Umgang aller
Art für ihn und ſo oft er auch ſo-
gar ſie überdrüßig ward, waren es
doch die geſellſchaftlichen Zerſtreuun-
gen, zu denen er endlich immer wie-
der zurückkehrte. Die Frauen kannte
er eigentlich gar nicht, ungeachtet er
ſchon früh gewohnt war, mit ihnen
zu ſeyn. Sie erſchienen ihm wun-
derbar fremd, oft ganz unbegreiflich
und kaum wie Weſen ſeiner Gat-
tung. Junge Männer aber, die
ihm einigermaßen glichen, umfaßte
er mit heißer Liebe und mit einer
wahren Wuth von Freundſchaft. Doch
war das allein für ihn noch nicht
das rechte. Es war ihm, als wolle
er eine Welt umarmen und könne
nichts greifen. Und ſo verwilderte
er denn immer mehr und mehr aus
unbefriedigter Sehnſucht, ward ſinn-
lich aus Verzweiflung am Geiſtigen,
beging unkluge Handlungen aus
Trotz gegen das Schickſal und war
wirklich mit einer Art von Treuher-
zigkeit unſittlich. Er ſah wohl den
Abgrund vor ſich, aber er hielt es
nicht der Mühe werth, ſeinen Lauf
zu mäßigen. Er wollte lieber gleich
einem wilden Jäger den jähen Ab-
hang raſch und muthig durchs Le-
ben hinunterſtürmen, als ſich mit
Vorſicht langſam quälen.
Bey dieſem Charakter mußte er
oft in der geſelligſten und fröhlich-
ſten Geſellſchaft einſam ſeyn, und
er fand ſich eigentlich am wenigſten
allein, wenn niemand bey ihm war.
Dann berauſchte er ſich in Bildern
der Hoffnung und Erinnerung und
ließ ſich abſichtlich von ſeiner eignen
Fantaſie verführen. Jeder ſeiner
Wünſche ſtieg mit unermeßlicher
Schnelligkeit und faſt ohne Zwiſchen-
raum von der erſten leiſen Regung
zur gränzenloſen Leidenſchaft. Alle
ſeine Gedanken nahmen ſichtbare
Geſtalt und Bewegung an und wirk-
ten in ihm und wider einander mit
der ſinnlichſten Klarheit und Gewalt.
Sein Geiſt ſtrebte nicht die Zügel
der Selbſtherrſchaft feſt zu halten,
ſondern warf ſie freywillig weg, um
ſich mit Luſt und mit Übermuth in
dies Chaos von innerm Leben zu
ſtürzen. Er hatte weniges erlebt
und war doch voll von Erinnerun-
gen, auch aus früher Jugend: denn
ein ſonderbarer Augenblick von lei-
denſchaftlicher Stimmung, ein Ge-
ſpräch, ein Geſchwätz aus der Tiefe
des Herzens blieb ihm ewig theuer
und deutlich, und noch nach Jahren
wußte er's genau, als wäre es ge-
genwärtig. Aber alles was er liebte
und mit Liebe dachte, war abge-
riſſen und einzeln. Sein ganzes Da-
ſeyn war in ſeiner Fantaſie eine
Maſſe von Bruchſtücken ohne Zu-
ſammenhang; jedes für ſich Eins
und Alles, und das andre was in
der Wirklichkeit daneben ſtand und
damit verbunden war, für ihn gleich-
gültig und ſo gut wie gar nicht
vorhanden.
Noch war er nicht ganz verdor-
ben als im Schooß der einſamen
Wünſche ein heiliges Bild der Un-
ſchuld in ſeine Seele blitzte. Ein
Strahl von Verlangen und Erinne-
rung traf und entzündete ſie und
dieſer gefährliche Traum war ent-
ſcheidend für ſein ganzes Leben.
Er gedachte an ein edles Mäd-
chen, mit dem er in ruhigen glück-
lichen Zeiten der friſchen Jugend aus
reiner kindlicher Zuneigung freund-
lich und fröhlich getändelt hatte. Da
er der erſte war, welcher ſie durch
ſein Intereſſe an ihr reizte, ſo wandte
auch das liebliche Kind ihre junge
Seele nach ihm hin, wie ſich die
Blume zum Licht der Sonne neigt.
Daß ſie kaum reif und noch an der
Gränze der Kindheit war, reizte ſein
Verlangen nur um ſo unwiderſteh-
licher. Sie zu beſitzen, ſchien ihm
das höchſte Gut; er war entſchloſ-
ſen alles zu wagen und glaubte
nicht ohne das leben zu können.
Dabey verabſcheute er die entfern-
teſte Erinnerung an bürgerliche Ver-
hältniſſe, wie jede Art von Zwang.
Er eilte zurück in ihre Nähe und
fand ſie ausgebildeter, aber noch
eben ſo edel und eigen, ſo ſinnig
und ſtolz wie ehedem. Was ihn
noch mehr reizte als ihre Liebens-
würdigkeit, waren die Spuren von
tiefem Gefühl. Sie ſchien nur fröh-
lich und leichtfertig durchs Leben zu
ſchwärmen wie über eine blumen-
reiche Ebne, und verrieth doch ſeinem
aufmerkſamen Auge die entſchiedenſte
Anlage zu einer gränzenloſen Leiden-
ſchaftlichkeit. Ihre Neigung, ihre
Unſchuld und ihr verſchwiegenes und
verſchloſſenes Weſen boten ihm leicht
Mittel dar, ſie allein zu ſehen, und
die Gefahr, die damit verbunden
war, erhöhte den Reiz des Unter-
nehmens. Aber mit Verdruß mußte
er ſich's geſtehen, daß er ſeinem
Ziele
Ziele nicht näher kam und ſchalt ſich
zu ungeſchickt, ein Kind zu verfüh-
ren. Willig überließ ſie ſich einigen
Liebkoſungen und erwiederte ſie mit
ſchüchterner Lüſternheit. Sobald er
aber dieſe Gränzen zu überſchreiten
verſuchte, widerſetzte ſie ſich, ohne
beleidigt zu ſcheinen, mit unerbitt-
lichem Eigenſinn; vielleicht mehr aus
Glauben an ein fremdes Gebot als
aus eignem Gefühl von dem, was
allenfalls erlaubt ſey und von dem,
was durchaus nicht.
Indeſſen wurde er nicht müde
zu hoffen und zu beobachten. Einſt
überraſchte er ſie, als ſie es am we-
nigſten erwartete. Sie war ſchon
lange allein geweſen und mochte ſich
ihrer Fantaſie und einer unbeſtimm-
Lucinde I. I
ten Sehnſucht mehr als gewöhnlich
überlaſſen haben. Da er dies ge-
wahr ward, wollte er den Augen-
blick, der vielleicht nie wieder käme,
nicht verſcherzen und gerieth durch
die plötzliche Hoffnung ſelbſt in einen
Taumel von Begeiſterung. Ein
Strom von Bitten, von Schmeiche-
leien und von Sophismen floß von
ſeinen Lippen. Er bedeckte ſie mit
Liebkoſungen und er gerieth außer
ſich vor Entzücken, da das liebens-
würdige Köpfchen endlich an ſeine
Bruſt ſank, wie ſich die zu volle
Blume an ihrem Stengel ſenket.
Ohne Zurückhaltung ſchmiegte ſich
die ſchlanke Geſtalt um ihn, die
ſeidnen Locken der goldnen Haare
floſſen über ſeine Hand, mit zärt-
licher Sehnſucht öffnete ſich die
Knoſpe des ſchönen Mundes, und
aus den frommen dunkelblauen
Augen ſtrahlte und ſchmachtete ein
ungewohntes Feuer. Sie ſetzte den
kühnſten Liebkoſungen nur noch
ſchwachen Widerſtand entgegen. Bald
hörte auch dieſer auf, ſie ließ plötz-
lich ihre Arme ſinken, und alles war
ihm hingegeben, der zarte jungfräu-
liche Leib und die Früchte des jun-
gen Buſens. Aber in demſelben Au-
genblick brach ein Strom von Thrä-
nen aus ihren Augen, und die bit-
terſte Verzweiflung entſtellte ihr Ge-
ſicht. Julius erſchrack heftig; nicht
ſowohl über die Thränen, aber er
kam nun mit einem male zur vollen
Beſinnung. Er dachte an alles was
J 2
vorhergegangen war, und was nun
folgen würde; an das Opfer vor
ihm und an das arme Schickſal der
Menſchen. Da überlief ihn ein kal-
ter Schauder, ein leiſer Seufzer ſtahl
ſich aus tiefer Bruſt über ſeine Lip-
pen. Er verſchmähte ſich ſelbſt von
der Höhe ſeines eignen Gefühls, und
vergaß die Gegenwart und ſeine Ab-
ſicht in Gedanken von allgemeiner
Sympathie.
Der Augenblick war verſäumt.
Er ſuchte nur das gute Kind zu trö-
ſten und zu beſänftigen, und eilte
mit Abſcheu von dem Orte hinweg,
wo er den Blüthenkranz der Un-
ſchuld muthwillig hatte zerreißen
wollen. Er wußte wohl, daß man-
cher ſeiner Freunde, der noch weniger
an weibliche Tugend glaubte wie er,
ſein Benehmen ungeſchickt und lä-
cherlich finden würde. Er war bey-
nah ſelbſt dieſer Meinung, da er
wieder mit Kälte zu überlegen an-
fing. Indeſſen hielt er ſeine Dumm-
heit doch für ausgezeichnet und in-
tereſſant. Er glaubte, es ſey noth-
wendig, daß edle Naturen in ge-
meinen Verhältniſſen und in den
Augen der Menge einfältig oder ra-
ſend erſcheinen müßten. Da bey
dem nächſten Wiederſehn, wie er
ſchlau bemerkte oder ſich einbildete,
das Mädchen eher unzufrieden ſchien,
daß es nicht ganz verführt ſey, be-
ſtätigte er ſich in ſeinem Mißtrauen
und gerieth in eine große Erbitte-
rung. Es wandelte ihn beynah
eine Art von Verachtung an, zu der
er doch ſo wenig berechtigt war.
Er floh, zog ſich wieder in die alte
Einſamkeit zurück und verzehrte ſich
in ſeiner eignen Sehnſucht.
So lebte er von neuem eine Zeit
auf die alte Weiſe in einem Wechſel
von Schwermuth und Ausgelaſſen-
heit. Der einzige Freund, der Kraft
und Ernſt genug hatte, ihn tröſten
und beſchäftigen zn können und auf
dem Wege zum Verderben einzuhal-
ten, war weit entfernt, und ſeine
Sehnſucht alſo auch von dieſer Seite
unbefriedigt. Heftig ſtreckte er einſt
die Arme nach ihm aus, als müſſe
er nun endlich da ſeyn, und troſt-
los ließ er ſie wieder ſinken, nach-
dem er lange vergeblich gewartet.
Er vergoß keine Thräne, aber ſein
Geiſt fiel in eine Agonie von hoff-
nungsloſer Wehmuth, aus der er
ſich nur zu neuen Thorheiten er-
mannte.
Er freute ſich laut, da er im
Glanz der prachtvollen Morgenſonne
auf die Stadt zurückſah, die er
ſchon als Kind geliebt und wo er
nur noch eben ſo ganz lebte, und
die er nun auf immer zu verlaſſen
hoffte. Er athmete ſchon das friſche
Leben der neuen Heimath, die ihn
in der Fremde erwarten ſollte, und
deren Bilder er ſchon mit Heftig-
keit liebte.
Er fand bald einen andern rei-
zenden Wohnort, wo ihn zwar
nichts feſſelte, aber doch vieles an-
zog. Alle ſeine Kräfte und Neigun-
gen wurden rege durch die neuen
Gegenſtände; ohne Zweck und Maaß
in ſeinem Innern, nahm er Theil
an allem Äußern, was nur irgend
merkwürdig war, und ließ ſich
überall ein.
Da er auch in dieſem Geräuſch
bald Leerheit und Überdruß empfand,
ſo kehrte er oft zurück zu ſeinen
einſamen Träumen und wiederholte
das alte Gewebe ſeiner unbefriedig-
ten Wünſche. Eine Thräne entfiel
ihm über ſich ſelbſt, da er einſt im
Spiegel ſah, wie trübe und ſtechend
das Feuer der unterdrückten Liebe
aus ſeinem dunkeln Auge brannte
und wie ſich unter der wilden ſchwar-
zen Locke leiſe Furchen in die
kämpfende Stirn gruben, und wie
die Wange ſo bleich war. Er ſeufzte
über ſeine ungenutzte Jugend; ſein
Geiſt empörte ſich und wählte unter
den ſchönen Frauen ſeiner Bekannt-
ſchaft die, welche am freyſten lebte
und am meiſten in der guten Ge-
ſellſchaft glänzte. Er nahm ſich vor,
nach ihrer Liebe zu ſtreben und er
erlaubte ſeinem Herzen, ſich ganz
zu überfüllen mit dieſem Gegenſtande.
Was ſo wild und willkührlich begon-
nen wurde, konnte nicht geſund en-
digen, und die Dame, welche eben
ſo eitel als ſchön war, mußte es
ſonderbar und mehr als ſonderbar
finden, wie Julius ſie mit der ernſt-
hafteſten Aufmerkſamkeit förmlich zu
umgeben und zu belagern anfing
und dabey bald ſo dreiſt und zu-
verſichtlich war wie ein alter Be-
ſitzer, bald ſo ſchüchtern und fremd
wie ein völlig Unbekannter. Da er
ſich ſo ſeltſam zeigte, hätte er bey
weitem reicher ſeyn müſſen, als er
war, um ſolche Anſprüche haben zu
dürfen. Sie hatte ein leichtes, mun-
teres Weſen und ihm ſchien ſie ar-
tig zu reden. Aber was er an der
Geliebten für göttlichen Leichtſinn
nahm, war nichts als ein gedan-
kenloſes Schwärmen ohne eigentliche
Freude und Fröhlichkeit, und auch
ohne Geiſt, ausgenommen ſo viel
Verſtand und Schlauigkeit, als es
braucht, um alles abſichtlich und
zwecklos zu verwirren, die Männer
zu locken und zu lenken und ſich
ſelbſt in Schmeicheleyen zu berau-
ſchen. Zu ſeinem Unglücke erhielt
er einige Zeichen von Gunſt; von
der Art, welche die Geberin nicht
binden, weil ſie ſich nie dazu be-
kennen darf und welche den gefan-
genen Neuling durch den Zauber
der Heimlichkeit noch unauflöslicher
feſſeln. Ihn konnte ſchon ein ver-
ſtohlner Blick und Händedruck ganz
bezaubern, oder ein Wort, was vor
allen geſagt in ſeiner eigentlichen
Beziehung und Anſpielung nur ihm
verſtändlich war, wenn dir einfache
und wohlfeile Gabe nur durch den
Schein einer eignen ſonderbaren Be-
deutſamkeit gewürzt wurde. Sie gab
ihm, wie er glaubte, ein noch deut-
licheres Zeichen und es beleidigte ihn
tief, daß ſie ihn ſo wenig verſtehe,
daß ſie ihm ſo ſehr zuvorkomme. Er
war nicht wenig ſtolz darauf, daß
ihn das beleidigte und doch reizte
es ihn unwiderſtehlich, wenn er
dachte, er dürfe nur ſchnell ſeyn
und die günſtige Gelegenheit ergrei-
fen, um ohne Hinderniß ans Ziel
zu gelangen. Er machte ſich ſchon
bittre Vorwürfe über ſeine Langſam-
keit, als er plötzlich Verdacht ſchöpfte,
ihr Zuvorkommen ſey nur Täuſchung,
ſie meine es auch mit ihm nicht ehr-
lich; und da ein Freund ihn vollends
aufklärte, konnte ihm kein Zweifel
bleiben. Er ſah, daß man ihn lä-
cherlich finde und mußte ſich geſtehn,
daß es ganz in der Ordnung ſey.
Darüber gerieth er etwas in Wuth
und hätte leicht Unheil begonnen,
wenn er dieſe leeren Menſchen, ihre
kleinen Verhältniſſe und Mißver-
hältniſſe und das ganze Spiel ge-
heimer Abſichten und Rückſichten
nicht genau beobachtet und alſo
gründlich verachtet hätte. Auch wurde
er wieder ungewiß und da ſein Arg-
wohn nun keine Gränzen mehr
kannte, ſo war er gegen ſein eignes
Mißtrauen mißtrauiſch. Bald ſah
er den Grund des Übels nur in ſei-
nem Eigenſinne und übertriebnem
Zartgefühl und faßte dann neue
Hoffnung und neues Zutrauen; bald
ſah er in allem Unglück, was ihn
in der That abſichtlich zu verfolgen
ſchien, nur das künſtliche Werk ihrer
Rache. Alles ſchwankte, nur das
ward ihm immer klarer und feſter,
daß vollendete Narrheit und Dumm-
heit im Großen das eigentliche Vor-
recht der Männer ſey, muthwillige
Bosheit hingegen mit naiver Kälte
und lachender Gefühlloſigkeit eine
angebohrne Kunſt der Frauen. Das
war alles, was er lernte durch ſein
angeſtrengtes Beſtreben nach Men-
ſchenkenntniß. Im Einzelnen ver-
fehlte er immer auf eine ſcharfſinnige
Art das rechte, weil er überall künſt-
liche Abſichten vorausſetzte und tie-
fen Zuſammenhang, und gar keinen
Sinn hatte für das Unbedeutende.
Dabey wuchs ſeine Leidenſchaft zum
Spiel, deſſen zufällige Verwickelun-
gen, Sonderbarkeiten und Glücks-
fälle ihn auf eben die Art intereſ-
ſirten, wie wenn er in höhern Ver-
hältniſſen mit ſeinen Leidenſchaften
und ihren Gegenſtänden aus reiner
Willkühr ein hohes Spiel wagte oder
zu wagen glaubte.
So verwirrte er ſich immer tie-
fer in die Intriguen einer ſchlechten
Geſellſchaft und was ihm noch übrig
blieb von Zeit und Kraft in dem
Wirbel der Zerſtreuungen, wandte
er auf ein Mädchen, die er ſo ſehr
als möglich allein zu beſitzen ſtrebte,
obgleich er ſie unter denen gefunden
hatte, die beynah öffentlich ſind.
Was ſie ihm ſo intereſſant machte,
war nicht allein das weshalb ſie all-
gemein geſucht und gleichſam be-
rühmt war, ihre ſeltne Gewandtheit
und unerſchöpfliche Mannichfaltigkeit
in allen verführeriſchen Künſten der
Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz über-
raſchte ihn mehr und reizte ihn am
meiſten, wie die hellen Funken von
rohem tüchtigem Verſtand, vorzüg-
lich aber ihre entſchiedne Manier
und ihr konſequentes Betragen. Mit-
ten im Stande der äußerſten Ver-
derbtheit zeigte ſie eine Art von Cha-
rakter; ſie war voll von Eigenhei-
ten und ihr Egoismus nicht im ge-
meinen Styl. Nächſt der Unabhän-
gigkeit liebte ſie nichts ſo unmäßig
wie das Geld, aber ſie wußte es
zu brauchen. Dabey war ſie billig
gegen jeden, der nicht ſehr reich war
und ſelbſt gegen die andern treuher-
zig in ihrer Habſucht und ohne
Ränke. Sie ſchien ganz ſorgenlos
nur
nur in der Gegenwart zu leben und
war doch immer auf die Zukunft
bedacht. Sie ſparte im Kleinen um
nach ihrer Art im Großen zu ver-
ſchwenden und im Überflüſſigen das
Beſte zu haben. Ihr Boudoir war
einfach und ohne alle gewöhnlichen
Meublen, nur von allen Seiten
große, koſtbare Spiegel und wo noch
Raum übrig blieb, einige gute Co-
pien von den wollüſtigſten Gemäl-
den des Correggio und Tizian, des-
gleichen einige ſchöne Originale von
friſchen, vollen Blumen- und Frucht-
ſtücken; ſtatt der Lambris die leben-
digſten und fröhlichſten Darſtellun-
gen in Basrelief aus Gips nach der
Antike; ſtatt der Stühle ächte orien-
taliſche Teppiche und einige Gruppen
Lucinde I. K
aus Marmor in halber Lebensgröße:
ein gieriger Faun, der eine Nymphe,
die im Fliehen ſchon gefallen iſt,
eben völlig überwinden wird; eine
Venus, die mit aufgehobenem Ge-
wande lächelnd über den wollüſtigen
Rücken auf die Hüften ſchaut und
andre ähnliche Darſtellungen. Hier
ſaß ſie oft auf türkiſche Sitte Tage
lang allein und die Hände müſſig
im Schooß, denn ſie verabſcheute
alle weiblichen Arbeiten. Sie er-
friſchte ſich nur von Zeit zu Zeit
mit Wohlgerüchen und ließ ſich da-
bey von ihrem Jockey, einem bild-
ſchönen Knaben, den ſie ſich in ſei-
nem vierzehnten Jahre eigends ver-
führt hatte, Geſchichten, Reiſebe-
ſchreibungen und Mährchen vorleſen.
Sie gab wenig darauf Acht, außer
wenn etwas Lächerliches vorkam, oder
eine allgemeine Bemerkung, die ſie
auch wahr fand. Denn ſie achtete
nichts und hatte Sinn für nichts
als für Realität und fand alle Poeſie
lächerlich. Sie war einmal Schau-
ſpielerin geweſen, aber nur kurze
Zeit und ſie machte ſich gern luſtig
über ihr Ungeſchick dazu und über
die Langeweile, die ſie dabey aus-
geſtanden. Es war eine von ihren
vielen Eigenheiten, daß ſie bey ſol-
chen Gelegenheiten in der dritten Per-
ſon von ſich ſprach. Auch wenn ſie
erzählte, nannte ſie ſich nur Liſette,
und ſagte oft, wenn ſie ſchreiben
könnte, wollte ſie ihre eigne Ge-
ſchichte ſchreiben, aber ſo als ob es
K 2
ein andrer wäre. Für Muſik hatte
ſie gar kein Gefühl, für die bilden-
den Künſte aber ſo viel daß Julius
oft mit ihr über ſeine Arbeiten und
Ideen ſprach, und die Skizzen für
die beſten hielt, die er unter ihren
Augen und bey ihrem Geſpräch ent-
worfen hat. Doch ſchätzte ſie an
Statuen und an Zeichnungen nur
die lebendige Kraft, und an Gemäl-
den nur den Zauber der Farben, die
Wahrheit des Fleiſches und allenfalls
die Täuſchung des Lichtes. Sprach
ihr jemand von Regeln, vom Ideal
und von der ſogenannten Zeichnung,
ſo lachte ſie oder hörte nicht zu.
Selbſt etwas zu verſuchen, ſo viele
bereitwillige Lehrer ſich auch anboten,
war ſie viel zu träge und verwöhnt
und befand ſich zu wohl bey ihrer
Lebensart. Auch traute ſie allen
Schmeicheleien nicht und blieb feſt
überzeugt, ſie würde es mit aller
Noth und Arbeit in der Kunſt zu
nichts Ordentlichem bringen. Lobte
man ihren Geſchmack und ihr Zim-
mer, in welches ſie nur ſelten aus-
erwählte Lieblinge führte, ſo rühmte
ſie dagegen auf eine komiſche Weiſe
zuerſt das gute alte Schickſal, die
ſchlaue Liſette und dann die Eng-
länder und Holländer als die beſten
Nazionen unter allen, die ſie kenne;
weil die volle Caſſe einiger Neulinge
von dieſer Sorte zuerſt einen guten
Grund zu ihrer reichlichen Einrich-
tung gelegt hatte. Überhaupt freute
ſie ſich ſehr damit, wenn ſie jeman-
den, der dumm war, übervortheilt
hatte: aber ſie that es auf eine drol-
lige, faſt kindiſche Art, mit Witz
und mehr aus Übermuth als aus
Rohheit. Ihre ganze Klugheit wandte
ſie darauf, ſich der Zudringlichkeit
und Unart der Männer zu erweh-
ren, und es gelang ihr ſo ſehr, daß
die rohen, wüſten Menſchen mit
einer innigen Achtung von ihr ſpra-
chen, die dem, welcher ſie nicht
kannte und nur von ihrem Gewerbe
wußte, ſehr komiſch dünkte. Das
war es auch, was den neugierigen
Julius zuerſt reizte, eine ſo ſonder-
bare Bekanntſchaft zu ſuchen und er
fand bald noch mehr Urſach zu er-
ſtaunen. Bey den gewöhnlichen
Männern litt und that ſie, was ſie
ſchuldig zu ſeyn glaubte; genau, mit
Geſchicklichkeit und mit Kunſtſinn,
aber ganz kalt. Gefiel ihr ein Mann,
führte ſie ihn gar in ihr heiliges Ca-
binet; ſo ſchien ſie eine ganz neue
Perſon zu werden. Sie gerieth dann
in eine ſchöne bacchantiſche Wuth;
wild, ausſchweifend und unerſättlich
vergaß ſie beynah der Kunſt und
verfiel in eine hinreißende Anbetung
der Männlichkeit. Darum liebte ſie
Julius, und auch weil ſie ihm ſo
ganz ergeben ſchien, ungeachtet ſie
davon nicht viele Worte machte. Sie
merkte bald, ob jemand Verſtand
habe, und wo ſie den zu finden
glaubte, ward ſie offen und herzlich,
und ließ ſich dann gern von ihrem
Freunde erzählen, was er von der
Welt wußte. Mancher hatte ſie be-
lehrt, keiner aber hatte ihr innerſtes
Weſen ſo verſtanden, ſo fein ge-
ſchont und ihren eigentlichen Werth
ſo geachtet wie Julius. Darum hing
ſie auch mehr an ihm als ſich ſagen
läßt. Sie erinnerte ſich vielleicht
zum erſtenmal mit Rührung an ihre
erſte Jugend und Unſchuld und gefiel
ſich nicht in der Umgebung, mit der
ſie ſonſt ganz zufrieden war. Julius
fühlte das und freute ſich damit,
aber er konnte nie über die Gering-
ſchätzung Herr werden, die ihm ihr
Stand und ihr Verderben einflößte,
und ſein unauslöſchliches Mistrauen
ſchien ihm hier gerecht zu ſeyn. Wie
entrüſtet war er daher, als ſie ihm
einſt unerwarteter Weiſe die Ehre
der Vaterſchaft ankündigte. Und er
wußte es doch, daß ſie trotz ihres
Verſprechens noch vor kurzem Be-
ſuche von einem andern angenom-
men hatte. Das Verſprechen konnte
ſie ihm nicht abſchlagen. Sie ſelbſt
hätte es wahrſcheinlich gern gehal-
ten, aber ſie brauchte mehr als er
geben konnte; ſie wußte nur eine
Art, Geld zu erwerben, und aus
einer Delikateſſe, die ſie einzig für
ihn hatte, nahm ſie nur das we-
nigſte von dem, was er geben wollte.
Alles das bedachte der aufgebrachte
Jüngling nicht, er hielt ſich für be-
trogen, er ſagte es ihr mit harten
Worten und verließ ſie in dem lei-
denſchaftlichſten Zuſtande, wie er
glaubte, auf immer. Nicht lange
nachher ſuchte ihn der Knabe mit
Thränen und Klagen und ließ nicht
ab, bis er mit ihm ging. Er fand
ſie faſt entkleidet in dem ſchon dun-
keln Cabinet, er ſank in die gelieb-
ten Arme, mit denen ſie ihn ſo hef-
tig an ſich riß wie ſonſt, aber ſie
ſanken ſogleich an ihm nieder. Er
hörte einen tiefen ſtöhnenden Seuf-
zer, es war der letzte; und da er
ſich anſah, war er mit Blut bedeckt.
Voll Entſetzen ſprang er auf und
wollte fliehen. Er verweilte nur,
um eine große Locke zu ergreifen,
die neben dem gefärbten Meſſer auf
dem Boden lag. Sie hatte dieſelbe
in einem Anfalle von begeiſterter
Verzweiflung kurz zuvor, ehe ſie ſich
die vielen Wunden gab, von denen
die meiſten tödtlich waren, abge-
ſchnitten. Wahrſcheinlich mit dem
Gedanken, ſich dadurch dem Tode
und dem Verderben als Opfer zu
weihen. Denn nach der Ausſage
des Knaben ſprach ſie dabey mit
lauter Stimme die Worte: »Liſette
»ſoll zu Grunde gehn, zu Grunde
»jetzt gleich: ſo will es das Schick-
»ſal, das eiſerne.«
Der Eindruck, den dieſe über-
raſchende Tragödie auf den reizbaren
Jüngling machte, war unauslöſch-
lich, und brannte durch ſeine eigne
Kraft immer tiefer. Die erſte Folge
von Liſettens Ruin war, daß er ihr
Andenken mit ſchwärmeriſcher Ach-
tung vergötterte. Er verglich ihre
hohe Energie mit den nichtswürdigen
Intriguen der Dame, die ihn ver-
ſtrickt hatte, und ſein Gefühl mußte
laut entſcheiden, daß jene ſittlicher
und weiblicher ſey: denn dieſe Co-
quette gab nie eine kleine oder große
Gunſt ohne Nebenabſicht; und doch
ward ſie von aller Welt geachtet
und bewundert, wie ſo viele andre,
die ihr gleichen. Darüber wider-
ſetzte ſich ſein Verſtand mit Heftig-
keit allen falſchen und allen wahren
Meinungen, die man über die weib-
liche Tugend hat. Es ward Grund-
ſatz bey ihm, die geſellſchaftlichen
Vorurtheile, welche er bisher nur
vernachläſſigte, nun ausdrücklich zu
verachten. Er gedachte an die zarte
Louiſe, die beynah ein Raub ſeiner
Verführung geworden wäre und er
erſchrack. Denn auch Liſette war
von guter Familie, früh gefallen,
entführt und in der Fremde verlaſ-
ſen, zu ſtolz geweſen umzukehren,
und durch die erſte Erfahrung ſo
belehrt wie andre nicht durch die
letzte. Mit ſchmerzlichem Vergnügen
ſammelte er manchen intereſſanten
Zug von ihrer frühen Jugend. Sie
war damals mehr ſchwermüthig als
leichtſinnig, aber in der Tiefe ganz
Flamme und ſchon als kleines Mäd-
chen traf man ſie bey Gemälden
von nackten Geſtalten oder bey an-
dern Gelegenheiten in ſonderbaren
Äußerungen der heftigſten Sinn-
lichkeit.
Dieſe Ausnahme von dem, was
Julius für gewöhnlich hielt beym
weiblichen Geſchlecht, war einzig
und die Umgebung, in der er ſie
fand, zu unrein, als daß er da-
durch zu einer wahren Anſicht hätte
gelangen können. Vielmehr trieb
ihn ſein Gefühl, ſich faſt ganz von
den Frauen und von den Geſell-
ſchaften, wo ſie Ton angeben,
zurück zu ziehen. Er fürchtete ſeine
Leidenſchaftlichkeit und warf ſeinen
ganzen Sinn auf die Freundſchaft
mit Jünglingen, die wie er der Be-
geiſterung fähig waren. Dieſen er-
gab er ſein Herz, nur ſie waren
für ihn wahrhaft wirklich, die übrige
Menge gemeiner Schattenweſen freute
er ſich z verachten Mit Leiden-
ſchaft und mit Spitzfindigkeit ſtritt
er innerlich und grübelte über ſeine
Freunde, über ihre verſchiedenen
Vorzüge und Verhältniſſe zu ihm.
Er erhitzte ſich in ſeinen eigenen
Gedanken und Geſprächen und war
berauſcht von Stolz und von Männ-
lichkeit. Auch glühten ſie alle von
edler Liebe, unentwickelt ſchlummerte
hier manche große Kraft, und ſie
ſagten nicht ſelten in rohen aber
treffenden Worten erhabene Dinge
über die Wunder der Kunſt, über
den Werth des Lebens und über
das Weſen der Tugend und Selbſt-
ſtändigkeit. Vorzüglich aber über
die Göttlichkeit der männlichen Freund-
ſchaft, die Julius zum eigentlichen
Geſchäft ſeines Lebens zu machen
geſonnen war. Er hatte viele Ver-
bindungen, und war unerſättlich
immer neue zu knüpfen. Jeden
Mann, der ihm intereſſant erſchien,
ſuchte er, und ruhte nicht, bis er
ihn gewonnen und die Zurückhal-
tung des andern durch ſeine jugend-
liche Zudringlichkeit und Zuverſicht
beſiegt hatte. Es läßt ſich denken,
daß er, der ſich eigentlich alles er-
laubt hielt und ſich ſelbſt über das
Lächerliche wegſetzen konnte, eine
andre Schicklichkeit im Sinne nnd
vor Augen hatte als die, welche all-
gemein gilt.
In dem Gefühl und Umgang
des einen Freundes fand er mehr
als weibliche Schonung und Zartheit
bey erhabenem Verſtande und feſt
gebildetem Charakter. Ein zweyter
brannte mit ihm in edlem Unwillen
über
über das ſchlechte Zeitalter und wollte
etwas Großes wirken. Der liebens-
würdige Geiſt des dritten war noch
ein Chaos von Andeutungen: aber
er hatte zarten Sinn für alles und
ahndete die Welt. Den einen ver-
ehrte er als ſeinen Meiſter in der
Kunſt würdig zu leben. Den an-
dern dachte er als ſeinen Jünger
und wollte ſich nur vor der Hand
zur Theilnahme an ſeinen Ausſchwei-
fungen herablaſſen, um ihn ganz
zu kennen und zu gewinnen, und
dann ſeine große Anlage zu retten,
die ſo nah am Abgrunde wandelte
wie ſeine eigne.
Es waren große Gegenſtände,
nach denen ſie mit Ernſt ſtrebten.
Indeſſen blieb es bey hohen Worten
Lucinde I. L
und vortrefflichen Wünſchen. Julius
kam nicht weiter und ward nicht
klarer, er handelte nicht und er bil-
dete nichts. Ja er vernachläßigte
ſeine Kunſt faſt nie mehr, als da
er ſich und ſeine Freunde mit Pro-
jekten überſtrömte von allen Wer-
ken, die er vollbringen wollte, und
die ihm im Augenblick der erſten
Begeiſterung ſchon fertig ſchienen.
Die wenigen Anwandlungen von
Nüchternheit, die ihm noch übrig
blieben, erſtickte er in Muſik, die
für ihn ein gefährlicher, bodenloſer
Abgrund von Sehnſucht und Weh-
muth war, in den er ſich gern und
willig verſinken ſah.
Dieſe innere Gährung hätte heil-
ſam ſeyn können, und aus der Ver-
zweiflung wäre endlich Ruhe und
Feſtigkeit hervorgegangen, und er
wäre klar geworden über ſich ſelbſt.
Aber die Wuth der Unbefriedigung
zerſtückte ſeine Erinnerung, er hatte
nie weniger eine Anſicht vom Gan-
zen ſeines Ich. Er lebte nur in der
Gegenwart, an der er mit durſtigen
Lippen hing, und vertiefte ſich ohne
Ende in jeden unendlich kleinen und
doch unergründlichen Theil der un-
geheuren Zeit, als müſſe es nun in
dieſem endlich zu finden ſeyn, was
er ſchon ſo lange ſuche. Dieſe Wuth
der Unbefriedigung mußte ihn bald
mit ſeinen Freunden ſelbſt verſtim-
men und entzweyen, von denen die
meiſten bey den herrlichſten Anlagen
eben ſo unthätig und mit ſich uneins
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waren wie er. Dieſer ſchien ihn
nicht zu verſtehn, jener bewunderte
nur ſeinen Geiſt, äußerte aber Miß-
trauen gegen ſein Herz und that
ihm wirklich Unrecht. Da hielt er
ſeine innerſte Ehre gekränkt und
fühlte ſich von geheimen Haß zerriſ-
ſen. Er überließ ſich dieſem Gefühl
ohne Scheu, denn er glaubte, nur
wen man achten müſſe, dürfe man
haſſen, und nur Freunde könnten
einer dem andern das zarteſte Ge-
fühl ſo tief verletzen. Der eine
Jüngling war durch eigne Schuld
zu Grunde gegangen; der andre
fing gar an ſelbſt gewöhnlich zu
werden. Mit einem dritten war
ſein Verhältniß verſtimmt und faſt
gemein geworden. Es war ganz
geiſtig geweſen, und ſo hätte es auch
bleiben ſollen. Aber eben weil es
ſo zart war, mußte mit der feinſten
Blüthe alles verloren gehn, als die
Gelegenheit es gab, daß einer dem
andern Dienſte leiſtete. Da geriethen
ſie in Wettſtreite von Großmuth und
Dankbarkeit und fingen endlich an,
in der geheimſten Tiefe der Seele
irrdiſche Forderungen an ſich zu ma-
chen und zu vergleichen.
Bald hatte der Zufall ohne Scho-
nung aufgelöſt, was nur durch
Willkühr leidenſchaftlich verbunden
war. Immer mehr und mehr ge-
rieth Julius in einen Zuſtand, der
von der Verrückung nur dadurch
verſchieden war, daß es einigermaßen
auf ihn ankam, wann und wie weit
er ſich ſeiner Gewalt hingeben wollte.
Auch war ſein äußeres Betragen
jeder bürgerlichen und geſellſchaftli-
chen Ordnung gemäß, und grade
jetzt fingen die Menſchen an, ihn
vernünftig zu nennen, da eine Ver-
wirrung aller Schmerzen ſein Innres
wild zerriß, und die Krankheit des
Geiſtes immer tiefer und geheimer
an dem Herzen nagte. Es war
mehr eine Raſerey des Gefühls als
des Verſtandes, und das Übel war
nur um ſo gefährlicher, weil er
äußerlich froh und luſtig ſchien. So
war ſeine gewöhnliche Stimmung,
und man fand ihn ſogar angenehm.
Nur wenn er mehr Wein genoſſen
hatte als gewöhnlich, ward er über-
aus traurig und zu Thränen und
Klagen geneigt. Aber ſelbſt dann
ſprudelte er, wenn andre zugegen
waren, von bitterm Witz und allge-
meinem Spott, oder er trieb ſein
Spiel mit ſonderbaren und dummen
Menſchen, deren Umgang er nun
über alles liebte, und die er in die
beſte Laune zu ſetzen wußte, ſo daß
ſie ſich von Herzen mittheilten und
ganz zeigten, wie ſie waren. Das Ge-
meine reizte und unterhielt ihn; nicht
aus liebenswürdiger Herablaſſung,
ſondern weil es nach ſeiner Anſicht
närriſch und toll war.
An ſich ſelbſt dachte er nicht,
nur dann und wann überfiel ihn
ein klares Gefühl, er werde plötzlich
zu Grunde gehn. Die Reue unter-
drückte er durch Stolz, und die Ge-
danken und Bilder des Selbſtmordes
waren ihm ſchon in ſeiner frühſten
jugendlichen Schwermuth ſo geläufig
geweſen, daß ſie den Reiz der Neu-
heit für ihn verloren hatten. Einen
ſolchen Entſchluß auszuführen, wäre
er ſehr fähig geweſen, wenn er nur
überhaupt zu einem Entſchluß hätte
kommen können. Es ſchien ihm
kaum der Mühe werth, weil er doch
nicht hoffen wollte, der Langeweile
des Daſeyns und dem Eckel über
das Schickſal auf dieſem Wege zu
entfliehn Er verachtete die Welt
und alles, und war ſtolz darauf.
Auch dieſe Krankheit wie alle vo-
rigen heilte und vernichtete der erſte
Anblick einer Frau die einzig war,
und die ſeinen Geiſt zum erſtenmal
ganz und in der Mitte traf. Seine
bisherigen Leidenſchaften ſpielten nur
auf der Oberfläche, oder es waren
vorübergehende Zuſtände ohne Zu-
ſammenhang. Jetzt ergriff ihn ein
neues unbekanntes Gefühl, daß die-
ſer Gegenſtand allein der rechte, und
dieſer Eindruck ewig ſey. Der erſte
Blick ſchon entſchied, beym zweyten
wußte er's, und ſagte ſich's, daß
es nun gekommen, und wirklich da
ſey, was er ſo lange dunkel erwar-
tet hatte. Er erſtaunte, und er-
ſchrack, denn wie er dachte, daß es
ſein höchſtes Gut ſeyn würde, von
ihr geliebt zu werden und ſie ewig
zu beſitzen, ſo fühlte er zugleich daß
dieſer höchſte und einzige Wunſch
ewig unerreichbar ſey. Sie hatte
gewählt und hatte ſich gegeben; ihr
Freund war auch der ſeinige, und
lebte ihrer Liebe würdig. Julius
war der Vertraute, er wußte daher
alles genau, was ihn unglücklich
machte, und urtheilte mit Strenge
über ſeinen eignen Unwerth. Gegen
dieſen wandte ſich die ganze Kraft
ſeiner Leidenſchaft. Er entſagte der
Hoffnung und dem Glück, aber er
beſchloß, es zu verdienen, und Herr
über ſich ſelbſt zu werden. Nichts
verabſcheute er ſo ſehr, als den Ge-
danken, das Geringſte von dem was
ihn erfüllte, auch nur durch ein un-
deutliches Wort durch einen verſtohl-
nen Seufzer zu verrathen. Gewiß
wäre auch jede Äußerung widerſinnig
geweſen, und da er ſo heftig, ſie ſo
ſein, und das Verhältniß ſo zart
war, hätte ein einziger Wink, von
denen, die unwillkührlich ſcheinen,
und doch bemerkt ſeyn wollen, im-
mer weiter führen, und alles ver-
wirren müſſen. Darum drängte er
alle Liebe in ſein Innerſtes zurück,
und ließ da die Leidenſchaft wüthen,
brennen und zehren; aber ſein Äuſ-
ſeres war durchaus verwandelt, und
ſo gut gelang ihm der Schein der
kindlichſten Unbefangenheit und Un-
erfahrenheit und einer gewißen brü-
derlichen Härte, die er annahm, da-
mit er nicht aus dem Schmeichel-
haften ins Zärtliche fallen möchte,
daß ſie nie den leiſeſten Argwohn
ſchöpfte. Sie war heiter und leicht
in ihrem Glück, ſie ahndete nichts,
ſcheute alſo nichts, ſondern ließ ih-
rem Witz und ihrer Laune freyes
Spiel, wenn ſie ihn unliebenswür-
dig fand. Überhaupt lag in ihrem
Weſen jede Hoheit und jede Zierlich-
keit, die der weiblichen Natur eigen
ſeyn kann, jede Gottähnlichkeit, und
jede Unart, aber alles war fein, ge-
bildet, und weiblich. Frey und
kräftig entwickelte und äußerte ſich
jede einzelne Eigenheit, als ſey ſie
nur für ſich allein da, und dennoch
war die reiche, kühne Miſchung ſo
ungleicher Dinge im Ganzen nicht
verworren, denn ein Geiſt beſeelte
es, ein lebendiger Hauch von Har-
monie und Liebe. Sie konnte in
derſelben Stunde irgend eine komiſche
Albernheit mit dem Muthwillen und
der Feinheit einer gebildeten Schau-
ſpielerin nachahmen, und ein erha-
benes Gedicht vorleſen mit der hin-
reißenden Würde eines kunſtloſen
Geſanges. Bald wollte ſie in Ge-
ſellſchaft glänzen und tändeln, bald
war ſie ganz Begeiſterung, und
bald half ſie mit Rath und That,
ernſt, beſcheiden und freundlich wie
eine zärtliche Mutter. Eine geringe
Begebenheit ward durch ihre Art ſie
zu erzählen ſo reizend wie ein ſchö-
nes Mährchen. Alles umgab ſie
mit Gefühl und mit Witz, ſie hatte
Sinn für alles, und alles kam ver-
edelt aus ihrer bildenden Hand und
von ihren ſüß redenden Lippen.
Nichts Gutes und Großes war zu
heilig oder zu allgemein für ihre
leidenſchaftlichſte Theilnahme. Sie
vernahm jede Andeutung, und ſie
erwiederte auch die Frage, welche
nicht geſagt war. Es war nicht
möglich, Reden mit ihr zu halten;
es wurden von ſelbſt Geſpräche und
während dem ſteigenden Intereſſe
ſpielte auf ihrem feinen Geſichte eine
immer neue Muſik von geiſtvollen
Blicken und lieblichen Mienen. Die-
ſelben glaubte man zu ſehen, wie
ſie ſich bey dieſer oder bey jener
Stelle veränderten, wenn man ihre
Briefe las, ſo durchſichtig und ſee-
lenvoll ſchrieb ſie, was ſie als Ge-
ſpräch gedacht hatte. Wer ſie nur
von dieſer Seite kannte, hätte den-
ken können, ſie ſey nur liebenswür-
dig, ſie würde als Schauſpielerin
bezaubern müſſen, und ihren geflü-
gelten Worten fehle nur Maaß und
Reim, um zarte Poeſie zu werden.
Und doch zeigte eben dieſe Frau bey
jeder großen Gelegenheit Muth und
Kraft zum Erſtaunen, und das war
auch der hohe Geſichtspunkt, aus
dem ſie den Werth der Menſchen
beurtheilte.
Dieſe Größe der Seele war die
Seite, von der Julius im Anfange
ſeiner Leidenſchaft ihr Weſen am
meiſten ergriff, weil dieſe zu dem
Ernſt derſelben am beſten ſtimmte.
Sein ganzes Weſen war gleichſam
von der Oberfläche zurückgetreten
nach dem Innern; er verſank in
eine allgemeine Verſchloſſenheit und
floh den Umgang der Menſchen.
Rauhe Felſen waren ſeine liebſte
Geſellſchaft, am Geſtade des einſa-
men Meeres hing er ſeinen Gedan-
ken nach, und ging zu Rathe mit
ſich ſelbſt, und wenn das Sauſen
des Windes in den hohen Tannen
rauſchte, ſo wähnte er, die mächti-
gen Wogen tief unter ihm wollten
ſich aus Theilnahme und Mitleiden
ihm nähern, und ſchwermüthig blickte
rr den fernen Schiffen nach und
der ſinkenden Sonne. Dieſer Ort
war ſein Liebling, er ward ihm
durch die Erinnerung zu einer hei-
ligen Heimath aller Schmerzen und
Entſchlüſſe.
Die Vergötterung ſeiner erhabe-
nen Freundin wurde für ſeinen Geiſt
ein feſter Mittelpunkt und Boden
einer
einer neuen Welt. Hier ſchwanden
alle Zweifel, in dieſem wirklichen
Gute fühlte er den Werth des Le-
bens und ahndete die Allmacht des
Willens. Er ſtand in Wahrheit auf
friſchem Grün einer kräftigen müt-
terlichen Erde, und ein neuer Him-
mel wölbte ſich unermeßlich über
ihm im blauen Äther. Er erkannte
in ſich den hohen Beruf zur gött-
lichen Kunſt, er ſchalt ſeine Träg-
heit, daß er noch ſo weit zurück ſey
in der Bildung und zu weichlich ge-
weſen war zu jeder gewaltigen An-
ſtrengung. Er ließ ſich nicht in
müſſige Verzweiflung ſinken, ſondern
er folgte der weckenden Stimme je-
ner heiligen Pflicht. Alle Mittel, die
ihm die Verſchwendung noch gelaſſen
Lucinde I. M
hatte, ſpannte er nun an. Er zer-
riß alle Bande von Ehedem, und
machte ſich mit einem Streich ganz
unabhängig. Seine Kraft und ſeine
Jugend weihte er der erhabenen
künſtleriſchen Arbeit und Begeiſterung.
Er vergaß ſein Zeitalter und bildete
ſich nach den Helden der Vorwelt,
deren Ruinen er mit Anbetung liebte.
Auch für ihn ſelbſt gab es keine Ge-
genwart, denn er lebte nur in der
Zukunft und in der Hoffnung, der-
einſt ein ewiges Werk zu vollenden
zum Denkmal ſeiner Tugend und
ſeiner Würde.
So litt und lebte er viele Jahre,
und wer ihn ſah, hielt ihn für älter
als er war. Was er bildete, war
groß gedacht und in altem Styl,
aber der Ernſt war abſchreckend, die
Formen fielen ins Ungeheure, das
Antike ward ihm zu einer harten
Manier, und ſeine Gemälde blieben
bey aller Gründlichkeit und Einſicht
ſteif und ſteinern. Es war vieles
zu loben, nur die Anmuth fehlte;
und darin glich er ſeinen Werken.
Sein Charakter war rein gebrannt
im Leiden göttlicher Liebe und glänzte
in heller Kraft, aber er war ſpröde
und ſtarr wie ächter Stahl. Er war
aus Kälte ruhig, und nur dann ge-
rieth er in Aufruhr, wenn ihn eine
hohe Wildniß der einſamen Natur
mehr als gewöhnlich reizte, wenn er
ſeiner entfernten Freundin treuen Be-
richt gab von dem Kampf ſeiner
Bildung und dem Ziel aller Arbeit,
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oder wenn ihn die Begeiſterung für
die Kunſt in Gegenwart andrer über-
raſchte, daß nach langem Schweigen
einige geflügelte Worte aus ſeinem
innerſten Gemüth brachen. Doch
das geſchah nur ſelten, denn er nahm
ſo wenig Antheil an den Menſchen
als an ſich ſelbſt. Über ihr Glück
und ihr Beginnen konnte er nur
freundlich lächeln und er glaubte es
ihnen aufs Wort, wenn er bemerkte,
wie ſie ihn unliebend und unliebens-
würdig fanden.
Doch ſchien ihn eine edle Frau
etwas zu bemerken und vorzuziehn.
Ihr feiner Geiſt und ihr zartes Ge-
fühl zog ihn lebhaft an, da ſie noch
durch den Reiz einer liebenswürdigen
und dabey ſonderbaren Geſtalt und
durch ein Auge voll ſtiller Schwer-
muth erhöht wurden. Aber ſo oft
er herzlicher werden wollte, ergriff
ihn das alte Mißtrauen und die ge-
wohnte Kälte. Er ſah ſie häufig
und konnte ſich nie äußern, bis auch
dieſer Strom von Gefühl zurückfloß
in das innere Meer allgemeiner Be-
geiſterung. Selbſt die Gebieterin des
Herzens trat in ein heiliges Dunkel
zurück, und würde ihm fern geblie-
ben ſeyn, wenn er ſie wiedergeſehn
hätte.
Das einzige was ihn milder und
wärmer ſtimmte, war der Umgang
mit einer andern Frau, die er als
Schweſter ehrte und liebte, und die
er auch ganz ſo betrachtete. Er ſtand
ſchon länger in bürgerlichen Ver-
hältniſſen mit ihr, ſie war kränklich
und etwas älter wie er; dabey aber
von hellem reifen Verſtand, von
gradem geſundem Sinn, und ſelbſt
im Auge der Fremden bis zur Lie-
benswürdigkeit rechtlich. Alles was
ſie unternahm, athmete den Geiſt
freundlicher Ordnung, und wie von
ſelbſt entwickelte ſich die gegenwär-
tige Thätigkeit allmählig aus der
vorigen und bezog ſich ſtill auf die
künftige. In dieſer Anſchauung be-
griff es Julius klar, daß es keine
andre Tugend gebe als Conſequenz.
Aber es war nicht die kalte ſteife
Übereinſtimmung berechneter Grund-
ſätze oder Vorurtheile, ſondern die
beharrliche Treue eines mütterlichen
Herzens, das den Kreis ſeiner Wirk-
ſamkeit und ſeiner Liebe mit beſcheid-
ner Kraft erweitert und in ſich ſelbſt
vollendet, und die rohen Dinge der
umgebenden Welt zu einem freund-
lichen Eigenthum und Werkzeug des
geſelligen Lebens bildet. Dabey war
ihr jede Beſchränktheit häuslicher
Frauen fremd, und mit tiefer Scho-
nung und gefühlter Milde ſprach
ſie über die herrſchenden Meinungen
der Menſchen, und über die Ausnah-
men und Ausſchweifungen derer, die
gegen den Strom leben: denn ihr
Verſtand war ſo unbeſtechlich als
ihr Gefühl rein und unverfälſcht.
Sie ſprach überhaupt gern, vorzüg-
lich über ſittliche Gegenſtände, wo
ſie den Streit oft ins Allgemeine
ſpielte und auch wohl an Spitzfindig-
keiten Gefallen hatte, wenn ſie et-
was zu enthalten ſchienen und ſinn-
reich klangen. Sie war nicht ſpar-
ſam mit Worten und ihr Geſpräch
ward durch keine ängſtliche Ordnung
gelenkt. Es war eine reizende Ver-
wirrung von einzelnen Einfällen und
allgemeiner Theilnahme, von fort-
geſetzter Aufmerkſamkeit und plötzli-
cher Zerſtreuung.
Die Natur belohnte endlich die
mütterliche Tugend der vortrefflichen
Frau und es keimte, da ſie es kaum
hoffte, ein neues Leben unter ihrem
treuen Herzen. Das erfüllte den
Jüngling, der ſo ſehr an ihr hing
und an ihrem häuslichen Glücke den
wärmſten Antheil nahm, mit leb-
hafter Freude: aber es regte vieles
in ihm an, was lange geſchwiegen
hatte.
Da nun einige ſeiner künſtleri-
ſchen Verſuche auch in ſeiner Bruſt
ein neues Zutrauen weckten, und
ihn der erſte Beyfall großer Meiſter
aufmunterte; da ihn die Kunſt an
neue ſehenswürdige Orte und unter
fremde fröhliche Menſchen führte:
ſo erweichte ſich ſein Gefühl
und floß mächtig, wie ein großer
Strom, wenn das Eis ſchmilzt und
bricht, und die Wogen mit neuer
Kraft ſich durch die alte Bahn reißen.
Er war verwundert ſich wieder
ausgelaſſen und fröhlich in der Ge-
ſellſchaft der Menſchen zu fühlen.
Seine Denkart war männlich und
rauh, aber ſein Herz in der Ein-
ſamkeit wieder kindlich und ſchüch-
tern geworden. Er ſehnte ſich nach
einer Heimath und dachte an eine
ſchöne Ehe, die mit den Foderungen
der Kunſt nicht ſtreiten ſollte. War
er dann unter der Blüthe junger
Mädchen, ſo fand er leicht eine oder
mehrere von ihnen liebenswürdig.
Heyrathen, meinte er, wolle er ſie
gleich, wenn er ſie ſchon nicht lie-
ben könne. Denn der Begriff und
ſelbſt der Namen der Liebe war ihm
überheilig und blieb ganz in der
Ferne. Bey ſolchen Gelegenheiten
lächelte er dann über die ſcheinbare
Beſchränktheit ſeiner augenblicklichen
Wünſche und fühlte wohl, wie un-
ermeßlich viel ihm noch fehlen möchte,
wenn ſie durch einen Zauberſchlag
ſogleich erfüllt würden. Ein ande-
resmal lachte er lauter über ſeine
alte Heftigkeit nach ſo langem Ent-
halten, da ihm eine ſchnelle Gele-
genheit einen friſchen Genuß anbot,
und ſein Gemüth durch einen Ro-
man, der in wenigen Minuten an-
gefangen, vollendet und beſchloſſen
war, wenigſtens von einigem Brenn-
ſtoff befreyte und erleichterte.
Einem ſehr gebildeten Mädchen
gefiel er, weil er ihr ſeelenvolles
Geſpräch und ihren ſchönen Geiſt
mit ſichtbarer Innigkeit bewunderte,
und ihr, ohne eine Schmeicheley aus-
zuſprechen, bloß durch die Art ſeines
Umgangs huldigte, ſo gut, daß ſie
ihm nach und nach alles erlaubte,
außer das letzte. Und ſelbſt dieſe
Gränze ſetzte ſie ihm nicht aus Kälte,
noch aus Vorſicht und Grundſatz:
denn ſie war reizbar genug, ſie hatte
eine ſtarke Anlage zum Leichtſinn
und lebte in den freyſten Verhält-
niſſen. Es war weiblicher Stolz und
Scheu vor dem, was ſie für thieriſch
und roh hielt. So wenig nun ein
ſolches Beginnen ohne Vollendung
nach Julius Sinne war, und ob-
gleich er über die kleine Einbildung
des Mädchens lächeln mußte, wenn
er bey dieſem verkehrten und ver-
künſtelten Weſen an das Schaffen
und Wirken der allmächtigen Natur,
an ihre ewigen Geſetze, an die Hoheit
und Größe der Mutterwürde, und
an die Schönheit des Mannes dachte,
den in der Fülle der Geſundheit und
Liebe die Begeiſterung des Lebens
ergreift, oder des Weibes, das ſich
ihr hingiebt: ſo freute er ſich doch
bey dieſer Gelegenheit zu ſehn, daß
er den Sinn für zarten und feinen
Genuß noch nicht verloren habe.
Bald aber vergaß er dieſe und
andre ähnliche Kleinigkeiten, da er
eine junge Künſtlerin traf, welche
das Schöne gleich ihm leidenſchaft-
lich verehrte, die Einſamkeit und
Natur eben ſo zu lieben ſchien. In
ihren Landſchaften ſah und fühlte
man den lebendigen Hauch wahrer
Luft, es war immer ein ganzer
Blick. Die Umriſſe waren zu un-
beſtimmt, und zwar auf eine ſolche
Weiſe, daß ſie den Mangel einer
gründlichen Schule verriethen. Aber
alle die Maſſen ſtimmten zuſammen
zu einer Einheit für das Gefühl,
die ſo klar und deutlich war, als
ſey es unmöglich, etwas anderes
dabey zu fühlen. Sie trieb die Ma-
lerey nicht wie ein Gewerbe oder
eine Kunſt, ſondern bloß aus Luſt
und Liebe, und warf jede Anſicht,
ſo wie auf ihren Wanderungen ihr
eine gefiel oder merkwürdig ſchien,
nach Zeit und Laune mit der Feder
oder in Waſſerfarben aufs Papier.
Zum Öl hatte es ihr an Geduld
und an Fleiß gefehlt, und ſelten
mahlte ſie ein Portrait, nur wann
ſie ein Geſicht ſehr ausgezeichnet und
werth hielt. Dann arbeitete ſie mit
der gewiſſenhafteſten Treue und
Sorgfalt und wußte die Paſtellfarben
mit einer bezaubernden Weichheit zu
behandeln. So bedingt und gering
der Werth dieſer Verſuche für die
Kunſt ſeyn mochte, ſo freute ſich
Julius doch nicht wenig über die
ſchöne Wildheit in ihren Landſchaf-
ten und über den Geiſt, mit dem ſie
die unergründliche Mannichfaltigkeit
und wunderbare Übereinſtimmung der
menſchlichen Geſichtszüge auffaßte.
Und ſo einfach die der Künſtlerin
ſelbſt waren, ſo waren ſie doch nicht
unbedeutend, und Julius fand in ih-
nen einen großen Ausdruck, der ihm
immer neu blieb.
Lucinde hatte einen entſchiednen
Hang zum Romantiſchen, er fühlte
ſich betroffen über die neue Ähnlich-
keit und er entdeckte immer mehrere.
Auch ſie war von denen, die nicht in
der gemeinen Welt leben, ſondern in
einer eignen ſelbſtgedachten und
ſelbſtgebildeten. Nur was ſie von
Herzem liebte und ehrte, war in der
That wirklich für ſie, alles andre
nichts; und ſie wußte was Werth
hat. Auch ſie hatte mit kühner
Entſchloſſenheit alle Rückſichten und
alle Bande zerriſſen und lebte völlig
frey und unabhängig.
Die wunderbare Gleichheit zog
den Jüngling bald in ihre Nähe,
er bemerkte daß auch ſie dieſe Gleich-
heit fühle, und beyde nahmen es
gewahr, daß ſie ſich nicht gleichgül-
tig wären. Es war noch nicht lan-
ge daß ſie ſich ſahen und Julius
wagte nur einzelne abgerißne Worte,
die
die bedeutend aber nicht deutlich
waren. Er ſehnte ſich mehr von ih-
ren Schickſalen und ihrem ehemali-
gen Leben zu wiſſen, worüber ſie
gegen andre ſehr geheimnißvoll war.
Ihm geſtand ſie nicht ohne gewalt-
ſame Erſchütterung, ſie ſey ſchon
Mutter geweſen von einem ſchönen
ſtarken Knaben, den ihr der Tod
bald wieder entriſſen. Auch er er-
innerte ſich an die Vergangenheit
und ſein Leben ward ihm, indem er
es ihr erzählte, zum erſtenmal zu
einer gebildeten Geſchichte. Wie
freute ſich Julius, da er mit ihr
über Muſik ſprach, und ſeine inner-
ſten und eigenſten Gedanken über
den heiligen Zauber dieſer romanti-
ſchen Kunſt aus ihrem Munde hörte!
Lucinde I. N
Da er ihren Geſang vernahm, der
ſich rein und ſtark gebildet aus tie-
fer weicher Seele hob, da er ihn
mit dem ſeinigen begleitete, und ihre
Stimmen bald in Eins floſſen, bald
Fragen und Antworten der zarteſten
Empfindung wechſelten, für die es
keine Sprache giebt! Er konnte nicht
widerſtehn, er drückte einen ſchüch-
ternen Kuß auf die friſchen Lippen
und die feurigen Augen. Mit ewi-
gem Entzücken fühlte er das gött-
liche Haupt der hohen Geſtalt auf
ſeine Schulter ſinken, die ſchwarzen
Locken floſſen über den Schnee des
vollen Buſens und des ſchönen Rük-
kens, leiſe ſagte er herrliche Frau!
als die fatale Geſellſchaft unerwartet
hereintrat.
Nun hatte ſie ihm nach ſeinen
Begriffen eigentlich ſchon alles ge-
währt; es war ihm nicht möglich zu
künſteln an einem Verhältniß, das
er ſich ſo rein und groß dachte, und
doch war ihm jede Zögerung uner-
träglich. Von einer Gottheit, dachte
er, begehrt man nicht erſt das, was
man nur als Übergang und Mittel
denkt, ſondern man bekennt ſogleich
mit Offenheit und Zuverſicht das
Ziel aller Wünſche. So bat auch
er ſie mit der unſchuldigſten Unbe-
fangenheit um alles, was man eine
Geliebte bitten kann, und ſtellte ihr
in einem Strome von Beredſamkeit
dar, wie ſeine Leidenſchaftlichkeit ihn
zerſtören würde, wenn ſie zu weib-
lich ſeyn wollte. Sie war nicht
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wenig überraſcht, aber ſie ahndete
wohl, daß er nach der Hingebung
liebender und treuer ſeyn würde wie
vorher. Sie konnte keinen Entſchluß
faſſen, und überließ es nur den Um-
ſtänden, die es ſo fügten, wie es
gut war. Sie waren nur wenige
Tage allein, als ſie ſich ihm auf
ewig ergab und ihm die Tiefe ihrer
großen Seele öffnete, und alle Kraft
Natur und Heiligkeit, die in ihr
war. Auch ſie lebte lange in ge-
waltſamer Verſchloſſenheit, und nun
brachen zwiſchen den Umarmungen
in Strömen der Rede das zurückge-
drängte Zutrauen und die Mitthei-
lung mit einemmale hervor aus dem
innerſten Gemüth. In einer Nacht
wechſelten ſie mehr als einmal heftig
zu weinen und laut zu lachen. Sie
waren ganz hingegeben nudund eins
und doch war jeder ganz er ſelbſt,
mehr als ſie es noch je geweſen wa-
ren, und jede Äußerung war voll
vom tiefſten Gefühl und eigenſten
Weſen. Bald ergriff ſie eine unend-
liche Begeiſterung, bald tändelten
nnd ſcherzten ſie muthwillig und Amor
war hier wirklich, was er ſo ſelten
iſt, ein fröhliches Kind.
Durch das, was ſeine Freundin
ihm offenbart hatte, ward es dem
Jünglinge klar, daß nur ein Weib
recht unglücklich ſeyn kann und recht
glücklich, und daß die Frauen allein,
die mitten im Schooß der menſch-
lichen Geſellſchaft Naturmenſchen ge-
blieben ſind, den kindlichen Sinn
haben, mit dem man die Gunſt und
Gabe der Götter annehmen muß. Er
lernte das ſchöne Glück ehren, was
er gefunden hatte, und wenn er es
mit dem häßlichen unächten Glück
verglich, was er ehedem vom Eigen-
ſinn des Zufalls künſtlich erzwingen
wollte, ſo erſchien es ihm wie eine
natürliche Roſe am lebendigen Stamm
gegen eine nachgemachte. Aber we-
der im Taumel der Nächte noch in
der Freude der Tage wollte er es
Liebe nennen. So ſehr hatte er ſich
beredet, daß dieſe gar nicht für ihn
ſey und er nicht für ſie! Es fand
ſich leicht ein Unterſchied, um dieſe
Selbſttäuſchung zu beſtätigen. Er
hege, ſo war ſein Urtheil, eine hef-
tige Leidenſchaft für ſie und werde
ewig ihr Freund ſeyn. Was ſie ihm
gab und für ihn fühlte, nannte er
Zärtlichkeit, Erinnerung, Hingabe
und Hoffnung.
Indeſſen floß die Zeit und die
Freude wuchs. Julius fand in Lu-
cindens Armen ſeine Jugend wieder.
Die üppige Ausbildung ihres ſchönen
Wuchſes war für die Wuth ſeiner
Liebe und ſeiner Sinne reizender,
wie der friſche Reiz der Brüſte und
der Spiegel eines jungfräulichen Lei-
bes. Die hinreißende Kraft und
Wärme ihrer Umſchließung war mehr
als mädchenhaft; ſie hatte einen An-
hauch von Begeiſterung und Tiefe,
den nur eine Mutter haben kann.
Wenn er ſie im Zauberſchein einer
milden Dämmerung hingegoſſen ſah,
konnte er nicht aufhören, die ſchwel-
lenden Umriſſe ſchmeichelnd zu be-
rühren, und durch die zarte Hülle
der ebnen Haut die warmen Ströme
des feinſten Lebens zu fühlen. Sein
Auge indeſſen berauſchte ſich an der
Farbe die ſich durch die Wirkung
der Schatten vielfach zu verändern
ſchien und doch immer eine und die-
ſelbe blieb. Eine reine Miſchung,
wo nirgends Weiß oder Braun oder
Roth allein abſtach oder ſich roh
zeigte. Das alles war verſchleyert
und verſchmolzen zu einem einzigen
harmoniſchen Glanz von ſanftem Le-
ben. — Auch Julius war männlich
ſchön, aber die Männlichkeit ſeiner
Geſtalt offenbarte ſich nicht in der
hervorgedrängten Kraft der Muſkeln.
Vielmehr waren die Umriſſe ſanft,
die Glieder voll und rund, doch war
nirgends ein Überfluß. In hellem
Licht bildete die Oberfläche überall
breite Maſſen und der glatte Kör-
per ſchien dicht und feſt wie Mar-
mor, und in den Kämpfen der Liebe
entwickelte ſich mit einemmale der
ganze Reichthum ſeiner kräftigen
Bildung.
Sie erfreuten ſich des jugendlichen
Lebens, Monate vergingen wie Tage
und mehr als zwey Jahre waren vor-
über. Nun ward Julius erſt allmäh-
lig inne, wie groß ſeine Ungeſchicklich-
keit ſey und ſein Mangel an Ver-
ſtand. Er hatte die Liebe und das
Glück überall geſucht, wo ſie nicht
zu finden waren, und nun da er
das Höchſte beſaß, hatte er nicht
einmal gewußt oder gewagt, ihm
den rechten Namen zu geben. Er
erkannte nun wohl daß die Liebe,
die für die weibliche Seele ein un-
theilbares durchaus einfaches Gefühl
iſt, für den Mann nur ein Wechſel
und eine Miſchung von Leidenſchaft,
von Freundſchaft und von Sinnlich-
keit ſeyn kann; und er ſah mit fro-
hem Erſtaunen, daß er eben ſo un-
endlich geliebt werde wie er liebe.
Überhaupt ſchien es vorherbe-
ſtimmt, daß jede Begebenheit ſeines
Lebens ihn durch ein ſonderbares
Ende überraſchen ſolle. Nichts zog
ihn anfangs ſo ſehr an, und hatte
ihn ſo mächtig getroffen, als die
Wahrnehmung, daß Lucinde von
ähnlichem ja gleichem Sinn und
Geiſt mit ihm ſelbſt war, und nun
mußte er von Tage zu Tage neue
Verſchiedenheiten entdecken. Zwar
gründeten ſich ſelbſt dieſe nur auf
eine tiefere Gleichheit, und je reicher
ihr Weſen ſich entwickelte, je vielſei-
tiger und inniger ward ihre Ver-
bindung. Er hatte es nicht geahn-
det, daß ihre Originalität ſo uner-
ſchöpflich war wie ihre Liebe. Ihr
Ausſehn ſogar ſchien jugendlicher
und blühender in ſeiner Gegenwart;
und ſo blühte auch ihr Geiſt durch
die Berührung des ſeinigen auf und
bildete ſich in neue Geſtalten und in
neue Welten. Er glaubte alles in
ihr vereinigt zu beſitzen, was er
ſonſt einzeln geliebt hatte: die ſchöne
Neuheit des Sinnes, die hinreißende
Leidenſchaftlichkeit, die beſcheidne Thä-
tigkeit und Bildſamkeit und den gro-
ßen Charakter. Jedes neue Verhält-
niß, jede neue Anſicht war für ſie
ein neues Organ der Mittheilung
und Harmonie. Wie der Sinn für
einander, wuchs auch der Glauben
an einander, und mit dem Glauben
ſtieg der Muth und die Kraft.
Sie theilten ihre Neigung zur
Kunſt und Julius vollendete einiges.
Seine Gemälde belebten ſich, ein
Strom von beſeelendem Licht ſchien
ſich darüber zu ergießen und in fri-
ſcher Farbe blühte das wahre Fleiſch.
Badende Mädchen, ein Jüngling
der mit geheimer Luſt ſein Ebenbild
im Waſſer anſchaut, oder eine hold-
ſelig lächelnde Mutter mit dem ge-
liebten Kinde im Arm waren beynah
die höchſten Gegenſtände ſeines Pin-
ſels. Die Formen ſelbſt entſprachen
vielleicht nicht immer den angenomme-
nen Geſetzen einer künſtlichen Schön-
heit. Was ſie dem Auge empfahl,
war eine gewiſſe ſtille Anmuth, ein
tiefer Ausdruck von ruhigem heitern
Daſeyn und von Genuß dieſes Da-
ſeyns. Es ſchienen beſeelte Pflan-
zen in der gottähnlichen Geſtalt des
Menſchen. Eben dieſen liebenswür-
digen Charakter hatten auch ſeine
Umarmungen, in deren Verſchieden-
heit er unerſchöpflich war. Die
mahlte er am liebſten, weil der Reiz
ſeines Pinſels ſich hier am ſchönſten
zeigen konnte. In ihnen ſchien wirk-
lich der flüchtige und geheimnißvolle
Augenblick des höchſten Lebens durch
einen ſtillen Zauber überraſcht und
für die Ewigkeit angehalten. Je
entfernter von bakchantiſcher Wuth,
je beſcheidner und lieblicher die Be-
handlung war, je verführeriſcher war
der Anblick, bey dem Jünglinge und
Frauen ein ſüßes Feuer durchſtrömte.
Wie ſeine Kunſt ſich vollendete
und ihm von ſelbſt in ihr gelang,
was er zuvor durch kein Streben
und Arbeiten erringen konnte: ſo
ward ihm auch ſein Leben zum Kunſt-
werk, ohne daß er eigentlich wahr-
nahm, wie es geſchah. Es ward
Licht in ſeinem Innern, er ſah und
überſah alle Maſſen ſeines Lebens
und den Gliederbau des Ganzen klar
und richtig, weil er in der Mitte
ſtand. Er fühlte daß er dieſe Ein-
heit nie verlieren könne, das Räth-
ſel ſeines Daſeyns war gelöſt, er
hatte das Wort gefunden, und alles
ſchien ihm dazu vorherbeſtimmt und
von den frühſten Zeiten darauf an-
gelegt, daß er es in der Liebe fin-
den ſollte, zu der er ſich aus ju-
gendlichem Unverſtand ganz unge-
ſchickt geglaubt hatte.
Leicht und melodiſch floſſen ihnen
die Jahre vorüber, wie ein ſchöner
Geſang, ſie lebten ein gebildetes
Leben, auch ihre Umgebung ward
harmoniſch und ihr einfaches Glück
ſchien mehr ein ſeltnes Talent als
eine ſonderbare Gabe des Zufalls.
Julius hatte auch ſein äußeres Be-
tragen verändert; er war geſelliger,
und obgleich er viele ganz verwarf,
um ſich mit wenigen deſto inniger
zu verbinden, ſo unterſchied er doch
nicht mehr ſo hart, wurde vielſeiti-
ger und lernte das gewöhnliche ver-
edeln. Er zog allmählig manche
vorzügliche Menſchen an ſich, Lu-
cinde verband und erhielt das Ganze
und ſo entſtand eine freye Geſell-
ſchaft, oder vielmehr eine große Fa-
milie, die ſich durch ihre Bildung
immer neu blieb. Auch vorzüg-
liche Ausländer erhielten den Zutritt.
Julius ſprach ſeltner mit ihnen, aber
Lucinde wußte ſie gut zu unterhal-
ten; und zwar ſo daß ihre groteſke
Allgemeinheit und ausgebildete Ge-
meinheit zugleich die andern ergötzte,
und
und weder ein Stillſtand noch ein
Mislaut in der geiſtigen Muſik er-
regt ward, deren Schönheit eben in
der harmoniſchen Mannichfaltigkeit
und Abwechſelung beſtand. Neben
dem großen, ernſten Styl in der
Kunſt der Geſelligkeit ſollte auch
jede nur reizende Manier und flüch-
tige Laune ihre Stelle darin finden.
Eine allgemeine Zärtlichkeit ſchien
Julius zu beſeelen, nicht ein nützen-
des oder mitleidendes Wohlwollen
an der Menge, ſondern eine an-
ſchauende Freude über die Schönheit
des Menſchen, der ewig bleibt, wäh-
rend die einzelnen ſchwinden; und
ein reger und offner Sinn für das
Innerſte in ſich und in andern. Er
war faſt immer gleich geſtimmt zum
Lucinde I. O
kindlichſten Scherz und zum heilig-
ſten Ernſt. Er liebte nicht mehr nur
die Freundſchaft in ſeinen Freunden,
ſondern ſie ſelbſt. Jede ſchöne Ahn-
dung und Andeutung die in der
Seele liegt, ſtrebte er im Geſpräch
mit ähnlich geſinnten ans Licht zu
bringen und zu entwickeln. Da ward
ſein Geiſt in vielfachen Richtungen
und Verhältniſſen ergänzt und berei-
chert. Aber die volle Harmonie fand
er auch von dieſer Seite allein in Lu-
cindens Seele, wo die Keime alles
Herrlichen und alles Heiligen nur
auf den Strahl ſeines Geiſtes war-
teten, um ſich zur ſchönſten Religion
zu entfalten.
Ich verſetze mich gern in den
Frühling unſrer Liebe; ich ſehe alle
die Veränderungen und Verwand-
lungen, ich lebe ſie noch einmal,
und ich möchte wenigſtens einige
von den leiſen Umriſſen des entflie-
henden Lebens ergreifen und zu ei-
nem bleibenden Bilde geſtalten, jetzt
da es noch voller warmer Sommer
in mir iſt, ehe auch das vorüber
und es auch dazu zu ſpät wird.
Wir Sterblichen ſind, ſo wie wir hier
ſind, nur die edelſten Gewächſe die-
ſer ſchönen Erde. Die Menſchen
vergeſſen das ſo leicht, höchlich mis-
billigen ſie die ewigen Geſetze der
Welt und wollen die geliebte Ober-
fläche durchaus im Mittelpunkte wie-
derfinden. Nicht alſo du und ich.
O 2
Wir ſind dankbar und zufrieden mit
dem was die Götter wollen und
was ſie in der heiligen Schrift der
ſchönen Natur ſo klar angedeutet
haben. Das beſcheidne Gemüth er-
kennt es, daß es auch ſeine wie al-
ler Dinge natürliche Beſtimmung
ſey, zu blühen zu reifen und zu
welken. Aber es weiß, daß eines
doch in ihm unvergänglich ſey. Die-
ſes iſt die ewige Sehnſucht nach der
ewigen Jugend, die immer da iſt
und immer entflieht. Noch klaget
die zärtliche Venus um den Tod des
holden Adonis in jeder ſchönen Seele.
Mit ſüßem Verlangen erwartet und
ſucht ſie den Jüngling, mit zarter
Wehmuth erinnert ſie ſich an die
himmliſchen Augen des Geliebten,
an die ſanften Züge und an die
kindlichen Geſpräche und Scherze,
und lächelt dann eine Thräne, hold
erröthend, auch ſich nun unter den
Blumen der bunten Erde zu er-
blicken.
Andeuten will ich dir wenigſtens
in göttlichen Sinnbildern, was ich
nicht zu erzählen vermag. Denn
wie ich auch die Vergangenheit über-
denke, und in mein Ich zu dringen
ſtrebe, um die Erinnerung in klarer
Gegenwart anzuſchauen und dich an-
ſchauen zu laſſen: es bleibt immer
etwas zurück, was ſich nicht äußer-
lich darſtellen läßt, weil es ganz
innerlich iſt. Der Geiſt des Men-
ſchen iſt ſein eigner Proteus, ver-
wandelt ſich und will nicht Rede
ſtehn vor ſich ſelbſt, wenn er ſich
greifen möchte. In jener tiefſten
Mitte des Lebens treibt die ſchaffen-
de Willkühr ihr Zauberſpiel. Da
ſind die Anfänge und Enden, wohin
alle Fäden im Gewebe der geiſtigen
Bildung ſich verlieren. Nur was
allmählig fortrückt in der Zeit und
ſich ausbreitet im Raume, nur was
geſchieht iſt Gegenſtand der Ge-
ſchichte. Das Geheimniß einer au-
genblicklichen Entſtehung oder Ver-
wandlung kann man nur errathen
und durch Allegorie errathen laſſen.
Es war nicht ohne Grund, daß
der fantaſtiſche Knabe, der mir am
meiſten gefiel unter den vier unſterb-
lichen Romanen, die ich im Traum
ſah, mit der Maske ſpielt. Auch
in dem was reine Darſtellung und
Thatſache ſcheint, hat ſich Allegorie
eingeſchlichen, und unter die ſchöne
Wahrheit bedeutende Lügen gemiſcht.
Aber nur als geiſtiger Hauch ſchwebt
ſie beſeelend über die ganze Maſſe,
wie der Witz der unſichtbar mit ſei-
nem Werke ſpielt und nur leiſe
lächelt.
Es giebt Dichtungen in der al-
ten Religion, die ſelbſt in ihr einzig
ſchön, heilig und zart erſcheinen.
Die Poeſie hat ſie ſo fein und reich
gebildet und umgebildet, daß ihre
ſchöne Bedeutſamkeit unbeſtimmt ge-
blieben iſt, und immer neue Deu-
tungen und Bildungen erlaubt. Un-
ter dieſen habe ich, um dir einiges
von dem anzudeuten, was ich über
die Metamorphoſen des liebenden
Gemüths ahnde, die gewählt, von
denen ich glaubte, der Gott der
Harmonie könnte ſie, nachdem ihn
die Liebe vom Himmel auf die Erde
geführt und ihn zum Hirten gemacht,
den Muſen erzählt oder doch von
ihnen angehört haben. Damals an
den Ufern des Amphryſos hat er
auch, wie ich glaube, die Idylle und
die Elegie erſonnen.
Metamorphoſen.
In ſüßer Ruhe ſchlummert der
kindliche Geiſt und der Kuß der lie-
benden Göttin erregt ihm nur leichte
Träume. Die Roſe der Schaam
färbt ſeine Wange, er lächelt und
ſcheint die Lippen zu öffnen, aber
er erwacht nicht, und er weiß nicht
was in ihm vorgeht. Erſt nachdem
der Reiz des äußern Lebens, durch
ein innres Echo vervielfältigt und
verſtärkt, ſein ganzes Weſen überall
durchdrungen hat, ſchlägt er das
Auge auf, frohlockend über die Son-
ne, und erinnert ſich jetzt an die
Zauberwelt die er im Schimmer des
blaſſen Mondes ſah. Die wunder-
bare Stimme, die ihn weckte, iſt
ihm geblieben, aber ſie tönt nun ſtatt
der Antwort von den äußern Ge-
genſtänden zurück; und wenn er
dem Geheimniß ſeines Daſeyns mit
kindlicher Schüchternheit zu entfliehen
ſtrebt, das Unbekannte mit ſchöner
Neugier ſuchend, vernimmt er über-
all nur den Nachhall ſeiner eignen
Sehnſucht.
So ſchaut das Auge in dem Spie-
gel des Fluſſes nur den Wiederſchein
des blauen Himmels, die grünen
Ufer, die ſchwankenden Bäume und
die eigne Geſtalt de in ſich ſelbſt
verſunkenen Betrachters. Wenn ein
Gemüth voll unbewußter Liebe da,
wo es Gegenliebe hoffte, ſich ſelbſt
findet, wird es von Erſtaunen ge-
troffen. Doch bald läßt ſich der
Menſch wieder durch den Zauber
der Anſchauung locken und täuſchen,
ſeinen Schatten zu lieben. Dann iſt
der Augenblick der Anmuth gekom-
men, die Seele bildet ihre Hülle noch
einmal, und athmet den letzten Hauch
der Vollendung durch die Geſtalt.
Der Geiſt verliert ſich in ſeiner kla-
ren Tiefe und findet ſich wie Nar-
ciſſus als Blume wieder.
Liebe iſt höher als Anmuth und
wie bald würde die Blüthe der
Schönheit fruchtlos welken ohne die
ergänzende Bildung der Gegenliebe!
Dieſer Augenblick, der Kuß des
Amor und der Pſyche iſt die Roſe
des Lebens. — Die begeiſterte Dio-
tima hat ihren Sokrates nur die
Hälfte der Liebe offenbart. Die
Liebe iſt nicht bloß das ſtille Ver-
langen nach dem Unendlichen; ſie iſt
auch der heilige Genuß einer ſchönen
Gegenwart. Sie iſt nicht bloß eine
Miſchung, ein Übergang vom Sterb-
lichen zum Unſterblichen, ſondern ſie
iſt eine völlige Einheit beyder. Es
giebt eine reine Liebe, ein untheil-
bares und einfaches Gefühl ohne die
leiſeſte Störung von unruhigem
Streben. Jeder giebt daſſelbe was
er nimmt, einer wie der andre, al-
les iſt gleich und ganz und in ſich
vollendet wie der ewige Kuß der
göttlichen Kinder.
Durch die Magie der Freude zer-
fließt das große Chaos ſtreitender
Geſtalten in ein harmoniſches Meer
der Vergeſſenheit. Wenn der Strahl
des Glücks ſich in der letzten Thräne
der Sehnſucht bricht, ſchmückt Iris
ſchon die ewige Stirn des Himmels
mit den zarten Farben ihres bunten
Bogens. Die lieblichen Träume
werden wahr, und ſchön wie Ana-
dyomene heben ſich aus den Wogen
des Lethe die reinen Maſſen einer
neuen Welt und entfalten ihren Glie-
derbau in die Stelle der verſchwund-
nen Finſterniß. In goldner Jugend
und Unſchuld wandelt die Zeit und
der Menſch im göttlichen Frieden
der Natur, und ewig kehrt Aurora
ſchöner wieder.
Nicht der Haß, wie die Weiſen
ſagen, ſondern die Liebe trennt die
Weſen und bildet die Welt, und nur
in ihrem Licht kann man dieſe fin-
den und ſchauen. Nur in der Ant-
wort ſeines Du kann jedes Ich ſeine
unendliche Einheit ganz fühlen. Dann
will der Verſtand den innern Keim
der Gottähnlichkeit entfalten, ſtrebt
immer näher nach dem Ziele und iſt
voll Ernſt, die Seele zu bilden, wie
ein Künſtler das einzig geliebte
Werk. In den Myſterien der Bil-
dung ſchaut der Geiſt das Spiel
und die Geſetze der Willkühr und
des Lebens. Das Werk des Pyg-
malion bewegt ſich, und den über-
raſchten Künſtler ergreift ein freudi-
ger Schauer im Bewußtſeyn eigner
Unſterblichkeit, und wie der Adler
den Ganymedes reißt ihn die gött-
liche Hoffnung mit mächtigem Fittich
zum Olymp.
Zwey Briefe.
I.
Iſt es denn wahr und wirklich,
was ich ſo oft in der Stille wünſchte
und nicht zu äußern wagte? — Ich
ſehe das Licht einer heiligen Freude
auf deinem Antlitz lächeln, und be-
ſcheiden giebſt du mir die ſchöne Ver-
heißung.
Du wirſt Mutter ſeyn! —
Lebe wohl Sehnſucht und du
leiſe Klage, die Welt iſt wieder
ſchön, jetzt liebe ich die Erde, und
die Morgenröthe eines neuen Früh-
lings hebt ihr Roſenſtrahlendes Haupt
über mein unſterbliches Daſeyn.
Wenn ich Lorbeern hätte, würde ich
ſie um deine Stirn flechten, um dich
einzuweihen zu neuem Ernſt und zu
neuer Thätigkeit; denn auch für dich
beginnt nun ein anderes Leben. Da-
für gieb du mir den Myrthenkranz.
Es ſteht mir wohl an, mich jugend-
lich zu ſchmücken mit dem Sinnbilde
der Unſchuld, da ich im Paradieſe
der Natur wandle. Was vorher
war zwiſchen uns, iſt nur Liebe ge-
weſen und Leidenſchaft. Nun hat
uns die Natur inniger verbunden,
ganz und unauflöslich. Die Natur
allein iſt die wahre Prieſterin der
Freude; nur ſie verſteht es, ein
hochzeitliches Band zu knüpfen.
Nicht durch eitle Worte ohne See-
gen, ſondern durch friſche Blüthen
und lebendige Früchte aus der Fülle
ihrer Kraft. Im endloſen Wechſel
neuer Geſtalten flicht die bildende
Zeit den Kranz der Ewigkeit, und
heilig iſt der Menſch, den das Glück
berührt, daß er Früchte trägt und
geſund iſt. Wir ſind nicht etwa
taube Blüthen unter den Weſen, die
Götter wollen uns nicht ausſchließen
aus der großen Verkettung aller
wirkenden Dinge, und geben uns
deutliche Zeichen. So laß uns denn
unſre
unſre Stelle in dieſer ſchönen Welt
verdienen, laß uns auch die unſterb-
lichen Früchte tragen, die der Geiſt
und die Willkühr bildet, und laß
uns eintreten in den Reigen der
Menſchheit. Ich will mich anbauen
auf der Erde, ich will für die Zu-
kunft und für die Gegenwart ſäen
und erndten, ich will alle Kräfte
brauchen, ſo lange es Tag iſt, und
mich dann am Abend in den Armen
der Mutter erquicken, die mir ewig
Braut ſeyn wird. Unſer Sohn,
der kleine ernſthafte Schalk wird
um uns ſpielen, und manchen Muth-
willen gegen dich mit mir aus-
ſinnen.
Lucinde I. P
Du haſt Recht, das kleine Land-
gut müſſen wir durchaus kaufen.
Es iſt gut, daß du gleich die An-
ſtalten getroffen haſt, ohne auf meine
Entſcheidung zu warten. Richte al-
les ein, wie es dir gefällt; nur nicht
gar zu ſchön, wenn ich bitten darf,
aber auch nicht zu nützlich und vor
allen Dingen nicht zu weitläufig.
Wenn du nur alles ganz nach
deinem eignen Sinn machſt, und dir
nichts einreden läßt von Gewöhnli-
chem und Schicklichem, ſo wird es
ſchon recht ſeyn, wie es ſeyn muß
und wie ichs wünſche, und ich werde
eine herrliche Freude haben über das
ſchöne Eigenthum. Was ich ſonſt
brauchte, hatte ich gedankenlos und
ohne Gefühl von Beſitz. Leichtſinnig
lebte ich über die Erde weg, und
war nicht einheimiſch auf ihr. Nun
hat das Heiligthum der Ehe mir das
Bürgerrecht im Stande der Natur
gegeben. Ich ſchwebe nicht mehr
im leeren Raum einer allgemeinen
Begeiſterung, ich gefalle mir in der
freundlichen Beſchränkung, ich ſehe
das Nützliche in einem neuen Lichte
und finde alles wahrhaft nützlich,
was irgend eine ewige Liebe mit ih-
rem Gegenſtande vermählt, kurz al-
les was zu einer ächten Ehe dient.
Die äußerlichen Dinge ſelbſt flößen
mir Hochachtung ein, wenn ſie in
ihrer Art tüchtig ſind, und du wirſt
am Ende noch frohlockende Lobreden
auf den Werth eines eignen Heer-
P 2
des und über die Würde der Häus-
lichkeit von mir hören.
Ich verſtehe jetzt deine Vorliebe
fürs Landleben, ich liebe ſie an dir,
und ich fühle wie du. Ich mag ſie
gar nicht mehr ſehn, dieſe unbeholf-
nen Klumpen von allem was ver-
derbt und krank iſt in der Menſch-
heit; und wenn ich ſie im allgemei-
nen denken will, erſcheinen ſie mir
wie wilde Thiere an der Kette, die
nicht einmal frey wüthen können.
Auf dem Lande können die Menſchen
doch noch beyſammen ſeyn, ohne ſich
häßlich zu drängen. Da könnten,
wenn alles wäre wie es ſollte, ſchö-
ne Wohnungen und liebliche Hütten
wie friſche Gewächſe und Blumen
den grünen Boden ſchmücken und
einen würdigen Garten der Gotthett
bilden.
Freylich werden wir auch auf
dem Lande die Gemeinheit wieder
finden, die noch überall herrſcht. Es
ſollte eigentlich nur zwey Stände
unter den Menſchen geben, den bil-
denden und den gebildeten, den
männlichen und den weiblichen, und
ſtatt aller künſtlichen Geſellſchaft eine
große Ehe dieſer beiden Stände, und
allgemeine Brüderſchaft aller Einzel-
nen. Statt deſſen ſehen wir nur
eine Unzahl von Rohheit, und als
unbedeutende Ausnahme einige die
durch Mißbildung verkehrt ſind!
Aber in der freyen Luft kann doch
das Einzelne, was ſchön und gut
iſt, nicht ſo erdrückt werden durch
die ſchlechte Maſſe und durch den
Schein ihrer Allmacht.
Weißt du, welche Zeit unſrer
Liebe mir beſonders ſchön glänzt? —
Zwar iſt mir alles ſchön und rein
in der Erinnerung, und auch an die
erſten Tage denke ich mit wehmüthi-
gem Entzücken. Aber das wertheſte
unter allem werthen ſind mir doch
die letzten Tage, die wir zuſammen
auf dem Gute lebten. — Ein neuer
Grund, um wieder auf dem Lande
zu wohnen!
Noch eins. Laß mir die Wein-
reben nicht zu ſehr beſchneiden. Ich
ſchreibe dies nur, weil du ſie gar
zu wild und üppig fandeſt, und
weil es dir einfallen möchte, das
kleine Haus von allen Seiten durch-
aus ſauber vor dir zu ſehn. Auch
der grüne Raſenplatz muß bleiben
wie er iſt. Darauf ſoll das Kleine
ſein Weſen treiben, kriechen, ſpielen
und ſich wälzen.
Nicht wahr, der Schmerz, den
dir mein trauriger Brief erregt hat,
iſt völlig vergütet? Ich kann mich
in allen dieſen Herrlichkeiten und im
Taumel der Hoffnung nicht länger
mit Sorge quälen. Mehr Schmerz
als ich haſt du nicht dabey empfun-
den. Aber was liegt daran, wenn
du mich liebſt, wirklich liebſt, ſo recht
im Innerſten, ohne einen Hinter-
halt von Fremdem. Welcher Schmerz
wäre der Rede werth, wenn wir
damit ein tieferes, heißeres Bewußt-
ſeyn unſrer Liebe gewinnen? Auch
du biſt ſo geſinnt. Alles was ich
dir da ſage, wußteſt du lange. Über-
haupt iſt kein Entzücken und keine
Liebe in mir, die nicht ſchon in ir-
gend einer Tiefe deines Weſens ver-
borgen läge, du Unendliche und
Glückliche!
Mißverſtändniſſe ſind auch gut,
damit das heiligſte einmal zur Spra-
che kömmt. Das Fremde, was dann
und wann zwiſchen uns zu ſeyn
ſcheint, iſt nicht in uns, in keinem
von uns. Es iſt nur zwiſchen uns
und auf der Oberfläche, und ich
hoffe bey dieſer Gelegenheit wirſt
du es ganz von dir und aus dir
wegtreiben.
Und woher entſtehen ſolche kleine
Abſtoßungen als aus der gegenſei-
tigen Unerſättlichkeit im Lieben und
Geliebtwerden? Ohne dieſe Unerſätt-
lichkeit giebt's keine Liebe. Wir le-
ben und lieben bis zur Vernichtung.
Und wenn die Liebe es iſt, die uns
erſt zu wahren vollſtändigen Men-
ſchen macht, das Leben des Lebens
iſt, ſo darf auch ſie wohl die Wi-
derſprüche nicht ſcheuen, ſo wenig
wie das Leben und die Menſchheit;
ſo wird auch ihr Frieden nur auf
den Streit der Kräfte folgen.
Ich fühle mich glücklich, daß ich
eine Frau liebe, die ſo wie du lie-
ben kann. So wie du iſt ein grö-
ßeres Wort als alle Superlative. —
Wie kannſt du nur meine Worte
loben, da ich, ohne es zu wollen,
welche traf, die dich ſo verletzen
mußten? Ich möchte ſagen, ich
ſchreibe zu gut, um dir ſagen zu
können, wie mir im innerſten Ge-
müth iſt. Ach Liebe! glaube es nur,
daß keine Frage in dir ohne Ant-
wort in mir iſt. Deine Liebe kann
nicht ewiger ſeyn als die meinige.
— Köſtlich iſt aber deine ſchöne Ei-
ferſucht auf meine Fantaſie und ihre
Wuthbeſchreibungen. Das bezeichnet
recht die Gränzenloſigkeit deiner
Treue, läßt aber doch hoffen, daß
deine Eiferſucht nahe daran ſey, in
ihrem eignen Übermaaß ſich ſelbſt
zu vernichten.
Es bedarf nun dieſer Art von
Fantaſie — der geſchriebenen — nicht
mehr. Ich werde bald bey dir ſeyn.
Ich bin heiliger, ruhiger wie ſonſt.
Ich kann dich im Geiſte nur an-
blicken und ſtets vor dir ſtehn. Du
fühlſt alles ohne daß ichs ſage, und
glühſt freudig halb den geliebten
Mann halb das Kind im Herzen.
Weißt du noch, wie ich dir
ſchrieb, keine Erinnerung könne dich
mir entweihen, du ſeyſt ewig rein
wie die heilige Jungfrau von un-
beflecktem Empfängniß, und nichts
fehle dir zur Madonna wie das
Kind?
Nun haſt du es, nun iſt es da
und wirklich. Bald trage ich ihn auf
dem Arm, bald erzähle ich ihm
Mährchen, bald unterrichte ich ihn
ſehr ernſthaft, bald gebe ich ihm
gute Lehren, wie der junge Menſch
ſich in der Welt zu betragen hat.
Und dann kehrt mein Geiſt wie-
der zurück zur Mutter, ich gebe dir
einen unendlichen Kuß, ich ſehe wie
ſich dein Buſen ſehnend hebt, und
fühle wie ſich's unter deinem Herzen
geheimnißvoll regt.
Wenn wir nur erſt wieder bey-
ſammen ſind, wollen wir unſrer Ju-
gend ganz eingedenk ſeyn, und ich
will die Gegenwart heilig halten.
Wohl haſt du Recht: Eine Stunde
ſpäter iſt unendlich viel ſpäter.
Es iſt hart, daß ich eben jetzt
nicht bey dir ſeyn kann! Ich begin-
ne aus Ungeduld viel Närriſches.
Ich ſtreife faſt von Morgen bis
Abend umher in der herrlichen Ge-
gend; ich eile als ob es Wunder
wie nothwendig wäre, und gerathe
endlich an einen Ort, wohin ich am
wenigſten wollte. Ich gebehrde mich
als ob ich heftige Reden hielte; ich
glaube allein zu ſeyn und bin plötz-
lich unter Menſchen; und muß dann
lächeln, wenn ich bemerke, wie ab-
weſend ich war. Auch ſchreiben
kann ich nicht lange und will nur
bald wieder hinaus, den ſchönen
Abend an den Ufern des ruhigen
Stroms zu verträumen.
Heute habe ich unter andern auch
vergeſſen, daß es Zeit war, den
Brief abzuſenden. Dafür erhältſt
du nun deſto mehr Verwirrung und
Freude.
Die Menſchen ſind wirklich ſehr
gut mit mir. Sie verzeihn es mir
nicht nur daß ich ſo oft keinen Theil
nehme und dann mit einemmale ihr
Geſpräch auf eine ſonderbare Art
unterbreche: ſie ſcheinen ſich ſogar
in der Stille an meiner Freude herz-
lich zu freuen. Beſonders Juliane.
Ich ſage ihr nur weniges von dir,
aber ſie hat viel Sinn dafür und
erräth das übrige. Es giebt doch
nichts liebenswürdigeres als das
reine uneigennützige Wohlgefallen
an der Liebe!
Ich glaube freylich, ich würde
jetzt meine Freunde hier lieben, wenn
ſie auch weniger vortreffliche Men-
ſchen wären. Ich fühle eine große
Veränderung in meinem Weſen:
eine allgemeine Weichheit und ſüße
Wärme in allen Vermögen der
Seele und des Geiſtes, wie die ſchö-
ne Ermattung der Sinne die auf
das höchſte Leben folgt.
Und doch iſts nichts weniger als
Weichlichkeit. Vielmehr weiß ich,
daß ich alles was meines Berufs
iſt, von nun an mit größerer Liebe
und friſcher Kraft treiben werde.
Ich fühlte nie mehr Zuverſicht und
Muth, als Mann unter Männern
zu wirken, ein heldenmäßiges Leben
zu beginnen und auszuführen und
mit Freunden verbrüdert für die Ewig-
keit zu handeln.
Das iſt meine Tugend; ſo ziemt
es mir, den Göttern ähnlich zu wer-
den. Die deinige iſt es, gleich der
Natur als Prieſterin der Freude das
Geheimniß der Liebe leiſe zu offen-
baren und in der Mitte würdiger
Söhne und Töchter das ſchöne Le-
ben zu einem heiligen Feſt zu weihen.
Ich mache mir oft Sorge über
deine Geſundheit. Du kleideſt dich
gar zu leicht und liebſt die Abend-
luft! Das ſind gefährliche Gewohn-
heiten, die du wie manche andre
ablegen mußt.
Denke, daß eine neue Ordnung
der
der Dinge für dich beginnt. Bisher
hieß ich deinen Leichtſinn ſchön, weil
er an der Zeit war und zum Gan-
zen ſtimmte. Ich fand es weiblich,
wenn du mit dem Glück ſcherzen,
und alle Rückſichten zerreißen und
ganze Maſſen deines Lebens oder
deiner Umgebung vernichten konnteſt.
Nun iſt aber etwas da, worauf
du immer Rückſicht nehmen, worauf
du alles beziehen wirſt. Nun mußt
du dich allmählich zur Ökonomie
bilden, verſteht ſich im allegoriſchen
Sinn.
In dieſem Brief geht alles recht
bunt durch einander, wie im menſch-
lichen Leben Gebet und Eſſen, Schel-
Lucinde I. Q
merei und Entzücken. Nun gute
Nacht. — Ach warum kann ich
nicht wenigſtens im Traume bei dir
ſeyn, wirklich mit dir und in dir träu-
men! Denn wenn ich bloß von
dir träume, iſts doch immer nur al-
lein. — Du willſt wiſſen, warum du
nicht von mir träumſt, da du doch
ſo viel an mich denkſt? Liebe!
ſchweigſt du nicht auch oft lange
über mich?
Amaliens Brief hat mir große
Freude gemacht. Freilich ſeh' ich
aus dem ſchmeichelnden Ton, daß
ſie mich nicht von den Männern
ausnimmt, die der Schmeichelei be-
dürfen. Ich verlange das auch gar
nicht. Es wäre unbillig zu fodern,
daß ſie meinen Werth auf unſre
Weiſe anerkennen ſoll. Genug, daß
eine mich ganz kennt! — Sie erkennt
ihn ja auf ihre Art ſo ſchön! —
Sollte ſie wohl wiſſen, was Anbe-
tung iſt? Ich zweifle daran und
bedaure ſie, wenn ſie es nicht weiß.
Du nicht auch?
Heute fand ich in einem franzö-
ſiſchen Buche von zwei Liebenden
den Ausdruck: »Sie waren einer
dem andern das Univerſum.« —
Wie fiel mir's auf, rührend und
zum Lächeln, daß, was da ſo ge-
dankenlos ſtand, bloß als eine Fi-
Q 2
gur der Übertreibung, in uns buch-
ſtäblich wahr geworden ſey!
Eigentlich iſt's zwar auch für ſo
eine franzöſiſche Paſſion buchſtäblich
wahr. Sie finden das Univerſum
einer in dem andern, weil ſie den
Sinn für alles andre verlieren.
Nicht ſo wir. Alles, was wir
ſonſt liebten, lieben wir nun noch
wärmer. Der Sinn für die Welt
iſt uns erſt recht aufgegangen. Du
haſt durch mich die Unendlichkeit des
menſchlichen Geiſtes kennen gelernt,
und ich habe durch dich die Ehe und
das Leben begriffen, und die Herr-
lichkeit aller Dinge.
Alles iſt beſeelt für mich, ſpricht
zu mir und alles iſt heilig. Wenn
man ſich ſo liebt wie wir, kehrt
auch die Natur im Menſchen zu
ihrer urſprünglichen Göttlichkeit zu-
rück. Die Wolluſt wird in der ein-
ſamen Umarmung der Liebenden wie-
der, was ſie im großen Ganzen iſt
— das heiligſte Wunder der Natur;
und was für andre nur etwas iſt,
deſſen ſie ſich mit Recht ſchämen
müſſen, wird für uns wieder, was
es an und für ſich iſt, das reine
Feuer der edelſten Lebenskraft.
Drei Dinge wird unſer Kind ge-
wiß haben: viel Muthwillen, ein
ernſthaftes Geſicht und etwas Anla-
ge zur Kunſt. Alles andre erwarte
ich mit ſtiller Ergebung. Sohn oder
Tochter, darüber kann ich keinen be-
ſtimmten Wunſch haben. Aber über
die Erziehung habe ich ſchon unſäg-
lich viel gedacht, nämlich, wie wir
unſer Kind vor aller Erziehung ſorg-
fältig bewahren wollen; vielleicht
mehr als drei vernünftige Väter
denken und ſorgen, um ihre Nach-
kommenſchaft gleich von der Wiege
in lauter Sittlichkeit einzuſchnüren.
Ich habe einige Entwürfe gemacht,
die dir gefallen werden. Auf dich
iſt ſehr dabei gerechnet. Nur mußt
du die Kunſt nicht vernachläßigen!
— Würdeſt du für deine Tochter
wenn es eine Tochter wäre, lieber das
Portrait oder die Landſchaft wäh-
len? —
Du Thörin mit deinen äußerli-
chen Dingen! Du willſt wiſſen, was
mich umgiebt, wo, wann und wie
ich alles thue, lebe und bin? —
Sieh doch um dich, auf dem Stuhl
neben dir, in deinen Armen, an
deinem Herzen, da lebe und bin ich.
Trifft dich nicht der Strahl des Ver-
langens, und ſchleicht mit ſüßer
Wärme bis an dein Herz, bis an
den Mund, wo es in Küſſen über-
ſtrömen möchte? —
Nun rühmſt du dich noch gar,
daß du immer innerlich an mich
ſchriebſt und ich nur oft, du Syl-
benſtecherin! Erſtlich denke ich immer
ſo an dich, wie du es beſchreibſt,
daß ich neben dir gehe, dich ſehe,
höre, ſpreche. Dann aber auch noch
anders, beſonders wenn ich des Nachts
aufwache.
Wie kannſt du nur an der Wür-
digkeit und Göttlichkeit deiner Briefe
zweifeln! Der letzte blickt und leuchtet
aus hellen Augen; es iſt nicht Schrift
ſondern Geſang. —
Ich glaube wenn ich noch einige
Monate fern von dir wäre, würde
dein Styl ſich völlig ausbilden. In-
deſſen finde ich es doch rathſamer,
daß wir den Styl und das Schrei-
ben nun laſſen und die ſchönſten
und höchſten Studien nicht länger
ausſetzen, und ich bin ſo ziemlich
entſchloſſen, in acht Tagen ſchon zu
reiſen.
Zweyter Brief.
Es iſt ſonderbar, daß der Menſch
ſich nicht vor ſich ſelbſt fürchtet. Die
Kinder haben Recht, daß ſie ſo neu-
gierig und doch ſo bange in die Ge-
ſellſchaft der unbekannten Geiſter hin-
einblicken. Jeder einzelne Atom der
ewigen Zeit kann eine Welt von
Freude faſſen, aber ſich auch zu ei-
nem unermeßlichen Abgrund von Lei-
den und Schrecken öffnen. Ich be-
greife nun das alte Mährchen von
dem Manne, welchen ein Zauberer
in wenigen Augenblicken viele Jahre
durchleben ließ: denn ich habe die
furchtbare Allmacht der Fantaſie an
mir ſelbſt erfahren.
Seit dem letzten Briefe deiner
Schweſter — es ſind nun drei Ta-
ge — habe ich die Schmerzen eines
ganzen Menſchenlebens gefühlt, von
dem Sonnenlicht der glühenden Ju-
gend, bis zum blaſſen Mondſchein
des weißen Alters.
Jeder kleine Umſtand, den ſie
mir von deiner Krankheit ſchrieb,
beſtätigte mich, mit dem was ich in
der vorigen von dem Arzt gehört
und ſelbſt beobachtet hatte, in dem
Gedanken, ſie ſey weit gefährlicher,
als ihr wüßtet, ja eigentlich nicht
mehr gefährlich, ſondern entſchieden.
In dieſen Gedanken verloren, alle
Kräfte durch die Unmöglichkeit, aus
der weiten Ferne zu dir zu eilen,
gelähmt, war mein Zuſtand wirklich
ſehr troſtlos. Erſt jetzt weiß ich's
recht, wie er war, da ich durch die
fröhliche Bothſchaft deiner Geſund-
heit wiedergeboren bin. Denn ge-
ſund biſt du nun, ſo gut als völlig
geſund. Das ſchließe ich aus allen
Berichten mit eben der Zuverſicht,
mit der ich vor wenigen Tagen das
Todesurtheil über uns ausſprach.
Ich dachte es mir gar nicht als
noch künftig oder als geſchehe es
jetzt. Alles war vergangen; ſchon
lange warſt du im Schooß der küh-
len Erde verhüllt, Blumen keimten
allmählig auf dem geliebten Grabe,
und meine Thränen floſſen ſchon
milder. Stumm und einſam ſtand
ich und ſah nichts als die geliebten
Züge und die ſüßen Blitze der ſpre-
chenden Augen. Unbeweglich blieb
dieſes Bild vor mir, nur trat bis-
weilen das bleiche Geſicht des letzten
Lächelns und des letzten Schlummers
leiſe an die Stelle, oder plötzlich ver-
wirrten ſich die verſchiedenen Erinne-
rungen. Mit unglaublicher Schnelle
veränderten ſich die Umriſſe, kehrten
zur erſten Geſtalt zurück, und ver-
wandelten ſich von neuem, bis der
überſpannten Einbildung alles ver-
ſchwand. Nur deine heiligen Augen
blieben im leeren Raum und ſtan-
den unbeweglich da, wie die freund-
lichen Sterne ewig über unſrer Ar-
muth ſchimmern. Unverrückt ſchaute
ich nach den ſchwarzen Lichtern, die
mit bekanntem Lächeln in die Nacht
meiner Trauer winkten. Bald brannte
ein ſtechender Schmerz aus dunkeln
Sonnen mit unerträglichem Blenden,
bald ſchwebte und floß ein ſchöner
Glanz, als wollte er mich locken.
Da war es, als wehte eine friſche
Morgenluft mich an, ich warf mein
Haupt in die Höhe, und es rief
laut in mir: »Warum ſollſt du dich
quälen, in wenigen Augenblicken
kannſt du ja bei ihr ſeyn.«
Schon eilte ich, dir zu folgen,
aber plötzlich hielt mich ein neuer
Gedanke an, und ich ſagte zu mei-
nem Geiſt: »Unwürdiger, du kannſt
nicht einmal die kleinen Diſſonanzen
dieſes mittelmäßigen Lebens ertragen
und du hältſt dich ſchon für ein hö-
heres reif und würdig? Gehe hin zu
leiden und zu thun was dein Beruf
iſt, und melde dich wieder, wenn
deine Aufträge vollendet ſind.« —
Iſt es nicht auch dir auffallend, wie
alles auf dieſer Erde nach der Mitte
ſtrebt, wie ſo ordentlich alles iſt,
wie ſo unbedeutend und kleinlich?
So ſchien es mir ſtets; daher ver-
muthe ich — und ich habe dir dieſe
Vermuthung, wenn ich nicht irre,
ſchon einmal mitgetheilt, — daß
unſer nächſtes Daſeyn größer, im
Guten wie im Schlechten kräftiger,
wilder, kühner, ungeheurer ſeyn
wird.
Die Pflicht zu leben hatte ge-
ſiegt, und ich war wieder in dem
Gewühl des Lebens und der Men-
ſchen, ihrer und meiner ohnmächti-
gen Handlungen und fehlervollen
Werke. Da befiel mich Entſetzen,
wie wenn ein Sterblicher ſich in der
Mitte unabſehlicher Eisgebirge plötz-
lich allein fände. Alles war mir
kalt und fremd und ſelbſt die Thrä-
ne gefror.
Wunderliche Welten erſchienen
und ſchwanden mir im ängſtlichen
Traum. Ich war krank und litt
viel, aber ich liebte meine Krankheit
und hieß ſelbſt den Schmerz willkom-
men. Ich haßte alles Irdiſche und
freute mich, daß es beſtraft und zer-
rüttet würde; ich fühlte mich ſo al-
lein und ſo ſonderbar, und wie ein
zarter Geiſt oft mitten im Schooß
des Glücks über ſeine eigne Freude
wehmüthig wird, und uns grade
auf dem Gipfel des Daſeyns das
Gefühl ſeiner Nichtigkeit überfällt, ſo
ſchaute ich mit geheimer Luſt auf
meinen Schmerz. Er ward mir zum
Sinnbilde des allgemeinen Lebens,
ich glaubte die ewige Zwietracht zu
fühlen und zu ſehen, durch die alles
wird und exiſtirt, und die ſchönen
Geſtalten der ruhigen Bildung ſchie-
nen mir todt und klein gegen dieſe
ungeheure Welt von unendlicher Kraft,
und von unendlichem Kampf und
Krieg bis in die verborgenſten Tie-
fen des Daſeyns.
Durch dieſes ſonderbare Gefühl
ward die Krankheit zu einer eignen
Welt in ſich vollendet und gebildet.
Ich fühlte, ihr geheimnißreiches Le-
ben ſey voller und tiefer als die ge-
meine Geſundheit der eigentlich träu-
men-
menden Nachtwandler um mich her.
Und mit der Kränklichkeit, die mir
gar nicht unangenehm war, blieb
mir auch dieſes Gefühl und ſonderte
mich völlig ab von den Menſchen,
wie mich von der Erde der Gedan-
ke trennte, dein Weſen und meine
Liebe ſey zu heilig geweſen, um nicht
ihr und ihren groben Banden flüch-
tig zu enteilen. Es ſey alles gut
ſo und dein nothwendiger Tod nichts
als ein ſanftes Erwachen nach lei-
ſem Schlummer.
Auch ich glaubte zu wachen,
wenn ich dein Bild anſchaute, das
ſich immer mehr zu einer heitern
Reinheit und Allgemeinheit verklär-
te. Ernſt und doch liebreizend, ganz
Du und doch nicht mehr Du, die
Lucinde I. R
göttliche Geſtalt umſchienen von
wunderbarem Glanz. Bald war es
wie der furchtbare Lichtſtrahl der
ſichtbaren Allmacht und bald ein
freundlicher Schimmer goldener Kind-
heit. Mit langen ſtillen Zügen ſog
mein Geiſt aus der Quelle der küh-
len reinen Gluth, ſich heimlich berau-
ſchend und in dieſer ſeeligen Trun-
kenheit fühlte ich eine geiſtliche Wür-
de eigner Art, weil mir in der That
jede weltliche Geſinnung ganz frem-
de war und mich niemals das Ge-
fühl verließ, daß ich dem Tode ge-
weiht ſey.
Langſam floſſen die Jahre und
mühevoll trat eine That nach der
andern, ein Werk und dann wieder
eines an ſein Ziel, das ſo wenig
das meinige war als ich jene Tha-
ten und Werke für das was ſie hei-
ßen nahm. Es waren mir nur hei-
lige Sinnbilder, alles Beziehungen
auf die eine Geliebte, die die Mitt-
lerin war zwiſchen meinem zerſtück-
ten Ich und der untheilbaren ewi-
gen Menſchheit; das ganze Daſeyn
ein ſteter Gottesdienſt einſamer Liebe.
Endlich nahm ich wahr, das ſey
nun das lezte. Die Stirn war nicht
mehr glatt und die Locken wurden
bleich. Meine Laufbahn war geen-
digt aber nicht vollendet. Die beſte
Kraft des Lebens war dahin und
noch ſtand die Kunſt und die Tu-
gend ewig unerreichbar vor mir.
Ich wäre verzweifelt, hätte ich nicht
beyde in Dir geſehn und vergöttert,
R 2
holdſelige Madonna! und Dich und
Deine milde Göttlichkeit in mir.
Da erſchienſt Du mir bedeutend
und winkteſt tödtlich. Schon ergriff
mich ein herzliches Verlangen nach
Dir und nach der Freyheit; ich ſehn-
te mich nach dem geliebten alten Va-
terlande und wollte eben den Staub
der Reiſe von mir ſchütteln, als ich
wieder ins Leben gerufen ward durch
das Verheißen und die Gewißheit
Deiner Geneſung.
Nun ward ich meines wachen
Traums inne, erſchrack über alle die
bedeutenden Beziehungen und Ähn-
lichkeiten und ſtand ängſtlich an dem
unſichtbaren Abgrund dieſer innern
Wahrheit.
Weißt Du was mir am meiſten
klar dadurch geworden iſt? — Zuerſt,
daß ich Dich vergöttre, und daß es
gut iſt, daß ich ſo thue. Wir bey-
de ſind eins und nur dadurch wird
der Menſch zu einem und ganz er
ſelbſt wenn er ſich auch als Mittel-
punkt des Ganzen und Geiſt der
Welt anſchaut und dichtet. Doch
warum Dichtet, da wir den Keim
zu allem in uns finden und doch
ewig nur ein Stück von uns ſelbſt
bleiben?
Und dann weiß ichs nun, daß
der Tod ſich auch ſchön und ſüß
fühlen läßt. Ich begreife, wie das
freye Gebildete ſich in der Blüthe
aller Kräfte nach ſeiner Auflöſung
und Freyheit mit ſtiller Liebe ſehnen
und den Gedanken der Rükkehr freu-
dig anſchauen kann wie eine Mor-
genſonne der Hoffnung.
Eine Reflexion.
Es iſt meinem Gemüth nicht ſel-
ten ſonderbar aufgefallen, wie ver-
ſtändige und würdige Menſchen mit
nie ermüdender Induſtrie und mit
ſo großem Ernſt das kleine Spiel
in ewigem Kreislauf immer von
neuem wiederholen können, welches
doch offenbar weder Nutzen bringt
noch ſich einem Ziele nähert, obgleich
es das frühſte aller Spiele ſeyn
mag.
Dann fragte mein Geiſt, was
wohl die Natur, die überall ſo viel
denkt, die Liſt im Großen treibt und
ſtatt witzig zu reden, gleich witzig
handelt, bey jenen naiven Andeu-
tungen denken mag, welche gebilde-
te Redner nur durch ihre Namenlo-
ſigkeit benennen.
Und dieſe Namenloſigkeit ſelbſt
iſt von zweydeutiger Bedeutung. Je
verſchämter und je moderner man
iſt, je mehr wird es Mode ſie aufs
Schamloſe zu deuten. Für die al-
ten Götter hingegen hat alles Le-
ben eine gewiſſe claſſiſche Würde
und ſo auch die unverſchämte Hel-
denkunſt lebendig zu machen. Die
Menge ſolcher Werke und die Grö-
ße der Erfindungskraft in ihr be-
ſtimmt Rang und Adel im Reiche
der Mythologie.
Dieſe Zahl und dieſe Kraft ſind
gut, aber ſie ſind nicht das Höchſte.
Wo ſchlummert alſo das erſehnte
Ideal verborgen? Oder findet das
ſtrebende Herz in der höchſten aller
darſtellenden Künſte ewig nur andre
Manieren und nie einen vollendetem
Styl?
Das Denken hat die Eigenheit,
daß es nächſt ſich ſelbſt am liebſten
über das denkt, worüber es ohne
Ende denken kann. Darum iſt das
Leben des gebildeten und ſinnigen
Menſchen ein ſtetes Bilden und Sin-
nen über das ſchöne Räthſel ſeiner
Beſtimmung. Er beſtimmt ſie im-
mer neu, denn eben das iſt ſeine
ganze Beſtimmung, beſtimmt zu wer-
den und zu beſtimmen. Nur in ſei-
nem Suchen ſelbſt findet der Geiſt
des Menſchen das Geheimniß wel-
ches er ſucht.
Was iſt denn aber das Beſtimmen-
de oder das Beſtimmte ſelbſt? In
der Männlichkeit iſt es das Namen-
loſe. Und was iſt das Namenloſe
in der Weiblichkeit? — das Unbe-
ſtimmte.
Das Unbeſtimmte iſt geheimniß-
reicher, aber das Beſtimmte hat
mehr Zauberkraft. Die reizende Ver-
wirrung des Unbeſtimmten iſt ro-
mantiſcher, aber die erhabene Bil-
dung des Beſtimmten iſt genialiſcher.
Die Schönheit des Unbeſtimmten iſt
vergänglich wie das Leben der Blu-
men und wie die ewige Jugend
ſterblicher Gefühle; die Energie des
Beſtimmten iſt vorübergehend wie
das ächte Ungewitter und die ächte
Begeiſterung.
Wer kann meſſen und wer kann
vergleichen was eines wie das an-
dre unendlichen Werth hat, wenn
beydes verbunden iſt in der wirkli-
chen Beſtimmung, die beſtimmt iſt,
alle Lücken zu ergänzen und Mittle-
rin zu ſeyn zwiſchen dem männli-
chen und weiblichen Einzelnen und
der unendlichen Menſchheit?
Das Beſtimmte und das Unbe-
ſtimmte und die ganze Fülle ihrer
beſtimmten und unbeſtimmten Bezie-
hungen; das iſt das Eine und Gan-
ze, das iſt das wunderlichſte und
doch das einfachſte, das einfachſte
und doch das höchſte. Das Univer-
ſum ſelbſt iſt nur ein Spielwerk des
Beſtimmten und des Unbeſtimmten
und das wirkliche Beſtimmen des
Beſtimmbaren iſt eine allegoriſche
Miniatur auf das Leben und We-
ben der ewig ſtrömenden Schöp-
fung.
Mit ewig unwandelbarer Symme-
trie ſtreben beyde auf entgegenge-
ſetzten Wegen ſich dem Unendlichen
zu nähern und ihm zu entfliehen. Mit
leiſen aber ſichern Fortſchritten er-
weitert das Unbeſtimmte ſeinen an-
gebohrnen Wunſch aus der ſchönen
Mitte der Endlichkeit ins Gränzen-
loſe. Das vollendete Beſtimmte hin-
gegen wirft ſich durch einen kühnen
Sprung aus dem ſeeligen Traum
des unendlichen Wollens in die
Schranken der endlichen That und
nimmt ſich ſelbſt verfeinernd immer
zu an großmüthiger Selbſtbeſchrän-
kung und ſchöner Genügſamkeit.
Auch in dieſer Symmetrie offen-
bart ſich der unglaubliche Humor,
mit dem die conſequente Natur ih-
re allgemeinſte und einfachſte Anti-
theſe durchführt. Selbſt in der zier-
lichſten und künſtlichſten Organiſa-
zion zeigen ſich dieſe komiſche Spi-
tzen des großen Ganzen mit ſchalk-
hafter Bedeutſamkeit wie ein ver-
kleinertes Portrait und geben aller In-
dividualität, die allein durch ſie und
den Ernſt ihrer Spiele entſtehet und
beſtehet, die letzte Rundung und
Vollendung.
Durch dieſe Individualität und
jene Allegorie blüht das bunte Ideal
witziger Sinnlichkeit hervor aus dem
Streben nach dem Unbedingten.
Nun iſt alles klar! Daher die
Allgegenwart der namenloſen unbe-
kannten Gottheit. Die Natur ſelbſt
will den ewigen Kreislauf immer
neuer Verſuche; und ſie will auch,
daß jeder einzelne in ſich vollendet
einzig und neu ſey, ein treues Ab-
bild der höchſten untheilbaren Indi-
vidualität.
Sich vertiefend in dieſe Indivi-
dualität nahm die Reflexion eine ſo
individuelle Richtung, daß ſie bald
anfing aufzuhören und ſich ſelbſt zu
vergeſſen.
»Was ſollen wir dieſe Anſpielun-
gen die mit unverſtändlichem Ver-
ſtand nicht an der Gränze ſondern
bis in die Mitte der Sinnlichkeit
nicht ſpielen ſondern widerſinnig ſtrei-
ten?«
So wirſt Du und würde Julia-
ne zwar nicht ſagen aber doch ge-
wiß fragen.
Liebe Geliebte! darf der volle
Blumenſtrauß nur ſittſame Roſen,
ſtille Vergißmeinnicht und beſcheidne
Veilchen zeigen, und was ſonſt
mädchenhaft und kindlich blüht, oder
auch alles andre was in bunter
Glorie ſonderbar ſtrahlt?
Die männliche Ungeſchicklichkeit
iſt ein mannigfaltiges Weſen und
reich an Blüthen und Früchten jeder
Art. Gönne ſelbſt der wunderlichen
Pflanze, die ich nicht nennen will,
ihre Stelle. Sie dient wenigſtens
zur Folie für die hellbrennende Gra-
nate und die lichten Orangen. Oder
ſoll es etwa ſtatt dieſer bunten Fülle
nur eine vollkommne Blume geben,
welche alle Schönheiten der übrigen
vereint und ihr Daſeyn überflüſſig
macht?
Ich entſchuldige nicht, was ich
lieber ſogleich noch einmal thun will,
mit vollem Zutrauen auf Deinen ob-
jektiven Sinn für die Kunſtwreke
der Ungeſchicklichkeit, welche den
Stoff zu dem was ſie bilden will
oft nicht ungern von der männlichen
Begeiſterung entlehnt.
Es iſt ein zärtliches Furioſo und
ein kluges Adagio der Freundſchaft:
Du wirſt verſchiednes daraus lernen
können: daß Männer mit ungemei-
ner Delicateſſe zu haſſen verſtehn,
wie ihr zu lieben; daß ſie dann ei-
nen Zank, wenn er vollendet iſt, in
eine Diſtinction umbilden, und daß
Du ſo viele Anmerkungen darüber
machen darfſt als Dir gefällig iſt.
Julius an Antonio.
I.
Du haſt Dich ſehr verändert
ſeit einiger Zeit! Sieh Dich vor
Freund, daß der Sinn für das Gro-
ße Dir nicht abhanden kommt, ehe
Du es gewahr wirſt. Was ſoll das
geben? Du wirſt endlich ſo viel Zart-
heit und Feinheit anſetzen, daß Herz
und
und Gefühl drauf geht. Wo bleibt
da die Männlichkeit und handelnde
Kraft? — Ich werde noch dahin
kommen, Dir zu thun wie Du mir
thuſt, ſeit wir nicht mehr mit ein-
ander ſondern neben einander leben.
Ich werde dir Gränzen ſetzen müſ-
ſen und ſagen, wenn er auch Sinn
für alles hat, was ſonſt ſchön iſt,
ſo fehlt ihm doch der eine für die
Freundſchaft. Doch werde ich den
Freund und ſein Thun und Laſſen
nie moraliſch kritiſiren; wer das
kann, der verdient nicht das hohe
ſeltne Glück einen zu haben.
Daß Du Dich zuerſt an Dir
ſelbſt vergreifſt, macht die Sache
nur ſchlimmer. Sage mir im Ernſt,
ſuchſt Du die Tugend in dieſen küh-
Lucinde I. S
len Spitzfindigkeiten des Gefühls,
in dieſen Kunſtübungen des Ge-
müths, die den Menſchen aushöhlen
und am vollen Mark ſeines Lebens
zehren?
Schon lange war ich ergeben
und ſtill. Ich zweifelte gar nicht,
daß Du, da Du ſo vieles weißt,
auch wohl die Urſachen wiſſen wür-
deſt durch die unſre Freundſchaft un-
tergegangen iſt. Faſt ſcheint es ich
habe mich geirrt, da Du ſo erſtau-
nen konnteſt, daß ich mich ganz an
Eduard anſchließen will, da Du
gleichſam nicht begreifend zu fragen
ſchienſt, wodurch Du mich denn be-
leidigt hätteſt. Wenn es nur das
wäre, nur etwas einzelnes, dann
wäre es den Mislaut einer ſolchen
Frage nicht werth, dann würde ſichs
von ſelbſt beantworten und ausglei-
chen. Iſt es aber nicht mehr wenn
ich bey jeder Veranlaßung es immer
wieder als Entweihung fühlen muß,
daß ich Dir alles von Eduard wie
es vorfiel, mittheilte? Gethan haſt
Du freilich nichts gegen ihn, auch
nicht laut geſagt: aber ich weiß und
ſehe recht gut wie Du denkſt. Und
wenn ich es nicht wüßte und ſähe,
was wäre denn die unſichtbare Ge-
meinſchaft unſrer Geiſter und die
ſchöne Magie dieſer Gemeinſchaft? —
Es kann Dir gewiß nicht einfallen,
Dich hier noch länger zurückziehen
und durch bloße Feinheit das Mis-
verſtändniß in Nichts auflöſen zu
S 2
wollen: denn ſonſt hätte auch ich
wirklich nichts weiter zu ſagen.
Unſtreitig ſeyd ihr durch eine
ewige Kluft geſchieden. Die ruhige
klare Tiefe Deines Weſens, und der
heiße Kampf ſeines raſtloſen Lebens
liegen an den entgegengeſetzten En-
den des menſchlichen Daſeyns. Er
iſt ganz Handlung, Du biſt eine füh-
lende und beſchauende Natur. Dar-
um ſollteſt Du eben Sinn für alles
haben und haſt ihn auch, wo Du
Dich nicht ſelbſt abſichtlich verſchlie-
ßeſt. Und das verdrüßt mich ei-
gentlich. Möchteſt Du den Herrli-
chen lieber haſſen als verkennen! —
Aber wohin ſoll es führen, wenn
man ſich unnatürlich gewöhnt, das
wenige Große und Schöne was noch
etwa da iſt, ſo gemein zu nehmen,
als es der Scharfſinn nur immer
nehmen kann, ohne die Anſprüche
auf den Sinn aufzugeben? — Was
man überall ſehn will, muß man
endlich ſelbſt werden.
Iſt das die gerühmte Vielſeitig-
keit? — Freilich beobachteſt Du da-
bey den Grundſatz der Gleichheit,
und einem gehts nicht viel beſſer wie
dem andern; nur daß jeder auf ei-
ne eigne Art verkannt wird. Haſt
Du nicht auch mein Gefühl gezwun-
gen über das was ihm das heilig-
ſte iſt ewig zu ſchweigen gegen Dich
wie gegen jeden andern? Und das
darum, weil Du Dein Urtheil nicht
ſchweigen laſſen konnteſt bis es Zeit
war, und weil Dein Verſtand über-
all Gränzen erdichtet, ehe er ſeine
eigenen finden kann. Du haſt mich
beynah in den Fall gebracht, Dir
auseinanderſetzen zu müſſen, wie
groß eigentlich mein Werth ſey, wie
viel richtiger und ſichrer Du gegan-
gen ſeyn würdeſt, wenn Du dann
und wann nicht geurtheilt ſondern
geglaubt, wenn Du hie und da in
mir ein unbekanntes Unendliches vor-
ausgeſetzt hätteſt.
Freilich iſt meine eigne Nachlä-
ßigkeit an allem Schuld. Vielleicht
wars auch Eigenſinn, daß ich die
ganze Gegenwart mit Dir theilen
wollte, und Dich über Vergangen-
heit und Zukunft doch nicht belehr-
te. Ich weiß nicht, es widerſtand
meinem Gefühl, auch hielt ichs für
überflüßig, denn ich traute Dir in
der That unendlich viel Verſtand zu.
O Antonio, wenn ich an ewigen
Wahrheiten zweifeln könnte, ſo hät-
teſt Du mich dahin gebracht, jene
ſtille ſchöne Freundſchaft, die auf der
bloßen Harmonie des Seyns und
Zuſammenſeyns beruht, für etwas fal-
ſches und verkehrtes zu halten!
Iſt es nun noch unbegreiflich
wenn ich mich ganz auf die andre
Seite werfe? — Ich entſage dem
zarten Genuß und ſtürze mich in
den wilden Kampf des Lebens. Ich
eile zu Eduard. Alles iſt verabre-
det. Wir wollen nicht bloß zuſam-
men leben, ſondern im brüderlichen
Bunde vereint wirken und handeln.
Er iſt rauh und herbe, ſeine Tugend
iſt mehr kräftig als empfindſam:
aber er hat ein männliches großes
Herz, und in jedem beſſern Zeitalter
wäre er, das ſage ich kühn, ein
Held geweſen.
II.
Es iſt wohl ſchön, daß wir end-
lich einmal wieder mit einander ge-
ſprochen haben; ich bin es auch zu-
frieden, daß Du durchaus nicht ſchrei-
ben wollteſt, und auf die armen un-
ſchuldigen Buchſtaben ſchiltſt, weil
Du wirklich zum Sprechen mehr Ge-
nie haſt. Aber ich habe doch noch
eins und das andre auf dem Her-
zen, was ich nicht ſagen konnte und
was ich verſuchen will, Dir brieflich
anzudeuten.
Warum aber auf dieſem We-
ge? — O mein Freund, wenn ich
nur noch ein feineres gebildeteres
Element der Mittheilung wüßte, um
das was ich möchte, in zarter Hülle
leiſe aus der Ferne zu ſagen! Das
Geſpräch iſt mir zu laut und zu
nah und auch zu einzeln. Dieſe
einzelnen Worte geben immer wieder
nur eine Seite, ein Stück von dem
Zuſammenhange, von dem Ganzen,
das ich in ſeiner vollen Harmonie
andeuten möchte.
Und können Männer die zuſam-
men leben wollen, zu zart gegen
einander in ihrem Umgange ſeyn? —
Es iſt nicht als ob ich befürchtete,
etwas zu heftiges zu ſagen, und
daß ich darum gewiſſe Perſonen und
gewiſſe Gegenſtände in unſerm Ge-
ſpräch vermied. Darüber denke ich
iſt ja wohl die Gränzſcheidung zwi-
ſchen uns auf immer vernichtet!
Was ich Dir noch ſagen wollte,
iſt etwas ganz Allgemeines; und
doch wähle ich lieber dieſen Um-
weg. Ich weiß nicht ob es eine
falſche oder eine wahre Delicateſſe
iſt, aber es würde mir ſchwer fallen,
viel von der Freundſchaft mit Dir
zu reden von Angeſicht zu Angeſicht.
Und doch ſinds Gedanken über
dieſe, die ich Dir ſagen muß. Die
Anwendung — und auf die kommt
es am meiſten an — wirſt Du leicht
ſelbſt machen können.
Für mein Gefühl giebts zwey
Arten von Freundſchaft.
Die erſte iſt ganz äußerlich. Un-
erſättlich eilt ſie von That zu That
und nimmt jeden würdigen Mann
auf in den großen Bund vereinter
Helden, ſchlingt den alten Knoten
durch jede Tugend feſter, und trach-
tet ſtets neue Brüder zu gewinnen;
je mehr ſie hat, je mehr begehrt ſie.
Erinnre Dich an die Vorwelt
und Du wirſt dieſe Freundſchaft, die
den redlichen Krieg gegen alles Bö-
ſe, wenn es auch in uns oder im
Geliebten wäre, kämpft, überall fin-
den, wo die edle Kraft in großen
Maſſen wirkt und Welten bildet oder
beherrſcht.
Jetzt ſind andre Zeiten, aber das
Ideal dieſer Freundſchaft wird in
mir ſeyn, ſo lange wie ich ſelbſt ſeyn
werde.
Die andre Freundſchaft iſt ganz
innerlich. Eine wunderbare Symme-
trie des Eigenthümlichſten, als wenn
es vorher beſtimmt wäre, daß man
ſich überall ergänzen ſollte. Alle
Gedanken und Gefühle werden ge-
ſellig durch die gegenſeitige Anre-
gung und Ausbildung des Heilig-
ſten. Und dieſe reingeiſtige Liebe,
dieſe ſchöne Myſtik des Umgangs
ſchwebt nicht bloß als fernes Ziel
vor einem vielleicht vergeblichem
Streben. Nein, ſie iſt nur vollendet
zu finden. Auch hat da keine Täu-
ſchung Statt, wie bey jener andern
heroiſchen. Ob die Tugend eines
Mannes Stich hält, muß die That
lehren. Aber wer ſelbſt in ſeinem
Innern die Menſchheit und die Welt
fühlt und ſieht, der wird nicht leicht
allgemeinen Sinn und allgemeinen
Geiſt da ſuchen können wo er nicht
iſt.
Zu dieſer Freundſchaft iſt nur
fähig, wer in ſich ganz ruhig wur-
de und in Demuth die Göttlichkeit
des andern zu ehren weiß.
Haben die Götter einem Men-
ſchen eine ſolche Freundſchaft ge-
ſchenkt, ſo kann er weiter nichts,
als ſie mit Sorge vor allem was
äußerlich iſt bewahren und das hei-
lige Weſen ſchonen. Denn vergäng-
lich iſt die zarte Blüthe.
Sehnſucht und Ruhe.
Leicht bekleidet ſtanden Lucinde
und Julius am Fenſter im Pavillon,
erfriſchten ſich an der kühlen Mor-
genluft und waren verloren im An-
ſchaun der aufſteigenden Sonne, die
von allen Vögeln mit munterem Ge-
ſang begrüßt ward.
Julius, fragte Lucinde, warum
fühle ich in ſo heitrer Ruhe die tiefe
Sehnſucht? — Nur in der Sehn-
ſucht finden wir die Ruhe, antworte-
te Julius. Ja die Ruhe iſt nur das,
wenn unſer Geiſt durch nichts ge-
ſtört wird, ſich zu ſehnen und zu
ſuchen, wo er nichts höheres finden
kann als die eigne Sehnſucht.
Nur in der Ruhe der Nacht,
ſagte Lucinde, glüht und glänzt die
Sehnſucht und die Liebe hell und
voll wie dieſe herrliche Sonne. —
Und am Tage, erwiederte Julius,
ſchimmert das Glück der Liebe blaß,
ſo wie der Mond nur ſparſam leuch-
tet. — Oder es erſcheint und ſchwin-
det plötzlich ins allgemeine Dunkel,
fügte Lucinde an, wie jene Blitze,
die uns das Gemach erhellten, da
der Mond verhüllt war.
Nur in der Nacht ſingt Klagen,
ſprach Julius, die kleine Nachtigall
und tiefe Seufzer. Nur in der Nacht
eröffnet ſich die Blume ſchüchtern
und athmet frey den ſchönſten Duft,
um Geiſt und Sinne in gleicher
Wonne zu berauſchen. Nur in der
Nacht, Lucinde, ſtrömet tiefe Liebes-
gluth und kühne Rede göttlich von
den Lippen, die im Geräuſch der Ta-
ge ihr ſüßes Heiligthum mit zartem
Stolz verſchließen.
Lucinde.
Nicht ich, mein Julius, bin die
die Du ſo heilig mahlſt; obſchon
ich klagen möchte wie die Nachtigall
und, wie ich innig fühle, nur der
Nacht geweiht bin. Du biſts, es iſt
die Wunderblume Deiner Fantaſie,
die Du in mir, die ewig Dein iſt,
dann erblickſt, wenn das Gewühl
verhüllt iſt und nichts gemeines Dei-
nen hohen Geiſt zerſtreut.
Julius.
Laß die Beſcheidenheit und ſchmei-
chle nicht. Gedenke, Du biſt die
Prie-
Prieſterin der Nacht. Im Strahl
der Sonne ſelbſt verkündigts der
dunkle Glanz der vollen Locken, der
ernſten Augen lichtes Schwarz, der
hohe Wuchs, die Majeſtät der Stirn
und aller edlen Glieder.
Lucinde.
Die Augen ſinken, indem Du
rühmſt, weil jetzt der laute Morgen
blendet, und luſtger Vögel buntes
Lied die Seele ſtört und ſchreckt.
Sonſt möchte wohl das Ohr in ſtil-
ler dunkler Abendkühle des ſüßen
Freundes ſüße Rede gierig trinken.
Julius.
Es iſt nicht eitle Fantaſie. Un-
endlich iſt nach dir und ewig uner-
reicht mein Sehnen.
Lucinde I. T
Lucinde.
Seys was es ſey, Du biſt der
Punkt in dem mein Weſen Ruhe fin-
det.
Julius.
Die heilige Ruhe fand ich nur in
jenem Sehnen, Freundin.
Lucinde.
Und ich in dieſer ſchönen Ruhe
jene heilge Sehnſucht.
Julius.
Ach, daß das harte Licht den
Schleyer heben darf, der dieſe Flam-
men ſo verhüllte, daß der Sinne
Scherz die heiße Seele kühlend lin-
dern mochte!
Lucinde.
So wird einſt ewig kalter ern-
ſter Tag des Lebens warme Nacht
zerreißen, wenn Jugend flieht und
wenn ich Dir entſage wie Du der
großen Liebe größer einſt entſagteſt.
Julius.
Daß ich doch Dir die unbekann-
te Freundinn zeigen dürfte und ihr
das Wunder meines wunderbaren
Glücks.
Lucinde.
Du liebſt ſie noch und wirſt ſie
ewig mein auch ewig lieben. Das
iſt das große Wunder Deines wun-
derbaren Herzens.
Julius.
Nicht wunderbarer als das Dei-
ne. Ich ſehe Dich an meine Bruſt
gelehnt mit Deines Guido Locke ſpie-
len; uns beyde brüderlich vereint
T 2
die würdge Stirn mit ewgen Freu-
dekränzen zieren.
Lucinde.
Laß ruhn in Nacht, reiß nicht
ans Licht, was in des Herzens ſtiller
Tiefe heilig blüht.
Julius.
Wo mag des Lebens Woge
mit dem Wilden ſcherzen, den zart
Gefühl und wildes Schickſal heftig
fortriß in die herbe Welt?
Lucinde.
Verklärt und einzig glänzt der
hohen Unbekannten reines Bild am
blauen Himmel Deiner reinen Seele.
Julius.
O ewge Sehnſucht! — Doch
endlich wird des Tages fruchtlos
Sehnen, eitles Blenden ſinken und
erlöſchen, und eine große Liebesnacht
ſich ewig ruhig fühlen.
Lucinde.
So fühlt ſich, wenn ich ſeyn
darf wie ich bin, das weibliche Ge-
müth in liebeswarmer Bruſt. Es
ſehnt ſich nur nach Deinem Sehnen,
iſt ruhig wo Du Ruhe findeſt.
Tändeleyen der Fantaſie.
Durch die ſchweren lauten An-
ſtalten zum Leben wird das zarte
Götterkind Leben ſelbſt verdrängt und
jämmerlich erſtickt in der Umarmung
der nach Affenart liebenden Sorge.
Abſichten haben, nach Abſichten
handeln, und Abſichten mit Abſichten
zu neuer Abſicht künſtlich verweben;
dieſe Unart iſt ſo tief in die närri-
ſche Natur des gottähnlichen Men-
ſchen eingewurzelt, daß er ſichs nun
ordentlich vorſetzen und zur Abſicht
machen muß, wenn er ſich einmal
ohne alle Abſicht, auf dem innern
Strom ewig fließender Bilder nudund
Gefühle frey bewegen will.
Es iſt der Gipfel des Verſtandes
aus eigner Wahl zu ſchweigen, die
Seele der Fantaſie wiederzugeben
und die ſüßen Tändeleyen der jun-
gen Mutter mit ihrem Schooßkinde
nicht zu ſtören.
Aber ſo verſtändig iſt der Ver-
ſtand nach dem goldnen Zeitalter ſei-
ner Unſchuld nur ſehr ſelten. Er
will die Seele allein beſitzen; auch
wenn ſie wähnt allein zu ſeyn mit
ihrer angebohrnen Liebe, lauſcht er
im Verborgnen und ſchiebt an die
Stelle der heiligen Kinderſpiele nur
Erinnerung an ehemalige Zwecke
oder Ausſichten auf künftige. Ja
er weiß den hohlen kalten Täuſchun-
gen einen Anſtrich von Farbe und
eine flüchtige Hitze zu geben und
will durch ſeine nachahmende Kunſt
der argloſen Fantaſie ihr eigenſtes
Weſen rauben.
Aber die jugendliche Seele läßt
ſich durch die Argliſt des Altklugen
nicht bethören, und immer ſieht ſie
den Liebling ſpielen mit den ſchönen
Bildern der ſchönen Welt. Willig
läßt ſie ihre Stirn umflechten von
den Kränzen, die das Kind aus den
Blüthen des Lebens flicht, und wil-
lig läßt ſie ſich in wachen Schlum-
mer ſinken, Muſik der Liebe träu-
mend, und geheimnißvoll freundliche
Götterſtimmen vernehmend, wie die
einzelnen Laute einer fernen Ro-
manze.
Alte wohlbekannte Gefühle tö-
nen aus der Tiefe der Vergangen-
heit und Zukunft. Leiſe nur berüh-
ren ſie den lauſchenden Geiſt und
ſchnell verlieren ſie ſich wieder in
den Hintergrund verſtummter Muſik
und dunkler Liebe. Alles liebt und
lebt, klaget und freut ſich in ſchöner
Verwirrung. Hier öffnen ſich am
rauſchenden Feſt die Lippen aller
Fröhlichen zu allgemeinem Geſange;
und hier verſtummt das einſame
Mädchen vor dem Freunde, dem ſie
ſich vertrauen möchte und verſagt
den Kuß mit lächelndem Munde.
Gedankenvoll ſtreue ich Blumen auf
das Grab des zu früh entſchlafnen
Sohnes, die ich bald voll Freude und
voll Hoffnung der Braut des ge-
liebten Bruders darreiche, während
die hohe Prieſterin mir winkt und
mir die Hand reicht zu ernſtem Bun-
de, bey dem ewig reinen Feuer ewi-
ge Reinheit und ewige Begeiſterung
zu geloben. Ich enteile dem Altar
und der Prieſterin um das Schwerdt
zu ergreifen und mit der Schaar
der Helden in den Kampf zu ſtürzen,
den ich bald vergeſſe, wo ich in tief-
ſter Einſamkeit nur den Himmel und
mich beſchaue.
Welche Seele ſolche Träume
ſchlummert, die träumt ſie ewig fort,
auch wenn ſie erwacht iſt. Sie fühlt
ſich umſchlungen von den Blüthen
der Liebe, ſie hütet ſich wohl die lo-
ſen Kränze zu zerreißen, ſie giebt ſich
gern gefangen und weiht ſich ſelbſt
der Fantaſie und läßt ſich gern be-
herrſchen von dem Kinde, das alle
Mutterſorgen durch ſeine ſüßen Tän-
deleyen lohnt.
Dann zieht ſich ein friſcher Hauch
von Jugendblüthe über das ganze
Daſeyn und ein Heiligenſchein von
kindlicher Wonne. Der Mann ver-
göttert die Geliebte, die Mutter das
Kind und alle den ewigen Men-
ſchen.
Nun verſteht die Seele die Kla-
ge der Nachtigall und das Lächeln
des Neugebohrnen, und was auf
Blumen wie an Sternen ſich in ge-
heimer Bilderſchrift bedeutſam offen-
bart, verſteht ſie; den heiligen Sinn
des Lebens wie die ſchöne Sprache
der Natur. Alle Dinge reden zu
ihr und überall ſieht ſie den liebli-
chen Geiſt durch die zarte Hülle.
Auf dieſem feſtlich geſchmückten
Boden wandelt ſie den leichten Tanz
des Lebens, ſchuldlos und nur be-
ſorgt dem Rhythmus der Geſellig-
keit und Freundſchaft zu folgen und
keine Harmonie der Liebe zu ſtören.
Dazwiſchen ewger Geſang, von
dem ſie nur dann und wann ein-
zelne Worte vernimmt, welche noch
höhere Wunder verrathen laſſen.
Immer ſchöner umgiebt ſie die-
ſer Zauberkreis. Sie kann ihn nie
verlaſſen und was ſie bildet oder
ſpricht, lautet wie eine wunderbare
Romanze von den ſchönen Geheim-
niſſen der kindlichen Götterwelt, be-
gleitet von einer bezaubernden Mu-
ſik der Gefühle und geſchmückt mit
den bedeutendſten Blüthen des liebli-
chen Lebens.