Vorleſungen
über
die Methode
des academiſchen Studium.
Von
F. W. J. Schelling,
Dr. der Philoſophie und Medicin
und Profeſſor zu Jena.
Tuͤbingen,
in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung
1803.
Dieſe Vorleſungen ſind im Sommer 1802.
auf der Univerſitaͤt zu Jena gehalten.
Ihre Wirkung auf eine betraͤchtliche An¬
zahl von Zuhoͤrern: die Hoffnung, daß
manche Ideen derſelben, außer andern
Folgen, auch fuͤr die naͤchſten oder doch
zukuͤnftigen Beſtimmungen der Academieen
von einigem Gewicht ſeyn koͤnnten: der
Gedanke, daß, wenn ſie ihrem Zwecke
nach keine neuen Enthuͤllungen uͤber die
Principien erwarten laſſen, doch die dem
allgemeinfaßlichen Vortrag genaͤhertere Dar¬
ſtellung der letzteren, ſo wie die aus ih¬
nen hervorgehende Anſicht des Ganzen der
Wiſſenſchaften, nicht ohne allgemeineres
Intereſſe ſeyn wuͤrde: ſchienen dem Ver¬
faſſer hinreichende Beſtimmungsgruͤnde zur
oͤffentlichen Bekanntmachung derſelben.
Erſte Vorleſung.
Ueber den abſoluten Begriff der
Wiſſenſchaft.
1
Die beſondern Gruͤnde kurz anzugeben, die
mich beſtimmen, dieſe Vorleſungen zu halten,
moͤchte nicht uͤberfluͤſſig ſeyn; uͤberfluͤſſiger waͤre
es ohne Zweifel, ſich bey dem allgemeinen Be¬
weis lange zu verweilen, daß Vorleſungen uͤber
die Methode des akademiſchen Studium fuͤr
den ſtudierenden Juͤngling nicht allein nuͤtzlich,
ſondern nothwendig, fuͤr die Belebung und die
beſſere Richtung der Wiſſenſchaft ſelbſt erſprie߬
lich ſind.
Der Juͤngling, wenn er mit dem Beginn
der akademiſchen Laufbahn zuerſt in die Welt
der Wiſſenſchaften eintritt, kann, jemehr er
ſelbſt Sinn und Trieb fuͤr das Ganze hat, de¬
ſto weniger einen andern Eindruck davon erhal¬
ten, als den eines Chaos, in dem er noch nichts
unterſcheidet, oder eines weiten Oceans, auf
den er ſich ohne Compaß und Leitſtern verſetzt
1 *
ſteht. Die Ausnahmen der Wenigen, welchen
fruͤhzeitig ein ſicheres Licht den Weg bezeichnet,
der ſie zu ihrem Ziele fuͤhret, koͤnnen hier nicht
in Betracht kommen. Die gewoͤhnliche Folge
jenes Zuſtandes iſt: bey beſſer organiſirten Koͤp¬
fen, daß ſie ſich regel- und ordnungslos allen
moͤglichen Studien hingeben, nach allen Rich¬
tungen ſchweifen, ohne in irgend einer bis zu
dem Kern vorzudringen, welcher der Anſatz ei¬
ner allſeitigen und unendlichen Bildung iſt,
oder ihren fruchtloſen Verſuchen im beſten Fall
etwas anders als, am Ende der akademiſchen
Laufbahn, die Einſicht zu verdanken, wie vie¬
les ſie umſonſt gethan und wie vieles We¬
ſentliche vernachlaͤſſigt; bey andern, die von
minder gutem Stoffe gebildet ſind, daß ſie
gleich anfangs die Reſignation uͤben, alsbald
ſich der Gemeinheit ergeben und hoͤchſtens durch
mechaniſchen Fleiß und bloßes Auffaſſen mit
dem Gedaͤchtniſſe ſo viel von ihrem beſondern
Fach ſich anzueignen ſuchen, als ſie glauben,
daß zu ihrer kuͤnftigen aͤußeren Exiſtenz noth¬
wendig ſey.
Die Verlegenheit, in der ſich der Beſſere
in Anſehung der Wahl ſowohl der Gegen¬
ſtaͤnde, als der Art ſeines Studierens befindet,
macht, daß er ſein Vertrauen nicht ſelten Un¬
wuͤrdigen zuwendet, die ihn mit der Niedrigkeit
ihrer eigenen Vorſtellungen von den Wiſſen¬
ſchaften oder ihrem Haß dagegen erfuͤllen.
Es iſt alſo nothwendig, daß auf Univer¬
ſitaͤten oͤffentlicher allgemeiner Unterricht uͤber
den Zweck, die Art, das Ganze und die be¬
ſondern Gegenſtaͤnde des akademiſchen Studium
ertheilt werde.
Eine andere Ruͤckſicht kommt noch in Be¬
tracht. Auch in der Wiſſenſchaft und Kunſt
hat das Beſondere nur Werth, ſofern es das
Allgemeine und Abſolute in ſich empfaͤngt. Es
geſchieht aber, wie die meiſten Beyſpiele zei¬
gen, nur zu haͤufig, daß uͤber der beſtimmten
Beſchaͤftigung die allgemeine der univerſellen
Ausbildung, uͤber dem Beſtreben, ein vorzuͤg¬
licher Rechtsgelehrter oder Arzt zu werden, die
weit hoͤhere Beſtimmung des Gelehrten uͤber¬
haupt, des durch Wiſſenſchaft veredelten Gei¬
ſtes vergeſſen wird. Man koͤnnte erinnern,
daß gegen dieſe Einſeitigkeit der Bildung das
Studium der allgemeineren Wiſſenſchaften ein
zureichendes Gegenmittel ſey. Ich bin nicht
geſonnen, dieß im Allgemeinen zu laͤugnen und
behaupte es vielmehr ſelbſt. Die Geometrie
und Mathematik laͤutert den Geiſt zur rein
vernunftmaͤßigen Erkenntniß, die des Stoffes
nicht bedarf. Die Philoſophie, welche den
ganzen Menſchen ergreift und alle Seiten ſei¬
ner Natur beruͤhrt, iſt noch mehr geeignet,
den Geiſt von den Beſchraͤnktheiten einer einſei¬
tigen Bildung zu befreyen und in das Reich
des Allgemeinen und Abſoluten zu erheben.
Allein entweder exiſtirt zwiſchen der allgemei¬
nern Wiſſenſchaft und dem beſondern Zweig der
Erkenntniß, dem der Einzelne ſich widmet,
uͤberhaupt keine Beziehung, oder die Wiſſen¬
ſchaft in ihrer Allgemeinheit kann ſich wenig¬
ſtens nicht ſo weit herunterlaſſen, dieſe Bezie¬
hungen aufzuzeigen, ſo daß der, welcher ſie
nicht ſelbſt zu erkennen im Stande iſt, ſich in
Anſehung der beſondern Wiſſenſchaften doch
von der Leitung der abſoluten verlaſſen ſieht
und lieber abſichtlich ſich von dem lebendigen
Ganzen iſoliren, als durch ein vergebliches
Streben nach der Einheit mit demſelben ſeine
Kraͤfte nutzlos verſchwenden will.
Der beſondern Bildung zu einem einzel¬
nen Fach muß alſo die Erkenntniß des organi¬
ſchen Ganzen der Wiſſenſchaften vorangehen.
Derjenige, welcher ſich einer beſtimmten ergiebt,
muß die Stelle, die ſie in dieſem Ganzen ein¬
nimmt, und den beſondern Geiſt, der ſie beſeelt,
ſo wie die Art der Ausbildung kennen lernen,
wodurch ſie dem harmoniſchen Bau des Ganzen
ſich anſchließt, die Art alſo auch, wie er ſelbſt
dieſe Wiſſenſchaft zu nehmen hat, um ſie nicht
als ein Sklave, ſondern als ein Freier und im
Geiſte des Ganzen zu denken.
Sie erkennen aus dem eben Geſagten
ſchon, daß eine Methodenlehre des akademi¬
ſchen Studium nur aus der wirklichen und
wahren Erkenntniß des lebendigen Zuſammen¬
hangs aller Wiſſenſchaften hervorgehen koͤnne,
daß ohne dieſe jede Anweiſung todt, geiſtlos,
einſeitig, ſelbſt beſchraͤnkt ſeyn muͤſſe. Viel¬
leicht aber war dieſe Foderung nie dringender,
als zu der gegenwaͤrtigen Zeit, wo ſich alles in
Wiſſenſchaft und Kunſt gewaltiger zur Einheit
hinzudraͤngen ſcheint, auch das ſcheinbar entle¬
genſte in ihrem Gebiet ſich beruͤhrt, jede Er¬
ſchuͤtterung, die im Centrum oder der Naͤhe
deſſelben geſchieht, ſchneller und gleichſam un¬
mittelbarer auch in die Theile ſich fortleitet,
und ein neues Organ der Anſchauung allgemei¬
ner und faſt fuͤr alle Gegenſtaͤnde ſich bildet.
Nie kann eine ſolche Zeit vorbeygehen ohne die
Geburt einer neuen Welt, welche diejenigen,
die nicht thaͤtigen Theil an ihr haben, unfehl¬
bar in die Nichtigkeit begraͤbt. Vorzuͤglich nur
den friſchen und unverdorbenen Kraͤften der ju¬
gendlichen Welt kann die Bewahrung und Aus¬
bildung einer edlen Sache vertraut werden.
Keiner iſt von der Mitwirkung ausgeſchloſſen,
da in jeden Theil, den er ſich nimmt, ein Mo¬
ment des allgemeinen Wiedergebaͤhrungs-Pro¬
ceſſes faͤllt. Um mit Erfolg einzugreifen, muß
er, ſelbſt vom Geiſt des Ganzen ergriffen, ſeine
Wiſſenſchaft als organiſches Glied begreifen,
und ihre Beſtimmung in der ſich bildenden
Welt zum Voraus erkennen. Hiezu muß er
entweder durch ſich ſelbſt oder durch andere zu
einer Zeit gelangen, wo er nicht ſelbſt ſchon in
obſoleten Formen verhaͤrtet, noch nicht durch
lange Einwirkung fremder oder Ausuͤbung ei¬
gener Geiſtloſigkeit der hoͤhere Funken in ihm
erſtickt iſt, in der fruͤheren Jugend alſo, und
nach unſern Einrichtungen im Anfang des aka¬
demiſchen Studium.
Von wem ſoll er dieſe Erkenntniß erlangen
und wem ſoll er ſich in dieſer Ruͤckſicht ver¬
trauen? Am meiſten ſich ſelbſt und dem beſ¬
ſern Genius, der ſicher leitet; dann denenje¬
nigen, von denen ſich am beſtimmteſten einſe¬
hen laͤßt, daß ſie durch ihre beſondere Wiſſen¬
ſchaft ſchon verbunden waren, ſich die hoͤchſten
und allgemeinſten Anſichten von dem Ganzen
der Wiſſenſchaften zu erwerben. Derjenige,
welcher ſelbſt nicht die allgemeine Idee der
Wiſſenſchaft hat, iſt ohne Zweifel am wenig¬
ſten faͤhig, ſie in andern zu erwecken; der ei¬
ner untergeordneten und beſchraͤnkten Wiſſen¬
ſchaft ſeinen uͤbrigens ruͤhmlichen Fleiß widmet,
nicht geeignet, ſich zur Anſchauung eines orga¬
niſchen Ganzen der Wiſſenſchaft zu erheben.
Dieſe Anſchauung iſt uͤberhaupt und im Allge¬
meinen nur von der Wiſſenſchaft aller Wiſſen¬
ſchaften, der Philoſophie; im Beſondern alſo
nur von dem Philoſophen zu erwarten, deſſen
beſondere Wiſſenſchaft zugleich die abſolut all¬
gemeine, deſſen Streben alſo an ſich ſchon
auf die Totalitaͤt der Erkenntniß gerichtet ſeyn
muß.
Dieſe Betrachtungen ſind es, M. H., die
mich beſtimmt haben, dieſe Vorleſungen zu er¬
oͤffnen, deren Abſicht Sie aus dem Vorherge¬
henden ohne Muͤhe erkennen. In wie weit ich
im Stande ſeyn werde, meiner eignen Idee
eines ſolchen Vortrags und demnach meinen
Abſichten ein Genuͤge zu thun? dieſe Frage
vorlaͤufig zu beantworten, uͤberlaſſe ich ruhig
dem Zutrauen, welches Sie mir jederzeit ge¬
ſchenkt haben und deſſen mich werth zu zeigen,
ich auch bey dieſer Gelegenheit ſtreben werde.
Laſſen Sie mich alles, was doch bloß
Einleitung, Vorbereitung ſeyn koͤnnte, abkuͤr¬
zen und gleich unmittelbar zu dem Einen gelan¬
gen, wovon unſre ganze folgende Unterſuchung
abhaͤngig ſeyn wird, und ohne das wir keinen
Schritt zur Aufloͤſung unſerer Aufgabe thun
koͤnnen. Es iſt die Idee des an ſich ſelbſt un¬
bedingten Wiſſens, welches ſchlechthin nur Ei¬
nes und in dem auch alles Wiſſen nur Eines
iſt, desjenigen Urwiſſens, welches, nur auf
verſchiedenen Stufen der erſcheinenden idealen
Welt ſich in Zweige zerſpaltend, in den gan¬
zen unermeßlichen Baum der Erkenntniß ſich
ausbreitet. Als das Wiſſen alles Wiſſens muß
es dasjenige ſeyn, was die Foderung oder Vor¬
ausſetzung, die in jeder Art deſſelben gemacht
wird, aufs vollkommenſte und nicht nur fuͤr
den beſondern Fall, ſondern ſchlechthin allge¬
mein erfuͤllt und enthaͤlt. Man mag nun dieſe
Vorausſetzung als Uebereinſtimmung mit dem
Gegenſtande, als reine Aufloͤſung des Beſon¬
dern in's Allgemeine oder wie immer ausdruͤ¬
cken, ſo iſt dieſe weder uͤberhaupt, noch in ir¬
gend einem Falle ohne die hoͤhere Vorausſe¬
tzung denkbar, daß das wahre Ideale allein
und ohne weitere Vermittlung auch das wahre
Reale und außer jenem kein anderes ſey.
Wir koͤnnen dieſe weſentliche Einheit ſelbſt in der
Philoſophie nicht eigentlich beweiſen, da ſie
vielmehr der Eingang zu aller Wiſſenſchaftlich¬
keit iſt; es laͤßt ſich nur eben dieß beweiſen,
daß ohne ſie uͤberhaupt keine Wiſſenſchaft ſey, und
es laͤßt ſich nachweiſen, daß in allem, was nur
Anſpruch macht, Wiſſenſchaft zu ſeyn, eigent¬
lich dieſe Identitaͤt oder dieſes gaͤnzliche Aufge¬
hen des Realen im Idealen beabſichtigt werde.
Bewußtlos, liegt dieſe Vorausſetzung al¬
lem dem, was die verſchiedenen Wiſſenſchaften
von allgemeinen Geſetzen der Dinge oder der
Natur uͤberhaupt ruͤhmen, ſo wie ihrem Be¬
ſtreben nach Erkenntniß derſelben zu Grunde.
Sie wollen, daß das Concrete und das in be¬
ſondern Erſcheinungen Undurchdringliche ſich
fuͤr ſie in die reine Evidenz und die Durchſich¬
tigkeit einer allgemeinen Vernunfterkenntniß
aufloͤſe. Man laͤßt dieſe Vorausſetzung in
den beſchraͤnkteren Sphaͤren des Wiſſens und
fuͤr den einzelnen Fall gelten, wenn man
ſie auch allgemein und abſolut, wie ſie von der
Philoſophie ausgeſprochen wird, weder verſte¬
hen, noch eben deswegen zugeben ſollte.
Mehr oder weniger mit Bewußtſeyn gruͤn¬
det der Geometer ſeine Wiſſenſchaft auf die ab¬
ſolute Realitaͤt des ſchlechthin Idealen, der,
wenn er beweiſt: daß in jedem moͤglichen Drey¬
eck alle drey Winkel zuſammen zweyen rechten
gleich ſind, dieſes ſein Wiſſen nicht durch Ver¬
gleichung mit concreten oder wirklichen Triangeln,
auch nicht unmittelbar von ihnen, ſondern von dem
Urbild beweiſt: er weiß dieß unmittelbar aus
dem Wiſſen ſelbſt, welches ſchlechthin-ideal,
und aus dieſem Grunde auch ſchlechthin real iſt.
Aber wenn man auch die Frage nach der
Moͤglichkeit des Wiſſens auf die des bloß
endlichen Wiſſens einſchraͤnken wollte, ſo
waͤre ſelbſt die Art empiriſcher Wahrheit,
welche dieſes hat, nimmer durch irgend ein
Verhaͤltniß zu Etwas, das man Gegenſtand
nennt, — denn wie koͤnnte man zu dieſem
anders als immer nur durch das Wiſſen hin¬
durchkommen? — es waͤre alſo uͤberhaupt nicht
begreiflich, wenn nicht jenes an ſich Ideale,
das in dem zeitlichen Wiſſen nur der Endlich¬
keit eingebildet erſcheint, die Realitaͤt und die
Subſtanz der Dinge ſelbſt waͤre.
Aber eben dieſe erſte Vorausſetzung aller
Wiſſenſchaft, jene weſentliche Einheit des unbe¬
dingt Idealen und des unbedingt Realen iſt nur
dadurch moͤglich, daß Daſſelbe, welches das
eine iſt, auch das andere iſt. Dieſes aber iſt
die Idee des Abſoluten, welche die iſt: daß
die Idee in Anſehung ſeiner auch das Seyn
iſt. So daß das Abſolute auch jene
oberſte Vorausſetzung des Wiſſens und das
erſte Wiſſen ſelbſt iſt.
Durch dieſes erſte Wiſſen iſt alles andre
Wiſſen im Abſoluten und ſelbſt abſolut. Denn
obwohl das Urwiſſen in ſeiner vollkommenen
Abſolutheit urſpruͤnglich nur in jenem, als dem
abſolut: Idealen, wohnt, iſt es doch uns ſelbſt
als das Weſen aller Dinge und der ewige Be
griff von uns ſelbſt eingebildet, und unſer Wiſ¬
ſen in ſeiner Totalitaͤt iſt beſtimmt, ein Abbild
jenes ewigen Wiſſens zu ſeyn. Es verſteht
ſich, daß ich nicht von den einzelnen Wiſſen¬
ſchaften rede, welche und in wie fern ſie ſich von
dieſer Totalitaͤt abgeſondert und von ihrem
wahren Urbild entfernt haben. Allerdings kann
nur das Wiſſen in ſeiner Allheit der vollkom¬
mene Reflex jenes vorbildlichen Wiſſens ſeyn,
aber alles einzelne Wiſſen und jede beſondere
Wiſſenſchaft iſt in dieſem Ganzen als organi¬
ſcher Theil begriffen; und alles Wiſſen daher,
das nicht mittelbar oder unmittelbar, und ſey
es durch noch ſo viele Mittelglieder hindurch,
ſich auf das Urwiſſen bezieht, iſt ohne Realitaͤt
und Bedeutung.
Von der Faͤhigkeit, alles, auch das ein¬
zelne Wiſſen, in dem Zuſammenhang mit dem
urſpruͤnglichen und Einen zu erblicken, haͤngt
es ab, ob man in der einzelnen Wiſſenſchaft mit
Geiſt und mit derjenigen hoͤhern Eingebung ar¬
beite, die man wiſſenſchaftliches Genie nennt.
Jeder Gedanke, der nicht in dieſem Geiſte der Ein¬
und Allheit gedacht iſt, iſt in ſich ſelbſt leer und
verwerflich; was nicht harmoniſch einzugreifen
faͤhig iſt in dieſes treibende und lebende Ganze,
iſt ein todter Abſatz, der nach organiſchen Ge¬
ſetzen fruͤher oder ſpaͤter ausgeſtoßen wird, und
freylich giebt es auch im Reiche der Wiſſenſchaft
geſchlechtsloſe Bienen genug, die, weil ihnen
zu produciren verſagt iſt, durch anorgiſche Ab¬
ſaͤtze nach außen, ihre eigene Geiſtloſigkeit in
Abdruͤcken vervielfaͤltigen.
Indem ich jene Idee von der Beſtim¬
mung alles Wiſſens ausgeſprochen habe, habe
ich von der Wuͤrde der Wiſſenſchaft an ſich
ſelbſt nichts mehr hinzuzufuͤgen: keine Norm
der Ausbildung oder der Aufnahme der Wiſſen¬
ſchaft in ſich ſelbſt, die ich in dem Folgenden
aufſtellen kann, wird aus einem andern Grun¬
de als dieſer Einen Idee fließen.
Von Pythagoras erzaͤhlen die Geſchicht¬
ſchreiber der Philoſophie, daß er den bis auf
ſeine Zeit gangbaren Namen der Wiſſenſchaft,
σοφία, zuerſt in den der φιλοσοφία, der
Liebe zur Weisheit, verwandelt habe, aus dem
Grunde, weil außer Gott niemand weiſe ſey.
Wie es ſich mit der hiſtoriſchen Wahrheit dieſes
Berichts verhalte, ſo iſt doch in jener Umaͤnde¬
rung ſelbſt, wie dem angegebenen Grund aner¬
kannt: daß alles Wiſſen ein Streben nach Ge¬
meinſchaft mit dem goͤttlichen Weſen, eine
Theilnahme an demjenigen Urwiſſen ſey, deſ¬
ſen Bild das ſichtbare Univerſum und deſſen
Geburtsſtaͤtte das Haupt der ewigen Macht
iſt. Nach derſelbigen Anſicht, da alles
Wiſſen nur Eines iſt, und jede Art deſſelben
nur als Glied eintritt in den Organismus des
Ganzen, ſind alle Wiſſenſchaften und Arten
des Wiſſens Theile der Einen Philoſophie,
naͤmlich des Strebens, an dem Urwiſſen Theil
zu nehmen.
Alles nun, was unmittelbar aus dem Ab¬
ſoluten als ſeiner Wurzel ſtammt, iſt ſelbſt ab¬
ſolut, demnach ohne Zweck außer ſich, ſelbſt
Zweck. Das Wiſſen, in ſeiner Allheit, iſt
aber die eine, gleich abſolute, Erſcheinung
des Einen Univerſum, von dem das Seyn oder
die Natur die andre iſt. Im Gebiet des Rea¬
2
len herrſcht die Endlichkeit, im Gebiet des
Idealen die Unendlichkeit; jenes iſt durch
Nothwendigkeit das, was es iſt, dieſes ſoll es
durch Freyheit ſeyn. Der Menſch, das Ver¬
nunftweſen uͤberhaupt, iſt hingeſtellt, eine Er¬
gaͤnzung der Welterſcheinung zu ſeyn: aus ihm
aus ſeiner Thaͤtigkeit ſoll ſich entwickeln, was
zur Totalitaͤt der Offenbarung Gottes fehlt,
da die Natur zwar das ganze goͤttliche Weſen,
aber nur im Realen empfaͤngt; das Vernunft¬
weſen ſoll das Bild derſelben goͤttlichen Natur,
wie ſie an ſich ſelbſt iſt, demnach im Idealen
ausdruͤcken.
Wir haben gegen die Unbedingtheit der
Wiſſenſchaft einen ſehr gangbaren Einwurf zu
erwarten, dem wir einen hoͤhern Ausdruck lei¬
hen wollen, als er gewoͤhnlich annimmt, naͤm¬
lich: daß von jener in der Unendlichkeit zu
entwerfenden Darſtellung des Abſoluten das
Wiſſen ſelbſt nur ein Theil, in ihr wie¬
der nur als Mittel begriffen ſey, zu dem ſich
das Handeln als Zweck verhalte.
Handeln, Handeln! iſt der Ruf, der
zwar von vielen Seiten ertoͤnt, am lauteſten
aber von denjenigen angeſtimmt wird, bey
denen es mit dem Wiſſen nicht fort will.
Es hat viel Empfehlendes fuͤr ſich, zum
Handeln aufzufordern. Handeln, denkt man,
kann jeder, denn dieß haͤngt nur vom freyen
Willen ab. Wiſſen aber, beſonders philoſo¬
phiſches, iſt nicht jedermanns Ding, und,
ohne andre Bedingungen, auch mit dem beſten
Willen nichts darinn auszurichten.
Wir ſtellen die Frage uͤber den vorliegen¬
den Einwurf gleich ſo: Was mag das fuͤr ein
Handeln ſeyn, zu dem ſich das Wiſſen als
Mittel, und das fuͤr ein Wiſſen, welches ſich
zum Handeln als dem Zweck verhaͤlt?
Welcher Grund, uͤberhaupt nur der Moͤg¬
lichkeit einer ſolchen Entgegenſetzung laͤßt ſich
aufzeigen?
Wenn die Saͤtze, die ich hier in Anre¬
gung bringen muß, nur in der Philoſophie ihr
vollkommenes Licht von allen Seiten erhalten
koͤnnen, ſo verhindert dieß nicht, daß ſie wenig¬
ſtens fuͤr die gegenwaͤrtige Anwendung verſtaͤnd¬
lich ſeyn. Wer nur uͤberhaupt die Idee des
2 *
Abſoluten gefaßt hat, ſieht auch ein, daß in
ihm nur Ein Grund moͤglicher Entgegenſetzung
gedacht werden kann, und daß alſo, wenn uͤber¬
haupt aus ihm Gegenſaͤtze begriffen werden
koͤnnen, alle aus jenem Einen fließen muͤſſen.
Die Natur des Abſoluten iſt: als das abſolut
Ideale auch das Reale zu ſeyn. In dieſer Be¬
ſtimmung liegen die zwey Moͤglichkeiten, daß
es als Ideales ſeine Weſenheit in die Form, als
das Reale, bildet, und daß es, weil dieſe in
ihm nur eine abſolute ſeyn kann, auf ewig
gleiche Weiſe auch die Form wieder in das We¬
ſen aufloͤſt, ſo daß es Weſen und Form in voll¬
kommener Durchdringung iſt. In dieſen zwey
Moͤglichkeiten beſteht die Eine Handlung des
Urwiſſens; da es aber ſchlechthin untheilbar,
alſo ganz und durchaus Realitaͤt und Idealitaͤt
iſt, ſo muß von dieſer untrennbaren Duplicitaͤt
auch in jedem Act des abſoluten Wiſſens ein
Ausdruck, und in dem, was im Ganzen als
das Reale, wie in dem, was als das Ideale
erſcheint, beides in Eins gebildet ſeyn. Wie
alſo in der Natur als Bild der goͤttlichen Ver¬
wandlung der Idealitaͤt in die Realitaͤt auch
wieder die Umwandlung der letzten in die erſte
durch das Licht, und vollendet durch die Ver¬
nunft erſcheint, ſo muß dagegen in dem, was
im Ganzen als das Ideale begriffen wird,
gleichfalls wieder eine reale und ideale Seite
angetroffen werden, wovon jene die Idealitaͤt
in der Realitaͤt, aber als ideal, dieſe die entge¬
gengeſetzte Art der Einheit erkennen laͤßt. Die
erſte Erſcheinungsart iſt das Wiſſen, in wie
fern in dieſem die Subjectivitaͤt in der Objecti¬
vitaͤt erſcheint, die andere iſt das Handeln, in
wie fern in dieſem vielmehr eine Aufnahme
der Beſonderheit in die Allgemeinheit gedacht
wird.
Es iſt hinreichend, dieſe Verhaͤltniſſe auch
nur in der hoͤchſten Abſtraction zu faſſen, um
einzuſehen, daß die Entgegenſetzung, in wel¬
cher die beiden Einheiten innerhalb der gleichen
Identitaͤt des Urwiſſens, als Wiſſen und Han¬
deln erſcheinen, nur fuͤr die bloß endliche Auf¬
faſſung ſtatt findet; denn es iſt von ſich ſelbſt
klar, daß wenn in dem Wiſſen das Unendliche
ſich dem Endlichen auf ideale Art, im Handeln
auf gleiche Weiſe die Endlichkeit ſich der Unend¬
lichkeit einbildet, jede von beyden in der Idee
oder dem An-ſich die gleiche abſolute Einheit
des Urwiſſens ausdruͤcke.
Das zeitliche Wiſſen eben ſo wie das zeit¬
liche Handeln ſetzt nur auf bedingte Weiſe und
ſucceſſiv, was in der Idee auf unbedingte
Weiſe und zumal iſt; deshalb erſcheinen in je¬
nem Wiſſen und Handeln eben ſo nothwendig
getrennt, als ſie in dieſer, wegen der gleichen Ab¬
ſolutheit, Eines ſind, wie in Gott als der
Idee aller Ideen die abſolute Weisheit unmit¬
telbar dadurch, daß ſie abſolut iſt, auch unbe¬
dingte Macht, ohne Vorausgehen der Idee
als Abſicht, wodurch das Handeln beſtimmt
waͤre, demnach zugleich abſolute Nothwendig¬
keit iſt.
Es verhaͤlt ſich mit dieſen, wie mit allen
andern Gegenſaͤtzen, daß ſie nur ſind, ſo lange
jedes Glied nicht fuͤr ſich abſolut, demnach bloß
mit dem endlichen Verſtand aufgefaßt wird.
Der Grund der gemachten Entgegenſetzung
liegt demnach allein in einem gleich unvollkom¬
menen Begriff vom Wiſſen und vom Handeln,
welches dadurch erhoben werden ſoll, daß man
das Wiſſen als Mittel zu ihm begreift. Zu
dem wahrhaft abſoluten Handeln kann das
Wiſſen kein ſolches Verhaͤltniß haben; denn
dieſes kann, eben weil es abſolut iſt, nicht
durch ein Wiſſen beſtimmt ſeyn. Dieſelbe
Einheit, die im Wiſſen, bildet ſich auch im
Handeln zu einer abſoluten in ſich gegruͤndeten
Welt aus. Vom erſcheinenden Handeln iſt hier
ſo wenig die Rede, als vom erſcheinenden Wiſ¬
ſen: eines ſteht und faͤllt mit dem andern, denn
jedes hat allerdings nur im Gegenſatz gegen
das andere Realitaͤt.
Diejenigen, welche das Wiſſen zum Mittel,
das Handeln zum Zweck machen, haben von
jenem keinen Begriff, als den ſie aus dem taͤg¬
lichen Thun und Treiben genommen haben, ſo
wie dann auch das Wiſſen darnach ſeyn muß,
um das Mittel zu dieſem zu werden. Die Phi¬
loſophie ſoll ſie lehren, im Leben ihre Pflicht zu
thun; dazu beduͤrfen ſie alſo der Philoſophie:
ſie thun ſolche nicht aus freyer Nothwendigkeit,
ſondern als Unterworfne eines Begriffs, den ih¬
nen die Wiſſenſchaft an die Hand giebt. All¬
gemein ſoll die Wiſſenſchaft dienen, ihnen das
Feld zu beſtellen, die Gewerbe zu vervollkomm¬
nen oder ihre verdorbenen Saͤfte zu verbeſſern.
Die Geometrie, meynen ſie, iſt eine ſchoͤne
Wiſſenſchaft, nicht zwar, weil ſie die reinſte
Evidenz, der objectivſte Ausdruck der Vernunft
ſelbſt iſt, ſondern weil ſie das Feld meſſen und
Haͤuſer bauen lehrt, oder die Handelsſchifffahrt
moͤglich macht; denn daß ſie auch zum Krieg¬
fuͤhren dient, mindert ihren Werth, weil der
Krieg doch ganz gegen die allgemeine Menſchen¬
liebe iſt. Die Philoſophie iſt nicht einmal zu
jenem und hoͤchſtens zu dem letzten gut, naͤm¬
lich gegen die ſeichten Koͤpfe und die Nuͤtzlich¬
keitsapoſtel in der Wiſſenſchaft Krieg zu fuͤh¬
ren, und darum auch im Grunde hoͤchſt ver¬
werflich.
Die den Sinn jener abſoluten Einheit des
Wiſſens und Handelns nicht faſſen, bringen
dagegen ſolche Popularitaͤten vor, daß, wenn
das Wiſſen mit dem Handeln Eins waͤre, die¬
ſes immer aus jenem folgen muͤßte, da man
doch ſehr gut das Rechte wiſſen koͤnne, ohne es
deswegen zu thun, und was dergleichen mehr
iſt. Sie haben ganz Recht, daß das Handeln
aus dem Wiſſen nicht folge, und ſie ſprechen
eben in jener Reflexion aus, daß das Wiſſen
nicht Mittel des Handelns ſey. Sie haben nur
darin Unrecht, eine ſolche Folge zu erwarten.
Sie begreifen keine Verhaͤltniſſe zwiſchen Abſo¬
luten; nicht, wie jedes Beſondere fuͤr ſich un¬
bedingt ſeyn kann, und machen das eine im
Verhaͤltniß des Zwecks ſo gut wie das andere
im Verhaͤltniß des Mittels zu einem Abhaͤn¬
gigen.
Wiſſen und Handeln koͤnnen nie anders in
wahrer Harmonie ſeyn, als durch die gleiche
Abſolutheit. Wie es kein wahres Wiſſen giebt,
welches nicht mittelbar oder unmittelbar Aus¬
druck des Urwiſſens iſt, ſo kein wahres Han¬
deln, welches nicht, und waͤr' es durch noch ſo
viele Mittelglieder, das Urhandeln und in ihm
das goͤttliche Weſen ausdruͤckt. Diejenige Frey¬
heit, die man in dem empiriſchen Handeln
ſucht, oder zu erblicken glaubt, iſt eben ſo we¬
nig wahre Freyheit und eben ſo Taͤuſchung,
wie die Wahrheit, die im empiriſchen Wiſſen.
Es giebt keine wahre Freyheit, als durch abſo¬
lute Nothwendigkeit, und zwiſchen jener und
dieſer iſt ſelbſt wieder das Verhaͤltniß, wie zwi¬
ſchen abſolutem Wiſſen und abſolutem Handeln.
Zweyte Vorleſung.
Ueber die wiſſenſchaftliche und
ſittliche Beſtimmung der
Academieen.
Der Begriff des academiſchen Studium wies
uns einerſeits zu dem hoͤhern Begriff eines
vorhandenen Ganzen von Wiſſenſchaften zu¬
ruͤck, welches wir in ſeiner oberſten Idee,
dem Urwiſſen, zu faſſen ſuchten; andrerſeits
fuͤhrt er uns auf die beſondern Bedingungen,
unter welchen die Wiſſenſchaften auf unſern
Academieen gelehrt und mitgetheilt werden.
Wohl koͤnnte es des Philoſophen wuͤr¬
diger ſcheinen, von dem Ganzen der Wiſſen¬
ſchaften ein unabhaͤngiges Bild zu entwerfen
und die Art der erſten Erkenntniß deſſelben
an ſich ſelbſt, ohne Beziehung auf die For¬
men bloß gegenwaͤrtiger Einrichtungen, vor¬
zuſchreiben. Allein ich glaube in dem Fol¬
genden beweiſen zu koͤnnen, daß eben auch
dieſe Formen in dem Geiſt der neueren
Welt nothwendig waren, und wenig¬
ſtens aͤußere Bedingungen der Wechſeldurch¬
dringung der verſchiedenartigen Elemente ihrer
Bildung ſo lange ſeyn werden, bis durch
jene die truͤbe Miſchung der letztern ſich zu
ſchoͤnern Organiſationen gelaͤutert haben wird.
Der Grund, warum das Wiſſen uͤber¬
haupt ſeiner Erſcheinung nach in die Zeit
faͤllt, iſt ſchon in dem zuvor Abgehandelten
enthalten. Wie die ſich in der Endlichkeit
reflectirende Einheit des Idealen und Realen
als beſchloſſene Totalitaͤt, als Natur, im
Raum ſich ausdruͤckt, ſo erſcheint dieſelbe im
Unendlichen angeſchaut unter der allgemeinen
Form der endloſen Zeit. Aber die Zeit ſchließt
die Ewigkeit nicht aus, und die Wiſſenſchaft,
wenn ſie ihrer Erſcheinung nach eine Geburt
der Zeit iſt, geht doch auf Gruͤndung einer
Ewigkeit mitten in der Zeit. Was wahr iſt,
iſt wie das, was an ſich ſelbſt recht und
ſchoͤn iſt, ſeiner Natur nach ewig und hat
mitten in der Zeit kein Verhaͤlniß zu der Zeit.
Sache der Zeit iſt die Wiſſenſchaft nur, in
wie fern ſie durch das Individuum ſich aus¬
ſpricht. Das Wiſſen an ſich iſt aber ſo we¬
nig Sache der Individualitaͤt als das Han¬
deln an ſich. Wie die wahre Handlung die¬
jenige iſt, die gleichſam im Namen der gan¬
zen Gattung geſchehen koͤnnte, ſo das wahre
Wiſſen dasjenige, worin nicht das Indivi¬
duum, ſondern die Vernunft weiß. Dieſe Un¬
abhaͤngigkeit des Weſens der Wiſſenſchaft von
der Zeit druͤckt ſich in dem aus, daß ſie Sa¬
che der Gattung iſt, welche ſelbſt ewig iſt.
Es iſt alſo nothwendig, daß wie das Leben
und Daſeyn, ſo die Wiſſenſchaft ſich von
Individuum an Individuum, von Geſchlecht
zu Geſchlecht mittheile. Ueberlieferung iſt der
Ausdruck ihres ewigen Lebens. Es waͤre hier
nicht der Ort, mit allen Gruͤnden, deren
dieſe Behauptung faͤhig iſt, zu beweiſen, daß
alle Wiſſenſchaft und Kunſt des gegenwaͤrti¬
gen Menſchengeſchlechts eine uͤberlieferte iſt.
Es iſt undenkbar, daß der Menſch, wie er
jetzt erſcheint, durch ſich ſelbſt ſich vom In¬
ſtinct zum Bewußtſeyn, von der Thierheit zur
Vernuͤnftigkeit erhoben habe. Es mußte alſo
dem gegenwaͤrtigen Menſchengeſchlecht ein an¬
deres vorangegangen ſeyn, welches die alte
Sage unter dem Bilde der Goͤtter und erſten
Wohlthaͤter des menſchlichen Geſchlechts vere¬
wigt hat. Die Hypotheſe eines Urvolks er¬
klaͤrt bloß etwa die Spuren einer hohen Kul¬
tur in der Vorwelt, von der wir die ſchon
entſtellten Reſte nach der erſten Trennung der
Voͤlker finden, und etwa die Uebereinſtim¬
mung in den Sagen der aͤlteſten Voͤlker, wenn
man nichts auf die Einheit des allem einge¬
bohrnen Erdgeiſtes rechnen will: aber ſie er¬
klaͤrt keinen erſten Anfang und ſchiebt, wie
jede empiriſche Hypotheſe, die Erklaͤrung nur
weiter zuruͤck.
Wie dem auch ſey, ſo iſt bekannt, daß
das erſte Ueberlieferungsmittel der hoͤheren
Ideen, Handlungen, Lebensweiſe, Gebraͤuche,
Symbole geweſen ſind, wie ſelbſt die Dog¬
men der fruͤheſten Religionen nur in Anwei¬
ſungen zu religioͤſen Gebraͤuchen enthalten wa¬
ren. Die Staatenbildungen, die Geſetze,
die einzelnen Anſtalten, die errichtet waren,
das Uebergewicht des goͤttlichen Princips in
der Menſchheit zu erhalten, waren ihrer Na¬
tur nach eben ſo viele Ausdruͤcke ſpeculativer
Ideen. Die Erfindung der Schrift gab der
Ueberlieferung zunaͤchſt nur eine groͤßere Si¬
cherheit; der Gedanke, in dem geiſtigen Stoff
der Rede auch einen Ausdruck der Form und
Kunſt niederzulegen, der einen dauernden
Werth haͤtte, konnte erſt ſpaͤter erwachen.
Wie in der ſchoͤnſten Bluͤthe der Menſchheit
ſelbſt die Sittlichkeit nicht gleichſam dem In¬
dividuum eignete, ſondern Geiſt des Ganzen
war, aus dem ſie aus: und in das ſie zu¬
ruͤckfloß, ſo lebte auch die Wiſſenſchaft in dem
Licht und Aether des oͤffentlichen Lebens und
einer allgemeinen Organiſation. Wie uͤber¬
haupt die ſpaͤtere Zeit das Reale zuruͤckdraͤng¬
te und das Leben innerlicher machte, ſo auch
das der Wiſſenſchaft. Die neuere Welt iſt
in allem, und beſonders in der Wiſſenſchaft
eine getheilte Welt, die in der Vergangen¬
heit und Gegenwart zugleich lebt. In dem
Charakter aller Wiſſenſchaften druͤckt es ſich
aus, daß die ſpaͤtere Zeit von dem hiſtori¬
ſchen Wiſſen ausgehen mußte, daß ſie eine
untergegangene Welt der herrlichſten und groͤ߬
3
ten Erſcheinungen der Kunſt und Wiſſenſchaft
hinter ſich hatte, mit der ſie, durch eine un¬
uͤberſteigliche Kluft von ihr getrennt, nicht
durch das innere Band einer organiſch-fort¬
gehenden Bildung, ſondern einzig durch das
aͤußere Band der hiſtoriſchen Ueberlieferung
zuſammenhieng. Der auflebende Trieb konnte
ſich im erſten Wiederbeginn der Wiſſenſchaf¬
ten in unſerm Welttheil nicht ruhig oder aus¬
ſchließlich auf das eigne Produciren, ſondern
nur unmittelbar zugleich auf das Verſtehen, Be¬
wundern und Erklaͤren der vergangenen Herr¬
lichkeiten richten. Zu den urſpruͤnglichen Ge¬
genſtaͤnden des Wiſſens trat das vergangene
Wiſſen daruͤber als ein neuer Gegenſtand hin¬
zu; daher und weil zur tiefen Ergruͤndung
des Vorhandenen ſelbſt gegenwaͤrtiger Geiſt er¬
fodert wird, wurden Gelehrter, Kuͤnſtler und
Philoſoph gleichbedeutende Begriffe, und das
erſte Praͤdicat auch demjenigen zuerkannt, der
das Vorhandene mit keinem eignen Gedanken
vermehrt hatte; und wenn die Griechen,
wie ein Aegyptiſcher Prieſter zu Solon ſagte,
ewig jung waren, ſo war die moderne Welt
dagegen in ihrer Jugend ſchon alt und er¬
fahren.
Das Studium der Wiſſenſchaften wie
der Kuͤnſte in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung
iſt zu einer Art der Religion geworden: in
ihrer Geſchichte erkennt der Philoſoph noch
unenthuͤllter gleichſam die Abſichten des Welt¬
geiſtes, die tiefſte Wiſſenſchaft, das gruͤnd¬
lichſte Genie hat ſich in dieſe Kenntniß er¬
goſſen.
Ein anderes iſt, das Vergangene ſelbſt
zum Gegenſtand der Wiſſenſchaft zu machen,
ein anderes, die Kenntniß davon an die
Stelle des Wiſſens ſelbſt zu ſetzen. Durch
das hiſtoriſche Wiſſen in dieſem Sinn wird
der Zugang zu dem Urbild verſchloſſen; es fragt
ſich dann nicht mehr, ob irgend etwas mit
dem An-ſich des Wiſſens, ſondern ob es mit
irgend etwas abgeleitetem, welches von jenem
ein bloß unvollkommenes Abbild iſt, uͤber¬
einſtimme? Ariſtoteles hatte in ſeinen Schrif¬
ten die Naturlehre und Naturgeſchichte be¬
3 *
treffend die Natur ſelbſt gefragt; in den ſpaͤ¬
tern Zeiten hatte ſich das Andenken davon
ſo voͤllig verloren, daß er ſelbſt an die Stelle
des Urbilds trat und gegen die deutlichen Aus¬
ſpruͤche der Natur durch Carteſius, Kepler
u. a. ſeine Auctoritaͤt zum Zeugen aufgeru¬
fen wurde. Nach derſelben Art hiſtoriſcher
Bildung hat fuͤr einen großen Theil der ſo¬
genannten Gelehrten bis auf dieſen Tag keine
Idee Bedeutung und Realitaͤt, ehe ſie durch
andere Koͤpfe gegangen, hiſtoriſch und eine Ver¬
gangenheit geworden iſt.
Mehr oder weniger in dieſem Geiſt des
hiſtoriſchen Wiſſens ſind, nicht ſo ſehr viel¬
leicht im erſten Beginn der wiedererwachen¬
den Literatur, als in viel ſpaͤteren Zeiten,
unſre Academieen errichtet worden. Ihre
ganze wiſſenſchaftliche Organiſation moͤchte ſich
nur vollſtaͤndig aus dieſem Abtrennen des Wiſ¬
ſens von ſeinem Urbild durch hiſtoriſche Ge¬
lehrſamkeit ableiten laſſen. Vorerſt iſt die
große Maſſe deſſen, was gelernt werden muß,
nur um im Beſitz des Vorhandenen zu ſeyn,
die Urſache geweſen, daß man das Wiſſen ſo
weit wie moͤglich in verſchiedene Zweige zer¬
ſpaltet, und den lebendigen organiſchen
Bau des Ganzen bis ins Kleinſte zerfaſert
hat. Da alle iſolirten Theile des Wiſ¬
ſens, alle beſonderen Wiſſenſchaften alſo, ſo
fern der univerſelle Geiſt aus ihnen gewichen
iſt, uͤberhaupt nur Mittel zum abſoluten
Wiſſen ſeyn koͤnnen, ſo war die nothwendige
Folge jenes Zerſtuͤckelns, daß uͤber den Mit¬
teln und Anſtalten zum Wiſſen das Wiſſen
ſelbſt ſo gut wie verloren gegangen iſt, und
waͤhrend eine geſchaͤftige Menge die Mit¬
tel fuͤr den Zweck ſelbſt hielt und als Zweck
geltend zu machen ſuchte, jenes, welches
nur Eines und in ſeiner Einheit abſolut
iſt, ſich ganz in die oberſten Theile zuruͤck¬
zog und auch in dieſen zu jeder Zeit nur ſelt¬
ne Erſcheinungen eines unbeſchraͤnkten Lebens
gegeben hat.
Wir haben in dieſer Ruͤckſicht vorzuͤglich
die Frage zu beantworten: welche Foderun¬
gen ſelbſt innerhalb der angenommenen Be¬
ſchraͤnkung und in den gegenwaͤrtigen Formen
unſerer Academieen an dieſe gemacht werden
koͤnnen, damit aus dieſer durchgaͤngigen Tren¬
nung im Einzelnen gleichwohl wieder eine
Einheit im Ganzen entſpringe? Ich werde
dieſe Frage nicht beantworten koͤnnen, ohne zu¬
gleich von den nothwendigen Foderungen an die¬
jenigen, welche eine Academie permanent con¬
ſtituiren, an die Lehrer alſo, zu reden. Ich
werde mich nicht ſcheuen, hieruͤber vor Ih¬
nen mit aller Freymuͤthigkeit zu ſprechen.
Der Eintritt in das academiſche Leben iſt in
Anſehung des ſtudierenden Juͤnglings zugleich
die erſte Befreyung vom blinden Glauben, er
ſoll hier zuerſt lernen und ſich uͤben, ſelbſt zu
urtheilen. Kein Lehrer, der ſeines Berufs
wuͤrdig iſt, wird eine andere Achtung verlan¬
gen, als die er ſich durch Geiſtesuͤbergewicht,
durch wiſſenſchaftliche Bildung und ſeinen Ei¬
fer, dieſe allgemeiner zu verbreiten, er¬
werben kann. Nur der Unwiſſende, der
Unfaͤhige wird dieſe Achtung auf ande¬
re Stuͤtzen zu gruͤnden ſuchen. Was mich
noch mehr beſtimmen muß, in dieſer Sache
ohne Ruͤckhalt zu reden, iſt folgende Betrach¬
tung. Von den Anſpruͤchen, welche die Stu¬
dierenden ſelbſt an eine Academie und die Leh¬
rer derſelben machen, haͤngt zum Theil die Er¬
fuͤllung derſelben ab, und der einmal unter ih¬
nen geweckte wiſſenſchaftliche Geiſt wirkt vor¬
theilhaft auf das Ganze zuruͤck, indem er den
Untuͤchtigen durch die hoͤheren Forderungen, die
an ihn gemacht werden, zuruͤckſchreckt; den,
welcher ſie zu erfuͤllen faͤhig iſt, zur Ergreifung
dieſes Wirkungskreiſes beſtimmt.
Gegen die aus der Idee der Sache ſelbſt
fließende Foderung der Behandlung aller Wiſ¬
ſenſchaften im Geiſt des Allgemeinen und eines
abſoluten Wiſſens kann es kein Einwurf ſeyn zu
fragen: woher die Lehrer ſaͤmmtlich zu nehmen
waͤren, die dieſes zu leiſten vermoͤchten? Die
Academieen ſind es ja eben, auf welchen jene
ihre erſte Bildung erhalten: man gebe dieſen
nur die geiſtige Freyheit und beſchraͤnke ſie nicht
durch Ruͤckſichten, die auf das wiſſenſchaftliche
Verhaͤltniß keine Anwendung haben, ſo werden
ſich die Lehrer von ſelbſt bilden, die jenen Fode¬
rungen Genuͤge thun koͤnnen und wiederum im
Stande ſind andere zu bilden.
Man koͤnnte fragen, ob es uͤberhaupt zie¬
me, gleichſam im Namen der Wiſſenſchaft Fo¬
derungen an Academieen zu machen, dn es hin¬
laͤnglich bekannt und angenommen ſey, daß ſie
Inſtrumente des Staats ſind, die das ſeyn muͤſ¬
ſen, wozu dieſer ſie beſtimmt. Wenn es nun
ſeine Abſicht waͤre, daß in Anſehung der Wiſ¬
ſenſchaft durchgehends eine gewiſſe Maͤßigkeit,
Zuruͤckhaltung, Einſchraͤnkung auf das Gewoͤhn¬
liche oder Nuͤtzliche beobachtet wuͤrde, wie ſollte
dann von den Lehrern progreſſive Tendenz und
Luſt zur Ausbildung ihrer Wiſſenſchaft nach
Ideen erwartet werden koͤnnen?
Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß wir
gemeinſchaftlich vorausſetzen und vorausſetzen
muͤſſen: der Staat wolle in den Academieen
wirklich wiſſenſchaftliche Anſtalten ſehen, und
daß alles, was wir in Anſehung ihrer behaup¬
ten, nur unter dieſer Bedingung gilt. Der
Staat waͤre unſtreitig befugt, die Academieen
ganz aufzuheben oder in Induſtrie- und andere
Schulen von aͤhnlichen Zwecken umzuwandeln:
aber er kann nicht das erſte beabſichtigen, ohne
zugleich auch das Leben der Ideen und die freye¬
ſte wiſſenſchaftliche Bewegung zu wollen, durch
deren Verſagung aus kleinlichen, meiſtens nur
die Ruhe der Unfaͤhigen in Schutz nehmenden,
Ruͤckſichten das Genie zuruͤckgeſtoßen, das Ta¬
lent gelaͤhmt wird.
Die aͤußere Vollſtaͤndigkeit bringt noch kei¬
nesweges das wahre organiſche Leben aller Thei¬
le des Wiſſens hervor, welches durch die Uni¬
verſitaͤten, die hiervon ihren Namen tragen, er¬
reicht werden ſoll. Hiezu bedarf es des gemein¬
ſchaftlichen Geiſtes, der aus der abſoluten Wiſ¬
ſenſchaft kommt, von der die einzelnen Wiſſen¬
ſchaften die Werkzeuge oder die objective reale
Seite ſeyn ſollen. Ich kann dieſe Anſicht hier
noch nicht ausfuͤhren: indeß iſt klar, daß von
keiner Anwendung der Philoſophie die Rede iſt,
dergleichen auf beynahe alle Faͤcher nach und
nach verſucht worden, ja ſogar auf die, in Be¬
zug auf ſie, niedrigſten Gegenſtaͤnde, ſo daß
man faſt auch die Landwirthſchaft, die Entbin¬
dungskunſt oder Bandagenlehre philoſophiſch zu
machen ſich beſtrebt hat. Es kann nicht leicht
etwas thoͤrichteres geben, als das Beſtreben von
Rechtsgelehrten oder Aerzten, ihre Scienz mit
einem philoſophiſchen Anſehen zu bekleiden,
waͤhrend ſie uͤber die erſten Grundſaͤtze der Phi¬
loſophie in Unwiſſenheit ſind, gleich wie wenn
jemand eine Kugel, einen Cylinder oder ein an¬
deres Solidum ausmeſſen wollte, dem nicht ein¬
mal der erſte Satz des Euklides bekannt waͤre.
Nur von der Formloſigkeit in den meiſten
objectiven Wiſſenſchaften rede ich, worinn ſich
auch nicht eine Ahndung von Kunſt, oder nur
die logiſchen Geſetze des Denkens ausdruͤcken,
von derjenigen Stumpfheit, die mit keinem
Gedanken ſich uͤber das Beſondere erhebt, noch
ſich vorzuſtellen vermag, daß ſie, auch in dem
ſinnlichen Stoff, das Unſinnliche, das Allge¬
meine darzuſtellen habe.
Nur das ſchlechthin Allgemeine iſt die
Quelle der Ideen, und Ideen ſind das Leben¬
dige der Wiſſenſchaft. Wer ſein beſonderes
Lehrfach nur als beſonderes kennt, und nicht
faͤhig iſt, weder das Allgemeine in ihm zu er¬
kennen, noch den Ausdruck einer univerſell¬
wiſſenſchaftlichen Bildung in ihm niederzulegen,
iſt unwuͤrdig, Lehrer und Bewahrer der Wiſ¬
ſenſchaft zu ſeyn. Er wird ſich auf vielfache
Weiſe nuͤtzlich machen koͤnnen, als Phyſiker mit
Errichtung von Blitzableitern, als Aſtronom
mit Kalendermachen, als Arzt mit der Anwen¬
dung des Galvanismus in Krankheiten oder
auf welche andere Weiſe er will; aber der Be¬
ruf des Lehrers fodert hoͤhere als Handwerkerta¬
lente. „Das Abpfloͤcken der Felder der Wiſſen¬
ſchaften, ſagt Lichtenberg, mag ſeinen großen
Nutzen haben bey der Vertheilung unter die
Paͤchter; aber den Philoſophen, der immer
den Zuſammenhang des Ganzen vor Augen hat,
warnt ſeine nach Einheit ſtrebende Vernunft
bey jedem Schritte, auf keine Pfloͤcke zu achten,
die oft Bequemlichkeit und oft Eingeſchraͤnktheit
eingeſchlagen haben.“ Ohne Zweifel war es
nicht die beſondere Geſchicklichkeit in ſeiner Wiſ¬
ſenſchaft, ſondern das Vermoͤgen, ſie mit den
Ideen eines bis zur Allgemeinheit ausgebilde¬
ten Geiſtes zu durchdringen, wodurch Lichten¬
berg der geiſtreichſte Phyſiker ſeiner Zeit und
der vortrefflichſte Lehrer ſeines Fachs gewe¬
ſen iſt.
Ich muß hier eine Vorſtellung beruͤhren,
die ſich diejenigen, an welche die Foderung, ihr
beſonderes Fach im Geiſt des Ganzen zu behan¬
deln, gemacht wird, gewoͤhnlich davon machen,
naͤmlich, als werde verlangt, ſie ſollen es als
bloßes Mittel betrachten; es iſt aber viel¬
mehr das gerade Gegentheil der Fall, daß jeder
ſeine Wiſſenſchaft in dem Verhaͤltniß im Geiſt
des Ganzen betreibt, in welchem er ſie als
Zweck an ſich ſelbſt und als abſolut betrachtet.
Schon an ſich ſelbſt kann nichts als Glied in
einer wahren Totalitaͤt begriffen ſeyn, was in
ihm bloß als Mittel wirkt. Jeder Staat iſt
in dem Verhaͤltniß vollkommen, in welchem je¬
des einzelne Glied, indem es Mittel zum Gan¬
zen, zugleich in ſich ſelbſt Zweck iſt. Ebenda¬
durch, daß das Beſondere in ſich abſolut iſt,
iſt es auch wieder im Abſoluten und integran¬
ter Theil deſſelben, und umgekehrt.
Je mehr ein Gelehrter ſeinen beſondern
Kreis als Zweck an ſich ſelbſt begreift, ja ihn
fuͤr ſich wieder zum Mittelpunkt alles Wiſſens
macht, den er zur allbefaſſenden Totalitaͤt er¬
weitern moͤchte, deſto mehr beſtrebt er ſich, All¬
gemeines und Ideen in ihm auszudruͤcken. Da¬
gegen je weniger er vermag, ihn mit univerſellem
Sinn zu faſſen, deſto mehr wird er ihn, er mag
ſich nun deſſen bewußt oder nicht bewußt ſeyn,
weil das, was nicht Zweck an ſich ſelbſt iſt, nur
Mittel ſeyn kann, nur als Mittel begreifen.
Dieß muͤßte nun billig jedem, der ſich ſelbſt
ehrt, unertraͤglich ſeyn; daher mit dieſer Be¬
ſchraͤnktheit gewoͤhnlich auch die gemeine Ge¬
ſinnung und der Mangel des wahren In¬
tereſſe an der Wiſſenſchaft, außer dem, welches ſie
als Mittel fuͤr ſehr reale, aͤußere Zwecke hat,
vergeſellſchaftet iſt.
Ich weiß recht gut, daß ſehr viele, und vor¬
nehmlich alle die, welche die Wiſſenſchaft uͤber¬
haupt nur als Nuͤtzlichkeit begreifen, die Univerſi¬
taͤten als bloße Anſtalten zur Ueberlieferung des
Wiſſens, als einen Verein betrachten, der bloß
die Abſicht haͤtte, daß jeder in der Jugend ler¬
nen koͤnnte, was bis zu ſeiner Zeit in den Wiſ¬
ſenſchaften geleiſtet worden iſt, ſo daß es
auch als eine Zufaͤlligkeit betrachtet werden
muͤßte, wenn die Lehrer, außer dem daß ſie das
Vorhandene mittheilen, auch noch die Wiſſen¬
ſchaft durch eigne Erfindungen bereichern: —
allein ſelbſt angenommen, daß mit den Acade¬
mieen zunaͤchſt nicht mehr, als dieſes, beab¬
ſichtigt wuͤrde und werden ſollte, ſo fodert man
doch ohne Zweifel zugleich, daß die Ueberliefe¬
rung mit Geiſt geſchehe, widrigenfalls begreift
man nicht, wofuͤr nur uͤberhaupt der lebendige
Vortrag auf Academieen nothwendig waͤre;
man koͤnnte alsdann den Lehrling unmittelbar
nur an die ausdruͤcklich fuͤr ihn geſchriebenen, ge¬
meinfaßlichen Handbuͤcher oder an die dicken Com¬
pilationen in allen Faͤchern verweiſen. Zu ei¬
ner geiſtreichen Ueberlieferung gehoͤrt aber ohne
Zweifel, daß man im Stande ſey, die Erfin¬
dungen anderer aus der vergangenen und gegen¬
waͤrtigen Zeit richtig, ſcharf und in allen Be¬
ziehungen aufzufaſſen. Viele derſelben ſind von
der Art, daß ihr innerſter Geiſt nur durch ho¬
mogenes Genie, durch wirkliches Nacherfinden
gefaßt werden kann. Jemand, der bloß uͤber¬
liefert, wird alſo in vielen Faͤllen in manchen
Wiſſenſchaften durchaus falſch uͤberliefern.
Wo iſt denn diejenige hiſtoriſche Darſtellung
der Philoſophie der alten Zeit oder nur eines
einzelnen Philoſophen der alten oder ſelbſt der
neueren Welt, die man als eine gelungene,
wahre, ihren Gegenſtand erreichende Darſtel¬
lung, mit Sicherheit bezeichnen koͤnnte? —
Aber uͤberhaupt, wer in ſeiner Wiſſenſchaft nur
wie in einem fremden Eigenthume lebt, wer
ſie nicht perſoͤnlich beſitzt, ſich ein ſicheres und
lebendiges Organ fuͤr ſie erworben hat, ſie nicht
in jedem Augenblick neu aus ſich zu erzeugen an¬
fangen koͤnnte, iſt ein Unwuͤrdiger, der ſchon
in dem Verſuch, die Gedanken der Vorwelt oder
Gegenwart bloß hiſtoriſch zu uͤberliefern, uͤber
ſeine Graͤnze geht und etwas uͤbernimmt, das
er nicht leiſten kann. Ohne Zweifel rechnet
man zu einer geiſtreichen Ueberlieferung, daß
ſie mit Urtheil verbunden ſey; aber wenn ſchon
das allſeitige und richtige Auffaſſen fremder Er¬
findungen, ohne eignes Vermoͤgen zu Ideen,
unmoͤglich iſt, wie viel unmoͤglicher noch das
Urtheilen? Daß in Deutſchland ſo viel von
ſolchen geurtheilt wird, aus denen, wenn man
ſie auf den Kopf ſtellte, kein eigner Gedanke
herausfiele, beweiſt nichts; mit ſolchen Ur¬
theilen, als dieſe zu geben im Stande ſind,
waͤre der Wiſſenſchaft gewiß nicht gedient.
— Die nothwendige Folge des Unvermoͤgens,
das Ganze ſeiner Wiſſenſchaft ſich aus ſich ſelbſt
zu conſtruiren und aus innerer, lebendiger An¬
ſchauung darzuſtellen, iſt der bloß hiſtoriſche
Vortrag derſelben, z.B. der bekannte in der
Philoſophie: „Wenn wir unſere Aufmerkſam¬
keit auf uns ſelbſt richten, ſo werden wir ver¬
ſchiedene Aeußerungen deſſen gewahr, was man
die Seele nennt. — Man hat dieſe verſchied¬
nen Wirkungen auf verſchiedene Vermoͤgen zu¬
ruͤckgebracht. — Man nennt dieſe Vermoͤgen
nach der Verſchiedenheit der Aeußerungen Sinn¬
lichkeit, Verſtand, Einbildungskraft u. ſ. w.“
Nun iſt aber an ſich nichts geiſtloſer nicht
nur, ſondern auch geiſttoͤdtender als eine ſolche
Darſtellung; aber es kommt noch uͤberdieß die
beſondere Beſtimmung des academiſchen Vor¬
trags in Betracht, genetiſch zu ſeyn. Dieß iſt
der wahre Vorzug der lebendigen Lehrart, daß
der Lehrer nicht Reſultate hinſtellt, wie es der
Schriftſteller pflegt, ſondern daß er, in allen hoͤ¬
heren Scienzen wenigſtens, die Art zu ihnen
zu gelangen ſelbſt darſtellt, und in jedem Fall
das Ganze der Wiſſenſchaft gleichſam erſt vor
den Augen des Lehrlings entſtehen laͤßt. Wie
ſoll nun derjenige, der ſeine Wiſſenſchaft ſelbſt
nicht aus eigner Conſtruction beſitzt, faͤhig ſeyn,
ſie nicht als ein Gegebenes, ſondern als ein zu
Erfindendes darzuſtellen?
So wenig aber als die bloße Ueberliefe¬
rung ohne ſelbſtthaͤtigen Geiſt hinreichend iſt,
um als Lehrer mit dem gehoͤrigen Erfolg zu
4
wirken, eben ſo ſehr wird erfodert, daß derje¬
nige, welcher in irgend einer Wiſſenſchaft leh¬
ren will, dieſe zuvor ſoweit gelernt habe, als
moͤglich iſt. In jeder, auch der gemeinſten
Kunſt, wird gefodert, daß man erſt Proben
des vollendeten Lernens abgelegt habe, ehe man
die Kunſt als Meiſter ausuͤben kann. Wenn
man die Leichtigkeit bedenkt, mit der auf man¬
chen Univerſitaͤten der Lehrſtuhl beſtiegen wird,
ſollte man aber faſt keinen Beruf fuͤr leichter
halten, als den des Lehrers; und man wuͤrde
ſich in der Regel ſogar ſehr irren, einen Trieb
der eignen Productivitaͤt fuͤr den Grund des
ſchnellen Lehrerberufs zu halten, da gerade den,
der am eheſten zu produciren im Stande iſt,
das Lernen am wenigſten Verlaͤugnung koſten
kann.
Wir haben bisher unterſucht, wie die Uni¬
verſitaͤten auch nur der erſten Abſicht nach, in
der ſie errichtet wurden, ſeyn koͤnnten. Es
ſcheint aber, daß ſie wegen der Einſeitigkeit der
Idee, die ihnen urſpruͤnglich zu Grunde liegt,
weiter zu ſtreben haben. Wir betrachteten ſie
dieſer Idee gemaͤß bisher als Anſtalten, die
bloß fuͤr das Wiſſen errichtet ſind.
Da wir keine Gegenſaͤtze als wahr zuge¬
ben, z. B. den des Wiſſens und Handelns, ſo
iſt allgemein nothwendig, daß in dem Verhaͤlt¬
niß, in welchem ſich irgend etwas, das ſeinen
Gegenſatz in einem andern hat, ſeiner Abſolut¬
heit annaͤhert, auch der Gegenſatz, in dem es
mit dem andern iſt, ſich aufhebt. So iſt es
demnach eine bloße Folge der Rohheit des Wiſ¬
ſens, wenn die Academieen noch nicht angefan¬
gen haben, als Pflanzſchulen der Wiſſenſchaft
zugleich allgemeine Bildungsanſtalten zu ſeyn.
Es iſt nothwendig, hier zugleich die Ver¬
faſſung der Academieen zu beruͤhren, in wie
fern dieſe auf ihre ſittliche Beſtimmung einen
weſentlichen Einfluß hat.
Wenn die buͤrgerliche Geſellſchaft uns gro¬
ßentheils eine entſchiedene Disharmonie der
4 *
Idee und der Wirklichkeit zeigt, ſo iſt es, weil
ſie vorlaͤufig ganz andre Zwecke zu verfolgen
hat, als aus jener hervorgehen, und die Mit¬
tel ſo uͤbermaͤchtig geworden ſind, daß ſie den
Zweck ſelbſt, zu dem ſie erfunden ſind, unter
graben. Die Univerſitaͤten, da ſie nur Verbin¬
dungen fuͤr die Wiſſenſchaften ſind, brauchen,
außer dem, was der Staat freywillig und ſei¬
nes eignen Vortheils wegen fuͤr ihre aͤußere Exi¬
ſtenz thun muß, keine andern Veranſtaltungen
fuͤr das Reale, als welche aus der Idee ſelbſt
fließen: die Weisheit vereinigt ſich hier unmit¬
telbar mit der Klugheit; man hat nur das zu
thun, was die Idee des Vereins fuͤr die Wiſ¬
ſenſchaft ohnehin vorſchreibt, um auch die Ver¬
faſſung der Academieen vollkommen zu machen.
Die buͤrgerliche Geſellſchaft, ſo lange ſie
noch empiriſche Zwecke zum Nachtheil der abſo¬
luten verfolgen muß, kann nur eine ſcheinbare
und gezwungene, keine wahrhaft innere Iden¬
titaͤt herſtellen. Academieen koͤnnen nur einen ab¬
ſoluten Zweck haben: außer dieſem haben ſie gar
keinen. — Der Staat hat zur Erreichung ſeiner
Abſichten Trennungen noͤthig, nicht die in der Un¬
gleichheit der Staͤnde beſtehende, ſondern die weit
mehr innerliche, durch das Iſoliren und Entge¬
genſetzen des einzelnen Talents, die Unterdruͤ¬
ckung ſo vieler Individualitaͤten, die Richtung
der Kraͤfte nach ſo ganz verſchiedenen Seiten,
um ſie zu deſto tauglicheren Inſtrumenten fuͤr
ihn ſelbſt zu machen. In einem wiſſenſchaftli¬
chen Verein haben alle Mitglieder der Natur
der Sache nach Einen Zweck: es ſoll auf
Academieen nichts gelten, als die Wiſſenſchaft,
und kein anderer Unterſchied ſeyn, als welchen
das Talent und die Bildung macht. Men¬
ſchen, die bloß da ſind, um ſich auf andere
Weiſe geltend zu machen, durch Verſchwendung,
durch nutzloſe Hinbringung der Zeit in geiſtlo¬
ſen Vergnuͤgungen, mit Einem Wort privile¬
girte Muͤſſiggaͤnger, wie es in der buͤrgerlichen
Geſellſchaft giebt — und gewoͤhnlich ſind es
dieſe, die auf Univerſitaͤten am meiſten Rohheit
verbreiten — ſollen hier nicht geduldet, und
wer ſeinen Fleiß und ſeine auf die Wiſſenſchaft
gerichtete Abſicht nicht beweiſen kann, ſoll ent¬
fernt werden.
Wenn die Wiſſenſchaft allein regiert, alle
Geiſter nur fuͤr dieſe in Beſitz genommen ſind,
ſo werden von ſelbſt keine andern Misleitungen
der ſo edlen und herrlichen, am Ende doch vor¬
zuͤglich auf Beſchaͤftigung mit Ideen gerichteten
Triebe der Jugend ſtatt finden koͤnnen. Wenn
auf Univerſitaͤten Rohheit herrſchend geweſen
iſt, oder je wieder werden koͤnnte, ſo waͤre es
großentheils die Schuld der Lehrer oder der¬
jenigen, welchen die Aufſicht uͤber den Geiſt,
der von dieſen aus ſich verbreitet, zukommt.
Wenn die Lehrer ſelbſt keinen andern als
den aͤchten Geiſt um ſich verbreiten, und keine
andere Ruͤckſichten, als die des Wiſſens und
ſeiner Vervollkommnung gelten: wenn die Aus¬
bruͤche der Poͤbelhaftigkeit unwuͤrdiger, den Be¬
ruf der Lehrer ſchaͤndender Menſchen nicht durch
die Niedrigkeit des jeweiligen gemeinen Weſens
ſelbſt geduldet werden, ſo werden von ſelbſt
aus der Reihe der ſtudierenden Juͤnglinge die¬
jenigen verſchwinden, die ſich nicht anders als
durch Rohheit auszuzeichnen vermoͤgen.
Das Reich der Wiſſenſchaften iſt keine De¬
mokratie, noch weniger Ochlokratie, ſondern
Ariſtokratie im edelſten Sinne. Die Beſten
ſollen herrſchen. Auch die bloß Unfaͤhigen,
welche irgend eine Convenienz empfiehlt, die
bloßen ſich vordraͤngenden Schwaͤtzer, die den
wiſſenſchaftlichen Stand durch kleine Arten von
Induſtrie entehren, ſollen in der gaͤnzlichen
Paſſivitaͤt erhalten werden. Von ſelbſt kann
ſchon niemand der Verachtung entgehen, die
ihm in dieſen Verhaͤltniſſen Unwiſſenheit und
geiſtige Ohnmacht zuziehen, ja, da dieſe dann
meiſtens mit Laͤcherlichkeit oder wahrer Nie¬
dertraͤchtigkeit gepaart ſind, dienen ſie der Ju¬
gend zum Spiel und ſtumpfen allzufruͤh den
natuͤrlichen Eckel eines noch nicht erfahrnen Ge¬
muͤthes ab.
Das Talent bedarf keines Schutzes, wenn
nur das Gegentheil nicht beguͤnſtigt iſt; das
Vermoͤgen zu Ideen verſchafft ſich von ſelbſt die
oberſte und entſchiedenſte Wirkung.
Dieß iſt die einzige Politik, die in Anſe¬
hung aller Anſtalten fuͤr Wiſſenſchaft ſtatt hat,
um ſie bluͤhend zu machen, um ihnen ſo viel
moͤglich Wuͤrde nach innen und Anſehen nach
außen zu geben. Um die Academieen insbe¬
ſondere zu Muſtern von Verfaſſungen zu ma¬
chen, erfoderte es nichts, als was man, ohne ei¬
nen Widerſpruch zu begehen, gar nicht umhin
kann zu wollen; und da ich wie geſagt die Kluft
zwiſchen Wiſſen und Handeln uͤberhaupt nicht
zugebe, ſo kann ich ſie unter jener Bedingung,
auch in Anſehung der Academieen nicht zulaſſen.
Die Bildung zum vernunftmaͤßigen Den¬
ken, worunter ich freylich keine bloß oberflaͤch¬
liche Angewoͤhnung, ſondern eine in das We¬
ſen des Menſchen ſelbſt uͤbergehende Bildung,
die allein auch die aͤchtwiſſenſchaftliche iſt, ver¬
ſtehe, iſt auch die einzige zum vernunftmaͤßigen
Handeln; Zwecke, die außer dieſer abſoluten
Sphaͤre ſcientifiſcher Ausbildung liegen, ſind
durch die erſte Beſtimmung der Academieen
ſchon von ihnen ausgeſchloſſen.
Derjenige, welcher von ſeiner beſondern
Wiſſenſchaft aus die vollkommne Durchbil¬
dung bis zum abſoluten Wiſſen erhalten hat,
iſt von ſelbſt in das Reich der Klarheit, der
Beſonnenheit gehoben; das gefaͤhrlichſte fuͤr
den Menſchen iſt die Herrſchaft dunkler Be¬
griffe, es iſt fuͤr ihn ſchon vieles gewonnen,
wenn dieſe nur uͤberhaupt beſchraͤnkt iſt, es iſt
alles gewonnen, wenn er zum abſoluten Be¬
wußtſeyn durchgedrungen iſt, wenn er ganz im
Licht wandelt.
Die Wiſſenſchaft richtet gleich unmittelbar
den Sinn auf diejenige Anſchauung, die, eine
daurende Selbſtgeſtaltung, unmittelbar zu der
Identitaͤt mit ſich und dadurch zu einem wahr¬
haft ſeeligen Leben fuͤhrt. Langſam erzieht die
Erfahrung und das Leben, nicht ohne vielen
Verluſt der Zeit und der Kraft. Dem, der
ſich der Wiſſenſchaft weiht, iſt es vergoͤnnt, die
Erfahrung ſich vorauszunehmen und das, was
doch am Ende einziges Reſultat des durchge¬
bildetſten und erfahrungsreichſten Lebens ſeyn
kann, gleich unmittelbar und an ſich ſelbſt zu
erkennen.
Dritte Vorleſung.
Ueber die erſten Vorausſetzungen
des academiſchen Studium.
Den hohen Zweck desjenigen, der ſich uͤberhaupt
der Wiſſenſchaft weiht, glaube ich im Vorher¬
gehenden durch die Idee der letztern ſchon hin¬
laͤnglich ausgeſprochen zu haben. Deſto kuͤrzer
werde ich mich uͤber die allgemeinen Foderun¬
gen, die an den gemacht werden muͤſſen, der
dieſen Beruf erwaͤhlt, faſſen koͤnnen.
Der Begriff des Studierens ſchließt an
ſich ſchon und beſonders nach den Verhaͤltniſſen
der neueren Kultur eine doppelte Seite in ſich.
Die erſte iſt die hiſtoriſche. In Anſehung der¬
ſelben findet das bloße Lernen ſtatt. Die
unumgaͤngliche Nothwendigkeit der Gefangen¬
nehmung und Ergebung ſeines Willens unter
den Gehorſam des Lernens in allen Wiſſenſchaf¬
ten folgt ſchon aus dem fruͤher Bewiesnen.
Was auch beſſere Koͤpfe in Erfuͤllung dieſer Be¬
dingung misleitet, iſt eine ſehr gewoͤhnliche
Taͤuſchung.
Sie fuͤhlen ſich naͤmlich bey dem Lernen
mehr angeſtrengt als eigentlich thaͤtig, und weil
die Thaͤtigkeit der natuͤrlichere Zuſtand iſt, hal¬
ten ſie jede Art derſelben fuͤr eine hoͤhere Aeu¬
ßerung des angebohrnen Vermoͤgens, wenn
auch die Leichtigkeit, welche das eigne Denken
und Entwerfen fuͤr ſie hat, ſeinen Grund mehr
in der Unkenntniß der wahren Gegenſtaͤnde und
eigentlichen Aufgaben des Wiſſens, als in einer
aͤchten Fuͤlle des productiven Triebs haben ſoll¬
te. Im Lernen, ſelbſt wo es durch lebendigen
Vortrag geleitet wird, findet wenigſtens keine
Wahl ſtatt: man muß durch alles, durch das
Schwere wie das Leichte, durch das Anziehende
wie das minder Anziehende hindurch; die Auf¬
gaben werden hier nicht willkuͤhrlich, nach
Ideenaſſociation oder Neigung genommen,
ſondern mit Nothwendigkeit. In dem
Gedankenſpiel, bey mittelmaͤßig reger Ein¬
bildungskraft, die mit geringer Kenntniß der
wiſſenſchaftlichen Foderungen verbunden iſt,
nimmt man heraus, was gefaͤllt, und laͤßt lie¬
gen, was nicht gefaͤllt oder was auch im Erfin¬
den und eignen Denken nicht ohne Anſtrengung
ergruͤndet werden kann.
Selbſt derjenige, der von Natur berufen
iſt, zuvor nicht bearbeitete Gegenſtaͤnde in
neuen Gebieten ſich zu ſeiner Aufgabe zu neh¬
men, muß doch den Geiſt auf jene Weiſe geuͤbt
haben, um in dieſen einſt durchzudringen.
Ohne dieß wird ihm auch im Selbſtconſtruiren
immer nur ein deſultoriſches Verfahren und
fragmentariſches Denken eigenthuͤmlich bleiben.
Die Wiſſenſchaft zu durchdringen, vermag nur,
wer ſie bis zur Totalitaͤt geſtalten und bis zu
der Gewißheit in ſich ausbilden kann, kein we¬
ſentliches Mittelglied uͤberſprungen, das Noth¬
wendige erſchoͤpft zu haben.
Ein gewiſſer Ton der Popularitaͤt in den
oberſten Wiſſenſchaften, kraft deſſen ſie gerade¬
zu jedermanns Ding und jeder Faſſungskraft
angemeſſen ſeyn ſollten, hat die Scheu vor An¬
ſtrengung ſo allgemein verbreitet, daß die
Schlaffheit die es mit den Begriffen nicht zu
genau nimmt, die angenehme Oberflaͤchlichkeit
und wohlgefaͤllige Seichtigkeit ſogar zur ſoge¬
nannten feineren Ausbildung gehoͤrte, und man
endlich auch den Zweck der academiſchen Bil¬
dung darauf beſchraͤnkte, von dem Wein der
hoͤheren Wiſſenſchaften eben nur ſo viel zu ko¬
ſten, als man mit Anſtand auch einer Dame
anbieten koͤnnte.
Man muß den Univerſitaͤten zum Theil
die Ehre widerfahren laſſen, daß ſie vorzuͤglich
den einbrechenden Strom der Ungruͤndlichkeit,
den die neuere Paͤdagogik noch vermehrte, auf¬
gehalten haben, obgleich es andrerſeits auch der
Ueberdruß an ihrer langweiligen, breiten und
von keinem Geiſt belebten Gruͤndlichkeit war,
was jenem den meiſten Eingang verſchaffte.
Jede Wiſſenſchaft hat außer ihrer eigen¬
thuͤmlichen Seite eine andere noch, die ihr mit
der Kunſt gemein iſt. Es iſt die Seite der
Form, welche in einigen derſelben ſogar vom
Stoff ganz unzertrennlich iſt. Alle Vortrefflich¬
keit in der Kunſt, alle Bildung eines edlen
Stoffs in angemeßner Form, geht aus der Be¬
ſchraͤnkung hervor, die der Geiſt ſich ſelbſt ſetzt.
Die Form wird nur durch Uebung vollſtaͤndig
erlangt, und aller wahre Unterricht ſoll ſeiner
Beſtimmung nach mehr auf dieſe als auf den
Stoff gehen.
Es giebt vergaͤngliche und hinfaͤllige For¬
men, und als beſondere ſind alle diejenigen, in
die ſich der Geiſt der Wiſſenſchaft huͤllt, auch
nur verſchiedene Erſcheinungsweiſen des ſich in
ewig neuen Geſtalten verjuͤngenden und wieder¬
gebaͤhrenden Genius. Aber in den beſondern
Formen iſt eine allgemeine und abſolute Form,
von der jene ſelbſt nur wieder die Symbole
ſind: und ihr Kunſtwerth ſteigt in dem Maaße,
in welchem ihnen gelingt, jene zu offenbaren.
Alle Kunſt aber hat eine Seite, von der ſie
durch Lernen erworben wird. Die Scheu vor
Formen und angeblichen Schranken derſelben
iſt die Scheu vor der Kunſt in der Wiſſen¬
ſchaft.
Aber nicht in der gegebenen und beſondern
Form, die nur gelernt ſeyn kann, ſondern in
eigenthuͤmlicher, ſelbſtgebildeter, den gegebe¬
nen Stoff reproduciren, vollendet auch erſt
das Aufnehmen ſelbſt. Lernen iſt nur negative
5
Bedingung, wahre Intusſuſception nicht ohne
innere Verwandlung in ſich ſelbſt moͤglich. Al¬
le Regeln, die man dem Studieren vorſchrei¬
ben koͤnnte, faſſen ſich in der einen zuſammen:
Lerne nur, um ſelbſt zu ſchaffen. Nur durch
dieſes goͤttliche Vermoͤgen der Production iſt
man wahrer Menſch, ohne daſſelbe nur eine
leidlich klug eingerichtete Maſchine. Wer nicht
mit demſelben hoͤheren Antrieb, womit der
Kuͤnſtler aus einer rohen Maſſe das Bild ſeiner
Seele und der eignen Erfindung hervorruft, es
zur vollkommnen Herausarbeitung des Bildes
ſeiner Wiſſenſchaft in allen Zuͤgen und Theilen
bis zur vollkommnen Einheit mit dem Urbild
gebracht hat, hat ſie uͤberhaupt nicht durch¬
drungen.
Alles Produciren ruht auf einer Begeg¬
nung oder Wechſeldurchdringung des Allgemei¬
nen und Beſondern. Den Gegenſatz jeder Be¬
ſonderheit gegen die Abſolutheit ſcharf zu faſ¬
ſen, und zugleich in demſelben untheilbaren Act
jene in dieſer und dieſe in jener zu begreifen, iſt
das Geheimniß der Production. Hierdurch
bilden ſich jene hoͤheren Einheitspuncte, wo¬
durch das Getrennte zur Idee zuſammenfließt,
jene hoͤheren Formeln, in die ſich das Concrete
aufloͤſt, die Geſetze „aus dem himmliſchen Ae¬
ther gebohren, die nicht die ſterbliche Natur
des Menſchen gezeugt hat.“
Die gewoͤhnliche Eintheilung der Erkennt¬
niß in die rationale und hiſtoriſche wird ſo be¬
ſtimmt, daß jene mit der Erkenntniß der Gruͤn¬
de verbunden, dieſe eine bloße Wiſſenſchaft des
Factum ſey. Man koͤnnte einwenden, daß ja auch
die Gruͤnde wieder bloß hiſtoriſch gewußt werden
koͤnnen: allein dann wuͤrden ſie eben nicht als
Gruͤnde aufgefaßt. Man hat den Ekelnamen
der Brodwiſſenſchaften allgemein denjenigen ge¬
geben, welche unmittelbarer als andere zum Ge¬
brauch des Lebens dienen. Aber keine Wiſſen¬
ſchaft verdient an ſich dieſe Benennung. Wer
die Philoſophie oder Mathematik als Mittel
behandelt, fuͤr den iſt ſie ſo gut bloßes Brod¬
ſtudium, als die Rechtsgelehrſamkeit oder Me¬
dicin fuͤr denjenigen, der kein hoͤheres Intereſſe
fuͤr ſie hat, als das der Nuͤtzlichkeit fuͤr ihn
5 *
ſelbſt. Der Zweck alles Brodſtudium iſt, daß
man die bloßen Reſultate kennen lernt, entwe¬
der mit gaͤnzlicher Vernachlaͤſſigung der Gruͤnde,
oder daß man auch dieſe nur um eines aͤußeren
Zwecks willen, z. B. um bey angeordneten
Pruͤfungen nothduͤrftige Rechenſchaft geben zu
koͤnnen, hiſtoriſch kennen lernt.
Man kann ſich dazu entſchließen, einzig,
weil man die Wiſſenſchaft zu einem bloß empi¬
riſchen Gebrauch erlernen will, d. h. ſich ſelbſt
bloß als Mittel betrachtet. Nun kann gewiß
niemand, der nur einen Funken von Achtung
fuͤr ſich ſelbſt hat, ſich gegenuͤber von der Wiſ¬
ſenſchaft ſelbſt ſo niedrig fuͤhlen, daß ſie fuͤr ihn
nur als Abrichtung fuͤr empiriſche Zwecke Werth
haͤtte. Die nothwendigen Folgen einer ſolchen
Art zu ſtudieren, ſind dieſe.
Erſtens iſt es unmoͤglich, ſich auch nur
das Empfangene richtig anzueignen, nothwen¬
dig alſo, daß man es falſch anwende, da der
Beſitz deſſelben nicht auf einem lebendigen Or¬
gan der Anſchauung, ſondern nur auf dem Ge¬
daͤchtniß beruht. Wie oft ſenden Univerſitaͤten
aus ihren Schulen ſolche Brodgelehrte zuruͤck,
die ſich alles, was ſich in ihrem Fach von Ge¬
lehrſamkeit da vorfindet, vortrefflich eingepraͤgt
haben, denen es aber fuͤr die Aufnahme des
Beſondern unter das Allgemeine gaͤnzlich an
Urtheil fehlt! Lebendige Wiſſenſchaftlichkeit
bildet zur Anſchauung; in dieſer aber iſt das
Allgemeine und Beſondere immer Eins. Der
Brodgelehrte dagegen iſt anſchauungslos, er
kann ſich im vorkommenden Falle nichts con¬
ſtruiren, ſelbſtthaͤtig zuſammenſetzen, und da
er im Lernen doch nicht auf alle moͤgliche Faͤlle
vorbereitet werden konnte, ſo iſt er in den mei¬
ſten von ſeinem Wiſſen verlaſſen.
Eine andere nothwendige Folge iſt, daß
ein ſolcher gaͤnzlich unfaͤhig iſt, fortzuſchreiten;
auch damit legt er den Hauptcharakter des Men¬
ſchen und des wahren Gelehrten insbeſondere
ab. Er kann nicht fortſchreiten, denn wahre
Fortſchritte ſind nicht nach dem Maaßſtab fruͤ¬
herer Lehren, ſondern nur aus ſich ſelbſt und
aus abſoluten Principien zu beurtheilen. Hoͤch¬
ſtens faßt er auf, was ſelbſt keinen Geiſt hat,
neu angeprieſene Mittel, dieſe oder jene fade
Theorie, die eben entſteht und die Neugier
reizt, oder einige neue Formeln, gelehrte No¬
vitaͤten u. ſ. w. Alles muß ihn als eine Be¬
ſonderheit erſcheinen, um von ihm aufgenom¬
men zu werden. Denn nur das Beſondere
kann gelernt werden und in der Qualitaͤt des
Gelerntſeyns iſt alles nur ein Beſonderes.
Deswegen iſt er der geſchworne Feind jeder aͤch¬
ten Entdeckung, die im Allgemeinen gemacht
wird, jeder Idee, weil er ſie nicht faßt, jeder
wirklichen Wahrheit, die ihn in ſeiner Ruhe
ſtoͤrt. Vergißt er ſich noch uͤberdieß ſo weit,
ſich dagegen aufzulehnen, ſo benimmt er ſich
entweder auf die bekannte ungeſchickte Art, das
Neue nach Principien und Anſichten zu beur¬
theilen, die jenes eben in Anſpruͤche nimmt,
mit Gruͤnden oder gar Auctoritaͤten zu ſtreiten,
die in dem vorhergehenden Zuſtand der Wiſſen¬
ſchaft etwa gelten konnten: oder es bleiben ihm
im Gefuͤhl ſeiner Nichtigkeit nur Schmaͤhun¬
gen oder die WaſfenWaffen der Verlaͤumdung uͤbrig,
zu denen er ſich innerlich berechtigt fuͤhlt, weil
jede neue Entdeckung wirklich ein perſoͤnlicher
Angriff auf ihn iſt.
Der Erfolg ihres Studierens oder wenig¬
ſtens die erſte Richtung deſſelben haͤngt fuͤr alle
mehr oder weniger von der Art und dem Grad
von Bildung und Kenntniß ab, den ſie auf die
Academie mitbringen. Von der erſten aͤußeren
und ſittlichen Bildung, die fuͤr dieſe Erzie¬
hungsſtufe ſchon erfodert wird, ſage ich nichts,
da alles, was hieruͤber zu ſagen waͤre, ſich von
ſelbſt verſteht.
Die ſogenannten Vorkenntniſſe betreffend,
ſo kann man die Art von Wiſſen, die vor dem
academiſchen erworben wird, nicht wohl anders
denn als Kenntniſſe bezeichnen. Fuͤr die Aus¬
dehnung derſelben giebt es ohne Zweifel auch ei¬
nen Punct, jenſeits und dieſſeits deſſen das
Rechte nicht beſteht.
Die hoͤheren Wiſſenſchaften laſſen ſich nicht
in der Qualitaͤt von Kenntniſſen beſitzen oder
erlangen. Es wuͤrde nicht rathſam ſeyn, zu
einer Zeit, wo doch in keiner Richtung die Ab¬
ſolutheit wahrhaft erreicht werden kann, dasje¬
nige Wiſſen zu anticipiren, das ſeiner Natur
nach darauf beruht und dieſen Charakter zugleich
allem anderen Wiſſen mittheilt. Ja auch von
Wiſſenſchaften, deren Stoff zum Theil in
Kenntniſſen beſteht, die nur im Zuſammen¬
hang des Ganzen ihren wahren Werth erlan¬
gen koͤnnen, jene mitzutheilen, ehe der Geiſt
durch die hoͤheren Wiſſenſchaften in dieſen ein¬
geweiht iſt, koͤnnte nur die ſpaͤtere Vernachlaͤſ¬
ſigung, aber keinen Vortheil zur Folge haben.
Der Erziehungseifer der letzten Zeit hat auch
die niedrern Schulen nur nicht ganz zu Acade¬
mieen umzuſchaffen zum Theil verſucht, aber
nur der Halbheit in der Wiſſenſchaft neuen
Vorſchub gethan.
Es iſt uͤberhaupt noͤthig, auf jeder Stufe
zu verweilen, bis man das ſichre Gefuͤhl hat,
ſich auf ihr feſtgeſetzt zu haben. Nur wenigen
ſcheint es verſtattet, Stufen zu uͤberſpringen,
obgleich dieß eigentlich nie der Fall iſt. New¬
ton las in zartem Alter die Elemente des Eu¬
klides, wie ein ſelbſtgeſchriebenes Werk oder
wie Andere unterhaltende Schriften leſen. Er
konnte daher von der Elementargeometrie un¬
mittelbar zu den hoͤheren Unterſuchungen uͤber¬
gehen.
In der Regel iſt das andere Extrem des
obigen der Fall, naͤmlich die tiefſte Vernachlaͤſ¬
ſigung der Vorbereitungsſchulen. Was vor
dem Eintritt in das academiſche Studium
ſchlechthin ſchon erworben ſeyn ſollte, iſt alles,
was zum Mechaniſchen in den Wiſſenſchaften
gehoͤrt. Theils hat uͤberhaupt jede Scienz ei¬
nen beſtimmten Mechanismus, theils macht
die allgemeine Verfaſſung der Wiſſenſchaften
mechaniſche Huͤlfsmittel, zu denſelben zu gelan¬
gen, unentbehrlich. Ein Beyſpiel des erſten
Falls ſind die allgemeinſten und erſten Opera¬
tionen der Analyſis des Endlichen; der acade¬
miſche Lehrer kann wohl ihre wiſſenſchaftlichen
Gruͤnde entwickeln, aber nicht den Rechenmei¬
ſter machen. Ein Beyſpiel des andern Falls
iſt die Kenntniß der Sprachen, alter und neuer,
da dieſe allein den Zugang zu den vornehm¬
ſten Quellen der Bildung und der Wiſſenſchaft
oͤffnen. Es gehoͤrt hieher uͤberhaupt alles, was
mehr oder weniger durch Gedaͤchtniß aufgefaßt
ſeyn will, da dieß im fruͤheren Alter theils
am ſchaͤrfſten iſt, theils am meiſten geuͤbt ſeyn
will.
Ich werde hier nur vorzuͤglich von dem
fruͤheren Studium der Sprachen reden, welches
nicht bloß als nothwendige Stufe zu jeder fer¬
neren in der wiſſenſchaftlichen Bildung unum¬
gaͤnglich iſt, ſondern einen unabhaͤngigen Werth
in ſich ſelbſt hat.
Die elenden Gruͤnde, aus welchen vorzuͤg¬
lich das Erlernen der alten Sprachen im fruͤhe¬
ren Alter von der modernen Erziehungskunſt
beſtritten wird, beduͤrfen keiner Widerlegung
mehr. Sie gelten nur fuͤr eben ſo viele beſon¬
dere Beweiſe der Gemeinheit der Begriffe, die
dieſer zu Grunde lagen, und ſind vorzuͤglich von
einem misverſtandenen Eifer gegen uͤberwiegen¬
de Ausbildung des Gedaͤchtniſſes nach den Vor¬
ſtellungen einer empiriſchen Pſychologie einge¬
geben. Die angeblichen Erfahrungen daruͤber
waren von gewiſſen Gedaͤchtnißgelehrten herge¬
nommen, die ſich zwar mit Kenntniſſen aller
Art angefuͤllt, aber dadurch freylich nicht hatten
erwerben koͤnnen, was ihnen die Natur verſagt
hatte. Daß uͤbrigens weder ein großer Feld¬
herr, noch ein großer Mathematiker, oder Philo¬
ſoph, oder Dichter ohne Umfang und Energie des
Gedaͤchtniſſes moͤglich war, konnte fuͤr ſie nicht in
Betracht kommen, da es auch gar nicht darauf
angeſehen war, große Feldherrn, Mathemati¬
ker, Dichter oder Philoſophen, ſondern nuͤtz¬
liche, buͤrgerliche, gewerbſame Menſchen zu
bilden.
Ich kenne keine Beſchaͤftigungsart, welche
mehr geeignet waͤre, im fruͤheren Alter dem er¬
wachenden Witz, Scharfſinn, Erfindungskraft
die erſte Uebung zu geben, als die vornehmlich
mit den alten Sprachen. Ich rede hier naͤm¬
lich nicht von der Wiſſenſchaft der Sprache im
abſtracten Sinn, in wie fern dieſe als unmit¬
telbarer Abdruck des inneren Typus der Ver¬
nunft Gegenſtand einer wiſſenſchaftlichen Con¬
ſtruction iſt. Eben ſo wenig von der Philolo¬
gie, zu der ſich Sprachkenntniß nur wie das
Mittel zu ſeinem viel hoͤheren Zwecke verhaͤlt.
Der bloße Sprachgelehrte heißt nur durch Mis¬
brauch Philolog; dieſer ſteht mit dem Kuͤnſtler
und Philoſophen auf den hoͤchſten Stufen,
oder vielmehr durchdringen ſich beyde in ihm.
Seine Sache iſt die hiſtoriſche Conſtruction der
Werke der Kunſt und Wiſſenſchaft, deren Ge¬
ſchichte er in lebendiger Anſchauung zu begrei¬
fen und darzuſtellen hat. Auf Univerſitaͤten
ſoll eigentlich nur Philologie, in dieſem Sinne
behandelt, gelehrt werden; der academiſche
Lehrer ſoll nicht Sprachmeiſter ſeyn. — Ich
kehre zu meiner erſten Behauptung zuruͤck.
Die Sprache an und fuͤr ſich ſelbſt ſchon
und bloß grammatiſch angeſehen, iſt eine fort¬
gehende angewandte Logik. Alle wiſſenſchaft¬
liche Bildung beſteht in der Fertigkeit, die
Moͤglichkeiten zu erkennen, da im Gegentheil
das gemeine Wiſſen nur Wirklichkeiten begreift.
Der Phyſiker, wenn er erkannt hat, daß unter
gewiſſen Bedingungen eine Erſcheinung wahr¬
haft moͤglich ſey, hat auch erkannt, daß ſie
wirklich iſt. Das Studium der Sprache als
Auslegung, vorzuͤglich aber als Verbeſſerung
der Lesart durch Conjectur, uͤbt dieſes Er¬
kennen der Moͤglichkeiten auf eine dem Kna¬
benalter angemeſſene Art, wie es noch im maͤnn¬
lichen Alter auch einen knabenhaft bleibenden
Sinn angenehm beſchaͤftigen kann.
Es iſt unmittelbare Bildung des Sinns,
aus einer fuͤr uns erſtorbenen Rede den lebendi¬
gen Geiſt zu erkennen, und es findet darin
kein anderes Verhaͤltniß ſtatt, als welches auch
der Naturforſcher zu der Natur hat. Die Natur
iſt fuͤr uns ein uralter Autor, der in Hierogly¬
phen geſchrieben hat, deſſen Blaͤtter coloſſal ſind,
wie der Kuͤnſtler bey Goͤthe ſagt. Eben der¬
jenige, der die Natur bloß auf dem empiriſchen
Wege erforſchen will, bedarf gleichſam am mei¬
ſten Sprach-Kenntniß von ihr, um die fuͤr
ihn ausgeſtorbene Rede zu verſtehen. Im hoͤ¬
heren Sinn der Philologie iſt daſſelbe wahr.
Die Erde iſt ein Buch, das aus Bruchſtuͤcken
und Rhapſodieen ſehr verſchiedener Zeiten zu¬
ſammengeſetzt iſt. Jedes Mineral iſt ein wah¬
res philologiſches Problem. In der Geologie
wird der Wolf noch erwartet, der die Erde
eben ſo wie den Homer zerlegt und ihre Zuſam¬
menſetzung zeigt.
In die beſondern Theile des academiſchen
Studium jetzt einzugehen und gleichſam das
ganze Gebaͤude deſſelben auf den erſten Grund¬
lagen aufzufuͤhren, iſt nicht moͤglich, ohne zu¬
gleich die Verzweigungen der Wiſſenſchaft ſelbſt
zu verfolgen und das organiſche Ganze derſelben
zu conſtruiren.
Ich werde demnach zunaͤchſt den Zuſam¬
menhang aller Wiſſenſchaften unter ſich, und
die Objectivitaͤt, welche dieſe innere, organi¬
ſche Einheit durch die aͤußere Organiſation
der Univerſitaͤten erhalten hat, darſtellen
muͤſſen.
Gewiſſermaßen wuͤrde dieſer Grundriß die
Stelle einer allgemeinen Encyclopaͤdie der Wiſ¬
ſenſchaften vertreten koͤnnen; da ich aber dieſe
nie rein an ſich, ſondern immer zugleich in der
beſondern Beziehung meines Vortrags betrach¬
ten werde, ſo kann natuͤrlich kein aus den hoͤch¬
ſten Principien auf die ſtrengſte Art abgeleite¬
tes Syſtem der Erkenntniſſe hier erwartet wer¬
den. Ich kann, ſo wie uͤberhaupt in dieſen
Vorleſungen, nicht darauf ausgehen, meinen
Gegenſtand zu erſchoͤpfen. Dieß kann man
nur in der wirklichen Conſtruction und Demon¬
ſtration erreichen: ich werde vieles nicht ſagen,
was vielleicht geſagt zu werden verdiente, deſto
mehr aber mich huͤten, etwas zu ſagen, was
nicht geſagt werden ſollte, entweder an ſich oder
weil es die gegenwaͤrtige Zeit und der Zuſtand
der Wiſſenſchaften nothwendig machten.
Vierte Vorleſung.
Ueber das Studium der reinen
Vernunftwiſſenſchaften: der
Mathematik, und der Philo¬
ſophie im Allgemeinen.
6
Das ſchlechthin Eine, von dem alle Wiſſen¬
ſchaften ausfließen und in das ſie zuruͤckkehren,
iſt das Urwiſſen, durch deſſen Einbildung in's
Concrete ſich von Einem Centralpunkt aus das
Ganze des Erkennens bis in die aͤußerſten Glie¬
der geſtaltet. Diejenigen Wiſſenſchaften, in
welchen es ſich als in ſeinen unmittelbarſten Orga¬
nen reflectirt, und das Wiſſen als Reflectiren¬
des mit dem Urwiſſen als Reflectirtem in Eins
zuſammenfaͤllt, ſind wie die allgemeinen Sen¬
ſoria in dem organiſchen Leib des Wiſſens.
Wir haben von dieſen Centralorganen aus¬
zugehen, um das Leben von ihnen aus durch
verſchiedene Quellen bis in die aͤußerſten Thei¬
le zu leiten.
Fuͤr denjenigen, der noch nicht ſelbſt im
Beſitz desjenigen Wiſſens iſt, welches mit dem
Urwiſſen Eins und es ſelbſt iſt, giebt es keinen
andern Weg, zur Anerkennung deſſelben geleitet
zu werden, als durch den Gegenſatz mit dem
andern Wiſſen.
6*
Ich kann hier unmoͤglich begreiflich ma¬
chen, wie wir dazu kommen, uͤberhaupt etwas
Beſonderes zu erkennen; nur ſo viel laͤßt ſich
beſtimmt auch hier zeigen, daß ein ſolches Er¬
kennen kein abſolutes und ebendarum auch nicht
unbedingt wahres ſeyn kann.
Man verſtehe dies nicht im Sinne eines
gewiſſen empiriſchen Skepticismus, der die
Wahrheit der ſinnlichen, d. i. ganz aufs Be¬
ſondere gerichteten Vorſtellungen aus dem
Grunde der Sinnentaͤuſchungen bezweifelt, ſo
daß wenn es keine optiſchen und andere Be¬
truͤge gaͤbe, wir alsdann unſerer ſinnlichen
Erkenntniß ſo ziemlich gewiß ſeyn koͤnnten;
eben ſo wenig in dem eines rohen Empirismus
uͤberhaupt, der die Wahrheit der ſinnlichen
Vorſtellungen allgemein darum bezweifelt, weil
doch die Affectionen, aus denen ſie entſpringen,
erſt durch die Seele zur Seele gelangen und
auf dieſem Wege viel von ihrer Urſpruͤnglichkeit
verlieren muͤſſen. Aller Cauſalbezug zwiſchen
Wiſſen und Seyn gehoͤrt ſelbſt mit zu der ſinn¬
lichen Taͤuſchung und wenn jenes ein end¬
liches iſt, ſo iſt es dieß vermoͤge einer Deter¬
mination, die in ihm ſelbſt und nicht außer ihm
liegt.
Aber eben dieß, daß es uͤberhaupt ein be¬
ſtimmtes Wiſſen iſt, macht es zu einem abhaͤn¬
gigen, bedingten, ſtets veraͤnderlichen; das
Beſtimmte an ihm iſt, wodurch es ein Man¬
nichfaltiges und Verſchiedenes iſt, die Form.
Das Weſen des Wiſſens iſt Eines, in allem
das gleich, und kann eben deswegen auch
nicht determinirt ſeyn. Wodurch ſich alſo
Wiſſen von Wiſſen unterſcheidet, iſt die Form,
die im Beſonderen aus der Indifferenz mit dem
Weſen tritt, welches wir in ſo fern auch das
Allgemeine nennen koͤnnen. Form getrennt
von Weſen aber iſt nicht reell, iſt bloß Schein;
das beſondere Wiſſen rein als ſolches demnach
kein wahres Wiſſen.
Dem beſondern ſteht das rein allgemeine
gegenuͤber, welches als ein von jenem abgeſon¬
dertes das abſtracte heißt. Es kann hier eben
ſo wenig die Entſtehung dieſes Wiſſens begreif¬
lich gemacht, es kann nur gezeigt werden, daß,
wenn in dem beſondern die Form dem
Weſen unangemeſſen iſt, das rein allgemeine
dagegen dem Verſtand als Weſen ohne Form
erſcheinen muͤſſe. Wo die Form nicht im We¬
ſen und durch daſſelbe erkannt wird, wird eine
Wirklichkeit erkannt, die nicht aus der Moͤglich¬
keit begriffen wird, wie die beſondern und
ſinnlichen Beſtimmungen der Subſtanz in
Ewigkeit nicht aus dem Allgemeinbegriff
derſelben eingeſehen werden koͤnnen; weshalb
diejenigen, die bey dieſem Gegenſatz ſtehen
bleiben, ſich außer dem Allgemeinen noch das
Beſondere unter dem Namen des Stoffs als
eines allgemeinen Inbegriffs der ſinnlichen Ver¬
ſchiedenheiten zugeben laſſen. Im entgegenge¬
ſetzten Fall wird die reine, abſtracte Moͤglich¬
keit begriffen, aus der man nicht zu der Wirk¬
lichkeit herauskommen kann, und dies und jenes
iſt, mit Leſſing zu reden, der breite Graben,
vor dem der große Haufen der Philoſophen von
jeher ſtehen geblieben iſt.
Es iſt klar genug, daß der letzte Grund
und die Moͤglichkeit aller wahrhaft abſoluten
Erkenntniß darin ruhen muß, daß eben das
Allgemeine zugleich auch das Beſondere und
daſſelbe, was dem Verſtand als bloße Moͤglich¬
keit ohne Wirklichkeit, Weſen ohne Form er¬
ſcheint, eben dieſes auch die Wirklichkeit und
die Form ſey: dieß iſt die Idee aller Ideen und
aus dieſem Grunde die des Abſoluten ſelbſt.
Es iſt nicht minder offenbar, daß das Abſolute
an ſich betrachtet, da es eben nur dieſe Iden¬
titaͤt iſt, an ſich weder das eine noch das an¬
dere der Entgegengeſetzten ſey, daß es aber als
das gleiche Weſen beyder, und demnach als
Identitaͤt, in der Erſcheinung nur entweder
im Realen oder im Idealen ſich darſtellen
koͤnne.
Die beyden Seiten der Erkenntniß, die,
in welcher die Wirklichkeit der Moͤglichkeit, und
die, in welcher die letzte der erſten vorangeht,
laſſen ſich naͤmlich unter ſich wieder als reale
und ideale entgegenſetzen. Waͤre es nun denk¬
bar, daß im Realen oder Idealen ſelbſt wie¬
der nicht das eine oder das andere der beyden
Entgegengeſetzten, ſondern die reine Identi¬
taͤt beyder, als ſolche, durchbraͤche, ſo waͤre da¬
mit ohne Zweifel die Moͤglichkeit einer abſolu¬
ten Erkenntniß ſelbſt innerhalb der Erſcheinung
gegeben.
Wenn demnach, um von dieſem Punct
aus weiter zu ſchließen, von der Identitaͤt der
Moͤglichkeit und Wirklichkeit rein als ſolcher im
Realen ein Reflex waͤre, ſo koͤnnte ſie eben ſo
wenig als ein abſtracter Begriff, wie als con¬
cretes Ding erſcheinen: das erſte nicht, weil
ſie alsdann eine Moͤglichkeit waͤre, der die
Wirklichkeit, das andere nicht, weil ſie eine
Wirklichkeit waͤre, der die Moͤglichkeit gegenuͤ¬
ber ſtuͤnde.
Da ſie ferner als Identitaͤt rein im Rea¬
len erſcheinen ſollte, muͤßte ſie ſich als reines
Seyn, und in wie fern dem Seyn die Thaͤ¬
tigkeit entgegengeſetzt iſt, als Negation aller
Thaͤtigkeit erſcheinen. Daſſelbe iſt nach dem
fruͤher aufgeſtellten Grundſatz einzuſehen: daß
jedes, was ſeinen Gegenſatz in einem andern
hat, nur, wie fern es in ſich abſolut iſt, zu¬
gleich wieder die Identitaͤt von ſich ſelbſt und
ſeinem Entgegengeſetzten iſt; denn das Reale
wird dieſem zufolge als Identitaͤt von Moͤglich¬
keit und Wirklichkeit nur erſcheinen koͤnnen, in
wie fern es in ſich ſelbſt abſolutes Seyn, alles
Entgegengeſetzte daher von ihm negirt iſt.
Ein ſolches reines Seyn mit Vernei¬
nung aller Thaͤtigkeit iſt nun ohne Zweifel der
Raum; aber eben derſelbe iſt auch weder ein
Abſtractum, denn ſonſt muͤßten mehrere Raͤume
ſeyn, da der Raum in allen Raͤumen nur Ei¬
ner iſt, noch ein Concretum, denn ſonſt muͤßte
ein abſtracter Begriff von ihm ſeyn, dem er als
Beſonderes nur unvollkommen angemeſſen waͤre;
er iſt aber ganz, was er iſt, das Seyn erſchoͤpft
in ihm den Begriff und er iſt ebendeswegen
und nur, weil er abſolut real iſt, auch wieder
abſolut ideal.
Zu Beſtimmung der gleichen Identitaͤt,
ſo fern ſie im Idealen erſcheint, koͤnnen wir
uns unmittelbar des Gegenſatzes mit dem
Raum bedienen; denn da dieſer als reines
Seyn mit Negation aller Thaͤtigkeit erſcheint,
ſo wird jene dagegen ſich als reine Thaͤtigkeit
mit Verneinung alles Seyns darſtellen muͤſ¬
ſen; aber aus dem Grunde, daß ſie reine
Thaͤtigkeit iſt, wird ſie nach dem angegebenen
Princip auch wieder die Identitaͤt von ſich und
dem Entgegengeſetzten, von Moͤglichkeit alſo
und Wirklichkeit ſeyn. Eine ſolche Identitaͤt
iſt die reine Zeit. Kein Seyn als ſolches
iſt in der Zeit, ſondern nur die Veraͤnderungen
des Seyns, welche als Thaͤtigkeitsaͤußerungen
und als Negationen des Seyns erſcheinen.
In der empiriſchen Zeit geht die Moͤglichkeit,
als Urſache, der Wirklichkeit voran, in der rei¬
nen Zeit iſt die erſte auch die andere. Als
Identitaͤt des Allgemeinen und Beſondern iſt
die Zeit ſo wenig ein abſtracter Begriff als ein
concretes Ding, und es gilt von ihr in dieſer
Beziehung alles, was von dem Raume gilt.
Dieſe Beweiſe ſind hinreichend, einzuſe¬
hen, ſowohl daß in der reinen Anſchauung des
Raums und der Zeit eine wahrhaft objective
Anſchauung der Identitaͤt von Moͤglichkeit und
Wirklichkeit als ſolcher gegeben iſt, als auch:
daß beyde bloß relative Abſolute ſind, da weder
Raum noch Zeit die Idee aller Ideen an ſich,
ſondern nur in getrenntem Reflex darſtellen;
daß aus demſelben Grunde weder jener noch
dieſe Beſtimmungen des An-ſich ſind, und
daß, wenn die in beyden ausgedruͤckte Einheit
Grund einer Erkenntniß oder Wiſſenſchaft iſt,
dieſe ſelbſt bloß zur reflectirten Welt gehoͤren,
aber nichts deſto weniger der Form nach abſolut
ſeyn muͤſſe.
Wenn nun, was ich hier nicht beweiſen,
ſondern nur als bewieſen in der Philoſophie
vorausſetzen kann, Mathematik, als Analyſis
und Geometrie, ganz in jenen beyden An¬
ſchauungsarten gegruͤndet iſt, ſo folgt, daß in
jeder dieſer Wiſſenſchaften eine Erkenntnißart
herrſchend ſeyn muͤſſe, die der Form nach abſo¬
lut iſt.
Die Realitaͤt uͤberhaupt und die der Er¬
kenntniß insbeſondere beruht weder allein auf
dem Allgemeinbegriff, noch allein auf der Be¬
ſonderheit; die mathematiſche Erkenntniß iſt
aber weder die eines bloßen Abſtractum, noch
die eines Concretum, ſondern der in der An¬
ſchauung dargeſtellten Idee. Die Darſtellung
des Allgemeinen und Beſondern in der Einheit,
heißt uͤberhaupt Conſtruction, die von der De¬
monſtration wahrhaft nicht unterſchieden iſt.
Die Einheit ſelbſt druͤckt ſich auf doppelte Weiſe
aus. Erſtens darinn, daß — um uns an das
Beyſpiel der Geometrie zu halten — allen
Conſtructionen derſelben, die ſich unter ſich wie¬
der unterſcheiden, als Triangel, Quadrat, Cir¬
kel u. ſ. w. dieſelbe abſolute Form zu Grunde
liegt, und zum wiſſenſchaftlichen Begreifen derſel¬
ben in ihrer Beſonderheit nichts außer der Einen
allgemeinen und abſoluten Einheit erfodert wird.
Zweytens darinn, daß das Allgemeine jeder be¬
ſondern Einheit, z. B. das allgemeine Dreyeck
mit dem beſonderen wieder Eins iſt, und hin¬
wiederum das beſondere Dreyeck ſtatt aller gilt
und Einheit und Allheit zugleich iſt. Dieſelbe
Einheit druͤckt ſich als die der Form und Weſen
aus, da die Conſtruction, welche als Erkennt¬
niß bloß Form ſcheinen wuͤrde, zugleich das
Weſen des Conſtruirten ſelbſt iſt.
Es iſt leicht, die Anwendung von dem Al¬
len auf die Analyſis zu machen.
Die Stelle der Mathematik im allgemei¬
nen Syſtem des Wiſſens iſt zur Genuͤge be¬
ſtimmt, ihre Beziehung auf das academiſche
Studium ergiebt ſich daraus von ſelbſt. Eine
Erkenntnißart, welche das Wiſſen uͤber das
Geſetz der Cauſalverbindung, das im gemeinen
Wiſſen, wie in einem großen Theil der ſoge¬
nannten Wiſſenſchaften herrſchend iſt, in
das Gebiet einer reinen Vernunftidentitaͤt er¬
hebt, bedarf keines aͤußern Zwecks. So ſehr
man auch uͤbrigens die großen Wirkungen der
Mathematik in ihrer Anwendung auf die allge¬
meinen Bewegungsgeſetze, in der Aſtronomie und
Phyſik uͤberhaupt, anerkennte, ſo waͤre derje¬
nige doch nicht zur Erkenntniß der Abſolutheit
dieſer Wiſſenſchaft gelangt, der ſie nur um die¬
ſer Folgen willen hochſchaͤtzte, und dieß uͤber¬
haupt ſowohl, als insbeſondere weil dieſe zum
Theil nur einem Misbrauch der reinen Ver¬
nunftevidenz ihren Urſprung verdanken. Die
neuere Aſtronomie geht als Theorie auf nichts
anders, als Umwandlung abſoluter, aus der
Idee fließender, Geſetze in empiriſche Noth¬
wendigkeiten aus und hat dieſen Zweck zu ihrer
vollkommenen Befriedigung erreicht; uͤbrigens
kann es durchaus nicht Sache der Mathematik,
in dieſem Sinn und wie ſie jetzt begriffen wird,
ſeyn, uͤber das Weſen oder An-ſich der Na¬
tur und ihrer Gegenſtaͤnde das Geringſte zu
verſtehen. Dazu waͤre noͤthig, daß ſie ſelbſt
vorerſt in ihren Urſprung zuruͤckginge und
den in ihr ausgedruͤckten Typus der Ver¬
nunft allgemeiner begriffe. In wie fern die
Mathematik eben ſo im Abſtracten, wie die
Natur im Concreten, der vollkommenſte objec¬
tivſte Ausdruck der Vernunft ſelbſt iſt, in ſo
fern muͤſſen alle Naturgeſetze, wie ſie in reine
Vernunftgeſetze ſich aufloͤſen, ihre entſprechen¬
den Formen auch in der Mathematik finden:
aber nicht ſo, wie man dieß bisher angenom¬
men hat, daß dieſe fuͤr jene nur beſtimmend,
und die Natur uͤbrigens in dieſer Identitaͤt ſich
nur mechaniſch verhalte, ſondern ſo, daß Ma¬
thematik und Naturwiſſenſchaft nur Eine und
dieſelbe von verſchiedenen Seiten angeſehene
Wiſſenſchaft ſeyn.
Die Formen der Mathematik, wie ſie
jetzt verſtanden werden, ſind Symbole, fuͤr
welche denen, die ſie beſitzen, der Schluͤſſel
verloren gegangen iſt, den, nach ſichern Spu¬
ren und Nachrichten der Alten, noch Euklides
beſaß. Der Weg zur Wiedererfindung kann
nur der ſeyn, ſie durchaus als Formen reiner
Vernunft und Ausdruͤcke von Ideen zu begrei¬
fen, die ſich in der objectiven Geſtalt in ein
anderes verwandelt zeigen. Je weniger der ge¬
genwaͤrtige Unterricht der Mathematik geeignet
ſeyn moͤchte, zu dem urſpruͤnglichen Sinn die¬
ſer Formen zuruͤckzufuͤhren, deſto mehr wird
die Philoſophie auf dem nun betretenen Wege
auch die Mittel der Entraͤthſelung und der
Wiederherſtellung jener uralten Wiſſenſchaft an
die Hand geben.
Der Lehrling achte fuͤrnehmlich ja einzig
auf dieſe Moͤglichkeit, ſo wie auf den bedeuten¬
den Gegenſatz der Geometrie und Analyſis, der
dem des Realismus und Idealismus in der
Philoſophie auffallend entſpricht.
Wir haben an der Mathematik den bloß
formellen Charakter der abſoluten Erkenntnißart,
den ſie ſo lange behalten wird, als ſie nicht voll¬
kommen ſymboliſch begriffen iſt, aufgezeigt.
Die Mathematik gehoͤrt in ſo fern noch zur
bloß abgebildeten Welt, als ſie das Urwiſſen,
die abſolute Identitaͤt nur im Reflex und, wel¬
ches davon eine nothwendige Folge iſt, in ge¬
trennter Erſcheinung zeigt. Die ſchlechthin
und in jeder Beziehung abſolute Erkenntnißart
wuͤrde demnach diejenige ſeyn, welche das Ur¬
wiſſen unmittelbar und an ſich ſelbſt zum Grund
und Gegenſtand haͤtte. Die Wiſſenſchaft aber,
die außer jenem kein anderes Urbild hat, iſt
nothwendig die Wiſſenſchaft alles Wiſſens, dem¬
nach die Philoſophie.
Es kann nicht, weder uͤberhaupt noch ins¬
beſondere, hier ein Beweis gefuͤhrt werden,
wodurch jedermaͤnniglich gezwungen wuͤrde, zu
geſtehen, Philoſophie ſey eben Wiſſenſchaft des
Urwiſſens; es kann nur bewieſen werden, eine
ſolche Wiſſenſchaft ſey uͤberhaupt nothwendig,
und man kann ſicher ſeyn, beweiſen zu koͤnnen,
daß jeder andere Begriff, den man etwa von
Philoſophie aufſtellen moͤchte, kein Begriff,
nicht etwa nur dieſer, ſondern uͤberhaupt einer
moͤglichen Wiſſenſchaft ſey.
Philoſophie und Mathematik ſind ſich da¬
rinn gleich, daß beyde in der abſoluten Iden¬
titaͤt des Allgemeinen und Beſondern gegruͤn¬
det, beyde alſo auch, in wie fern jede Einheit
dieſer Art Anſchauung iſt, uͤberhaupt in der
Anſchauung ſind; aber die Anſchauung der er¬
ſten kann nicht wieder wie die der letzten eine
reflectirte ſeyn, ſie iſt eine unmittelbare Ver¬
nunft- oder intellectuelle Anſchauung, die mit ih¬
rem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, ſchlechthin
identiſch iſt. Darſtellung in intellectueller An¬
ſchauung iſt philoſophiſche Conſtruction, aber
wie die allgemeine Einheit, die allen zu Grunde
liegt, ſo koͤnnen auch die beſondern, in deren
jeder die gleiche Abſolutheit des Urwiſſens auf¬
genommen wird, nur in der Vernunftanſchau¬
ung enthalten ſeyn und ſind in ſo fern Ideen.
7
Die Philoſophie iſt alſo die Wiſſenſchaft der
Ideen oder der ewigen Urbilder der Dinge.
Ohne intellectuelle Anſchauung keine Philo¬
ſophie! Auch die reine Anſchauung des Raums
und der Zeit iſt nicht im gemeinen Bewußt¬
ſeyn, als ſolchem; denn auch ſie iſt die, nur im
Sinnlichen reflectirte, intellectuelle. Aber der
Mathematiker hat das Mittel der aͤußern Dar¬
ſtellung voraus: in der Philoſophie faͤllt auch
die Anſchauung ganz in die Vernunft zuruͤck.
Wer ſie nicht hat, verſteht auch nicht, was
von ihr geſagt wird; ſie kann alſo uͤberhaupt
nicht gegeben werden. Eine negative Bedin¬
gung ihres Beſitzes iſt die klare und innige
Einſicht der Nichtigkeit aller bloß endlichen
Erkenntniß. Man kann ſie in ſich bilden:
in dem Philoſophen muß ſie gleichſam zum
Karakter werden, zum unwandelbaren Organ,
zur Fertigkeit, alles nur zu ſehen, wie es in
der Idee ſich darſtellt.
Ich habe hier nicht von der Philoſophie
uͤberhaupt, ich habe mir ſo weit von ihr zu re¬
den, als ſie ſich auf die erſte wiſſenſchaftliche
Bildung bezieht.
Von dem Nutzen der Philoſophie zu re¬
den, achte ich unter der Wuͤrde dieſer Wiſſen¬
ſchaft. Wer nur uͤberhaupt darnach fragen
kann, iſt ſicher noch nicht einmal faͤhig, ihre
Idee zu haben. Sie iſt durch ſich ſelbſt von
der Nuͤtzlichkeitsbeziehung frey geſprochen. Sie
iſt nur um ihrer ſelbſt willen; um eines An¬
dern willen zu ſeyn, wuͤrde unmittelbar ihr We¬
ſen ſelbſt aufheben.
Von den Vorwuͤrfen, die ihr gemacht
werden, halte ich nicht ganz unnoͤthig zu ſpre¬
chen: ſie ſoll ſich nicht durch Nuͤtzlichkeit em¬
pfehlen, aber auch nicht durch Vorſpiegelungen
ſchaͤdlicher Wirkungen, die man ihr zuſchreibt,
wenigſtens in aͤußern Beziehungen eingeſchraͤnkt
werden.
7 *
Fuͤnfte Vorleſung.
Ueber die gewoͤhnlichen Einwen¬
dungen gegen das Studium der
Philoſophie.
Wenn ich den ſehr gemein gewordenen
Vorwurf, daß die Philoſophie der Religion
und dem Staate gefaͤhrlich ſey, nicht mit
Stillſchweigen uͤbergehe, ſo iſt es, weil ich
glaube, daß die meiſten, die ſich hierauf entgeg¬
nend haben vernehmen laſſen, nicht im Stande
geweſen ſind, das gehoͤrige zu ſagen.
Die naͤchſte Antwort waͤre wohl die: was
mag das fuͤr ein Staat und was mag das fuͤr
eine Religion ſeyn, denen die Philoſophie ge¬
faͤhrlich ſeyn kann? Waͤre dies wirklich der
Fall, ſo muͤßte die Schuld an der vorgeblichen
Religion und dem angeblichen Staat liegen.
Die Philoſophie folgt nur ihren innern Gruͤn¬
den und kann ſich wenig bekuͤmmern, ob alles,
was von Menſchen gemacht iſt, damit uͤberein¬
ſtimme. Von der Religion rede ich hier nicht;
ich behalte mir vor, in der Folge die innigſte
Einheit beyder, und wie die eine die andere er¬
zeugt, darzuthun.
Was den Staat betrifft, ſo will ich die
Frage allgemein ſtellen: Wovon kann man in
der wiſſenſchaftlichen Beziehung mit Recht ſa¬
gen oder fuͤrchten, daß es dem Staat gefaͤhrlich
ſey? Es wird ſich alsdann ohne Zweifel von
ſelbſt ergeben, ob die Philoſophie etwas der
Art ſey oder ob etwas der Art aus ihr hervor¬
gehen koͤnne?
Eine Richtung in der Wiſſenſchaft halte ich
in Beziehung auf den Staat fuͤr verderblich und
die andere fuͤr untergrabend.
Die erſte iſt, wenn das gemeine Wiſſen
ſich zum abſoluten oder zur Beurtheilung deſſel¬
ben aufrichten will. Der Staat beguͤnſtige nur
erſt, daß der gemeine Verſtand Schiedsrichter
uͤber Ideen ſey, ſo wird dieſer ſich bald auch
uͤber den Staat erheben, deſſen auf Vernunft
und in Ideen gegruͤndete Verfaſſung er ſo wenig
wie dieſe begreift. Mit denſelben populaͤren
Gruͤnden, mit welchen er gegen die Philoſophie
zu ſtreiten meynt, kann er und noch viel ein¬
leuchtender die erſten Formen des Staates an¬
greifen. Ich muß erklaͤren, was ich unter ge¬
meinem Verſtand begreife. Keineswegs allein
oder vorzuͤglich den rohen, ſchlechthin ungebil¬
deten Verſtand, ſondern gleicherweiſe den durch
falſche und oberflaͤchliche Kultur zum hohlen
und leeren Raͤſonniren gebildeten Verſtand, der
ſich fuͤr abſolut gebildet haͤlt, und der in der
neueren Zeit ſich durch Herabwuͤrdigung alles
deſſen, was auf Ideen beruht, vorzuͤglich ge¬
aͤußert hat.
Dieſer Ideenleerheit, die ſich Aufklaͤrung
zu nennen unterſteht, iſt die Philoſophie am
meiſten entgegengeſetzt. Man wird zugeben
muͤſſen, daß es keine Nation in dieſer Erhe¬
bung eines raͤſonnirenden Verſtandes uͤber die
Vernunft weiter gebracht hat, als die franzoͤſi¬
ſche. Es iſt demnach die groͤßte auch hiſtori¬
ſche Ungereimtheit, zu ſagen: Philoſophie ſey
fuͤr Erhaltung der Rechtsgrundſaͤtze gefaͤhrlich,
(denn ich will mich ſo ausdruͤcken, da es aller¬
dings Verfaſſungen oder Zuſtaͤnde derſelben ge¬
ben koͤnnte, denen die Philoſophie zwar nicht
gefaͤhrlich, aber eben auch nicht guͤnſtig ſeyn
kann). Gerade diejenige Nation, die, einige
wenige Individuen fruͤherer Zeiten ausgenom¬
men, (denen man aber gewiß keinen Einfluß
auf die politiſchen Begebenheiten der ſpaͤteren
zuſchreiben wird), in keiner Epoche, am wenig¬
ſten in derjenigen, welche der Revolution voran¬
ging, Philoſophen hatte, war es, die das Beyſpiel
einer durch rohe Graͤuel bezeichneten Umwaͤl¬
zung mit derſelben Frevelhaftigkeit gab, mit
welcher ſie nachher zu neuen Formen der
Sklaverey zuruͤckgekehrt iſt. Ich laͤugne nicht,
daß Raͤſonneurs in allen Wiſſenſchaften und
nach allen Richtungen in Frankreich den Na¬
men der Philoſophen uſurpirt haben; es
moͤchte aber wohl keiner von denjenigen ſeyn,
denen unter uns dieſer Karakter unbeſtreitbar
zukommt, der einem einzigen von jenen ihn zu¬
geſtuͤnde. Es iſt nicht zu verwundern und waͤre
an ſich, wenn man nicht auf andere Weiſe uͤber
den Werth und die Bedeutung davon aufgeklaͤrt
wuͤrde, ſogar preiswuͤrdig, daß eine kraftvolle Re¬
gierung unter dieſem Volk jene leeren Abſtractio¬
nen proſcribirt, in welchen allerdings großentheils
oder allein beſtand, was die Franzoſen von wiſſen¬
ſchaftlichen Begriffen hatten. Mit hohlen Ver¬
ſtandesbegriffen laͤßt ſich freylich ſo wenig ein
Staat als eine Philoſophie bauen, und eine
Nation, die den Zugang zu den Ideen nicht
hat, thut Recht, wenigſtens Reſte von ſolchen
aus Truͤmmern vorhanden geweſener Formen
hervorzuſuchen.
Die Erhebung des gemeinen Verſtandes
zum Schiedsrichter in Sachen der Vernunft,
fuͤhrt ganz nothwendig die Ochlokratie im Reiche
der Wiſſenſchaften und mit dieſer fruͤher oder ſpaͤ¬
ter die allgemeine Erhebung des Poͤbels herbey.
Fade oder heuchleriſche Schwaͤtzer, die da mey¬
nen, ein gewiſſes ſuͤßlichtes Gemenge ſogenann¬
ter ſittlicher Grundſaͤtze an die Stelle der Ideen¬
herrſchaft zu ſetzen, verrathen nur, wie wenig
ſie ſelbſt von Sittlichkeit wiſſen. Es giebt keine
ohne Ideen, und alles ſittliche Handeln iſt es
nur als Ausdruck von Ideen.
Die andere Richtung, in welche ſich die
erſte verliert und welche die Aufloͤſung alles deſ¬
ſen, was auf Ideen gegruͤndet iſt, herbeyfuͤh¬
ren muß, iſt die auf das bloß Nuͤtzliche. Wenn
Einmal dieſes der hoͤchſte Maaßſtab fuͤr alles
iſt, ſo gilt er auch fuͤr die Staatsverfaſſung.
Nun giebt es aber wohl uͤberhaupt keine wan¬
delbarere Sicherheit, als jene; denn von dem,
was heute nuͤtzlich iſt, iſt es morgen das Ge¬
gentheil. Aber noch uͤberdieß muß dieſer, es
ſey durch welche Wirkung, ſich verbreitende Trieb
alles Große und jede Energie unter einer Na¬
tion erſticken. Nach dem Maaßſtabe deſſelben
waͤre die Erfindung des Spinnrads wichtiger,
als die eines Weltſyſtems, und die Einfuͤhrung
der Spaniſchen Schafzucht in einem Lande fuͤr
ein groͤßeres Werk zu achten, als die Umgeſtal¬
tung einer Welt durch die faſt goͤttlichen Kraͤfte
eines Eroberers. Wenn Philoſophie eine Na¬
tion groß machen koͤnnte, ſo waͤre es eine ſol¬
che, die ganz in Ideen iſt, die nicht uͤber den
Genuß gruͤbelte oder die Liebe zum Leben als
erſte Triebfeder obenanſetzte, ſondern die Ver¬
achtung des Todes lehrte und nicht die Tugen¬
den großer Karaktere pſychologiſch zergliederte.
In Deutſchland koͤnnte, da kein aͤußeres Band
es vermag, nur ein inneres, eine herrſchende
Religion oder Philoſophie, den alten National¬
karakter hervorrufen, der in der Einzelnheit
zerfallen iſt und immer mehr zerfaͤllt. Es iſt
gewiß, daß ein kleines, friedliches, zu keinen
großen Beſtimmungen berufenes Voͤlklein auch
keiner großen Motive bedarf; fuͤr dieſes ſcheint
es hinreichend, daß es leidlich zu eſſen und
zu trinken habe und der Induſtrie ſich ergebe.
Selbſt in groͤßeren Staaten zwingt die Un¬
verhaͤltnißmaͤßigkeit der Mittel, die ein ar¬
mer Boden darreicht, zu den Zwecken, die
Regierungen ſelbſt, ſich mit dieſem Nuͤtzlich¬
keitsgeiſt zu befreunden und alle Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften einzig auf das Streben darnach
anzuweiſen. Es leidet keinen Zweifel, daß
ſolchen Staaten die Philoſophie nichts nuͤtzen
kann, und wenn die Fuͤrſten anfangen, immer
mehr populaͤr zu werden, die Koͤnige ſelbſt
ſich ſchaͤmen, Koͤnige zu ſeyn und nur die er¬
ſten Buͤrger ſeyn wollen, auch die Philoſo¬
phie nur anfangen kann, ſich in eine buͤr¬
gerliche Moral umzuwandeln und von ihren
hohen Regionen in das gemeine Leben herab¬
zuſteigen.
Die Staatsverfaſſung iſt ein Bild der
Verfaſſung des Ideenreichs. In dieſem iſt
das Abſolute als die Macht, von der alles
ausfließt, der Monarch, die Ideen ſind —
nicht der Adel oder das Volk, weil das Be¬
griffe ſind, die nur im Gegenſatz gegen ein¬
ander Realitaͤt haben, ſondern — die Freyen:
die einzelnen wirklichen Dinge ſind die Sclaven
und Leibeigenen. Eine gleiche Stufenfolge
iſt unter den Wiſſenſchaften. Die Philoſo¬
phie lebt nur in Ideen, die Beſchaͤftigung
mit den einzelnen wirklichen Dingen uͤberlaͤßt
ſie den Phyſicis, Aſtronomis u. ſ. w. — Al¬
lein dieß ſind ja ſelbſt nur uͤberſpannte Ideen
und wer glaubt in dieſer Humanitaͤt und Auf¬
geklaͤrtheit der Zeiten noch an ſo hohe Bezie¬
hungen des Staats?
Wenn dem einbrechenden Strom, der im¬
mer ſichtbarer Hohes und Niederes vermiſcht,
ſeit auch der Poͤbel zu ſchreiben anhebt und
jeder Plebejer in den Rang der Urtheiler ſich
erhebt, irgend etwas Einhalt zu thun vermag,
ſo iſt es die Philoſophie, deren natuͤrlicher
Wahlſpruch das Wort iſt:
Odi profanum volgus et arceo.
Nachdem man angefangen hatte, die
Philoſophie, nicht ohne Wirkung, als gefaͤhr¬
lich fuͤr Staat und Kirche zu verſchreyen, ha¬
ben endlich auch die Inhaber verſchiedentlicher
Wiſſenſchaften ihre Stimme gegen ſie erhoben,
als ob ſie, auch in dieſer Beziehung, verderb¬
lich waͤre, dadurch, daß ſie von den gruͤndli¬
chen Wiſſenſchaften abziehe, ſie als entbehr¬
lich darſtelle u. ſ. w.
Es waͤre freylich vortrefflich, wenn auch
die Gelehrten gewiſſer Faͤcher in den Rang
der privilegirten Claſſen treten koͤnnten und
von Staats wegen feſtgeſetzt wuͤrde, es ſoll
in keinem Zweig des Wiſſens ein Fortſchritt,
oder gar eine Umwandelung Statt finden.
So weit iſt es bis jetzt, wenigſtens allgemein,
noch nicht gekommen, wird auch wohl nie da¬
hin kommen. Es iſt keine Wiſſenſchaft, die
an ſich in Entgegenſetzung mit der Philoſo¬
phie waͤre, vielmehr ſind alle eben durch ſie
und in ihr Eins. Es iſt alſo immer nur die
Wiſſenſchaft, wie ſie in irgend eines Men¬
ſchen Kopf exiſtiert; und iſt dieſe mit der
Wiſſenſchaft aller Wiſſenſchaften im Wider¬
ſtreit, deſto ſchlimmer fuͤr ſie! Warum iſt
denn die Geometrie ſeit langen Zeiten im un¬
geſtoͤrten Beſitz ihrer Lehrſaͤtze und im ruhigen
Fortſchreiten?
Ich weiß, daß nichts ſo ſehr, wie das
gruͤndliche Studium der Philoſophie, geſchickt
iſt, Achtung fuͤr die Wiſſenſchaft einzufloͤßen,
obgleich dieſe Achtung fuͤr die Wiſſenſchaft
nicht immer eben eine Achtung fuͤr die Wiſ¬
ſenſchaften ſeyn mag, wie ſie jetzt ſind; und
wenn denn nun auch diejenigen, welche in
der Philoſophie eine Idee der Wahrheit er¬
langt haben, von dem grund- und bo¬
denloſen und unzuſammenhaͤngenden Weſen,
das ihnen in andern Faͤchern unter jenem Na¬
men angeboten wird, ſich hinweg wenden und
das Tiefere, das Begruͤndetere, Zuſammen¬
haͤngendere ſuchen, ſo iſt ja dies reiner Ge¬
winn fuͤr die Wiſſenſchaft ſelbſt.
Daß diejenigen, die noch friſch, ohne
vorgefaßte Meynungen, mit dem erſten noch
unverfaͤlſchten Sinn fuͤr Wahrheit zu den Wiſ¬
ſenſchaften kommen, vor jeder Luft eines Zwei¬
fels an dem, was bisher gegolten oder ſelbſt
der Gewißheit der Unguͤltigkeit ſorgfaͤltig be¬
wahrt und wie geiſtige Mumien einbalſamirt
werden ſollen, dafuͤr habe ich wenigſtens kei¬
nen Sinn.
Um nur in die andern Wiſſenſchaften ein¬
dringen zu koͤnnen, muͤſſen ſie die Idee der
Wahrheit aus der Philoſophie empfangen ha¬
ben, und gewiß wird jeder mit deſto groͤßerem
Intereſſe zu einer Wiſſenſchaft kommen, je
mehr Ideen er zu ihr bringt; wie ich ſelbſt
waͤhrend der Zeit, daß ich hier gelehrt habe,
einen allgemeineren Eifer fuͤr alle Theile der
Naturwiſſenſchaft, durch die Wirkung der Phi¬
loſophie habe aufleben ſehen. Die von dem
Schaden, welchen Philoſophie bey der Ju¬
gend ſtiftet, ſo viel zu ſagen wiſſen, befinden
ſich in einem von beyden folgenden Faͤllen.
Entweder haben ſie ſich wirklich die Wiſſen¬
8
ſchaft dieſer Philoſophie verſchafft oder nicht.
In der Regel iſt das letzte der Fall: wie koͤn¬
nen ſie alſo urtheilen? Oder das erſte: ſo
verdanken ſie ſelbſt dem Studium der Philo¬
ſophie den Nutzen, einzuſehen, daß ſie keinen
Nutzen habe; wie man von Sokrates zu ſa¬
gen pflegt, er habe ſeinem Wiſſen wenigſtens
ſo viel verdankt, zu wiſſen, daß er nichts
wiſſe; dieſen Nutzen ſollten ſie doch auch an¬
dern zu Theil werden laſſen, und nicht ver¬
langen, daß man ihnen aufs Wort glaube,
da die eigene Erfahrung doch ohnehin einen
ſtaͤrkeren Eindruck machen wird, als ihre Ver¬
ſicherung: davon nichts zu ſagen, daß, ohne
jene Kenntniß, fuͤr die Jugend auch ihre
ſcharfſinnige Polemik gegen dieſe Philoſophie
unverſtaͤndlich, und ihre Anſpielungen dagegen,
ſo grob ſie uͤbrigens ſeyn moͤgen, verloren
waren.
Der gewoͤhnliche Troſt, den ſie bey der
Fruchtloſigkeit ihrer Warnungen und Vermah¬
nungen ſich ſelbſt und unter einander geben,
iſt dann der: daß es mit der Philoſophie
doch keinen langen Beſtand haben werde, daß
ſie nur die Sache einer Mode ſey, die aber,
wie noch immer geſchehen, zu ihrer Zeit auch
vorbeygehen werde, daß ja ohnehin alle Au¬
genblicke neue Philoſophieen entſtehen und was
dergleichen mehr iſt.
Was das Erſte betrifft, ſo befinden ſie
ſich ganz in dem Fall des Bauren, der an einen
tiefen Strom kommend, ihn nur vom Regen
geſchwellt meynt und wartet, bis er ablaufen
wird,
Rusticus expectat, dum defluat amnis;
at ille
Labitur et labetur in omne volubilis
aeuum.
Was das Letzte betrifft, den ſchnellen
Wechſel der Philoſophieen, ſo ſind ſie wirklich
nicht im Stande zu beurtheilen, ob das, was
ſie ſo nennen, wirklich verſchiedene Philo¬
ſophieen ſind. Die ſcheinbaren Veraͤnde¬
rungen der Philoſophie exiſtiren nur fuͤr die
Unwiſſenden. Sie gehen entweder jene uͤber¬
haupt nicht an, indem es allerdings und
8*
eben auch jetzt Beſtrebungen genug giebt, die
ſich fuͤr philoſophiſche ausgeben, in denen aber
keine Spur davon anzutreffen iſt; allein eben
um das, was ſich Philoſophie nennt, ohne es
zu ſeyn, von der Philoſophie abzuſcheiden,
muß ja unterſucht, und weil die, die jetzt
jung ſind, kuͤnftig doch auch unterſuchen ſol¬
len, Philoſophie ſtudiert werden. Oder ſie
ſind Verwandlungen, die einen wirklichen Be¬
zug auf Philoſophie haben, ſo ſind es Me¬
tamorphoſen ihrer Form. Ihr Weſen iſt un¬
wandelbar daſſelbe, ſeit dem erſten, der es
ausgeſprochen hat: aber ſie iſt eine leben¬
dige Wiſſenſchaft, und es giebt einen philo¬
ſophiſchen Kunſttrieb, wie es einen poetiſchen
giebt.
Wenn noch Umgeſtaltungen in der Phi¬
loſophie ſtatt finden, ſo iſt dieß Beweis, daß
ſie ihre letzte Form und abſolute Geſtalt noch
nicht gewonnen hat. Es giebt untergeordne¬
tere und hoͤhere, es giebt einſeitigere und
umfaſſendere Formen: jede ſogenannte neue
Philoſophie muß aber einen neuen Schritt in
der Form gethan haben. Daß die Erſchei¬
nungen ſich draͤngen, iſt begreiflich, weil die
vorhergehende unmittelbarer den Sinn ſchaͤrft,
den Trieb entzuͤndet. Selbſt aber auch, wenn
die Philoſophie in der abſoluten Form wird
dargeſtellt ſeyn — und war ſie es denn noch
nicht, ſo weit dieß uͤberhaupt moͤglich iſt? —
wird es niemand verwehrt ſeyn, ſie wieder
in beſondere Formen zu faſſen. Die Philo¬
ſophen haben das ganz eigenthuͤmlich voraus,
daß ſie in ihrer Wiſſenſchaft eben ſo einig,
als die Mathematiker ſind, (alle waren es,
die uͤberhaupt dafuͤr gelten konnten), und daß
doch jeder gleich original ſeyn kann, was jene
nicht koͤnnen. Die andern Wiſſenſchaften
koͤnnten ſich Gluͤck wuͤnſchen, wenn erſt bey
ihnen jener Wechſel der Formen ernſtlicher
eintraͤte. Um die abſolute Form zu gewin¬
nen, muß ſich der Geiſt in allen verſuchen,
dieß iſt das allgemeine Geſetz jeder freyen
Bildung.
Mit der Nachrede, daß die Philoſophie
eine bloße Sache der Mode ſey, kann es
auch nicht ſo ernſtlich gemeynt ſeyn. Die
ſie vorbringen, wuͤrden gerade darum ſich
nur um ſo leichter damit vertragen.
Wenn ſie nicht ganz nach der Mode
ſeyn wollen, ſo wollen ſie doch auch nicht
ganz altmodiſch ſeyn, und wenn ſie nur hie
und da etwas, und waͤr' es bloß ein Wort,
von der neueren oder neueſten Philoſophie er¬
haſchen koͤnnen, verſchmaͤhen ſie es ja doch
nicht, ſich damit auszuſchmuͤcken. Waͤr' es
wirklich nur eine Sache der Mode, wie ſie
vorgeben, und demnach eben ſo leicht, als
es iſt, einen Kleiderſchnitt oder Hut mit dem
andern zu verwechſeln, auch ein Syſtem der
Medicin, der Theologie u. ſ. w. nach den
neueſten Grundſaͤtzen aufzuſtellen, ſo wuͤrden
ſie gewiß nicht ſaͤumen es zu thun. Es muß
alſo doch mit der Philoſophie ſeine ganz eigen¬
thuͤmlichen Schwierigkeiten haben.
Sechſte Vorleſung.
Ueber das Studium der Phi¬
loſophie insbeſondre.
Wenn das Wiſſen uͤberhaupt an ſich ſelbſt
Zweck iſt, ſo muß dieß noch vielmehr und
im vorzuͤglichſten Sinne von demjenigen Wiſ¬
ſen gelten, in welchem alles andere Eins und
welches die Seele und das Leben von ihm iſt.
Kann Philoſophie erlernt, kann ſie uͤber¬
haupt durch Uebung, durch Fleiß erworben
werden: oder iſt ſie ein angebohrnes Vermoͤ¬
gen, ein freyes Geſchenk und durch Schi¬
ckung verliehen? Daß ſie als ſolche nicht
gelernt werden koͤnne, iſt in dem Vorherge¬
henden ſchon enthalten. Nur die Kenntniß
von ihren beſondern Formen laͤßt ſich auf die¬
ſem Wege erlangen. Jene ſoll aber, bey dem
Studium der Philoſophie, außer der Aus¬
bildung des nicht zu erwerbenden Vermoͤgens,
das Abſolute zu faſſen, mit beabſichtigt wer¬
den. Wenn geſagt wird, daß Philoſophie
nicht gelernt werden koͤnne, ſo iſt die Mey¬
nung nicht, daß deswegen nun jeder ſie ohne
Uebung beſitze, und daß man etwa eben ſo
von Natur philoſophiren koͤnne, als man ſich
von Natur beſinnen oder Gedanken verbin¬
den kann. Die Meiſten derjenigen, wel¬
che gegenwaͤrtig in der Philoſophie urtheilen
oder gar ſich einfallen laſſen, eigne Syſteme
auf die Bahn zu bringen, koͤnnten ſich von
dieſem Duͤnkel ſchon durch die Kenntniß des zu¬
vor Geweſenen ſattſam heilen. Es wuͤrde dann
ſeltner geſchehen, was ſo ſehr gewoͤhnlich iſt:
daß man zu Irrthuͤmern, die man ſchon ab¬
gelegt hat, durch ſeichtere Gruͤnde, als welche
man ſelbſt dafuͤr zu haben glaubte, bekehrt
werden ſoll; ſeltner, daß jemand ſich uͤberre¬
dete, mit ein Paar Wortformeln den Geiſt
der Philoſophie zu beſchwoͤren und die großen
Gegenſtaͤnde derſelben zu faſſen.
Das, was von der Philoſophie, nicht
zwar eigentlich gelernt, aber doch durch Un¬
terricht geuͤbt werden kann, iſt die Kunſtſeite
dieſer Wiſſenſchaft, oder was man allgemein
Dialektik nennen kann. Ohne dialektiſche Kunſt
iſt keine wiſſenſchaftliche Philoſophie! Schon
ihre Abſicht, Alles als Eins darzuſtellen und
in Formen, die urſpruͤnglich dem Reflex angehoͤ¬
ren, dennoch das Urwiſſen auszudruͤcken, iſt Be¬
weis davon. Es iſt dieſes Verhaͤltniß der
Speculation zur Reflexion, worauf alle Dia¬
lektik beruht.
Aber eben dieſes Princip der Antinomie
des Abſoluten und der bloß endlichen Formen,
ſo wie daß in der Philoſophie Kunſt und Pro¬
duction ſo wenig, als Form und Stoff in
der Poeſie getrennt ſeyn koͤnnen, beweiſt,
daß auch die Dialektik eine Seite hat, von
welcher ſie nicht gelernt werden kann, und
daß ſie nicht minder, wie das, was man,
der urſpruͤnglichen Bedeutung des Worts gemaͤß
die Poeſie in der Philoſophie nennen koͤnnte,
auf dem productiven Vermoͤgen beruht.
Von dem innern Weſen des Abſoluten,
welches die ewige In-Eins-Bildung des
Allgemeinen und Beſondern ſelbſt iſt, iſt in
der erſcheinenden Welt ein Ausfluß in der
Vernunft und der Einbildungskraft, welche
beyde Ein und daſſelbige ſind, nur jene im
Idealen, dieſe im Realen. Moͤgen diejeni¬
gen, denen nichts als ein duͤrrer und un¬
fruchtbarer Verſtand zu Theil geworden iſt,
ſich durch ihre Verwunderung ſchadlos halten,
daß man zur Philoſophie Einbildungskraft fo¬
dere. Statt desjenigen, was allein ſo genannt
werden kann, iſt Ihnen nur die lebhafte Ideen¬
aſſociation, die das Denken erſchwert oder die
falſche Imagination als eine regelloſe Repro¬
duction ſinnlicher Bilder bekannt. Jedes wah¬
re durch Einbildungskraft geſchaffene Kunſtwerk
iſt die Aufloͤſung des gleichen Widerſpruchs mit
dem, der in den Ideen, vereinigt, dargeſtellt
iſt. Der bloß reflectirende Verſtand begreift
nur einfache Reihen und die Idee, als Syn¬
theſis von Entgegengeſetzten, als Widerſpruch.
Das productive Vermoͤgen laͤßt ſich, wo
es iſt, bilden, erhoͤhen und in's Unendliche
durch ſich ſelbſt potenziiren: es laͤßt ſich im
Gegentheil auch im Keim erſticken oder wenig¬
ſtens in der Entwickelung hemmen. Wenn es
daher eine Anweiſung uͤber das Studium der
Philoſophie geben kann, ſo muß dieſe mehr ne¬
gativer Art ſeyn. Man kann den Sinn fuͤr
Ideen nicht ſchaffen, wo er nicht iſt; man kann
aber verhindern, daß er nicht erdruͤckt oder
falſch geleitet werde.
Der Trieb und die Begierde, das Weſen
der Dinge zu erforſchen, iſt den Menſchen all¬
gemein ſo tief eingepflanzt, daß ſie auch das
Halbe, das Falſche mit Eifer ergreifen, wenn
es nur den Schein und einige Hoffnung giebt,
daß es ſie zu dieſer Erkenntniß fuͤhre. An¬
ders begreift man nicht, wie bey einem, im
Ganzen recht ernſtlichen Ernſt, die oberflaͤch¬
lichſten Verſuche in der Philoſophie Theil¬
nahme erregen konnten, wenn ſie nur in ir¬
gend einer Richtung Gewißheit verſprachen.
Der Verſtand, den die Unphiloſophie
den geſunden nennt, da er nur der gemeine
iſt, verlangt gleichſam die baare und klin¬
gende Muͤnze der Wahrheit, und ſucht ſie
ſich ohne Ruͤckſicht auf das Unzureichende ſei¬
ner Mittel zu verſchaffen. In die Philoſo¬
phie uͤbergreifend erzeugt er die Ungeheuer ei¬
ner rohen dogmatiſchen Philoſophie, die mit
dem Bedingten das Unbedingte zu ermeſſen,
das Endliche zum Unendlichen auszudehnen
ſucht. Die Art zu ſchließen, welche in dem
Gebiet des Abhaͤngigen von dem einen zum an¬
dern reicht, ſoll ihm hier uͤber die Kluft vom
Abgeleiteten zum Abſoluten helfen. — In
der Regel verſteigt er ſich nicht einmal ſo
weit, ſondern bleibt unmittelbar bey dem,
was er ſeine Thatſachen nennt, ſtehen. Die
beſcheidenſte Philoſophie in dieſer Richtung
iſt die, welche allgemein zwar die Erfahrung
als die einzige oder Hauptquelle realer Er¬
kenntniß ausgiebt: uͤbrigens aber von den
Ideen zulaͤßt, daß ſie vielleicht Realitaͤt ha¬
ben, die ihnen nur fuͤr unſer Wiſſen gaͤnzlich
fehle. Man kann wohl ſagen, daß eine ſol¬
che Philoſophie ſtudieren ſchlimmer iſt, als
uͤberhaupt keine kennen. Eben uͤber die That¬
ſachen des Bewußtſeyns zu Etwas, was an
ſich ſelbſt abſolut waͤre, hinaus zu kommen,
iſt die urſpruͤngliche Abſicht aller Philoſophie:
dieſe Thatſachen-Erzaͤhlung dafuͤr auszuge¬
ben, wuͤrde denen, die es pflegen, nicht ein¬
mal eingekommen ſeyn, waͤre nicht wahre
Philoſophie vorausgegangen.
Der bloße Zweifel an der gemeinen und
endlichen Anſicht der Dinge iſt eben ſo wenig
Philoſophie; es muß zum kategoriſchen Wiſ¬
ſen der Nichtigkeit deſſelben kommen und die¬
ſes negative Wiſſen muß der poſitiven Anſchau¬
ung der Abſolutheit gleich werden, wenn es ſich
auch nur zum aͤchten Skepticismus erheben
ſoll.
Ganz zu den empiriſchen Verſuchen in
der Philoſophie gehoͤrt auch, was man ins¬
gemein Logik nennt. Wenn dieſe eine Wiſ¬
ſenſchaft der Form, gleichſam die reine Kunſt¬
lehre der Philoſophie ſeyn ſollte, ſo muͤßte
ſie das ſeyn, was wir oben unter dem Na¬
men der Dialektik charakteriſirt haben. Eine
ſolche exiſtirt noch nicht. Sollte ſie eine reine
Darſtellung der Formen der Endlichkeit in ih¬
rer Beziehung aufs Abſolute ſeyn, ſo muͤßte
ſie wiſſenſchaftlicher Skepticismus ſeyn: da¬
fuͤr kann auch Kants transſcendentale Logik
nicht gehalten werden. Verſteht man aber un¬
ter Logik eine rein formale, ſich den Inhalt
oder die Materie des Wiſſens entgegenſetzende,
Wiſſenſchaft, ſo waͤre dieſe an ſich eine der
Philoſophie direct entgegengeſetzte Scienz, da
dieſe eben auf die abſolute Einheit der Form
und des Weſens geht, oder; in wie fern ſie
den Stoff, in empiriſcher Bedeutung, als
das Concrete, von ſich abſondert; eben die
abſolute Realitaͤt, die zugleich abſolute Idea¬
litaͤt iſt, darſtellt. Sie iſt demnach eine ganz
empiriſche Doctrin, welche die Geſetze des ge¬
meinen Verſtandes als abſolute aufſtellt,
z. B. daß von zwey contradictoriſch entgegen¬
geſetzten Begriffen jedem Weſen nur Einer zu¬
komme, was in der Sphaͤre der Endlichkeit
ſeine vollkommne Richtigkeit hat, nicht aber
in der Spekulation, die nur in der Gleich¬
ſetzung Entgegengeſetzter ihren Anfang hat.
Auf gleiche Weiſe ſtellt ſie Geſetze des Ver¬
ſtandesgebrauchs in ſeinen verſchiedenen Func¬
tionen als Urtheilen, Eintheilen, Schließen
auf. Aber wie? Ganz empiriſch, ohne ihre
Nothwendigkeit zu beweiſen, wegen der ſie
an die Erfahrung verweiſt, z. B. daß mit
vier Begriffen zu ſchließen, oder in einer Ein¬
theilung Glieder ſich entgegenzuſetzen, die in
andrer Beziehung nicht wieder etwas Gemein¬
ſchaftliches haben, eine Ungereimtheit er¬
zeuge.
Geſetzt aber, die Logik ließe ſich darauf
ein, dieſe Geſetze aus ſpekulativen Gruͤnden
als nothwendige fuͤr dies reflectirte Erkennen
zu beweiſen, ſo waͤre ſie alsdann keine abſo¬
lute Wiſſenſchaft mehr, ſondern eine beſondere
Potenz in dem allgemeinen Syſtem der Ver¬
nunftwiſſenſchaft. Auf die vorausgeſetzte Ab¬
ſolutheit der Logik gruͤndet ſich ganz die ſoge¬
nannte Kritik der reinen Vernunft, welche
dieſe nur in der Unterordnung unter den Ver¬
ſtand kennt. In dieſer wird die Vernunft
als das Vermoͤgen zu ſchließen erklaͤrt, da ſie
vielmehr eine abſolute Erkenntnißart iſt, wie
die durch Schluß eine durchaus bedingte.
Waͤre keine andere Erkenntniß des Abſoluten,
als die durch Vernunftſchluͤſſe und keine an¬
dere Vernunft, als die in der Form des Ver¬
9
ſtandes, ſo muͤßten wir allerdings auf alle
unmittelbare und kategoriſche Erkenntniß des
Unbedingten und Ueberſinnlichen, wie Kant
lehrt, Verzicht thun.
Solch ein großer Misgriff, als es Kant
vorgeſtellt hat, iſt es nach dieſem nicht, daß
man der natuͤrlichen Trockenheit der Logik
durch anthropologiſche und pſychologiſche Vor¬
kenntniſſe aufzuhelfen gewußt hat, welches
vielmehr ein recht geſundes Gefuͤhl von dem
Werth der erſten vorausſetzt, wie auch alle,
welche die Philoſophie in Logik ſetzen, gleich¬
ſam eine angebohrne Hinneigung zur Pſycho¬
logie haben.
Was uͤbrigens von dieſer ſogenannten
Wiſſenſchaft an ſich ſelbſt zu halten ſey, be¬
greift ſich aus dem Vorhergehenden von ſelbſt.
Sie beruht auf der angenommenen Entgegen¬
ſetzung der Seele und des Leibes und man
kann leicht urtheilen, was bey Nachforſchun¬
gen uͤber etwas, das gar nicht exiſtirt, naͤm¬
lich eine dem Leib entgegengeſetzte Seele, her¬
auskommen kann. Alle wahre Wiſſenſchaft
des Menſchen kann nur in der weſentlichen
und abſoluten Einheit der Seele und des Lei¬
bes, d. h. in der Idee des Menſchen, alſo
uͤberhaupt nicht in dem wirklichen und empi¬
riſchen Menſchen, der von dieſer nur eine re¬
lative Erſcheinung iſt, geſucht werden.
Eigentlich muͤßte von der Pſychologie bey
der Phyſik die Rede ſeyn, die nun ihrerſeits
mit dem gleichen Grunde das bloß Leibliche
betrachtet, und die Materie und die Natur fuͤr
todt annimmt. Die wahre Naturwiſſenſchaft
kann eben ſo wenig aus dieſer Trennung, ſondern
ihrerſeits ebenſo nur aus der Identitaͤt der Seele
und des Leibes aller Dinge hervorgehen: ſo daß
zwiſchen Phyſik und Pſychologie kein realer Ge¬
genſatz denkbar iſt. Selbſt aber wenn man dieſen
zugeben wollte, wuͤrde man doch von der Pſycho¬
logie ſo wenig als etwa von der Phyſik in derſel¬
ben Entgegenſetzung begreifen, wie ſie an die
Stelle der Philoſophie geſetzt werden koͤnnte.
Da die Pſychologie die Seele nicht
in der Idee, ſondern der Erſcheinungsweiſe
nach und allein im Gegenſatz gegen dasjenige
9 *
kennt, womit ſie in jener Eins iſt, ſo hat ſie
die nothwendige Tendenz, alles im Menſchen ei¬
nem Cauſalzuſammenhang unterzuordnen, nichts
zuzugeben, was unmittelbar aus dem Abſolu¬
ten oder Weſen ſelbſt kaͤme, und hiemit alles
Hohe und Ungemeine herabzuwuͤrdigen. Die
großen Thaten der vergangenen Zeit erſcheinen,
unter das pſychologiſche Meſſer genommen, als
das natuͤrliche Reſultat einiger ganz begreifli¬
chen Motive. Die Ideen der Philoſophie er¬
klaͤren ſich aus mehreren ſehr groben pſychologi¬
ſchen Taͤuſchungen. Die Werke der alten gro¬
ßen Meiſter der Kunſt erſcheinen als das na¬
tuͤrliche Spiel einiger beſondern Gemuͤthskraͤfte,
und wenn z. B. Shakeſpeare ein großer Dich¬
ter iſt, ſo iſt es wegen ſeiner vortrefflichen
Kenntniß des menſchlichen Herzens und ſeiner
aͤußerſt feinen Pſychologie. Ein Hauptreſultat
dieſer Lehre iſt das allgemeine Applanirungsſy¬
ſtem der Kraͤfte. Wozu ſoll es doch etwas wie
Einbildungskraft, Genie u. ſ. w. geben? Im
Grunde ſind doch alle einander gleich, und was
man mit jenen Worten bezeichnet, iſt doch nur
das Uebergewicht der einen Seelenkraft uͤber
die andere und in ſo fern eine Krankheit, eine
Abnormitaͤt, ſtatt daß bey den vernuͤnftigen,
ordentlichen, nuͤchternen Menſchen alles in be¬
haglichem Gleichgewicht und darum in voll¬
kommner Geſundheit iſt.
Eine bloß empiriſche, auf Thatſachen be¬
ruhende, eben ſo wie eine bloß analytiſche und
formale Philoſophie, kann uͤberhaupt nicht zum
Wiſſen bilden; eine einſeitige Philoſophie we¬
nigſtens nicht zum abſoluten Wiſſen, da ſie viel¬
mehr fuͤr alle Gegenſtaͤnde deſſelben nur einen
eingeſchraͤnkten Geſichtspunct beſtimmt.
Die Moͤglichkeit einer zwar ſpekulativen,
aber uͤbrigens beſchraͤnkten Philoſophie iſt da¬
durch gegeben, daß weil Alles in Allem wieder¬
kehrt und auf allen moͤglichen Stufen dieſelbe
Identitaͤt nur unter verſchiedenen Geſtalten ſich
wiederholt, dieſe an einem untergeordneten
Punct der Reflexion aufgefaßt und in der be¬
ſondern Form, in der ſie auf dieſem erſcheint,
zum Princip der abſoluten Wiſſenſchaft gemacht
werden kann. Die Philoſophie, die aus ei¬
nem ſolchen Princip hervorgeht, iſt ſpekulativ,
weil es nur der Abſtraction von der Beſchraͤnkt¬
heit der Auffaſſung und des Denkens der beſon¬
dern Identitaͤt in der Abſolutheit bedarf, um
ſich zu dem rein und ſchlechthin Allgemeinen zu
erheben; ſie iſt einſeitig, in wie fern ſie dies
nicht thut, und von dem Ganzen ein nach die¬
ſem Geſichtspunct verzogenes und verſchobenes
Bild entwirft.
Die neuere Welt iſt allgemein die Welt
der Gegenſaͤtze, und wenn in der alten, aller ein¬
zelnen Regungen ungeachtet, doch im Ganzen
das Unendliche mit dem Endlichen unter einer
gemeinſchaftlichen Huͤlle vereinigt liegt, ſo hat
der Geiſt der ſpaͤteren Zeit zuerſt dieſe Huͤlle
geſprengt und jenes in abſoluter Entgegenſe¬
tzung mit dieſem erſcheinen laſſen. Von der
unbeſtimmbar groͤßeren Bahn, welche dieſer
durch das Schickſal vorgezeichnet iſt, uͤberſehen
wir nur einen ſo kleinen Theil, daß uns der
Gegenſatz leicht als das Weſentliche und die
Einheit, in die er ſich aufzuloͤſen beſtimmt iſt,
jederzeit nur als einzelne Erſcheinung auffallen
kann. Dennoch iſt gewiß, daß dieſe hoͤhere
Einheit, welche der gleichſam aus der unendli¬
chen Flucht zuruͤckgerufne Begriff mit dem
End ichen darſtellen wird, gegen die gewiſ¬
ſermaßen bewußtlos und noch vor der Trennung
vorhandene Identitaͤt der alten Welt ſich im
Ganzen wiederum eben ſo, wie das Kunſtwerk
zu dem organiſchen Werk der Natur verhalten
wird. Hiermit ſey es uͤbrigens, wie es wolle,
ſo iſt offenbar, daß in der neuern Welt Mittel¬
erſcheinungen nothwendig ſind, in denen der
reine Gegenſatz hervor tritt: es iſt nothwendig
ſogar, daß dieſer in der Wiſſenſchaft wie in
der Kunſt unter den verſchiedenſten Formen im¬
mer wiederkehre, bevor er ſich zur wahrhaft ab¬
ſoluten Identitaͤt verklaͤrt hat.
Der Dualismus als eine nicht nur uͤber¬
haupt, ſondern auch in ſeiner Wiederkehr noth¬
wendige Erſcheinung der neueren Welt muß alſo
das Uebergewicht durchaus auf ſeiner Seite
haben, wie denn die in einzelnen Individuen
durchgebrochene Identitaͤt faſt fuͤr nichts gerech¬
net werden kann, da dieſe ja von ihrer Zeit
ausgeſtoßen und verbannt, von der Nachwelt
nur als merkwuͤrdige Beyſpiele des Irrthums
begriffen worden ſind.
Da in dem Verhaͤltniß, in welchem die
großen Objectivitaͤten der Staatsverfaſſungen
und ſelbſt des allgemeinen religioͤſen Vereins
verſchwanden, ſich das goͤttliche Princip von
der Welt zuruͤckzog, ſo konnte in dem Aeußeren
der Natur nichts als der reine entſeelte Leib des
Endlichen zuruͤckbleiben, das Licht hatte ſich
ganz nach innen gewandt und die Entgegenſe¬
tzung des Subjectiven und Objectiven mußte ih¬
ren hoͤchſten Gipfel erreichen. Wenn man von
Spinoza abſieht, ſo iſt ſeit Carteſius, in wel¬
chem die Entzweyung ſich wiſſenſchaftlich be¬
ſtimmt ausgeſprochen hatte, bis auf dieſe
Zeit keine ihr entgegengeſetzte Erſcheinung, da
auch Leibnitz ſeine Lehre in einer Form aus¬
ſprach, die der Dualismus ſich wieder aneig¬
nen konnte. Durch dieſe Zerreißung der Idee
hatte auch das Unendliche ſeine Bedeutung ver¬
loren und diejenige, die es hatte, war eben ſo,
wie jene Entgegenſetzung, ſelbſt eine bloß ſubje¬
ctive. Dieſe Subjectivitaͤt vollkommen bis zur
gaͤnzlichen Verneinung der Realitaͤt des Abſolu¬
ten geltend zu machen, war der erſte Schritt,
der zur Wiederherſtellung der Philoſophie ge¬
ſchehen konnte und durch die ſogenannte kriti¬
ſche Philoſophie wirklich geſchehen iſt. Der
Idealismus der Wiſſenſchaftslehre hat nachher
dieſe Richtung der Philoſophie vollendet. Der
Dualismus naͤmlich iſt auch in dem letztern un¬
aufgehoben zuruͤckgeblieben. Aber das Unend¬
liche oder Abſolute im Sinn des Dogmatismus
iſt beſtimmter und mit der letzten Wurzel von
Realitaͤt, die es in jenem hatte, aufgehoben
worden. Als das An-ſich mußte es ein ab¬
ſolut-Objectives ſchlechthin außer dem Ich
ſeyn. Dieß iſt undenkbar, indem ja eben die¬
ſes Außer-dem-Ich-Setzen wieder ein Se¬
tzen fuͤr das Ich und demnach auch im Ich iſt.
Dieſes iſt der ewige und unaufloͤsliche Cirkel
der Reflexion, der durch die Wiſſenſchaftslehre
aufs vollkommenſte dargeſtellt iſt. Die Idee des
Abſoluten iſt in die Subjectivitaͤt, die ſie der Rich¬
tung der ſpaͤtern Philoſophie zufolge nothwendig
hatte, und aus welcher ſie nur durch einen, ſich
ſelbſt misverſtehenden, Dogmatismus ſcheinbar
geſetzt worden war, dadurch reſtituirt, daß ſie
als eine bloß im Handeln und fuͤr das Handeln
ſtattfindende Realitaͤt anerkannt iſt, und man
muß demnach den Idealismus in dieſer Form
als die vollkommen ausgeſprochene, zum Be¬
wußtſeyn ihrer ſelbſt gekommene, Philoſophie
der neuern Welt betrachten.
Im Carteſius, welcher ihr die erſte Rich¬
tung auf die Subjectivitaͤt durch das cogito
ergo ſum gab, und deſſen Einleitung der Phi¬
loſophie (in ſeinen Meditationen) mit den ſpaͤ¬
teren Begruͤndungen derſelben im Idealismus
in der That ganz gleichlautend iſt, konnten ſich
die Richtungen noch nicht rein geſondert darſtel¬
len, die Subjectivitaͤt von der Objectivitaͤt
nicht vollkommen geſchieden erſcheinen. Aber
ſeine eigentliche Abſicht, ſeine wahre Vorſtel¬
lung von Gott, Welt, Seele hat er deutlicher
als durch ſeine Philoſophie, uͤber welche man
ihn wegen des Ruhens auf dem ontologiſchen
Beweis der Realitaͤt Gottes, dieſes Reſtes
aͤchter Philoſophie, noch misverſtehen konnte,
in ſeiner Phyſik ausgeſprochen. Merkwuͤrdig
muß es allgemein erſcheinen, daß durch denſelbi¬
gen Geiſt, in welchem der Dualismus der
Philoſophie ſich entſchieden ausbildete, die me¬
chaniſche Phyſik in der neueren Welt zuerſt die
Geſtalt des Syſtems annahm. Mit dem um¬
faſſenden Geiſt des Carteſius ließe ſich die An¬
nihilation der Natur, welcher ſich der Idea¬
lismus in der oben angegebenen Geſtalt ruͤhmt,
eben ſo wahr und factiſch machen, als ſie es in
ſeiner Phyſik wirklich war. Es kann naͤmlich
fuͤr die Spekulation nicht den geringſten Unter¬
ſchied machen, ob die Natur in ihrer empiri¬
ſchen Geſtalt, im realen Sinn oder im idealen
wirklich iſt. Es iſt voͤllig gleichguͤltig, ob die
einzelnen wirklichen Dinge auf die Weiſe wirk¬
lich ſind, wie ſie ein grober Empirismus ſich
denkt, oder ob ſie nur, als Affectionen und
Beſtimmungen eines jeden Ich, als der
abſoluten Subſtanz, dieſem aber wirklich und
real inhaͤriren.
Die wahre Vernichtung der Natur iſt
allerdings die, ſie zu einem Ganzen abſoluter
Qualitaͤten, Beſchraͤnktheiten und Affectionen
zu machen, welche gleichſam fuͤr ideale Atomen
gelten koͤnnen. Im Uebrigen bedarf es keines
Beweiſes, daß eine Philoſophie, die irgend ei¬
nen Gegenſatz zuruͤcklaͤßt und nicht wahrhaft
die abſolute Harmonie hergeſtellt hat, auch
nicht zum abſoluten Wiſſen durchgedrungen
ſey und noch weniger dazu bilden koͤnne.
Die Aufgabe, die ſich jeder ſetzen muß,
unmittelbar, wie er zur Philoſophie gelangt,
iſt: die Eine wahrhaft abſolute Erkenntniß,
die ihrer Natur nach auch eine Erkenntniß des
Abſoluten iſt, bis zur Totalitaͤt und bis zum
vollkommnen Begreifen des Allen in Einem zu
verfolgen. Die Philoſophie oͤffnet in dem Ab¬
ſoluten und der Entfernung aller Gegenſaͤtze,
wodurch dieſes ſelbſt wieder, es ſey auf ſubje¬
ctive oder objective Weiſe, in eine Beſchraͤnktheit
verwandelt worden iſt, nicht nur uͤberhaupt das
Reich der Ideen, ſondern auch den wahren Ur¬
quell aller Erkenntniß der Natur, welche von
jenen ſelbſt nur das Werkzeug iſt.
Ich habe die letzte Beſtimmung der neue¬
ren Welt ſchon im Vorhergehenden ausgeſpro¬
chen, eine hoͤhere, wahrhaft alles begreifende,
Einheit darzuſtellen; ſie gilt eben ſo ſehr fuͤr
die Wiſſenſchaft als fuͤr die Kunſt, und eben
damit jene ſey, muͤſſen alle Gegenſaͤtze ſich ent¬
zweyen.
Bisher war von innern Gegenſaͤtzen in der
Philoſophie ſelbſt die Rede, ich werde noch ei¬
niger aͤußeren erwaͤhnen muͤſſen, welche ihr
Einſeitigkeit, falſche Richtung der Zeit und un¬
vollkommne Begriffe gegeben haben.
Siebente Vorleſung.
Ueber einige aͤußre Gegenſaͤtze der
Philoſophie, vornaͤmlich den
der poſitiven Wiſſenſchaften.
Als ein aͤußerer Gegenſatz der Philoſophie iſt
der ſchon fruͤher angefuͤhrte von Wiſſen und
Handeln, in ſeiner Anwendung auf jene, zu
betrachten. Dieſer iſt keineswegs ein ſolcher, der
in dem Geiſt der modernen Kultur uͤberhaupt
gegruͤndet waͤre, er iſt ein Produkt der neueſten
Zeit, ein unmittelbarer Sproͤßling der wohl¬
bekannten Aufklaͤrerey. Dieſer Richtung zufolge
giebt es eigentlich nur eine praktiſche und keine
theoretiſche Philoſophie. Wie Kant, nachdem
er in der theoretiſchen Philoſophie die Idee
Gottes, der Ewigkeit der Seele u. ſ. w. zu
bloßen Ideen gemacht hatte, dieſen dagegen in
der ſittlichen Geſinnung eine Art von Beglau¬
bigung zu geben ſuchte, ſo ſpricht ſich in jenen
Beſtrebungen nur die endlich gluͤckliche Errei¬
chung der vollkommenen Befreyung von Ideen
aus, fuͤr welche eine angebliche Sittlichkeit das
Aequivalent ſeyn ſoll.
Sittlichkeit iſt Gottaͤhnliche Geſinnung,
Erhebung uͤber die Beſtimmung durch das Con¬
crete, ins Reich des ſchlechthin Allgemeinen.
10
Philoſophie iſt gleiche Erhebung und darum
mit der Sittlichkeit innig Eins, nicht durch Un¬
teordnung, ſondern durch weſentliche und inne¬
re Gleichheit. Es iſt nur Eine Welt, welche
ſo, wie ſie im Abſoluten iſt, jedes in ſeiner Art
und Weiſe abzubilden ſtrebt, das Wiſſen als
Wiſſen, das Handeln als Handeln. Die Welt
des letzten iſt daher in ſich eben ſo abſolut, als
die des erſten, und die Moral eine nicht min¬
der ſpekulative Wiſſenſchaft, als die theoreti¬
ſche Philoſophie. Jede beſondere Pflicht ent¬
ſpricht einer beſondern Idee und iſt eine Welt
fuͤr ſich, wie jede Gattung in der Natur ihr Ur¬
bild hat, dem ſie ſo viel moͤglich aͤhnlich zu ſeyn
trachtet. Die Moral kann daher ſo wenig als
Philoſophie ohne Conſtruction gedacht werden.
Ich weiß, daß eine Sittenlehre in dieſem Sinne
noch nicht exiſtirt, aber die Principien und
Elemente einer ſolchen liegen in der hergeſtell¬
ten Abſolutheit der Philoſophie.
Die Sittlichkeit wird in der allgemeinen
Freyheit objectivirt und dieſe iſt ſelbſt nur gleich¬
ſam die oͤffentliche Sittlichkeit. Die Conſtruc¬
tion dieſer ſittlichen Organiſation iſt eine ganz
gleiche Aufgabe mit der der Conſtruction der
Natur, und ruht auf ſpekulativen Ideen. Der
Zerfall der aͤußern und innern ſittlichen Einheit
muͤßte ſich durch den Zerfall der Philoſophie
und die Aufloͤſung der Ideen ausdruͤcken. So
lange es aber nur die ſichtbare Ohnmacht iſt,
welche die Sache des gemeinen Verſtandes, da
er in ſeiner natuͤrlichen Geſtalt nicht mehr er¬
ſcheinen kann, unter dem erborgten Namen der
Sittlichkeit fuͤhrt, iſt dieſer kraftloſe Chor nur
die nothwendige, der Schwachheit zugegebene,
Begleitung des energiſchen Rhythmus der Zeit.
Die Sittlichkeit, nachdem der Begriff
derſelben lange genug bloß negativ geweſen, in
ihren poſitiven Formen zu offenbaren, wird ein
Werk der Philoſophie ſeyn. Die Scheu vor
der Spekulation, das angebliche Forteilen vom
bloß Theoretiſchen zum Praktiſchen, bewirkt im
Handeln nothwendig die gleiche Flachheit wie
im Wiſſen. Das Studium einer ſtreng theo¬
retiſchen Philoſophie macht uns am unmittel¬
barſten mit Ideen vertraut, und nur Ideen
10 *
geben dem Handeln Nachdruck und ſittliche Be¬
deutung.
Ich erwaͤhne noch eines andern aͤußern
Gegenſatzes, den die Philoſophie gefunden hat,
des der Religion. Nicht in dem Sinn, in
welchem zu andrer Zeit Vernunft und Glauben
im Widerſtreit vorgeſtellt wurden, ſondern in
einem, neueren Urſprungs, nach welchem Reli¬
gion als reine Anſchauung des Unendlichen, und
Philoſophie, welche als Wiſſenſchaft nothwen¬
dig aus der Identitaͤt derſelben herausgeht,
entgegengeſetzt werden. Wir ſuchen vorerſt,
uns dieſen Gegenſatz verſtaͤndlich zu machen,
um nachher zu finden, worauf es mit ihm ab¬
geſehen ſey.
Daß die Philoſophie ihrem Weſen nach
ganz in der Abſolutheit iſt, und auf keine Weiſe
aus ihr herausgeht, iſt eine vielfach ausgeſpro¬
chene Behauptung. Sie kennt vom Unendli¬
chen zum Endlichen keinen Uebergang, und be¬
ruht ganz auf der Moͤglichkeit, die Beſonder¬
heit in der Abſolutheit und dieſe in jener zu be¬
greifen, welches der Grund der Lehre von den
Ideen iſt. „Aber eben daß der Philoſoph die
Beſonderheit in der Abſolutheit darſtellt, und
nicht unmittelbar, wie von Natur, jene in die¬
ſer und dieſe in jener anſchaut, ſetzt ſchon eine
vorhergegangene Differenziirung und ein Her¬
ausgehen aus der Identitaͤt voraus.“ Nach
dieſer naͤheren Beſtimmung wuͤrde der hoͤchſte
Zuſtand des Geiſtes in Bezug aus das Abſolute
ein ſo viel moͤglich bewußtloſes Bruͤten oder ein
Stand der gaͤnzlichen Unſchuld ſeyn muͤſſen, in
welchem jenes Anſchauen ſich ſogar ſelbſt nicht
als Religion begriffe, weil damit ſchon Refle¬
xion und ein Heraustreten aus der Identitaͤt
geſetzt waͤre.
Nachdem alſo die Philoſophie die Idee
des Abſoluten hergeſtellt, von der Beſchraͤn¬
kung der Subjectivitaͤt befreyt, und in objecti¬
ven Formen, ſo weit ihr dieß verſtattet iſt, dar¬
zuſtellen verſucht hat, iſt jenes als ein neues
und gleichſam das letzte Mittel der Subjectivi¬
rung ergriffen worden, die Wiſſenſchaft zu ver¬
achten, weil dieſe allgemeinguͤltig, der Form¬
loſigkeit entgegengeſetzt, und mit Einem Wort,
weil ſie Wiſſenſchaft iſt. Es iſt nicht zu ver¬
wundern, daß in einem Zeitalter, wo ein be¬
ſtimmter Dilettantismus ſich faſt uͤber alle Ge¬
genſtaͤnde verbreitet hat, auch das Heiligſte
ihm nicht entgehen konnte, und dieſe Art des
Nichtkoͤnnens oder Nichtwollens ſich in die Re¬
ligion zuruͤckzieht, um den hoͤhern Anfoderun¬
gen zu entgehen.
Preis denen, die das Weſen der Religion
neu verkuͤndet, mit Leben und Energie darge¬
ſtellt und ihre Unabhaͤngigkeit von Moral und
Philoſophie behauptet haben! Wenn ſie wol¬
len, daß Religion nicht durch Philoſophie er¬
langt werde, ſo muͤſſen ſie mit dem gleichen
Grunde wollen, daß Religion nicht die Philo¬
ſophie geben, oder an ihre Stelle treten koͤnne.
Was unabhaͤngig von allem objectiven Vermoͤ¬
gen erreicht werden kann, iſt jene Harmonie
mit ſich ſelbſt, die zur innern Schoͤnheit wird;
aber dieſe auch objectiv, es ſey in Wiſſenſchaft
oder Kunſt, darzuſtellen, iſt eine von jener
bloß ſubjectiven Genialitaͤt ſehr verſchiedene Auf¬
gabe. Die daher ihr an ſich loͤbliches Beſtre¬
ben nach jener Harmonie, oder wohl gar nur
das lebhaft gefuͤhlte Beduͤrfniß derſelben, fuͤr
das Vermoͤgen halten, ſie auch aͤußerlich zu of¬
fenbaren, werden ohne die hoͤhere Bedingung
mehr nur die Sehnſucht nach Poeſie und Phi¬
loſophie, als ſie ſelbſt, ausdruͤcken, in beyden
auf das Formloſe wirken, in der Philoſophie
das Syſtem verrufen, das ſie, gleicherweiſe, zu
machen und als Symbolik zu verſtehen unfaͤ¬
hig ſind.
Auch Poeſie alſo und Philoſophie, welche
eine andere Art des Dilettantismus entgegen¬
ſetzt, ſind ſich darin gleich, daß zu beyden ein
aus ſich ſelbſt gezeugtes, urſpruͤnglich ausge¬
bohrnes Bild der Welt erfodert wird. Der
groͤßere Theil haͤlt ſich mit einem bloß ſocialen
Bild der Welt zur Kunſt hinlaͤnglich ausgeruͤ¬
ſtet und faͤhig, die ewigen Ideen derſelben aus¬
zudruͤcken: immer noch der beſſere im Ver¬
gleich mit jenen, die ohne die geringſte Erfah¬
rung der Welt, mit der Einfalt der Kinder,
truͤbſelig dichten. Der Empirismus iſt in der
Poeſie eben ſo wohl und allgemeiner als in der
Philoſophie herrſchend. Diejenigen, die auch
etwa zufaͤlligerweiſe in Erfahrung gebracht, daß
alle Kunſt von der Anſchauung der Natur und
des Univerſum aus und in ſie zuruͤckkehre, hal¬
ten dieſer Vorſtellung zufolge die einzelnen Er¬
ſcheinungen oder uͤberhaupt Beſonderheiten fuͤr
die Natur, und meynen, die ihr eingebohrne
Poeſie aufs vollkommenſte zu faſſen, indem ſie
jene zu Allegorieen von Empfindungen und Ge¬
muͤthszuſtaͤnden machen, womit denn, wie
leicht zu ſehen, dem Empirismus und der Sub¬
jectivitaͤt, beyden ihr hoͤchſtes Recht widerfaͤhrt.
In der oberſten Wiſſenſchaft iſt alles Eins
und urſpruͤnglich verknuͤpft, Natur und Gott,
Wiſſenſchaft und Kunſt, Religion und Poeſie,
und wenn ſie in ſich alle Gegenſaͤtze aufhebt,
ſteht ſie auch mit nichts anderm nach außen in
wahrhafter oder anderer Entgegenſetzung, als
welche die Unwiſſenſchaftlichkeit, der Empiris¬
mus, oder eine oberflaͤchliche Liebhaberey, ohne
Gehalt und Ernſt, machen moͤgen.
Die Philoſophie iſt unmittelbare Darſtel¬
lung und Wiſſenſchaft des Urwiſſens ſelbſt, aber
ſie iſt es nur ideal, nicht real. Koͤnnte die
Intelligenz, in Einem Akt des Wiſſens, das
abſolute Ganze, als ein in allen Theilen vollen¬
detes Syſtem real begreifen, ſo hoͤrte ſie eben
damit auf endlich zu ſeyn, ſie begriffe Alles
wirklich als Eines, aber ſie begriffe eben des¬
wegen Nichts als Beſtimmtes.
Die reale Darſtellung des Urwiſſens iſt
alles andere Wiſſen, aber in dieſem herrſcht
auch die Abſonderung und Trennung, und es
kann nie in dem Individuum real Eins wer¬
den, ſondern allein in der Gattung, und auch
in dieſer nur fuͤr eine intellectuelle Anſchauung,
die den unendlichen Fortſchritt als Gegenwart
erblickt.
Nun iſt aber allgemein einzuſehen, daß
das Reell-Werden einer Idee in beſtaͤndigem
Fortſchritt, ſo daß zwar nie das Einzelne, aber
doch das Ganze ihr angemeſſen iſt, ſich als Ge¬
ſchichte ausdruͤcke. Geſchichte iſt weder das
rein Verſtandes-Geſetzmaͤßige, dem Begriff
Unterworfene, noch das rein Geſetzloſe, ſon¬
dern was, mit dem Schein der Freyheit im
Einzelnen, Nothwendigkeit im Ganzen verbin¬
det. Das wirkliche Wiſſen, da es ſucceſſive
Offenbarung des Urwiſſens iſt, hat demnach
nothwendig eine hiſtoriſche Seite, und in wie
fern alle Geſchichte auf die Realiſirung eines
aͤußern Organismus als Ausdrucks von Ideen
geht, hat die Wiſſenſchaft auch das nothwen¬
dige Streben, ſich eine objective Erſcheinung
und aͤußere Exiſtenz zu geben.
Dieſe aͤußere Erſcheinung kann nur der
Abdruck des innern Organismus des Urwiſſens
ſelbſt, und alſo der Philoſophie ſeyn, nur daß
ſie getrennt darſtellt, was in jenem, und eben
ſo in dieſer, Eines iſt.
Wir haben demnach vorerſt den innern
Typus der Philoſophie von dem gemeinſchaft¬
lichen Quell der Form und des Stoffes abzulei¬
ten, um jenem gemaͤß die Form eines aͤußern
Organismus, in welchem das Wiſſen wahrhaft
objectiv wird, zu beſtimmen.
Die reine Abſolutheit fuͤr ſich iſt nothwen¬
dig auch reine Identitaͤt, aber die abſolute
Form dieſer Identitaͤt iſt: ſich ſelbſt auf ewige
Weiſe Subject und Object zu ſeyn; dieſes koͤn¬
nen wir als bereits bewieſen vorausſetzen.
Nicht das Subjective oder Objective in dieſem
ewigen Erkenntnißakt, als ſolches, iſt die Abſo¬
lutheit, ſondern das, was von beyden das
gleiche Weſen iſt, und was eben deswegen
durch keine Differenz getruͤbt wird. Dieſelbe
identiſche Weſenheit iſt in dem, was wir die
objective Seite jenes abſoluten Producirens
nennen koͤnnen, als Idealitaͤt in die Realitaͤt,
und in dem, was die ſubjective, als Realitaͤt in
die Idealitaͤt gebildet, ſo daß in jeder von bey¬
den die gleiche Subject-Objectivitaͤt, und in
der abſoluten Form auch das ganze Weſen des
Abſoluten geſetzt iſt.
Bezeichnen wir dieſe zwey Seiten als zwey
Einheiten, ſo iſt das Abſolute an ſich weder
die eine noch die andere dieſer Einheiten, denn
es ſelbſt iſt ja eben nur die Identitaͤt, das
gleiche Weſen einer jeden und dadurch beydes,
und demnach ſind beyde im Abſoluten, obwohl
auf eine nicht unterſchiedene Weiſe, da in bey¬
den der Form und dem Weſen nach daſſel¬
bige iſt.
Wird nun das Abſolute als dasjenige auf¬
gefaßt, was an ſich reine Identitaͤt, aber als
dieſe zugleich das nothwendige Weſen der bey¬
den Einheiten iſt, ſo haben wir damit den
abſoluten Indifferenzpunct der Form und des
Weſens aufgefaßt, denjenigen, von dem alle
Wiſſenſchaft und Erkenntniß ausfließt.
Jede der beyden Einheiten iſt in der Ab¬
ſolutheit was die andere iſt. Aber ſo nothwendig
die weſentliche Einheit beyder der Karakter der
Abſolutheit ſelbſt iſt, ſo nothwendig iſt es, daß
beyde in der Nicht-Abſolutheit als Nicht-Ei¬
nes und verſchieden erſcheinen. Denn geſetzt
in der Erſcheinung wuͤrde nur die eine unter¬
ſchieden, ſo waͤre dieſe auch als die eine im
Abſoluten; demnach als ausſchließend die ent¬
gegengeſetzte, und ſonach ſelbſt als nicht abſo¬
lut, welches gegen die Vorausſetzung iſt.
Beyde differenziiren ſich alſo fuͤr die Er¬
ſcheinung nothwendig, wie ſich das abſolute Le¬
ben der Weltkoͤrper durch zwey relativ-verſchie¬
dene Brennpuncte ausdruͤckt. Die Form, die
in der Abſolutheit mit dem Weſen Eines und
es ſelbſt war, wird als Form unterſchieden.
In der erſten als Einbildung der ewigen Ein¬
heit in die Vielheit, der Unendlichkeit in die
Endlichkeit. Dieſes iſt die Form der Natur,
welche, wie ſie erſcheint, jederzeit nur ein Mo¬
ment oder Durchgangspunct in dem ewigen Akt
der Einbildung der Identitaͤt in die Differenz iſt.
Nein fuͤr ſich betrachtet iſt ſie die Einheit, wo¬
durch ſich die Dinge oder Ideen von der Iden¬
titaͤt als ihrem Centro entfernen und in ſich
ſelbſt ſind. Die Naturſeite iſt alſo an ſich ſelbſt
nur die eine Seite aller Dinge.
Die Form der andern Einheit wird als
Einbildung der Vielheit in die Einheit, der
Endlichkeit in die Unendlichkeit unterſchieden
und iſt die der idealen oder geiſtigen Welt.
Dieſe rein fuͤr ſich betrachtet iſt die Einheit,
wodurch die Dinge in die Identitaͤt als ihr
Centrum zuruͤckgehen und im Unendlichen ſind,
wie ſie durch die erſte in ſich ſelbſt ſind.
Die Philoſophie betrachtet die beyden Ein¬
heiten nur in der Abſolutheit und demnach auch
nur in ideeller, nicht reeller Entgegenſetzung.
Ihr nothwendiger Typus iſt: den abſoluten
Centralpunct gleicherweiſe in den beyden relati¬
ven und hinwiederum dieſe in jenem darzuſtel¬
len, und dieſe Grundform, welche im Ganzen
ihrer Wiſſenſchaft herrſchend iſt, wiederholt ſich
nothwendig auch im Einzelnen.
Dieſer innere Organismus des Urwiſſens
und der Philoſophie iſt es nun auch, welcher
in dem aͤußeren Ganzen der Wiſſenſchaften ſich
ausdruͤcken, und durch Trennung und Ver¬
bindung derſelben zu einem Koͤrper conſtruiren
muß.
Alles Objectivwerden des Wiſſens geſchieht
nur durch Handeln, welches ſelbſt wieder ſich
aͤußerlich durch ideale Producte ausdruͤckt. Das
allgemeinſte derſelben iſt der Staat, der, wie
ſchon fruͤher bemerkt wurde, nach dem Urbild
der Ideenwelt geformt iſt. Aber eben weil der
Staat ſelbſt nur ein objectiv gewordenes Wiſſen
iſt, begreift er nothwendig in ſich wieder einen
aͤußern Organismus fuͤr das Wiſſen als ſolches,
gleichſam einen ideellen und geiſtigen Staat:
die Wiſſenſchaften aber, in ſo fern ſie durch
oder in Bezug auf den Staat Objectivitaͤt er¬
langen, heißen poſitive Wiſſenſchaften. Der
Uebergang in die Objectivitaͤt ſetzt nothwendig
die allgemeine Trennung der Wiſſenſchaften als
beſonderer, da ſie nur im Urwiſſen Eins ſind.
Aber der aͤußere Schematismus ihrer Tren¬
nung und ihrer Vereinigung muß doch wieder
nach dem Bild des innern Typus der Philoſo¬
phie entworfen ſeyn. Nun beruht dieſer vor¬
zuͤglich auf drey Puncten, dem abſoluten In¬
differenzpunct, in welchem reale und ideale
Welt als Eins erblickt werden, und den zwey
nur relativ oder ideell entgegengeſetzten, wovon
der eine der im Realen ausgedruͤckte abſolute
und das Centrum der realen Welt, der andere
der im Idealen ausgedruͤckte abſolute und das
Centrum der idealen Welt iſt. Es wird alſo
auch der aͤußere Organismus des Wiſſens vor¬
zuͤglich auf drey von einander geſchiedenen und
doch aͤußerlich verbundenen Wiſſenſchaften be¬
ruhen.
Die erſte, welche den abſoluten Indiffe¬
renzpunct objectiv darſtellt, wird die unmittel¬
bare Wiſſenſchaft des abſoluten und goͤttlichen
Weſens, demnach die Theologie ſeyn.
Von den beyden andern wird diejenige,
welche die reelle Seite der Philoſophie fuͤr ſich
nimmt und dieſe aͤußerlich repraͤſentirt, die
Wiſſenſchaft der Natur, und in ſo fern dieſe
nicht nur uͤberhaupt ſich in der des Organis¬
mus concentrirt, ſondern auch, wie nachher
naͤher gezeigt werden ſoll, nur in der Bezie¬
hung auf denſelben poſitiv ſeyn kann, die Wiſſen¬
ſchaft des Organismus, alſo die Medicin, ſeyn.
Die, welche die ideelle Seite der Philoſo¬
phie in ſich getrennt objectivirt, wird allgemein
die Wiſſenſchaft der Geſchichte, und in wie
fern das vorzuͤglichſte Werk der letzten die Bil¬
dung der Rechtsverfaſſung iſt, die Wiſſenſchaft
des Rechts, oder die Jurisprudenz, ſeyn.
In ſo fern die Wiſſenſchaften durch den
Staat und in ihm eine wirklich objective Exi¬
ſtenz erlangen, eine Macht werden, heißen die
Verbindungen fuͤr jede derſelben insbeſondere,
Facultaͤten. Um von den Verhaͤltniſſen derſel¬
ben unter einander das Noͤthige zu bemerken,
beſonders da Kant in der Schrift: Streit der
Facultaͤten, dieſe Frage nach ſehr einſeitigen
Geſichtspuncten betrachtet zu haben ſcheint, ſo
iſt offenbar, daß die Theologie, als diejenige,
in welcher das Innerſte der Philoſophie objec¬
tivirt iſt, die erſte und oberſte ſeyn muͤſſe: in
ſo fern das Ideale die hoͤhere Potenz des Rea¬
len iſt, folgt, daß die juridiſche Fakultaͤt der
mediciniſchen vorangehe. Was aber die philo¬
ſophiſche betrifft, ſo iſt meine Behauptung, daß
es uͤberhaupt keine ſolche gebe, noch geben
koͤnne, und der ganz einfache Beweis dafuͤr iſt:
daß das, was Alles iſt, eben deswegen nichts
insbeſondere ſeyn kann.
Es iſt die Philoſophie ſelbſt, welche in
den drey poſitiven Wiſſenſchaften objectiv wird,
aber ſie wird durch keine einzelne derſelben in
ihrer Totalitaͤt objectiv. Die wahre Objectivi¬
taͤt der Philoſophie in ihrer Totalitaͤt iſt nur
11
die Kunſt; es koͤnnte alſo auf jeden Fall keine
philoſophiſche, ſondern nur eine Facultaͤt der
Kuͤnſte geben. Allein die Kuͤnſte koͤnnen nie
eine aͤußere Macht und eben ſo wenig durch den
Staat privilegirt als beſchraͤnkt ſeyn. Es
giebt alſo nur freye Verbindungen fuͤr die
Kunſt: und dieß war auch auf den aͤlteren
Univerſitaͤten der Sinn der jetzt ſogenannten
philoſophiſchen Facultaͤt, welche Collegium
Artium hieß, wie die Mitglieder deſſelben Ar¬
tiſten. Dieſe Verſchiedenheit der philoſophi¬
ſchen Facultaͤt von den uͤbrigen hat ſich bis jetzt
noch darin erhalten, daß jene nicht wie dieſe
privilegirte, dagegen auch in Staatspflicht ge¬
nommene Meiſter (Doctores), ſondern Lehrer
(Magistros) der freyen Kuͤnſte creirt.
Man koͤnnte ſich uͤber die aufgeſtellte Be¬
hauptung auch darauf berufen, daß wo philo¬
ſophiſche Facultaͤten ſich nicht, ihrer erſten Be¬
ſtimmung gemaͤß, als freye Vereinigungen fuͤr
die Kunſt betrachtet haben, und der beſondere
Geiſt der Innung in ihnen herrſchend war, ſie
im Ganzen und Einzelnen Carricatur und Ge¬
genſtand des allgemeinen Spottes wurden, da
ſie ihrem Beruf nach billig die hoͤchſte und all¬
gemeinſte Achtung genießen ſollten.
Daß Theologie und Jurisprudenz eine po¬
ſitive Seite haben, wird allgemein angenom¬
men; verwickelter iſt es, dieſelbe fuͤr die Na¬
turwiſſenſchaft aufzuzeigen. Die Natur iſt eine
geſchloſſene in ſich ruhende Objectivwerdung des
Urwiſſens; ihr Geſetz iſt die Endlichkeit wie
das der Geſchichte die Unendlichkeit. Hier
kann alſo das Hiſtoriſche des Wiſſens nicht in
den Gegenſtand an und fuͤr ſich, ſondern nur
in das Subject fallen: die Natur handelt im¬
mer in ihrer Integritaͤt und mit offenbarer
Nothwendigkeit, und in wie fern ein einzelnes
Handeln oder eine Begebenheit als ſolche in ihr
geſetzt werden ſoll, muß es durch die Beſtim¬
mung des Subjects geſchehen. Ein ſolches
Beſtimmen der Natur zum Handeln, unter ge¬
wiſſen Bedingungen mit Ausſchluß anderer, iſt,
was Experiment heißt. Dieſes alſo giebt der
Naturlehre eine hiſtoriſche Seite, da es eine
veranſtaltete Begebenheit iſt, von welcher, wer
11*
ſie veranſtaltet, den Zeugen macht. Aber auch
in dieſem Sinne hat die Naturwiſſenſchaft doch
nicht jene aͤußere Exiſtenz, wie z. B. die
Rechtsgelehrſamkeit; ſie wird daher zu den po¬
ſitiven nur in ſo fern gezaͤhlt, als das Wiſſen
in ihr zur aͤußern und oͤffentlichen Pflicht wird.
Dieſes iſt allein in der Medicin der Fall.
Damit haben wir den ganzen Koͤrper der
poſitiven Wiſſenſchaften in ſeinem Gegenſatz
gegen Philoſophie, und den Widerſtreit des
abſoluten und hiſtoriſchen Wiſſens in ſeiner
ganzen Ausdehnung. Was im allgemeinen
uͤber die Behandlung aller beſondern Faͤcher im
Geiſt der Ein- und Allheit geſagt wurde, wird
erſt jetzt die Probe der Ausfuͤhrbarkeit beſtehen,
und ſeiner Moͤglichkeit nach gerechtfertigt wer¬
den muͤſſen.
Achte Vorleſung.
Ueber die hiſtoriſche Conſtru¬
ction des Chriſtenthums.
Die realen Wiſſenſchaften uͤberhaupt koͤnnen
von der abſoluten als der idealen allein durch
das hiſtoriſche Element geſchieden oder beſon¬
dere ſeyn. Aber die Theologie hat außer die¬
ſer allgemeinen Beziehung auf die Geſchichte
noch eine, die ihr ganz eigenthuͤmlich iſt und
zu ihrem Weſen insbeſondere gehoͤrt.
Da ſie als das wahre Centrum des Objec¬
tivwerdens der Philoſophie vorzugsweiſe in ſpe¬
culativen Ideen iſt, ſo iſt ſie uͤberhaupt die
hoͤchſte Syntheſe des philoſophiſchen und hiſto¬
riſchen Wiſſens; und als ſolche ſie darzuſtellen,
iſt der Hauptzweck folgender Betrachtungen.
Ich gruͤnde die hiſtoriſche Beziehung der
Theologie nicht allein darauf: daß der erſte Ur¬
ſprung der Religion uͤberhaupt, ſo wie jeder
andern Erkenntniß und Cultur allein aus dem
Unterricht hoͤherer Naturen begreiflich iſt, alle
Religion alſo in ihrem erſten Daſeyn ſchon Ue¬
berlieferung war; denn was die ſonſt gangba¬
ren empiriſchen Erklaͤrungsalten betrifft, de¬
ren einige die erſte Idee von Gott oder Goͤt¬
tern aus Furcht, aus Dankbarkeit, oder an¬
dern Gemuͤthsbewegungen, andere durch eine
ſchlaue Erfindung der erſten Geſetzgeber entſte¬
hen laſſen, ſo begreifen jene die Idee Gottes
uͤberhaupt nur als die pſychologiſche Erſchei¬
nung, ſo wie dieſe weder erklaͤren, wie nur
uͤberhaupt jemand zuerſt den Gedanken gefaßt,
ſich zum Geſetzgeber eines Volkes zu machen, noch
wie er Religion insbeſondere als Schreckmittel
zu brauchen ſich einfallen laſſen konnte, ohne
zuvor die Idee derſelben aus einer andern
Quelle zu haben. Unter der Menge falſcher
und ideenloſer Verſuche der letzten Zeit ſtehen
die ſogenannten Geſchichten der Menſchheit oben
an, welche ihre Vorſtellungen von dem erſten
Zuſtand unſers Geſchlechts von den aus Rei¬
ſebeſchreibungen compilirten Zuͤgen der Rohheit
wilder Voͤlker hernehmen, welche daher auch
in ihnen die vornehmſte Rolle ſpielen. Es giebt
keinen Zuſtand der Barbarey, der nicht aus ei¬
ner untergegangenen Cultur herſtammte. Den
kuͤnftigen Bemuͤhungen der Erdgeſchichte iſt es
vorbehalten, zu zeigen, wie auch jene, in einem
Zuſtand der Wildheit lebende, Voͤlker nur von
dem Zuſammenhang mit der uͤbrigen Welt
durch Revolutionen losgeriſſene und zum Theil
zerſprengte Voͤlkerſchaften ſind, die der Verbin¬
dung und der ſchon erworbenen Mittel der Cul¬
tur beraubt in den gegenwaͤrtigen Zuſtand zu¬
ruͤckſanken. Ich halte den Zuſtand der Cultur
durchaus fuͤr den erſten des Menſchengeſchlechts,
und die erſte Gruͤndung der Staaten, der Wiſ¬
ſenſchaften, der Religion und der Kuͤnſte fuͤr
gleichzeitig oder vielmehr fuͤr Eins, ſo daß dieß
alles nicht wahrhaft geſondert, ſondern in der
vollkommenſten Durchdringung war, wie es
einſt in der letzten Vollendung wieder ſeyn
wird.
Auch darauf gruͤndet ſich die hiſtoriſche
Beziehung der Theologie nicht allein, daß die
beſondern Formen des Chriſtenthums, in wel¬
chen die Religion unter uns exiſtirt, nur ge¬
ſchichtlich erkannt werden koͤnnen.
Die abſolute Beziehung iſt, daß in dem
Chriſtenthum das Univerſum uͤberhaupt als
Geſchichte, als moraliſches Reich, angeſchaut
wird, und daß dieſe allgemeine Anſchauung
den Grundkarakter deſſelben ausmacht. Voll¬
kommen koͤnnen wir dieß nur im Gegenſatz ge¬
gen die Religion hauptſaͤchlich des griechiſchen
Alterthums einſehen. Wenn ich der noch aͤl¬
teren, vorzuͤglich der Indiſchen nicht erwaͤhne,
ſo iſt es, weil ſie in dieſer Beziehung keinen
Gegenſatz bildet, ohne deswegen, nach meiner
Meynung, die Einheit zu ſeyn. Die Anſicht
von dieſer hier vollſtaͤndig mitzutheilen, erlau¬
ben die nothwendigen Schranken dieſer Unter¬
ſuchung nicht, wir werden ſie daher nur beylaͤu¬
fig ausſprechen oder beruͤhren koͤnnen. Die
Mythologie der Griechen war eine geſchloſſene
Welt von Symbolen der Ideen, welche real
nur als Goͤtter angeſchaut werden koͤnnen.
Reine Begraͤnzung von der einen und unge¬
theilte Abſolutheit von der andern Seite iſt
das beſtimmende Geſetz jeder einzelnen Goͤtter¬
geſtalt, eben ſo wie der Goͤtterwelt im Ganzen.
Das Unendliche wurde nur im Endlichen an¬
geſchaut und auf dieſe Weiſe ſelbſt der Endlich¬
keit untergeordnet. Die Goͤtter waren Weſen
einer hoͤhern Natur, bleibende unwandelbare
Geſtalten. Ganz anders iſt das Verhaͤltniß ei¬
ner Religion, die auf das Unendliche unmittel¬
bar an ſich ſelbſt geht, in welcher das Endliche
nicht als Symbol des Unendlichen, zugleich um
ſeiner ſelbſt willen, ſondern nur als Allegorie des
erſten und in der gaͤnzlichen Unterordnung un¬
ter daſſelbe gedacht wird. Das Ganze, worin
die Ideen einer ſolchen Religion objectiv wer¬
den, iſt nothwendig ſelbſt ein Unendliches, keine
nach allen Seiten vollendete und begraͤnzte
Welt: die Geſtalten nicht bleibend, ſondern
erſcheinend, nicht ewige Naturweſen, ſondern
hiſtoriſche Geſtalten, in denen ſich das Goͤtt¬
liche nur voruͤbergehend offenbaret, und deren
fluͤchtige Erſcheinung allein durch den Glauben
feſtgehalten werden kann, niemals aber in eine
abſolute Gegenwart verwandelt wird.
Da, wo das Unendliche ſelbſt endlich wer¬
den kann, kann es auch Vielheit werden; es iſt
Polytheismus moͤglich: da, wo es durch das
Endliche nur bedeutet wird, bleibt es nothwen¬
dig Eins und es iſt kein Polytheismus als ein
Zugleichſeyn goͤttlicher Geſtalten moͤglich. Er
entſpringt durch Syntheſe der Abſolutheit mit
der Begraͤnzung, ſo daß in derſelben weder die
Abſolutheit der Form nach, noch die Begraͤn¬
zung aufgehoben wird. In einer Religion wie
das Chriſtenthum kann dieſe nicht von der Na¬
tur hergenommen werden, da ſie das Endliche
uͤberhaupt nicht als Symbol des Unendlichen
und in unabhaͤngiger Bedeutung begreift. Sie
kann alſo nur von dem, was in die Zeit faͤllt,
demnach der Geſchichte hergenommen ſeyn
und darum iſt das Chriſtenthum ſeinem inner¬
ſten Geiſt nach und im hoͤchſten Sinne hiſto¬
riſch. Jeder beſondere Moment der Zeit iſt
Offenbarung einer beſondern Seite Gottes, in
deren jeder er abſolut iſt; was die griechiſche
Religion als ein Zumal hatte, hat das Chri¬
ſtenthum als ein Nacheinander, wenn gleich
die Zeit der Sonderung der Erſcheinungen und
mit ihr der Geſtaltung noch nicht gekommen iſt.
Es iſt ſchon fruͤher angedeutet worden, daß
ſich Natur und Geſchichte uͤberhaupt als die
reale und ideale Einheit verhalten; aber eben
ſo verhaͤlt ſich die Religion der griechiſchen Welt
zu der chriſtlichen, in welcher das Goͤttliche
aufgehoͤrt hat, ſich in der Natur zu offenbaren
und nur in der Geſchichte erkennbar iſt. Die
Natur iſt allgemein die Sphaͤre des In-ſich-
ſelbſt-Seyns der Dinge, in der dieſe, kraft
der Einbildung des Unendlichen in ihr Endli¬
ches, als Symbole der Ideen zugleich ein von
ihrer Bedeutung unabhaͤngiges Leben haben.
Gott wird daher in der Natur gleichſam exote¬
riſch, das Ideale erſcheint durch ein Anderes
als es ſelbſt, durch ein Seyn; aber nur in wie
fern dieſes Seyn fuͤr das Weſen, das Sym¬
bol unabhaͤngig von der Idee, genommen wird,
iſt das Goͤttliche wahrhaft exoteriſch, der Idee
nach aber eſoteriſch. In der idealen Welt, alſo
vornehmlich der Geſchichte, legt das Goͤttliche
die Huͤlle ab, ſie iſt das lautgewordene Myſte¬
rium des goͤttlichen Reiches.
Wie in den Sinnbildern der Natur lag in
den griechiſchen Dichtungen die Intellectual¬
welt wie in einer Knoſpe verſchloſſen, verhuͤllt
im Gegenſtand und unausgeſprochen im Sub¬
ject. Das Chriſtenthum dagegen iſt das geof¬
fenbarte Myſterium und, wie das Heidenthum
ſeiner Natur nach exoteriſch, eben ſo ſeiner Na¬
tur nach eſoteriſch.
Mit dem Chriſtenthum mußte ſich eben
deswegen auch das ganze Verhaͤltniß der Natur
und der idealen Welt umkehren, und wie jene
im Heidenthum das Offenbare war, dagegen
dieſe als Myſterium zuruͤcktrat, ſo mußte im
Chriſtenthum vielmehr, in dem Verhaͤltniß als
die ideelle Welt offenbar wurde, die Natur als
Geheimniß zuruͤcktreten. Den Griechen war
die Natur unmittelbar und an ſich ſelbſt goͤtt¬
lich, weil auch ihre Goͤtter nicht außer- und
uͤbernatuͤrlich waren. Der neueren Welt war
ſie verſchloſſen, weil dieſe ſie nicht an ſich ſelbſt,
ſondern als Gleichniß der unſichtbaren und gei¬
ſtigen Welt begriff. Die lebendigſten Erſchei¬
nungen der Natur, wie die der Electricitaͤt und
der Koͤrper, wenn ſie ſich chemiſch veraͤndern,
waren den Alten kaum bekannt, oder erweckten
wenigſtens unter ihnen nicht den allgemeinen
Enthuſiasmus, mit dem ſie in der neueren
Welt aufgenommen wurden. Die hoͤchſte Re¬
ligioſitaͤt, die ſich in dem chriſtlichen Myſticis¬
mus ausdruͤckte, hielt das Geheimniß der Na¬
tur und das der Menſchwerdung Gottes fuͤr
Eins und Daſſelbe.
Ich habe ſchon anderwaͤrts (im Syſtem
des transcendentalen Idealismus) gezeigt, daß
wir uͤberhaupt drey Perioden der Geſchichte,
die der Natur, des Schickſals und der Vorſe¬
hung annehmen muͤſſen. Dieſe drey Ideen
druͤcken dieſelbe Identitaͤt, aber auf verſchiedene
Weiſe aus. Auch das Schickſal iſt Vorſehung,
aber im Realen erkannt, wie die Vorſehung
auch Schickſal iſt, aber im Idealen angeſchaut.
Die ewige Nothwendigkeit offenbart ſich, in
der Zeit der Identitaͤt mit ihr, als Natur, wo
der Widerſtreit des Unendlichen und Endlichen
noch im gemeinſchaftlichen Keim des Endlichen
verſchloſſen ruht. So in der Zeit der ſchoͤnſten
Bluͤthe der griechiſchen Religion und Poeſie.
Mit dem Abfall von ihr offenbart ſie ſich als
Schickſal, indem ſie in den wirklichen Wider¬
ſtreit mit der Freyheit tritt. Dieß war das
Ende der alten Welt, deren Geſchichte eben
deswegen im Ganzen genommen als die tragi¬
ſche Periode betrachtet werden kann. Die neue
Welt beginnt mit einem allgemeinen Suͤnden¬
fall, einem Abbrechen des Menſchen von der
Natur. Nicht die Hingabe an dieſe ſelbſt iſt
die Suͤnde, ſondern, ſo lange ſie ohne Bewußt¬
ſeyn des Gegentheils iſt, vielmehr das goldne
Zeitalter. Das Bewußtſeyn daruͤber hebt die
Unſchuld auf und fodert daher auch unmittel¬
bar die Verſoͤhnung und die freywillige Unter¬
werfung, in der die Freyheit als beſiegt und
ſiegend zugleich aus dem Kampf hervorgeht.
Dieſe bewußte Verſoͤhnung, die an die Stelle
der bewußtloſen Identitaͤt mit der Natur und
an die der Entzweyung mit dem Schickſal tritt,
und auf einer hoͤhern Stufe die Einheit wieder¬
herſtellt, iſt in der Idee der Vorſehung ausge¬
druͤckt. Das Chriſtenthum alſo leitet in der
Geſchichte jene Periode der Vorſehung ein, wie
die in ihm herrſchende Anſchauung des Univer¬
ſum, die Anſchauung deſſelben als Geſchichte
und als einer Welt der Vorſehung iſt.
Dieß iſt die große hiſtoriſche Richtung des
Chriſtenthums: dieß der Grund, warum die
Wiſſenſchaft der Religion in ihm von der Ge¬
ſchichte unzertrennlich, ja mit ihr voͤllig Eins ſeyn
muß. Jene Syntheſe mit der Geſchichte, oh¬
ne welche Theologie ſelbſt nicht gedacht werden
kann, fodert aber hinwiederum zu ihrer Bedin¬
gung die hoͤhere chriſtliche Anſicht der Ge¬
ſchichte.
Der Gegenſatz, der insgemein zwiſchen
Hiſtorie und Philoſophie gemacht wird, be¬
ſteht nur, ſo lange die Geſchichte als eine Rei¬
he zufaͤlliger Begebenheiten, oder als bloß em¬
piriſche Nothwendigkeit begriffen wird: das
erſte iſt die ganz gemeine Anſicht, uͤber die ſich
die andere zu erheben meynt, da ſie ihr an Be¬
ſchraͤnkung gleich iſt. Auch die Geſchichte
kommt aus einer ewigen Einheit, und hat ihre
Wurzel eben ſo im Abſoluten wie die Natur,
oder irgend ein anderer Gegenſtand des Wiſ¬
ſens. Die Zufaͤlligkeit der Begebenheiten und
12
Handlungen findet der gemeine Verſtand vor¬
zuͤglich durch die Zufaͤlligkeit der Individuen
begruͤndet. Ich frage dagegen: was iſt denn
dieſes oder jenes Individuum anders, als
eben das, welches dieſe oder jene beſtimmte
Handlung ausgefuͤhrt hat; einen andern Be¬
griff giebt es von ihm nicht: war alſo die
Handlung nothwendig, ſo war es auch das In¬
dividuum. Was ſelbſt von einem noch unter¬
geordneten Standpunct allein als frey und
demnach objectiv zufaͤllig in allem Handeln er¬
ſcheinen kann, iſt bloß, daß das Individuum
von dem, was vorherbeſtimmt und nothwen¬
dig iſt, dieſes Beſtimmte gerade zu ſeiner
That macht: uͤbrigens aber und was den Er¬
folg betrifft, iſt es, im Guten wie im Boͤſen,
Werkzeug der abſoluten Nothwendigkeit.
Die empiriſche Nothwendigkeit iſt nichts
anders als eine Art, die Zufaͤlligkeit durch ein
Zuruͤckſchieben der Nothwendigkeit ins Unend¬
liche zu verlaͤngern. Wenn wir dieſe Art der
Nothwendigkeit in der Natur nur fuͤr die Er¬
ſcheinung gelten laſſen, wie vielmehr in der
Geſchichte? Wer, von hoͤherem Sinn, wird
ſich bereden, daß Begebenheiten, wie die Aus¬
bildung des Chriſtenthums, die Voͤlkerwande¬
rung, die Kreuzzuͤge und ſo viele andere große
Ereigniſſe, ihren wahren Grund in den empi¬
riſchen Urſachen gehabt haben, die man ge¬
woͤhnlich dafuͤr ausgiebt? Und wenn dieſe
wirklich obwalteten, ſo ſind ſie in dieſer Bezie¬
hung wiederum nur die Werkzeuge einer ewi¬
gen Ordnung der Dinge.
Was von Geſchichte uͤberhaupt gilt, muß
insbeſondere von der der Religion gelten, naͤm¬
lich daß ſie in einer ewigen Nothwendigkeit ge¬
gruͤndet und alſo eine Conſtruction derſelben
moͤglich ſey, wodurch ſie mit der Wiſſenſchaft
der Religion innigſt Eins und verbunden wird.
Die hiſtoriſche Conſtruction des Chriſten¬
thums kann von keinem andern Punct, als
der allgemeinen Anſicht ausgehen, daß das
Univerſum uͤberhaupt und ſo auch in wie fern
es Geſchichte iſt nothwendig nach zwey Sei¬
ten differenziirt erſcheine, und dieſer Gegenſatz,
welchen die neuere Welt gegen die alte macht,
12 *
ſt fuͤr ſich zureichend, das Weſen und alle be¬
ſondere Beſtimmungen des Chriſtenthums ein¬
zuſehen.
Die alte Welt iſt in ſo fern wieder die
Naturſeite der Geſchichte, als die in ihr herr¬
ſchende Einheit oder Idee, Seyn des Unend¬
lichen im Endlichen iſt. Der Schluß der alten
Zeit und die Graͤnze einer neuen, deren herr¬
ſchendes Princip das Unendliche war, konnte
nur dadurch gemacht werden, daß das wahre
Unendliche in das Endliche kam, nicht um die¬
ſes zu vergoͤttern, ſondern um es in ſeiner ei¬
genen Perſon Gott zu opfern und dadurch zu
verſoͤhnen. Die erſte Idee des Chriſtenthums
iſt daher nothwendig der Menſchgewordene
Gott, Chriſtus als Gipfel und Ende der alten
Goͤtterwelt. Auch er verendlicht in ſich das
Goͤttliche, aber er zieht nicht die Menſchheit
in ihrer Hohheit, ſondern in ihrer Niedrigkeit
an, und ſteht als eine von Ewigkeit zwar be¬
ſchloſſene, aber in der Zeit vergaͤngliche Erſchei¬
nung da, als Graͤnze der beyden Welten; er
ſelbſt geht zuruͤck ins Unſichtbare und verheißt
ſtatt ſeiner nicht das ins Endliche kommende,
im Endlichen bleibende Princip, ſondern den
Geiſt, das ideale Princip, welches vielmehr
das Endliche zum Unendlichen zuruͤckfuͤhrt und
als ſolches das Licht der neuen Welt iſt.
An dieſe erſte Idee knuͤpfen ſich alle Be¬
ſtimmungen des Chriſtenthums. Die Einheit
des Unendlichen und Endlichen objectiv durch
eine Symbolik, wie die griechiſche Religion,
darzuſtellen, iſt ſeiner ideellen Richtung nach
unmoͤglich. Alle Symbolik faͤllt ins Subject
zuruͤck, und die nicht aͤußerlich, ſondern bloß
innerlich zu ſchauende Aufloͤſung des Gegenſa¬
tzes bleibt daher Myſterium, Geheimniß. Die
durch alles hindurchgehende Antinomie des
Goͤttlichen und Natuͤrlichen hebt ſich allein
durch die ſubjective Beſtimmung auf, beyde
auf eine unbegreifliche Weiſe als Eins zu den¬
ken. Eine ſolche ſubjective Einheit druͤckt der
Begriff des Wunders aus. Der Urſprung je¬
der Idee iſt nach dieſer Vorſtellung ein Wun¬
der, da ſie in der Zeit entſteht, ohne ein Ver¬
haͤltniß zu ihr zu haben. Keine derſelben kann
auf zeitliche Weiſe entſtehen, es iſt das Abſo¬
lute, d. h. es iſt Gott ſelbſt, der ſie offenbart,
und darum der Begriff der Offenbarung ein
ſchlechthin nothwendiger im Chriſtenthum.
Eine Religion, die als Poeſie in der Gat¬
tung lebt, bedarf ſo wenig einer hiſtoriſchen
Grundlage, als die immer offene Natur ihrer
bedarf. Wo das Goͤttliche nicht in bleibenden
Geſtalten lebt, ſondern in fluͤchtigen Erſchei¬
nungen voruͤbergeht, bedarf es der Mittel,
dieſe feſt zu halten und durch Ueberlieferung zu
verewigen. Außer den eigentlichen Myſterien
der Religion giebt es nothwendig eine Mytho¬
logie, welche die exoteriſche Seite derſelben iſt,
und die ſich auf die Religion gruͤndet, wie ſich
die Religion der erſten Art vielmehr umgekehrt
auf die Mythologie gruͤndete.
Die Ideen einer auf Anſchauung des Un¬
endlichen im Endlichen gerichteten Religion
muͤſſen vorzugsweiſe im Seyn ausgedruͤckt
ſeyn, die Ideen der entgegengeſetzten, in der
alle Symbolik nur dem Subject angehoͤrt, koͤn¬
nen allein durch Handeln objectiv werden.
Das urſpruͤngliche Symbol aller Anſchauung
Gottes in ihr iſt die Geſchichte, aber dieſe iſt
endlos, unermeßlich, ſie muß alſo durch eine
zugleich unendliche und doch begraͤnzte Erſchei¬
nung repraͤſentirt werden, die ſelbſt nicht wie¬
der real iſt, wie der Staat, ſondern ideal,
und die Einheit aller im Geiſt bey der Ge¬
trenntheit im Einzelnen als unmittelbare Ge¬
genwart darſtellt. Dieſe ſymboliſche Anſchau¬
ung iſt die Kirche, als lebendiges Kunſtwerk.
Wie nun die Handlung, welche die Ein¬
heit des Unendlichen und Endlichen aͤußerlich
ausdruͤckt, ſymboliſch heißen kann, ſo iſt die¬
ſelbe, als innerlich, myſtiſch und Myſticismus
uͤberhaupt eine ſubjective Symbolik. Wenn
die Aeußerungen dieſer Anſchauungsart faſt zu
jeder Zeit in der Kirche Widerſpruch und zum
Theil Verfolgung gefunden haben, ſo iſt es,
weil ſie das Eſoteriſche des Chriſtenthums exo¬
teriſch zu machen ſuchten: nicht aber als ob der
innerſte Geiſt dieſer Religion ein anderer, als
der jener Anſchauung waͤre.
Wenn man die Handlungen und Gebraͤu¬
che der Kirche fuͤr objectiv ſymboliſch halten
will, da ihre Bedeutung doch bloß myſtiſch ge¬
faßt werden kann, ſo haben wenigſtens diejeni¬
gen Ideen des Chriſtenthums, die in den
Dogmen ſymboliſirt wurden, in dieſen nicht
aufgehoͤrt, von ganz ſpeculativer Bedeutung
zu ſeyn, da ihre Symbole kein von der Bedeu¬
tung unabhaͤngiges Leben in ſich ſelbſt erlangt
haben, wie die der griechiſchen Mythologie.
Verſoͤhnung des von Gott abgefallenen
Endlichen durch ſeine eigne Geburt in die End¬
lichkeit, iſt der erſte Gedanke des Chriſten¬
thums und die Vollendung ſeiner ganzen An¬
ſicht des Univerſum und der Geſchichte deſſel¬
ben in der Idee der Dreyeinigkeit, welche eben
deswegen in ihm ſchlechthin nothwendig iſt.
Bekanntlich hat ſchon Leſſing in der Schrift:
Erziehung des Menſchengeſchlechts, die philo¬
ſophiſche Bedeutung dieſer Lehre zu enthuͤllen
geſucht, und was er daruͤber geſagt hat, iſt
vielleicht das Speculativſte was er uͤberhaupt
geſchrieben. Es fehlt aber ſeiner Anſicht noch
an der Beziehung dieſer Idee auf die Geſchichte
der Welt, welche darinn liegt, daß der ewige,
aus dem Weſen des Vaters aller Dinge ge¬
bohrene, Sohn Gottes das Endliche ſelbſt iſt,
wie es in der ewigen Anſchauung Gottes iſt,
und welches als ein leidender und den Ver¬
haͤngniſſen der Zeit untergeordneter Gott er¬
ſcheint, der in dem Gipfel ſeiner Erſcheinung,
in Chriſto, die Welt der Endlichkeit ſchließt und
die der Unendlichkeit, oder der Herrſchaft des
Geiſtes, eroͤffnet.
Waͤre es fuͤr den gegenwaͤrtigen Zweck
verſtattet, weiter in dieſe hiſtoriſche Conſtru¬
ction einzugehen, ſo wuͤrden wir auf die gleiche
Weiſe alle Gegenſaͤtze des Chriſtenthums und
Heidenthums, ſo wie die in jenem herrſchen¬
den Ideen und ſubjective Symbole der Ideen
als nothwendige erkennen. Es genuͤgt mir, im
Allgemeinen die Moͤglichkeit davon gezeigt zu
haben. Wenn das Chriſtenthum nicht nur
uͤberhaupt, ſondern auch in ſeinen vornehmſten
Formen hiſtoriſch nothwendig iſt, und wir hier¬
mit die hoͤhere Anſicht der Geſchichte ſelbſt als
eines Ausfluſſes der ewigen Nothwendigkeit ver¬
binden: ſo iſt darinn auch die Moͤglichkeit gege¬
ben, es hiſtoriſch als eine goͤttliche und abſolute
Erſcheinung zu begreifen, alſo die einer wahr¬
haft hiſtoriſchen Wiſſenſchaft der Religion, oder
der Theologie.
Neunte Vorleſung.
Ueber das Studium der
Theologie.
Wenn ich es ſchwer finde, von dem Stu¬
dium der Theologie zu reden, ſo iſt es, weil
ich die Erkenntnißart und den ganzen Stand¬
punct, aus welchem ihre Wahrheiten gefaßt
ſeyn wollen, als verloren und vergeſſen ach¬
ten muß. Die ſaͤmtlichen Lehren dieſer Wiſ¬
ſenſchaft ſind empiriſch verſtanden und als ſol¬
che ſowohl behauptet als beſtritten worden.
Auf dieſem Boden aber ſind ſie uͤberall nicht
einheimiſch und verlieren durchaus allen Sinn
und Bedeutung.
Die Theologen behaupten, das Chriſten¬
thum ſey eine goͤttliche Offenbarung, die ſie
als eine Handlung Gottes in der Zeit vor¬
ſtellen. Sie begeben ſich alſo eben damit
ſelbſt auf den Standpunct, von welchem aus
betrachtet, es keine Frage ſeyn kann, ob das
Chriſtenthum ſeinem Urſprung nach natuͤrlich
erklaͤrbar iſt. Derjenige muͤßte die Geſchichte
und Bildung der Zeit ſeines Entſtehens ſehr
wenig kennen, der ſich dieſe Aufgabe nicht
befriedigend loͤſen koͤnnte. Man leſe nur die
Schriften der Gelehrten, in welchen der Keim
des Chriſtenthums nicht nur im Judenthum,
ſondern ſelbſt in einem einzelnen religioͤſen
Verein, der vor jenem exiſtirte, nachgewie¬
ſen iſt; ja man bedarf deſſen nicht einmal,
obgleich, um dieſen Zuſammenhang darzule¬
gen, der Bericht des Joſephus und die Spu¬
ren der chriſtlichen Geſchichtsbuͤcher ſelbſt noch
nicht einmal gehoͤrig benutzt ſind. Genug,
Chriſtus als der Einzelne, iſt eine voͤllig be¬
greifliche Perſon, und es war eine abſolute
Nothwendigkeit, ihn als ſymboliſche Perſon
und in hoͤherer Bedeutung zu faſſen.
Will man die Ausbreitung des Chriſten¬
thums als ein beſonderes Werk der goͤttlichen
Vorſehung betrachten? Man lerne die Zeit
kennen, in der es ſeine erſten Eroberungen
machte, um es als eine bloß einzelne Erſchei¬
nung des allgemeinen Geiſtes derſelben zu er¬
kennen. Nicht das Chriſtenthum hat dieſen
erſchaffen, ſondern es ſelbſt war nur eine vor¬
ahndende Anticipation deſſelben, das Erſte,
wodurch er ausgeſprochen wurde. Das roͤmi¬
ſche Reich war Jahrhunderte zuvor reif zum
Chriſtenthum, ehe Conſtantin das Kreuz zum
Panier der neuen Weltherrſchaft waͤhlte; die
vollſte Befriedigung durch alles Aeußere fuͤhr¬
te die Sehnſucht nach dem Innern und Un¬
ſichtbaren herbey, ein zerfallendes Reich, deſ¬
ſen Macht bloß zeitlich war, der verlorne
Muth zum Objectiven, das Ungluͤck der Zeit
mußten die allgemeine Empfaͤnglichkeit fuͤr ei¬
ne Religion ſchaffen, welche den Menſchen
an das Ideale zuruͤckwieß, Verlaͤugnung lehrte
und zum Gluͤck machte.
Die chriſtlichen Religionslehrer koͤnnen
keine ihrer hiſtoriſchen Behauptungen recht¬
fertigen, ohne zuvor die hoͤhere Anſicht der
Geſchichte ſelbſt, welche durch die Philoſo¬
phie wie durch das Chriſtenthum vorge¬
ſchrieben iſt, zu der ihrigen gemacht zu ha¬
ben. Sie haben lange genug mit dem Un¬
glauben auf ſeinem eigenen Boden gekaͤmpft,
anſtatt dieſen, als den Standpunct, auf wel¬
chem er ſteht, ſelbſt anzugreifen. Ihr habt,
koͤnnten ſie den Naturaliſten ſagen, fuͤr die
Betrachtungsweiſe, die ihr annehmt, voll¬
kommen Recht, und unſere Anſicht ſchließt
es ein, daß ihr auf euerm Standpunct richtig
urtheilet. Wir laͤugnen nur dieſen ſelbſt oder laſ¬
ſen ihn als einen bloß untergeordneten gelten.
Es iſt derſelbe Fall wie mit dem Empiriker,
der dem Philoſophen unwiderſprechlich beweiſt,
daß alles Wiſſen nur durch die aͤußere Noth¬
wendigkeit der Eindruͤcke geſetzt iſt.
Daſſelbe Verhaͤltniß findet eben ſo in
Anſehung aller Dogmen der Theologie ſtatt.
Von der Idee der Dreyeinigkeit iſt es klar,
daß ſie, nicht ſpeculativ aufgefaßt, uͤberhaupt
ohne Sinn iſt. Die Menſchwerdung Gottes
in Chriſto deuten die Theologen eben ſo em¬
piriſch, naͤmlich daß Gott in einem beſtimm¬
ten Moment der Zeit menſchliche Natur an¬
genommen habe, wobey ſchlechterdings nichts
zu denken ſeyn kann, da Gott ewig außer
aller Zeit iſt. Die Menſchwerdung Gottes iſt
alſo eine Menſchwerdung von Ewigkeit. Der
Menſch Chriſtus iſt in der Erſcheinung nur
der Gipfel und in ſo fern auch wieder der
Anfang derſelben, denn von ihm aus ſollte
ſie dadurch ſich fortſetzen, daß alle ſeine Nach¬
folger Glieder eines und deſſelben Leibes waͤ¬
ren, von dem er das Haupt iſt. Daß in
Chriſto zuerſt Gott wahrhaft objectiv gewor¬
den, zeugt die Geſchichte, denn wer vor
ihm hat das Unendliche auf ſolche Weiſe ge¬
offenbaret?
Es moͤchte ſich beweiſen laſſen, daß ſo
weit die hiſtoriſche Kenntniß nur immer zu¬
ruͤckgeht, ſchon zwey beſtimmt verſchiedene
Stroͤme von Religion und Poeſie unterſcheid¬
bar ſind: der Eine, welcher, ſchon in der
Indiſchen Religion der herrſchende, das In¬
tellectualſyſtem und den aͤlteſten Idealismus
uͤberliefert hat, der Andere, welcher die rea¬
liſtiſche Anſicht der Welt in ſich faßte. Jener
hat, nachdem er durch den ganzen Orient
gefloſſen, im Chriſtenthum ſein bleibendes
Beet gefunden, und mit dem fuͤr ſich unfrucht¬
baren Boden des Occidents vermiſcht, die
13
Geburten der ſpaͤteren Welt erzeugt; der an¬
dere hat in der griechiſchen Mythologie durch
Ergaͤnzung mit der entgegengeſetzten Einheit,
dem Idealiſchen der Kunſt, die hoͤchſte Schoͤn¬
heit gebohren. Und will man die Regungen
des entgegengeſetzten Pols in der griechiſchen
Bildung fuͤr nichts rechnen, die myſtiſchen
Elemente einer abgeſonderten Art der Poeſie,
die Verwerfung der Mythologie und Verban¬
nung der Dichter durch die Philoſophen, vor¬
naͤmlich Plato, der in einer ganz fremden
und entfernten Welt eine Prophezeyhung des
Chriſtenthums iſt?
Aber eben, daß das Chriſtenthum ſchon
vor und außer demſelben exiſtirt hat, beweiſt
die Nothwendigkeit ſeiner Idee, und daß
auch in dieſer Beziehung keine abſoluten Ge¬
genſaͤtze exiſtiren. Die chriſtlichen Miſſonarien,
die nach Indien kamen, glaubten den Bewoh¬
nern etwas Unerhoͤrtes zu verkuͤndigen, wenn
ſie lehrten, daß der Gott der Chriſten Menſch
geworden ſey. Jene waren daruͤber nicht ver¬
wundert, ſie beſtritten die Fleiſchwerdung Got¬
tes in Chriſto keineswegs und fanden bloß
ſeltſam, daß bey den Chriſten nur Einmal
geſchehen ſey, was ſich bey ihnen oftmals
und in ſteter Wiederholung zutrage. Man
kann nicht laͤugnen, daß ſie von ihrer Reli¬
gion mehr Verſtand gehabt haben, wie die
chriſtlichen Miſſionarien von der ihrigen.
Die hiſtoriſche Conſtruction des Chriſten¬
thums kann wegen dieſer Univerſalitaͤt ſeiner
Idee nicht ohne die religioͤſe Conſtruction der
ganzen Geſchichte gedacht werden. Sie iſt
alſo eben ſo wenig mit dem, was man bis¬
her allgemeine Religionsgeſchichten genannt
hat, (obgleich von nichts weniger als Reli¬
gion darinn die Rede iſt), als mit der par¬
tieliern Geſchichte der chriſtlichen Religion und
Kirche zu vergleichen.
Eine ſolche Conſtruction iſt ſchon an ſich
ſelbſt nur der hoͤhern Erkenntnißart moͤglich,
welche ſich uͤber die empiriſche Verkettung der
Dinge erhebt; ſie iſt alſo nicht ohne Phi¬
loſophie, welche das wahre Organ der Theo¬
13*
logie als Wiſſenſchaft iſt, worinn die hoͤchſten
Ideen von dem goͤttlichen Weſen, der Na¬
tur als dem Werkzeug und der Geſchichte als
der Offenbarung Gottes objectiv werden. Es
wird von ſelbſt niemand die Behauptung der
ſpeculativen Bedeutung der vornehmſten Leh¬
ren der Theologie mit der Kantiſchen verwech¬
ſeln, deren Hauptabſicht am Ende allein dar¬
auf geht, das Poſitive und Hiſtoriſche aus
dem Chriſtenthum gaͤnzlich zu entfernen und
zur reinen Vernunftreligion zu laͤutern. Die
wahre Vernunftreligion iſt, einzuſehen, daß
nur zwey Erſcheinungen der Religion uͤber¬
haupt ſind, die wirkliche Naturreligion, welche
nothwendig Polytheismus im Sinn der Grie¬
chen iſt, und die, welche, ganz ſittlich, Gott
in der Geſchichte anſchaut. In der Kanti¬
ſchen Laͤuterung iſt auch keinesweges ein ſpe¬
culativer, ſondern ein moraliſcher Sinn je¬
ner Lehren beabſichtigt, wodurch der empiri¬
ſche Standpunct im Grunde nicht verlaſſen,
auch die Wahrheit derſelben nicht an ſich, ſon¬
dern allein in der ſubjectiven Beziehung moͤg¬
licher Motive der Sittlichkeit angenommen
wird.
Wie der Dogmatismus in der Philoſo¬
phie iſt der gleiche in der Theologie ein Ver¬
ſetzen deſſen, was nur abſolut erkannt wer¬
den kann, auf den empiriſchen Geſichtspunct
des Verſtandes. Kant hat weder den einen
noch den andern in der Wurzel angegriffen,
da er nichts poſitives an ihre Stelle zu ſetzen
wußte. Insbeſondere nach ſeinem Vorſchlag,
beym Volksunterricht die Bibel moraliſch aus¬
legen, hieße nur die empiriſche Erſcheinung
des Chriſtenthums zu Zwecken, die ohne Mis¬
deutung gar nicht erreicht werden koͤnnen, ge¬
brauchen, aber nicht ſich uͤber dieſelbe zur
Idee erheben.
Die erſten Buͤcher der Geſchichte und
Lehre des Chriſtenthums ſind ſelbſt nichts, als
auch eine beſondere, noch dazu unvollkommne
Erſcheinung deſſelben; ſeine Idee iſt nicht in
dieſen Buͤchern zu ſuchen, deren Werth erſt
nach dem Maaß beſtimmt werden muß, in
welchem ſie jene ausdruͤcken und ihr angemeſ¬
ſen ſind. Schon in dem Geiſte des Heiden¬
bekehrers Paulus iſt das Chriſtenthum etwas
anderes geworden, als es in dem des erſten
Stifters war: nicht bey der einzelnen Zeit
ſollen wir ſtehen bleiben, die nur willkuͤhr¬
lich angenommen werden kann, ſondern ſeine
ganze Geſchichte und die Welt, die es ge¬
ſchaffen, vor Augen haben.
Zu den Operationen der neueren Aufklaͤ¬
rerey, welche in Bezug auf das Chriſten¬
thum eher die Ausklaͤrerey heißen koͤnnte, ge¬
hoͤrt allerdings auch das Vorgeben, es, wie
man ſagt, auf ſeinen urſpruͤnglichen Sinn,
ſeine erſte Einfachheit zuruͤckzufuͤhren, in wel¬
cher Geſtalt ſie es auch das Urchriſtenthum nen¬
nen. Man ſollte denken, die chriſtlichen Re¬
ligionslehrer muͤßten es den ſpaͤteren Zeiten
Dank wiſſen, daß ſie aus dem duͤrftigen In¬
halt der erſten Religionsbuͤcher ſo viel ſpecu¬
lativen Stoff gezogen und dieſen zu einem
Syſtem ausgebildet haben. Bequemer mag
es freylich ſeyn, von dem ſcholaſtiſchen Wuſt
der alten Dogmatik zu reden, dagegen popu¬
laͤre Dogmatiken zu ſchreiben und ſich mit der
Sylbenſtecherey und Worterklaͤrung zu beſchaͤf¬
tigen, als das Chriſtenthum und ſeine Leh¬
ren in univerſeller Beziehung zu faſſen. Man
kann ſich indeſſen nicht des Gedankens erweh¬
ren, welch ein Hinderniß der Vollendung die
ſogenannten bibliſchen Buͤcher fuͤr daſſelbe ge¬
weſen ſind, die an aͤcht religioͤſem Gehalt
keine Vergleichung mit ſo vielen andern der
fruͤheren und ſpaͤteren Zeit, vornehmlich den
Indiſchen, auch nur von ferne aushalten.
Man hat dem Gedanken der Hierarchie,
dem Volk dieſe Buͤcher zu entziehen, eine
bloß politiſche Abſicht untergelegt: er moͤchte
wohl den tiefern Grund haben, daß das Chri¬
ſtenthum als eine lebendige Religion, nicht
als eine Vergangenheit, ſondern als eine ewi¬
ge Gegenwart fortdaure, wie auch die Wun¬
der in der Kirche nicht aufhoͤrten, welche der
Proteſtantismus, auch darinn inconſequent, nur
als vor Zeiten geſchehen zulaͤßt. Eigentlich
waren es dieſe Buͤcher, die als Urkunden,
deren bloß die Geſchichtforſchung, nicht aber
der Glaube bedarf, beſtaͤndig von neuem das
empiriſche Chriſtenthum an die Stelle der
Idee geſetzt haben, welche unabhaͤngig von
ihnen beſtehen kann, und lauter durch die
ganze Geſchichte der neuen Welt in Vergleich
mit der alten, als durch jene verkuͤndet wird,
wo ſie noch ſehr unentwickelt liegt.
Der Geiſt der neuen Zeit geht mit ſicht¬
barer Conſequenz auf Vernichtung aller bloß
endlichen Formen und es iſt Religion, ihn auch
hierin zu erkennen. Nach dieſem Geſetz mu߬
te der Zuſtand eines allgemeinen und oͤffentli¬
chen Lebens, den die Religion im Chriſten¬
thum mehr oder weniger erreicht hatte, ver¬
gaͤnglich ſeyn, da er nur einen Theil der
Abſichten des Weltgeiſtes realiſirt darſtellte.
Der Proteſtantismus entſtand und war auch
zur Zeit ſeines Urſprungs eine neue Zuruͤck¬
fuͤhrung des Geiſtes zum Unſinnlichen, ob¬
gleich dieſes bloß negative Beſtreben, außer¬
dem daß es die Stetigkeit in der Ent¬
wickelung des Chriſtenthums aufhob, nie
eine poſitive Vereinung und eine aͤußere ſym¬
bollſche Erſcheinung derſelben, als Kirche,
ſchaffen konnte. An die Stelle der lebendi¬
gen Auctoritaͤt trat die andere, todter in aus¬
geſtorbnen Sprachen geſchriebener Buͤcher, und
da dieſe ihrer Natur nach nicht bindend ſeyn
konnte, eine viel unwuͤrdigere Sclaverey, die
Abhaͤngigkeit von Symbolen, die ein bloß
menſchliches Anſehen fuͤr ſich hatten. Es war
nothwendig, daß der Proteſtantismus, da
er ſeinem Begriff nach antiuniverſell iſt, wie¬
der in Secten zerfiel und daß der Unglaube
ſich an die einzelnen Formen und die empiri¬
ſche Erſcheinung heftete, da die ganze Reli¬
gion an dieſe gewieſen war.
Nicht geiſtreich aber unglaͤubig, nicht
fromm und doch auch nicht witzig und frivol,
aͤhnlich den Unſeligen, wie ſie Dante im Vor¬
grund der Hoͤlle exiſtiren laͤßt, die weder re¬
belliſch gegen Gott noch treu waren, die der
Himmel ausſtieß und die Hoͤlle nicht aufnahm,
weil auch die Verdammten keine Ehre von ih¬
nen haben wuͤrden, haben, vornehmlich deut¬
ſche Gelehrte, mit Huͤlfe einer ſogenannten
geſunden Exegeſe, einer aufklaͤrenden Pſycho¬
logie und ſchlaffen Moral, alles Speculative
und ſelbſt das ſubjectiv-Symboliſche aus dem
Chriſtenthum entfernt. Der Glaube an ſeine
Goͤttlichkeit wurde auf empiriſch-hiſtoriſche
Argumente gebaut, das Wunder der Offen¬
barung in einem ſehr handgreiflichen Zirkel
durch andere Wunder bewieſen. Da das
Goͤttliche ſeiner Natur nach empiriſch weder
erkennbar noch demonſtrabel iſt, ſo hatten
hiemit die Naturaliſten gewonnenes Spiel.
Man hatte ſchon mit ihnen unterhandelt, als
man die Unterſuchungen uͤber die Aechtheit
der chriſtlichen Buͤcher, den Beweis ihrer
Eingebung aus einzelnen Stellen, zum Fun¬
dament der Theologie machte. Die Zuruͤck¬
weiſung auf den Buchſtaben einiger Buͤcher
machte nothwendig, daß die ganze Wiſſen¬
ſchaft ſich in Philologie und Auslegungskunſt
verwandelte, wodurch ſie eine gaͤnzlich profane
Scienz geworden iſt, und, wo man das Pal¬
ladium der Rechtglaͤubigkeit in der ſogenann¬
ten Sprachkenntniß ſucht, iſt die Theologie
am tiefſten geſunken und am weiteſten von ih¬
rer Idee entfernt. Hier beſteht eine Haupt¬
kunſt darin, ſo viel Wunder als moͤglich aus
der Bibel weg oder heraus zu erklaͤren, wel¬
ches ein eben ſo klaͤgliches Beginnen iſt, als
das umgekehrte, aus dieſen empiriſchen, noch
dazu hoͤchſt duͤrftigen, Factis die Goͤttlichkeit
der Religion zu beweiſen. Was hilft es, noch
ſo viele hinwegzuſchaffen, wenn es nicht mit
allen moͤglich iſt, denn auch nur Eines wuͤr¬
de, wenn dieſe Beweisart uͤberhaupt Sinn
haͤtte, ſo viel wie tauſend beweiſen.
Zu dieſem philologiſchen Beſtreben hat
ſich das pſychologiſche geſellt, indem man ſich
große Muͤhe gegeben, viele Erzaͤhlungen, die
offenbar juͤdiſche Fabeln ſind, erfunden nach
der Anleitung meſſianiſcher Weiſſagungen des
alten Teſtaments, (uͤber welche Quelle die Ur¬
heber ſogar ſelbſt keinen Zweifel zulaſſen, in¬
dem ſie hinzuſetzen: es habe geſchehen muͤſ¬
ſen, damit erfuͤllet wuͤrde, was geſchrieben
ſtehe), aus pſychologiſchen Taͤuſchungen begreif¬
lich zu machen.
Verbunden hiemit iſt die beliebte Ver¬
waͤſſerungs-Methode, kraft welcher, unter
dem Vorwand, dieſes oder jenes ſeyen nur
Redensarten orientaliſchen Schwulſtes, die
flachen Begriffe des behaglichſten gemeinen
Verſtandes, der modernen Moral und Reli¬
gion in die Urkunden hinein erklaͤrt werden.
Zuletzt hat ſich dieſe Entfernung der Wiſ¬
ſenſchaft von der Speculation auch auf den
Volksunterricht verbreitet, welcher rein mo¬
raliſch, ohne alle Ideen ſeyn ſollte. Die
Moral iſt ohne Zweifel nichts auszeichnendes
des Chriſtenthums; um einiger Sittenſpruͤche
willen, wie die von der Liebe des Naͤchſten
u. ſ. w. wuͤrde es nicht in der Welt und der
Geſchichte exiſtirt haben. Es iſt nicht die
Schuld dieſer gemeinen Menſchenverſtaͤndigkeit,
wenn jenes moraliſche Predigen ſich nicht noch
tiefer herabgelaſſen und zu einem oͤkonomiſchen
geworden iſt. Die Prediger ſollten wirklich
zu verſchiedenen Zeiten Landwirthe, Aerzte
und was nicht alles ſeyn, und nicht allein die
Kuhpocken von der Kanzel empfehlen, ſondern
auch die beſte Art Kartoffeln zu erziehen,
lehren.
Ich mußte uͤber den Zuſtand der Theo¬
logie reden, weil ich das, was mir uͤber
das Studium dieſer Wiſſenſchaft zu ſagen noͤ¬
thig ſchien, nicht anders, als durch den Ge¬
genſatz gegen die herrſchende Art deſſelben
deutlich zu machen hoffen konnte.
Die Goͤttlichkeit des Chriſtenthums kann
ſchlechterdings auf keine mittelbare Weiſe, ſon¬
dern nur eine unmittelbare und im Zuſam¬
menhang mit der abſoluten Anſicht der Ge¬
ſchichte erkannt werden. Deshalb iſt unter
andern der Begriff einer mittelbaren Offenba¬
rung, außerdem daß er nur zum Behuf ei¬
ner Zweydeutigkeit in der Rede ausgedacht
iſt, ein durchaus unzulaͤſſiger, da er ganz
empiriſch iſt.
Was an dem Studium der Theologie
wirklich bloß Sache der Empirie iſt, wie die
kritiſche und philologiſche Behandlung der er¬
ſten chriſtlichen Buͤcher, iſt von dem Stu¬
dium der Wiſſenſchaft an und fuͤr ſich ganz
abzuſondern. Auf die Auslegung derſelben
koͤnnen die hoͤheren Ideen keinen Einfluß ha¬
ben, dieſe muß ganz unabhaͤngig wie bey
jedem andern Schriftſteller geſchehen, wo nicht
gefragt wird, ob das, was er ſagt, ver¬
nunftgemaͤß, hiſtoriſch wahr oder religioͤs iſt,
ſondern ob er es wirklich geſagt hat. Hin¬
wiederum ob dieſe Buͤcher aͤcht oder unaͤcht,
die darinn enthaltenen Erzaͤhlungen wirkliche
unentſtellte Facta ſind, ob ihr Inhalt ſelbſt
der Idee des Chriſtenthums angemeſſen iſt
oder nicht, kann an der Realitaͤt derſelben
nichts aͤndern, da ſie nicht von dieſer Ein¬
zelheit abhaͤngig, ſondern allgemein und ab¬
ſolut iſt. Und ſchon laͤngſt, wenn man nicht
das Chriſtenthum ſelbſt als bloß zeitliche Er¬
ſcheinung begriffen haͤtte, waͤre die Auslegung
frey gegeben, ſo daß wir in der hiſtoriſchen
Wuͤrdigung dieſer fuͤr die erſte Geſchichte deſ¬
ſelben ſo wichtigen Urkunden ſchon viel wei¬
ter gelangt ſeyn, und in einer ſo einfachen
Sache nicht bis jetzt noch ſo viele Umwege
und Verwickelungen geſucht wuͤrden.
Das Weſentliche im Studium der Theo¬
logie iſt die Verbindung der ſpekulativen und
hiſtoriſchen Conſtruction des Chriſtenthums
und ſeiner vornehmſten Lehren.
Zwar an die Stelle des Exoteriſchen und
Buchſtaͤblichen des Chriſtenthums das Eſote¬
riſche und Geiſtige treten zu laſſen: dieſem
Beginnen widerſpricht allerdings die offenbare
Abſicht der fruͤheſten Lehrer und der Kirche
ſelbſt, da dieſe wie jene zu jeder Zeit daruͤ¬
ber einverſtanden waren, ſich dem Eindrin¬
gen alles deſſen, was nicht Sache aller Men¬
ſchen und voͤllig exoteriſch ſeyn koͤnnte, zu wi¬
derſetzen. Es beweiſt ein richtiges Gefuͤhl,
ein ſicheres Bewußtſeyn deſſen, was ſie wol¬
len mußten, in den erſten Gruͤndern, wie
in den ſpaͤtern Haͤuptern des Chriſtenthums,
daß ſie mit Ueberlegung entfernten, was der
Oeffentlichkeit deſſelben Eintrag thun konnte,
und es ausdruͤcklich als Hareſis, als der Uni¬
verſalitaͤt entgegenwirkend, ausſchloſſen. Selbſt
unter denjenigen, die zu der Kirche und den
Orthodoxen gehoͤrten, erlangten doch die, wel¬
che am meiſten auf den Buchſtaben drangen,
das groͤßte Anſehen, ja ſie haben eigentlich
das Chriſtenthum als univerſelle Religions¬
form erſchaffen. Nur der Buchſtabe des Oc¬
cidentes konnte dem vom Orient kommenden
idealen Princip einen Leib und die aͤußere
Geſtalt geben, wie das Licht der Sonne nu
in dem Stoff der Erde ſeine herrlichen Ideen
ausgebiert.
Aber eben dieſes Verhaͤltniß, welches
den erſten Formen des Chriſtenthums den Ur¬
ſprung gab, kehrt, nachdem jene dem Ge¬
ſetz der Endlichkeit gemaͤß zerfallen ſind, und
die offenbare Unmoͤglichkeit iſt, das Chriſten¬
thum in der exoteriſchen Geſtalt zu behaup¬
ten, aufs Neue zuruͤck. Das Eſoteriſche muß
alſo hervortreten und, von ſeiner Huͤlle be¬
freyt, fuͤr ſich leuchten. Der ewig lebendige
Geiſt aller Bildung und Erſchaffung wird es in
neue und daurendere Formen kleiden, da es
an dem dem Idealen entgegengeſetzten Stoff
nicht fehlt, der Occident und Orient ſich in
Einer und derſelbigen Bildung nahe geruͤckt
ſind, und uͤberall, wo Entgegengeſetzte ſich
beruͤhren, neues Leben entzuͤndet wird. Der
Geiſt der neueren Welt hat in der Schonungs¬
loſigkeit, womit er auch die ſchoͤnſten aber
endlichen Formen, nach Zuruͤckziehung ihres
Lebensprincips, in ſich zerfallen ließ, hin¬
laͤnglich ſeine Abſicht offenbart, das Unend¬
liche in ewig neuen Formen zu gebaͤhren.
Daß er das Chriſtenthum nicht als einzelne
empiriſche Erſcheinung, ſondern als jene ewige
Idee ſelbſt wolle, hat er eben ſo klar bezeugt.
Die nicht auf die Vergangenheit eingeſchraͤnk¬
ten, ſondern auf eine ungemeſſene Zeit ſich er¬
ſtreckenden Beſtimmungen des Chriſtenthums
laſſen ſich deutlich genug in der Poeſie und
Philoſophie erkennen. Jene fodert die Reli¬
gion als die oberſte, ja einzige Moͤglichkeit
auch der poetiſchen Verſoͤhnung: dieſe hat
mit dem wahrhaft ſpekulativen Standpunct
auch den der Religion wieder errungen, den
Empirismus und ihm gleichen Naturalismus
14
nicht bloß partiell, ſondern allgemein aufge¬
hoben, und die Wiedergeburt des eſoteriſchen
Chriſtenthums, wie die Verkuͤndigung des ab¬
ſoluten Evangelium in ſich vorbereitet.
Zehnte Vorleſung.
Ueber das Studium der Hi¬
ſtorie und der Jurisprudenz.
14 *
Wie das Abſolute ſelbſt in der Doppelgeſtalt
der Natur und Geſchichte als Ein und Daſſel¬
bige erſcheint, zerlegt die Theolgie als Indiffe¬
renzpunct der realen Wiſſenſchaften ſich von der
einen Seite in die Hiſtorie, von der andern in
die Naturwiſſenſchaft, deren jede ihren Gegen¬
ſtand getrennt von dem andern und eben damit
auch von der oberſten Einheit betrachtet.
Dieß verhindert nicht, daß nicht jede der¬
ſelben in ſich den Centralpunct herſtellen, und
ſo in das Urwiſſen zuruͤckgehen koͤnne.
Die gemeine Vorſtellung der Natur und
Geſchichte iſt, daß in jener alles durch empiri¬
ſche Nothwendigkeit, in dieſer alles durch Frey¬
heit geſchehe. Aber eben dieß ſind ſelbſt nur
die Formen oder Arten, außer dem Abſoluten zu
ſeyn. Die Geſchichte iſt in ſo fern die hoͤhere
Potenz der Natur, als ſie im Idealen aus¬
druͤckt, was dieſe im Realen: dem Weſen nach
aber iſt ebendeswegen daſſelbe in beyden, nur
veraͤndert durch die Beſtimmung oder Potenz,
unter der es geſetzt iſt. Koͤnnte in beyden das
reine An-ſich erblickt werden, ſo wuͤrden wir
daſſelbe, was in der Geſchichte ideal, in der
Natur real vorgebildet erkennen. Die Freyheit,
als Erſcheinung, kann nichts erſchaffen: es iſt
Ein Univerſum, welches die zwiefache Form der
abgebildeten Welt jede fuͤr ſich und in ihrer Art
ausdruͤckt. Die vollendete Welt der Geſchichte
waͤre demnach ſelbſt eine ideale Natur, der
Staat, als der aͤußere Organismus einer in der
Freyheit ſelbſt erreichten Harmonie der Nothwen¬
digkeit und der Freyheit. Die Geſchichte, ſo
fern ſie die Bildung dieſes Vereins zum vor¬
zuͤglichſten Gegenſtand hat, waͤre Geſchichte im
engern Sinn des Wortes.
Die Frage, welche uns hier zunaͤchſt ent¬
gegenkommt, naͤmlich ob Hiſtorie Wiſſenſchaft
ſeyn koͤnne? ſcheint wegen ihrer Beantwortung
keinen Zweifel zuzulaſſen. Wenn naͤmlich
Hiſtorie, als ſolche, und von dieſer iſt die
Rede, der letzten entgegengeſetzt iſt, wie im
Vorhergehenden allgemein angenommen wurde,
ſo iſt klar, daß ſie nicht ſelbſt Wiſſenſchaft ſeyn
koͤnne, und wenn die realen Wiſſenſchaften Syn¬
theſen des Philoſophiſchen und Hiſtoriſchen
ſind, ſo kann ebendeswegen die Hiſtorie ſelbſt
nicht wieder eine ſolche ſeyn, ſo wenig als es
Philoſophie ſeyn kann. Sie traͤte alſo in der
letzten Beziehung mit dieſer auf gleichen Rang.
Um dieſes Verhaͤltniß noch beſtimmter ein¬
zuſehen, unterſcheiden wir die verſchiedenen
Standpuncte, auf welchen Hiſtorie gedacht
werden koͤnnte.
Der hoͤchſte, der von uns im Vorherge¬
henden erkannt wurde, iſt der religioͤſe oder
derjenige, in welchem die ganze Geſchichte als
Werk der Vorſehung begriffen wird. Daß die¬
ſer nicht in der Hiſtorie als ſolcher geltend ge¬
macht werden koͤnne, folgt daraus, daß er von
dem philoſophiſchen nicht weſentlich verſchieden
iſt. Es verſteht ſich, daß ich hiemit weder die re¬
ligioͤſe noch die philoſophiſche Conſtruction der Ge¬
ſchichte laͤugne; allein jene gehoͤrt der Theolo¬
gie, dieſe der Philoſophie an, und iſt von der
Hiſtorie als ſolcher nothwendig verſchieden.
Der entgegengeſetzte Standpunct des ab¬
ſoluten iſt der empiriſche, welcher wieder zwey
Seiten hat. Die der reinen Aufnahme und Aus¬
mittlung des Geſchehenen, welche Sache des Ge¬
ſchichtforſchers iſt, der von dem Hiſtoriker als ſol¬
chen nur eine Seite repraͤſentirt. Die der Ver¬
bindung des empiriſchen Stoffs nach einer Ver¬
ſtandes-Identitaͤt, oder, weil die letztere nicht
in den Begebenheiten an und fuͤr ſich ſelbſt lie¬
gen kann, indem dieſe empiriſch viel mehr zufaͤl¬
lig und nicht harmoniſch erſcheinen, der An¬
ordnung nach einem durch das Subject entwor¬
fenen Zweck, der in ſo fern didaktiſch oder po¬
litiſch iſt. Dieſe Behandlung der Geſchichte
in ganz beſtimmter, nicht allgemeiner Abſicht,
iſt, was, der von den Alten feſtgeſetzten Bedeu¬
tung zufolge, die pragmatiſche heißt. So iſt
Polybius, der ſich uͤber dieſen Begriff ausdruͤck¬
lich erklaͤrt, pragmatiſch wegen der ganz be¬
ſtimmten auf die Technik des Kriegs gerichte¬
ten Abſicht ſeiner Geſchichtsbuͤcher: ſo Tacitus,
weil er Schritt vor Schritt an dem Verfall des
roͤmiſchen Staats die Wirkungen der Sittenlo¬
ſigkeit und des Deſpotismus darſtellt.
Die Modernen ſind geneigt, den pragma¬
tiſchen Geiſt fuͤr das Hoͤchſte in der Hiſtorie zu
halten und zieren ſich ſelbſt untereinander mit
dem Praͤdicat deſſelben, als mit dem groͤßten
Lob. Aber eben wegen ihrer ſubjectiven Ab¬
haͤngigkeit wird Niemand, der Sinn hat,
die Darſtellungen der beyden angefuͤhrten Ge¬
ſchichtſchreiber in den erſten Rang der Hiſtorie
ſetzen. Bey den Deutſchen hat es nun uͤber¬
dieß mit dem pragmatiſchen Geiſt in der Regel
die Bewandtniß, wie bey dem Famulus in Goe¬
the's Fauſt: „Was ſie den Geiſt der Zeiten nen¬
nen, iſt ihr eigner Geiſt, worinn die Zeiten
ſich beſpiegeln.“ In Griechenland ergriffen die
erhabenſten, gereiſteſten, erfahrungsreichſten
Geiſter den Griffel der Geſchichte, um ſie wie
mit ewigen Charakteren zu ſchreiben. Herodo¬
tus iſt ein wahrhaft Homeriſcher Kopf, im
Thucydides concentrirt ſich die ganze Bildung
des Perikleiſchen Zeitalters zu einer goͤtt¬
lichen Anſchauung. In Deutſchland, wo die
Wiſſenſchaft immer mehr eine Sache der In¬
duſtrie wird, wagen ſich gerade die geiſtloſeſten
Koͤpfe an die Geſchichte. Welch ein widerli¬
cher Anblick, das Bild großer Begebenheiten
und Karaktere im Organ eines kurzſichtigen
und einfaͤltigen Menſchen entworfen, beſonders
wenn er ſich noch Gewalt anthut, Verſtand zu
haben und dieſen etwa darein ſetzt, die Groͤße
der Zeiten und Voͤlker nach beſchraͤnkten Anſich¬
ten, z. B. Wichtigkeit des Handels, dieſen
oder jenen nuͤtzlichen oder verderblichen Erfindun¬
gen zu ſchaͤtzen und uͤberhaupt einen ſo viel
moͤglich gemeinen Maasſtab an alles Erhabene
zu legen: oder wenn er auf der andern Seite
den hiſtoriſchen Pragmatismus darinn ſucht,
ſich ſelbſt durch Raͤſonniren uͤber die Begeben¬
heiten oder Ausſchmuͤcken des Stoffs mit leeren
rhetoriſchen Floskeln geltend zu machen, z. B.
von den beſtaͤndigen Fortſchritten der Menſch¬
heit und wie Wir's denn zuletzt ſo herrlich
weit gebracht.
Dennoch iſt ſelbſt unter dem Heiligſten
nichts, das heiliger waͤre als die Geſchichte,
dieſer große Spiegel des Weltgeiſtes, dieſes
ewige Gedicht des goͤttlichen Verſtandes: nichts
das weniger die Beruͤhrung unreiner Haͤnde er¬
truͤge.
Der pragmatiſche Zweck der Geſchichte
ſchließt von ſelbſt die Univerſalitaͤt aus und fo¬
dert nothwendig auch einen beſchraͤnkten Gegen¬
ſtand. Der Zweck der Belehrung verlangt eine
richtige und empiriſch begruͤndete Verknuͤpfung
der Begebenheiten, durch welche der Verſtand
zwar aufgeklaͤrt wird, die Vernunft aber ohne
andere Zuthat unbefriedigt bleibt. Auch Kants
Plan einer Geſchichte im weltbuͤrgerlichen Sinn
beabſichtigt eine bloße Verſtandesgeſetzmaͤßigkeit
im Ganzen derſelben, die nur hoͤher, naͤmlich
in der allgemeinen Nothwendigkeit der Natur,
geſucht wird, durch welche aus dem Krieg der
Friede, zuletzt ſogar der ewige und aus vielen
andern Verirrungen endlich die aͤchte Rechtsver¬
faſſung entſtehen ſoll. Allein dieſer Plan der
Natur iſt ſelbſt nur der empiriſche Widerſchein
der wahren Nothwendigkeit, ſo wie die Ab¬
ſicht einer darnach geordneten Geſchichte nicht
ſowohl eine weltbuͤrgerliche als eine buͤrgerliche
heißen muͤßte, den Fortgang naͤmlich der
Menſchheit zum ruhigen Verkehr, Gewerbe
und Handelsbetrieb unter ſich, und dieſes ſo¬
nach uͤberhaupt als die hoͤchſten Fruͤchte des
Menſchenlebens und ſeiner Anſtrengungen dar¬
zuſtellen.
Es iſt klar, daß, da die bloße Verknuͤp¬
fung der Begebenheiten nach empiriſcher Noth¬
wendigkeit immer nur pragmatiſch ſeyn kann,
die Hiſtorie aber in ihrer hoͤchſten Idee von
aller ſubjectiven Beziehung unabhaͤngig und
befreyt ſeyn muß, auch uͤberhaupt der em¬
piriſche Standpunct nicht der hoͤchſte ihrer
Darſtellungen ſeyn koͤnne.
Auch die wahre Hiſtorie beruht auf einer
Syntheſis des Gegebenen und Wirklichen mit
dem Idealen, aber nicht durch Philoſophie, da
dieſe die Wirklichkeit vielmehr aufhebt und ganz
ideal iſt: Hiſtorie aber ganz in jener und doch
zugleich ideal ſeyn ſoll. Dieſes iſt nirgend als
in der Kunſt moͤglich, welche das Wirkliche
ganz beſtehen laͤßt, wie die Buͤhne reale Be¬
gebenheiten oder Geſchichten, aber in einer Vol¬
lendung und Einheit darſtellt, wodurch ſie Aus¬
druck der hoͤchſten Ideen werden. Die Kunſt
alſo iſt es, wodurch die Hiſtorie, indem ſie
Wiſſenſchaft des Wirklichen als ſolchen iſt, zu¬
gleich uͤber daſſelbe auf das hoͤhere Gebiet des
Idealen erhoben wird, auf dem die Wiſſen¬
ſchaft ſteht; und der dritte und abſolute Stand¬
punct der Hiſtorie iſt demnach der der hiſtori¬
ſchen Kunſt.
Wir haben das Verhaͤltniß deſſelben zu
den vorherangegebenen zu zeigen.
Es verſteht ſich, daß der Hiſtoriker nicht,
einer vermeynten Kunſt zu lieb, den Stoff der
Geſchichte veraͤndern kann, deren oberſtes Ge¬
ſetz Wahrheit ſeyn ſoll. Eben ſo wenig kann
die Meynung ſeyn, daß die hoͤhere Darſtellung
den wirklichen Zuſammenhang der Begebenhei¬
ten vernachlaͤſſige, es hat vielmehr hiermit
ganz dieſelbe Bewandtniß, wie mit der Be¬
gruͤndung der Handlungen im Drama, wo
zwar die einzelne aus der vorhergehenden und
zuletzt alles aus der erſten Syntheſis mit Noth¬
wendigkeit entſpringen muß, die Aufeinander¬
folge ſelbſt aber nicht empiriſch, ſondern nur
aus einer hoͤhern Ordnung der Dinge begreif¬
lich ſeyn muß. Erſt dann erhaͤlt die Geſchichte
ihre Vollendung fuͤr die Vernunft, wenn die
empiriſchen Urſachen, indem ſie den Verſtand
befriedigen, als Werkzeuge und Mittel der Er¬
ſcheinung einer hoͤheren Nothwendigkeit ge¬
braucht werden. In ſolcher Darſtellung kann
die Geſchichte die Wirkung des groͤßten und
erſtaunenswuͤrdigſten Drama nicht verfehlen, das
nur in einem unendlichen Geiſte gedichtet ſeyn
kann.
Wir haben die Hiſtorie auf die gleiche
Stufe mit der Kunſt geſetzt. Aber, was dieſe
darſtellt, iſt immer eine Identitaͤt der Noth¬
wendigkeit und Freyheit, und dieſe Erſcheinung,
vornehmlich in der Tragoͤdie, iſt der eigentliche
Gegenſtand unſerer Bewunderung. Dieſe ſelbe
Identitaͤt aber iſt zugleich der Standpunct der
Philoſophie und ſelbſt der Religion fuͤr die Ge¬
ſchichte, da dieſe in der Vorſehung nichts an¬
ders, als die Weisheit erkennt, welche in dem
Plane der Welt die Freyheit der Menſchen mit
der allgemeinen Nothwendigkeit und umgekehrt
dieſe mit jener vereinigt. Nun ſoll aber die
Hiſtorie wahrhaft weder auf dem philoſophi¬
ſchen noch auf dem religioͤſen Standpunct ſte¬
hen. Sie wird demnach auch jene Identitaͤt
der Freyheit und Nothwendigkeit in dem Sin¬
ne darſtellen muͤſſen, wie ſie vom Geſichtspunct
der Wirklichkeit aus erſcheint, den ſie auf keine
Weiſe verlaſſen ſoll. Von dieſem aus iſt ſie
aber nur als unbegriffene und ganz objective
Identitaͤt erkennbar, als Schickſal. Die Mey¬
nung iſt nicht, daß der Geſchichtſchreiber das
Schickſal im Munde fuͤhre, ſondern daß es
durch die Objectivitaͤt ſeiner Darſtellung von
ſelbſt und ohne ſein Zuthun erſcheine. Durch
die Geſchichtsbuͤcher des Herodotus gehen Ver¬
haͤngniß und Vergeltung als unſichtbare uͤberall
waltende Gottheiten; in dem hoͤheren und voͤllig
unabhaͤngigen Styl des Thucydides, der ſich
ſchon durch die Einfuͤhrung der Reden dra¬
matiſch zeigt, iſt jene hoͤhere Einheit in der
Form ausgedruͤckt und ganz bis zur aͤußern Er¬
ſcheinung gebracht.
Ueber die Art, wie Hiſtorie ſtudiert wer¬
den ſoll, moͤge folgendes hinreichen. Sie muß
im Ganzen nach Art des Epos betrachtet wer¬
den, das keinen beſtimmten Anfang und kein be¬
ſtimmtes Ende hat: man nehme denjenigen
Punct heraus, den man fuͤr den bedeutendſten
oder intereſſanteſten haͤlt, und von dieſem aus
bilde und erweitere ſich das Ganze nach allen
Richtungen.
Man meide die ſogenannten Univerſalhi¬
ſtorien, die nichts lehren; andere giebt es
noch nicht. Die wahre Univerſalgeſchichte
muͤßte im epiſchen Styl, alſo in dem Geiſte
verfaßt ſeyn, deren Anlage im Herodotus iſt.
Was man jetzt ſo nennt, ſind Compendien, da¬
rinn alles Beſondere und Bedeutende verwiſcht
iſt: auch derjenige aber, der Hiſtorie nicht zu
ſeinem beſondern Fach waͤhlt, gehe ſo viel moͤg¬
lich zu den Quellen und den Particulargeſchichten,
die ihn bey weitem mehr unterrichten. Er
lerne fuͤr die neuere Geſchichte die naive Ein¬
falt der Chroniken liebgewinnen, die keine praͤ¬
tenſionvollen Karakterſchilderungen machen, oder
pſychologiſch motiviren.
Wer ſich zum hiſtoriſchen Kuͤnſtler bilden
will, halte ſich einzig an die großen Muſter der
Alten, welche, nach dem Zerfall des allgemeinen
und oͤffentlichen Lebens, nie wieder erreicht wer¬
den konnten. Wenn wir von Gibbon abſehen,
deſſen Werk die umfaſſende Conception und die
ganze Macht des großen Wendepunctes der
neueren Zeit fuͤr ſich hat, obgleich er nur Red¬
ner nicht Geſchichtſchreiber iſt, exiſtiren bloß
wahrhaft nationelle Hiſtoriker, unter denen die
ſpaͤtere Zeit nur Macchiavelli und Joh. Muͤller
nennen wird.
Welche Stufen derjenige zu erklimmen
hat, der wuͤrdiger Weiſe die Geſchichte ver¬
zeichnen will, koͤnnten die, ſo dieſem Beruf ſich
weihen, vorerſt nur aus den Briefen, welche
dieſer als Juͤngling geſchrieben, ohngefaͤhr er¬
meſſen. Aber uͤberhaupt alles, was Wiſſen¬
ſchaft und Kunſt, was ein erfahrungsreiches
15
und oͤffentliches Leben vermoͤgen, muß dazu
beytragen, den Hiſtoriker zu bilden.
Die erſten Urbilder des hiſtoriſchen Styls
ſind das Epos in ſeiner urſpruͤnglichen Ge¬
ſtalt und die Tragoͤdie; denn wenn die univer¬
ſelle Geſchichte, deren Anfaͤnge, wie die Quel¬
len des Nils, unerkennbar, die epiſche Form
und Fuͤlle liebt, will die beſondere dagegen
mehr concentriſch um einen gemeinſchaftlichen
Mittelpunct gebildet ſeyn; davon zu ſchweigen,
daß fuͤr den Hiſtoriker die Tragoͤdie die wahre
Quelle großer Ideen und der erhabenen Den¬
kungsart iſt, zu welcher er gebildet ſeyn muß.
Als den Gegenſtand der Hiſtorie im en¬
gern Sinne beſtimmten wir die Bildung eines
objectiven Organismus der Freyheit oder des
Staats. Es giebt eine Wiſſenſchaft deſſelben,
ſo nothwendig es eine Wiſſenſchaft der Natur
giebt. Seine Idee kann um ſo weniger aus
der Erfahrung genommen ſeyn, da dieſe hier
vielmehr ſelbſt erſt nach Ideen geſchaffen und
der Staat als Kunſtwerk erſcheinen ſoll.
Wenn die realen Wiſſenſchaften uͤberhaupt
nur durch das hiſtoriſche Element von der Phi¬
loſophie geſchieden ſind, ſo wird daſſelbe auch
von der Rechtswiſſenſchaft gelten; aber nur ſo
viel von dem Hiſtoriſchen derſelben kann der
Wiſſenſchaft angehoͤren, als Ausdruck von
Ideen iſt, nicht alſo, was ſeiner Natur nach
bloß endlich iſt, wie alle Formen der Geſetze,
die ſich allein auf den aͤußeren Mechanismus des
Staats beziehen, wohin faſt der ganze Inbe¬
griff derjenigen gehoͤrt, welche in der gegenwaͤr¬
tigen Rechtswiſſenſchaft gelehrt werden, und in
denen man den Geiſt eines oͤffentlichen Zuſtan¬
des nur noch wie in Truͤmmern wohnen ſieht.
In Anſehung derſelben giebt es keine an¬
dere Vorſchrift, als ſie empiriſch, wie es zu
dem Gebrauch in einzelnen Faͤllen vor Gerichts¬
hoͤfen oder in oͤffentlichen Verhaͤltniſſen noͤthig
iſt, zu erlernen und zu lehren, und nicht die
Philoſophie zu entweihen, indem man ſie in
Dinge einmiſcht, welche an ihr keinen Theil
haben. Die wiſſenſchaftliche Conſtruction des
Staats wuͤrde, was das innere Leben deſſelben
betrifft, kein entſprechendes hiſtoriſches Element
15 *
in den ſpaͤteren Zeiten finden, außer in wie
fern ſelbſt das Entgegengeſetzte wieder zum Re¬
flex desjenigen dient, von dem es dieß iſt.
Das Privatleben und mit ihm auch das Pri¬
vatrecht hat ſich von dem oͤffentlichen getrennt;
jenes aber hat, abgeſondert von dieſem, ſo we¬
nig Abſolutheit, als es in der Natur das Seyn
der einzelnen Koͤrper und ihr beſonderes Ver¬
haͤltniß unter einander hat. Da in der gaͤnz¬
lichen Zuruͤckziehung des allgemeinen und oͤf¬
fentlichen Geiſtes von dem einzelnen Leben die
ſes als die rein endliche Seite des Staats und
voͤllig todt zuruͤckgeblieben iſt, ſo iſt auf die
Geſetzmaͤßigkeit, die in ihm herrſcht, durchaus
keine Anwendung von Ideen und hoͤchſtens die
eines mechaniſchen Scharfſinnes moͤglich, um
die empiriſchen Gruͤnde derſelben in einzel¬
nen Faͤllen darzuthun oder ſtreitige Faͤlle nach
jenen zu entſcheiden.
Was allein von dieſer Wiſſenſchaft einer
univerſell-hiſtoriſchen Anſicht faͤhig ſeyn moͤch¬
te, iſt die Form des oͤffentlichen Lebens, in wie
fern dieſe, auch ihren beſondern Beſtimmun¬
gen nach, aus dem Gegenſatz der neuen mit
der alten Welt begriffen werden kann und eine
allgemeine Nothwendigkeit hat.
Die Harmonie der Nothwendigkeit und
Freyheit, die ſich nothwendig aͤußerlich und
in einer objectiven Einheit ausdruͤckt, dif¬
ferenziirt ſich in dieſer Erſcheinung ſelbſt wie¬
der nach zwey Seiten, und hat eine verſchie¬
dene Geſtalt, je nachdem ſie im Realen oder
Idealen ausgedruͤckt wird. Die vollkomme¬
ne Erſcheinung derſelben im Erſten iſt der
vollkommene Staat, deſſen Idee erreicht iſt,
ſobald das Beſondere und das Allgemeine ab¬
ſolut Eins, alles was nothwendig zugleich frey
und alles frey geſchehende zugleich nothwendig
iſt. Indem das aͤußere und oͤffentliche Leben,
in einer objectiven Harmonie jener beyden, ver¬
ſchwand, mußte es durch das ſubjective in ei¬
ner idealen Einheit erſetzt werden, welche die
Kirche iſt. Der Staat, in ſeiner Entgegenſe¬
tzung gegen die Kirche, iſt ſelbſt wieder die Na¬
turſeite des Ganzen, worinn beyde Eins ſind.
In ſeiner Abſolutheit mußte er das Entgegen¬
geſetzte Erſcheinung verdraͤngen, eben des¬
wegen weil er es begriff: wie der griechiſche Staat
keine Kirche kannte, wenn man nicht die Myſte¬
rien dafuͤr rechnen will, die aber ſelbſt nur ein
Zweig des oͤffentlichen Lebens waren; ſeit die
Myſterien exoteriſch ſind, iſt der Staat dage¬
gen eſoteriſch, da in ihm nur das Einzelne im
Ganzen, zu welchem es im Verhaͤltniß der Dif¬
ferenz iſt, nicht aber das Ganze auch im Ein¬
zelnen lebt. In der realen Erſcheinung des
Staats exiſtirte die Einheit in der Vielheit, ſo
daß ſie voͤllig mit ihr eins war: mit der Ent¬
gegenſetzung beyder ſind auch alle andere in
dieſer begriffnen Gegenſaͤtze im Staat hervor¬
getreten. Die Einheit mußte das Herrſchende
werden, aber nicht in der abſoluten ſondern ab¬
ſtracten Geſtalt, in der Monarchie, deren Be¬
griff mit dem der Kirche weſentlich verflochten
iſt. Im Gegentheil mußte die Vielheit oder
Menge, durch ihre Entgegenſetzung mit der
Einheit ſelbſt, ganz in Einzelnheit zerfallen,
und hoͤrte auf, Werkzeug des Allgemeinen zu
ſeyn. Wie die Vielheit in der Natur als Ein¬
bildung der Unendlichkeit in die Endlichkeit
wieder abſolut, in ſich Einheit und Vielheit iſt,
ſo war in dem vollkommenen Staat die Viel¬
heit eben dadurch, daß ſie zu einer abgeſchloſſe¬
nen Welt (im Sklavenſtand) organiſirt war,
innerhalb derſelben abſolut, die geſonderte,
aber eben deswegen in ſich beſtehende, reale
Seite des Staats, waͤhrend aus dem gleichen
Grunde die Freyen in dem reinen Aether eines
idealen und dem der Ideen gleichen Lebens ſich
bewegten. Die neue Welt iſt in allen Bezie¬
hungen die Welt der Miſchung, wie die alte
die der reinen Sonderung und Beſchraͤnkung.
Die ſogenannte buͤrgerliche Freyheit hat nur
die truͤbſte Vermengung der Sklaverey mit der
Freyheit, aber kein abſolutes und eben dadurch
wieder freyes Beſtehen der einen oder andern
hervorgebracht. Die Entgegenſetzung der Ein¬
heit und der Vielheit machte in dem Staat die
Mittler nothwendig, die aber in dieſer Mitte
von Herrſchen und Beherrſchtſeyn zu keiner ab¬
ſoluten Welt ſich ausbildeten, und nur in der
Entgegenſetzung waren, niemals aber eine un¬
abhaͤngige, ihnen eigenthuͤmlich inwohnende
und weſentliche Realitaͤt erlangten.
Das erſte Streben eines jeden, der die po¬
ſitive Wiſſenſchaft des Rechts und des Staats
ſelbſt als ein Freyer begreifen will, muͤßte die¬
ſes ſeyn, ſich durch Philoſophie und Geſchichte
die lebendige Anſchauung der ſpaͤteren Welt
und der in ihr nothwendigen Formen des oͤf¬
fentlichen Lebens zu verſchaffen: es iſt nicht zu
berechnen, welche Quelle der Bildung in dieſer
Wiſſenſchaft eroͤffnet werden koͤnnte, wenn ſie
mit unabhaͤngigem Geiſte, frey von der Bezie¬
hung auf den Gebrauch und an ſich behandelt
wuͤrde.
Die weſentliche Vorausſetzung hiezu iſt
die aͤchte und aus Ideen gefuͤhrte Conſtruction
des Staats, eine Aufgabe, von welcher bis
jetzt die Republik des Plato die einzige Aufloͤ¬
ſung iſt. Obgleich wir auch hierinn den Ge¬
genſatz des Modernen und Antiken anerkennen
muͤſſen, wird dieſes goͤttliche Werk doch im¬
mer das Urbild und Muſter bleiben. Was
ſich uͤber die wahre Syntheſis des Staats,
in dem gegenwaͤrtigen Zuſammenhang, aus¬
ſprechen ließ, iſt im Vorhergehenden wenig¬
ſtens angedeutet, und kann ohne die Ausfuͤh¬
rung oder die Hinweiſung auf ein vorhandenes
Document nicht weiter erklaͤrt werden. Ich
beſchraͤnke mich daher auf die Anzeige desjeni¬
gen, was in der bisherigen Behandlung des
ſogenannten Naturrechts allein beabſichtigt und
geleiſtet worden iſt.
Faſt am hartnaͤckigſten hat in dieſem Theil
der Philoſophie ſich das analytiſche Weſen und
der Formalismus erhalten. Die erſten Be¬
griffe wurden entweder aus dem roͤmiſchen Recht
oder von irgend einer eben gangbaren Form
hergenommen, ſo daß das Naturrecht nicht nur
alle moͤglichen Triebe der menſchlichen Natur,
die ganze Pſychologie, ſondern auch alle er¬
denkliche Formeln nach und nach durchgewan¬
dert iſt. Durch Analyſe derſelben wurde eine
Reihe formaler Saͤtze gefunden, mit deren Huͤlfe
man nachher in der poſitiven Jurisprudenz auf¬
zuraͤumen hoffte.
Beſonders haben Kantiſche Juriſten dieſe
Philoſophie als Magd ihrer Scienz zu brau¬
chen, fleißig angefangen und zu dieſem Behuf
auch richtig immer das Naturrecht reformirt.
Dieſe Art des Philoſophirens aͤußert ſich als
ein Schnappen nach Begriffen, gleich viel wel¬
cher Art ſie ſind, nur daß ſie eine Einzelheit
ſeyen, damit der, welcher ſie aufgefangen,
durch die Muͤhe, die er ſich giebt, die uͤbrige
Maſſe nach ihr zu verziehen, ſich das Anſehen
eines eignen Syſtems geben koͤnne, das aber
dann in kurzer Zeit wieder durch ein anderes
eigenes verdraͤngt wird u. ſ. w.
Das erſte Unternehmen, den Staat wie¬
der als reale Organiſation zu conſtruiren, war
Fichte's Naturrecht. Wenn die bloß negative
Seite der Verfaſſung, die nur auf Sicherſtel¬
lung der Rechte geht, iſolirt, und wenn von
aller poſitiven Veranſtaltung fuͤr die Energie
die rhythmiſche Bewegung und die Schoͤnheit
des oͤffentlichen Lebens abſtrahirt werden koͤnn¬
te: ſo wuͤrde ſich ſchwerlich uͤberhaupt ein an¬
deres Reſultat oder eine andere Form des
Staats ausfindig machen laſſen, als in jenem
dargeſtellt iſt. Aber das Herausheben der bloß
endlichen Seite dehnt den Organismus der
Verfaſſung in einen endloſen Mechanismus
aus, in dem nichts Unbedingtes angetroffen
wird. Ueberhaupt aber kann allen bisherigen
Verſuchen die Abhaͤngigkeit ihres Beſtrebens
vorgeworfen werden, naͤmlich eine Einrichtung
des Staats zu erſinnen, damit jenes oder
dieſes erreicht werde. Ob man dieſen Zweck in
die allgemeine Gluͤckſeligkeit, in die Befriedi¬
gung der ſocialen Triebe der menſchlichen Na¬
tur, oder in etwas rein Formales, wie das
Zuſammenleben freyer Weſen unter den Bedin¬
gungen der moͤglichſten Freyheit, ſetzt, iſt in
jener Beziehung voͤllig gleichguͤltig: denn in
jedem Fall wird der Staat nur als Mittel, als
bedingt und abhaͤngig begriffen. Alle wahre
Conſtruction iſt ihrer Natur nach abſolut und
immer nur auf Eines, auch in der beſondern
Form, gerichtet. Sie iſt z. B. nicht Conſtru¬
ction des Staats als ſolchen, ſondern des ab¬
ſoluten Organismus in der Form des Staats.
Dieſen conſtruiren heißt alſo nicht, ihn als Be¬
dingung der Moͤglichkeit von irgend etwas aͤu¬
ßerem faſſen und uͤbrigens, wenn er nur vor¬
erſt als das unmittelbare und ſichtbare Bild des
abſoluten Lebens dargeſtellt iſt, wird er auch
von ſelbſt alle Zwecke erfuͤllen: wie die Natur
nicht iſt, damit ein Gleichgewicht der Materie
ſey, ſondern dieſes Gleichgewicht iſt, weil die
Natur iſt.
Eilfte Vorleſung.
Ueber die Naturwiſſenſchaft im
Allgemeinen.
Wenn wir von der Natur abſolut reden wol¬
len, ſo verſtehen wir darunter das Univerſum
ohne Gegenſatz, und unterſcheiden nur in die¬
ſem wieder die zwey Seiten: die, in welcher
die Ideen auf reale, und die, in welcher ſie
auf ideale Weiſe gebohren werden. Beydes
geſchieht durch eine und dieſelbe Wirkung des
abſoluten Producirens und nach den gleichen Ge¬
ſetzen, ſo daß in dem Univerſum an und fuͤr
ſich ſelbſt kein Zwieſpalt, ſondern die vollkom¬
mene Einheit iſt.
Um die Natur als die allgemeine Geburt
der Ideen zu faſſen, muͤſſen wir auf den Ur¬
ſprung und die Bedeutung von dieſen ſelbſt zu¬
ruͤckgehen.
Jener liegt in dem ewigen Geſetze der Ab¬
ſolutheit: ſich ſelbſt Object zu ſeyn: denn kraft
deſſelben iſt das Produciren Gottes eine Ein¬
bildung der ganzen Allgemeinheit und Weſen¬
heit in beſondere Formen, wodurch dieſe, als
beſondere, doch zugleich Univerſa und das ſind,
was die Philoſophen Monaden oder Ideen ge¬
nannt haben.
Es wird in der Philoſophie ausfuͤhrlicher
gezeigt, daß die Ideen die einzigen Mittler
ſind, wodurch die beſondern Dinge in Gott
ſeyn koͤnnen, und daß nach dieſem Geſetz ſo
viel Univerſa als beſondere Dinge ſind, und
doch, wegen der Gleichheit des Weſens, in
allen nur Ein Univerſum. Obgleich nun die
Ideen in Gott rein und abſolut ideal ſind, ſind
ſie doch nicht todt, ſondern lebendig, die erſten
Organismen der goͤttlichen Selbſtanſchauung,
die eben deswegen an allen Eigenſchaften ſeines
Weſens und in der beſondern Form dennoch an
der ungetheilten und abſoluten Realitaͤt theil¬
nehmen.
Kraft dieſer Mittheilung ſind ſie, gleich
Gott, productiv und wirken nach demſelben
Geſetze und auf die gleiche Weiſe, indem ſie
ihre Weſenheit in das Beſondere bilden, und
durch einzelne und beſondere Dinge erkennbar
machen, in ihnen ſelbſt und fuͤr ſich ohne Zeit,
vom Standpunct der einzelnen Dinge aber und
fuͤr dieſe in der Zeit. Die Ideen verhalten
ſich als die Seelen der Dinge, dieſe als ihre
Leiber; jene ſind in dieſer Beziehung nothwen¬
dig unendlich, dieſe endlich. Das Unendliche
kann aber mit dem Endlichen nie anders, als
durch innere und weſentliche Gleichheit Eins
werden. Wenn alſo dieſes nicht in ſich ſelbſt,
und als endlich, das ganze Unendliche ſchon be¬
greift und ausdruͤckt, und es ſelbſt iſt, nur
von der objectiven Seite angeſehen, kann auch
die Idee nicht als Seele eintreten, und das
Weſen erſcheint nicht an ſich ſelbſt, ſondern
durch ein anderes, naͤmlich das Seyn. Wenn
dagegen das Endliche, als ſolches, das ganze
Unendliche in ſich gebildet traͤgt, wie der voll¬
kommenſte Organismus, der fuͤr ſich ſchon
die ganze Idee iſt, tritt auch das Weſen des
Dinges als Seele, als Idee hinzu und die
Realitaͤt loͤſt ſich wieder in die Idealitaͤt auf.
Dieß geſchieht in der Vernunft, welche dem¬
nach das Centrum der Natur und des Objectiv¬
werdens der Ideen iſt.
16
Wie alſo das Abſolute in dem ewigen Er¬
kenntnißact ſich ſelbſt in den Ideen objectiv
wird, ſo wirken dieſe auf eine ewige Weiſe in
der Natur, welche ſinnlich, d. i. vom Stand¬
punct der einzelnen Dinge angeſchaut, dieſe auf
zeitliche Weiſe gebiert, und, indem ſie den
goͤttlichen Saamen der Ideen empfangen hat,
endlos fruchtbar erſcheint.
Wir ſind bey dem Puncte, wo wir die
beyden Erkenntniß- und Betrachtungsarten der
Natur in ihrer Entgegenſetzung verſtaͤndlich
machen koͤnnen. Die eine, welche die Natur
als das Werkzeug der Ideen, oder allgemein
als die reale Seite des Abſoluten und demnach
ſelbſt abſolut, die andere, welche ſie fuͤr ſich
als getrennt vom Idealen und in ihrer Relativitaͤt
betrachtet. Wir koͤnnen die erſte allgemein die
philoſophiſche, die andere die empiriſche nen¬
nen, und ſtellen die Frage uͤber den Werth der¬
ſelben ſo, daß wir unterſuchen: ob die empi¬
riſche Betrachtungsart uͤberhaupt und in irgend
einem Sinn zu einer Wiſſenſchaft der Na¬
tur fuͤhren koͤnne?
Es iſt klar, daß die empiriſche Anſicht
ſich nicht uͤber die Koͤrperlichkeit erhebt und dieſe
als etwas, das an ſich ſelbſt iſt, betrachtet, da
jene dagegen ſie nur als das in ein Reales
(durch den Act der Subject-Objectivirung)
verwandelte Ideale begreift. Die Ideen ſym¬
boliſiren ſich in den Dingen, und da ſie an ſich
Formen des abſoluten Erkennens ſind, erſchei¬
nen ſie in dieſen als Formen des Seyns, wie
auch die plaſtiſche Kunſt ihre Ideen toͤdtet, um
ihnen die Objectivitaͤt zu geben. Der Empi¬
rismus nimmt das Seyn ganz unabhaͤngig von
ſeiner Bedeutung, da es die Natur des Sym¬
bols iſt, ein eigenes Leben in ſich ſelbſt zu ha¬
ben. In dieſer Trennung kann es nur als rein
Endliches, mit gaͤnzlicher Negation des Unend¬
lichen erſcheinen. Und wenn nur dieſe Anſicht
in der ſpaͤteren Phyſik ſich zur Allgemeinheit
ausgebildet haͤtte, und jenem Begriff der Ma¬
terie, als dem rein Leiblichen, nicht dennoch
der des Geiſtes, abſolut entgegenſtuͤnde, wo¬
durch ſie verhindert wird, wenigſtens in ſich
ſelbſt ein Ganzes zu ſeyn, und diejenige Vollen¬
16*
dung zu haben, die ſie im Syſtem der alten
Atomiſtik, vorzuͤglich des Epikurus, erlangt
hat. Dieſes befreyt durch die Vernichtung der
Natur ſelbſt das Gemuͤth von der Sehnſucht
und Furcht, anſtatt daß jene vielmehr ſich mit
allen Vorſtellungen des Dogmatismus befreun¬
det und ſelbſt dient, die Entzweyung zu erhal¬
ten, aus der ſie hervorgegangen iſt.
Dieſes Denkſyſtem, welches ſeinen Ur¬
ſprung vom Carteſius herſchreibt, hat das Ver¬
haͤltniß des Geiſtes und der Wiſſenſchaft zur
Natur ſelbſt weſentlich veraͤndert. Ohne hoͤ¬
here Vorſtellungen der Materie und der Natur,
als die Atomenlehre, und doch ohne den Muth,
dieſe zum umfaſſenden Ganzen zu erweitern,
betrachtet es die Natur im Allgemeinen als ein
verſchloſſenes Buch, als ein Geheimniß, das
man immer nur im Einzelnen, und auch die¬
ſes nur durch Zufall oder Gluͤck, niemals aber
im Ganzen erforſchen koͤnne. Wenn es we¬
ſentlich zum Begriff der Wiſſenſchaft iſt, daß
ſie ſelbſt nicht atomiſtiſch, ſondern aus Ei¬
nem Geiſte gebildet ſey und die Idee des Gan¬
zen den Theilen, nicht umgekehrt, dieſe jener
vorangehen, ſo iſt ſchon hieraus klar, daß eine
wahre Wiſſenſchaft der Natur auf dieſem Wege
unmoͤglich und unerreichbar ſey.
Die rein-endliche Auffaſſung hebt an und
fuͤr ſich ſchon alle organiſche Anſicht auf, und
ſetzt an die Stelle derſelben die einfache Reihe des
Mechanismus, ſo wie an die Stelle der Con¬
ſtruction die Erklaͤrung. In dieſer wird von
den beobachteten Wirkungen auf die Urſachen
zuruͤckgeſchloſſen; allein daß es eben dieſe und
keine andern ſind, wuͤrde, wenn auch uͤbrigens
die Schlußart zulaͤſſig und keine Erſcheinung
waͤre, die unmittelbar aus einem abſoluten
Princip kaͤme, ſelbſt daraus nicht gewiß ſeyn,
daß jene durch ſie begreiflich waͤren. Denn es
folgt nicht, daß ſie es nicht auch aus andern
ſeyn koͤnnen. Nur wenn die Urſachen an ſich
ſelbſt gekannt waͤren und von dieſen auf die
Wirkungen geſchloſſen wuͤrde, koͤnnte der Zuſam¬
menhang beyder Nothwendigkeit und Evidenz
haben; davon nichts zu ſagen, daß die Wir¬
kungen nothduͤrftig wohl aus den Urſachen fol¬
gen muͤſſen, nachdem man dieſe erſt ſo ausge¬
dacht hat, als noͤthig war, jene daraus abzu¬
leiten.
Das Innere aller Dinge und das, wor¬
aus alle lebendigen Erſcheinungen derſelben
quillen, iſt die Einheit des Realen und Idea¬
len, welche an ſich abſolute Ruhe nur durch Dif¬
ferenziirung von außen zum Handeln beſtimmt
wird. Da der Grund aller Thaͤtigkeit in der
Natur Einer iſt, der allgegenwaͤrtig, durch kei¬
nen andern bedingt und in Bezug auf jedes
Ding abſolut iſt, ſo koͤnnen ſich die verſchiede¬
nen Thaͤtigkeiten von einander bloß der Form
nach unterſcheiden, keine dieſer Formen aber
kann wieder aus einer andern begriffen werden,
da jede in ihrer Art daſſelbe, was die andere
iſt. Nicht daß eine Erſcheinung von der an¬
dern abhaͤngig, ſondern daß alle aus einem ge¬
meinſchaftlichen Grunde fließen, macht die Ein¬
heit der Natur aus.
Selbſt die Ahndung des Empirismus,
daß alles in der Natur durch die praͤſtabilirte
Harmonie aller Dinge vermittelt ſey und kein
Ding das andere anders als durch Vermittlung
der allgemeinen Subſtanz veraͤndere oder affi¬
cire, wurde von ihm wieder mechaniſch begrif¬
fen und zu dem Unding einer Wirkung in die
Ferne (in der Bedeutung, welche dieſer Aus¬
druck bey Newton und ſeinen Nachfolgern hat),
umgedeutet.
Da die Materie kein Lebensprincip in ſich
ſelbſt hatte und man eine Einwirkung des Gei¬
ſtes auf ſie als Erklaͤrungsgrund fuͤr die hoͤch¬
ſten Erſcheinungen, der willkuͤhrlichen Bewe¬
gung und aͤhnlicher, aufſparen wollte, ſo wurde
fuͤr die naͤchſten Wirkungen etwas außer ihr
angenommen, das nur gleichſam Materie ſeyn
und durch Negation der vornehmſten Eigen¬
ſchaften derſelben, der Schwere, u. a. ſich dem
negativen Begriff des Geiſtes (als immateriel¬
ler Subſtanz) annaͤhern ſollte, als ob der Ge¬
genſatz zwiſchen beyden dadurch umgangen oder
wenigſtens vermindert werden koͤnnte. Auch
die Moͤglichkeit des Begriffs imponderabler und
incoercibler Materien zugegeben, wuͤrde doch
jener Erklaͤrungsart zufolge alles in der Materie
durch aͤußere Einwirkung geſetzt, der Tod
das Erſte, das Leben das Abgeleitete
ſeyn.
Selbſt aber wenn von Seiten des Mecha¬
nismus jede Erſcheinung vollkommen durch die
Erklaͤrung begriffen wuͤrde, bliebe der Fall der¬
ſelbe, wie wenn jemand den Homer oder irgend
einen Autor ſo erklaͤren wollte, daß er anfienge,
die Form der Drucklettern begreiflich zu ma¬
chen, dann zu zeigen, auf welche Weiſe ſie zu¬
ſammengeſtellt und endlich abgedruckt worden,
und wie zuletzt jenes Werk daraus entſtanden
ſey. Mehr oder weniger iſt dieß der Fall vor¬
zuͤglich mit dem, was man bisher in der Na¬
turlehre fuͤr mathematiſche Conſtructionen aus¬
gegeben hat. Schon fruͤher wurde bemerkt,
daß die mathematiſchen Formen dabey von ei¬
nem ganz bloß mechaniſchen Gebrauch ſeyen.
Sie ſind nicht die weſentlichen Gruͤnde der Er¬
ſcheinungen ſelbſt, welche vielmehr in etwas
ganz Fremdartigem, Empiriſchen liegen, wie
in Anſehung der Bewegungen der Weltkoͤrper
in einem Stoß, den dieſe nach der Seite
bekommen haben. Es iſt wahr, daß man
durch Anwendung der Mathematik die Abſtaͤn¬
de der Planeten, die Zeit ihrer Umlaͤufe und
Wiedererſcheinungen mit Genauigkeit vorher¬
beſtimmen gelernt hat, aber uͤber das Weſen
oder An-ſich dieſer Bewegungen iſt dadurch
nicht der mindeſte Aufſchluß gegeben worden.
Die ſogenannte mathematiſche Naturlehre iſt
alſo bis jetzt leerer Formalismus, in welchem
von einer wahren Wiſſenſchaft der Natur nichts
anzutreffen iſt.
Der Gegenſatz, der zwiſchen Theorie und
Erfahrung gemacht zu werden pflegt, hat
ſchon darum keinen rechten Sinn, da in dem
Begriff der Theorie bereits die Beziehung
auf eine Beſonderheit und demnach auf Erfah¬
rung liegt. Die abſolute Wiſſenſchaft iſt nicht
Theorie, und der Begriff der letztern gehoͤrt
ſelbſt der truͤben Miſchung von Allgemeinem
und Beſonderm an, worinn das gemeine Wiſ¬
ſen befangen iſt. Theorie kann ſich von der
Erfahrung nur dadurch unterſcheiden, daß ſie
dieſe abſtracter, geſonderter von zufaͤlligen
Bedingungen und in ihrer urſpruͤnglichſten
Form ausſpricht. Aber eben dieſe herauszu¬
heben und in jeder Erſcheinung das Handeln
der Natur rein darzuſtellen, iſt auch die Sache
des Experiments: beyde ſtehen alſo auf gleicher
Stufe. Man ſieht daher nicht ein, wie das
experimentirende Naturforſchen ſich uͤber die
Theorie auf irgend eine Weiſe erheben koͤnne,
da es einzig dieſe iſt, von der jenes geleitet
wird, ohne deren Eingebung es auch nicht
einmal die Fragen (wie man es nennt) an die
Natur thun koͤnnte, von deren Sinnigkeit die
Klarheit der Antworten abhaͤngt, welche ſie
ertheilt. Beyde haben das gemein, daß ihr
Ausgangspunct immer der beſtimmte Gegen¬
ſtand, nicht ein allgemeines und abſolutes Wiſ¬
ſen iſt. Beyde, wenn ſie ihrem Begriff treu
bleiben, unterſcheiden ſich von dem falſchen
Theoretiſiren, welches auf Erklaͤrung der Na¬
turerſcheinungen geht und zu dieſem Behuf die
Urſachen erdichtet: denn beyde beſchraͤnken ſich
auf das bloße Ausſprechen oder Darſtellen der
Erſcheinungen ſelbſt, und ſind hierinn der Con¬
ſtruction gleich, welche eben ſo wenig ſich mit
Erklaͤren abgiebt. Waͤre ihr Beſtreben mit Be¬
wußtſeyn verbunden, ſo koͤnnten ſich beyde kein
anderes Ziel denken, als von der Peripherie ge¬
gen das Centrum zu dringen, wie die Conſtru¬
ction vom Centro gegen die Peripherie geht.
Allein der Weg in der erſten Richtung iſt, wie
der in der andern, unendlich, ſo daß, weil der
Beſitz des Mittelpuncts erſte Bedingung der
Wiſſenſchaft iſt, dieſe in der erſten nothwendig
unerreichbar iſt.
Jede Wiſſenſchaft fodert zu ihrer objecti¬
ven Exiſtenz eine exoteriſche Seite; eine ſolche
muß es alſo auch fuͤr die Naturwiſſenſchaft oder
fuͤr die Seite der Philoſophie geben, durch
welche ſie Conſtruction der Natur iſt. Dieſe
kann nur in dem Experiment und ſeinem noth¬
wendigen Correlat, der Theorie, (in der ange¬
gebenen Bedeutung) gefunden werden; aber
dieſe muß nicht fodern, die Wiſſenſchaft ſelbſt,
oder etwas anders, als die reale Seite derſel¬
ben zu ſeyn, in welcher das außer einander und
in der Zeit ausgedehnt iſt, was in den Ideen
der erſten zumal iſt. Nur dann wird die Em¬
pirie der Wiſſenſchaft ſich als Leib anſchließen,
wenn ſie in ihrer Art daſſelbe zu ſeyn ſich be¬
ſtrebt, was jene in der ihrigen iſt, naͤmlich,
empiriſche Conſtruction: dann wird ſie im Gei¬
ſte des Ganzen ſowohl gelehrt als betrieben,
wenn ſie, mit Enthaltung von Erklaͤrungen
und Hypotheſen, reine objective Darſtellung der
Erſcheinung ſelbſt iſt und keine Idee anders,
als durch dieſe auszuſprechen ſucht: nicht aber
wenn duͤrftige Empirie aus ihren verſchobenen
Anſichten heraus Blicke in das Univerſum wer¬
fen, oder ſie den Gegenſtaͤnden aufdringen will,
oder wenn dieſes empiriſche Beginnen gar
gegen allgemein bewieſne und allgemein einzu¬
ſehende Wahrheiten, oder ein Syſtem von ſol¬
chen mit einzelnen abgerißnen Erfahrungen,
aus der Mitte einer Folge von Faͤllen, die
ſie ſelbſt nicht uͤberſehen kann, oder einer Menge
ſich durchkreuzender und verwirrender Bedin¬
gungen, ſich erhebt, ein Beſtreben, das in ſei¬
ner Abſicht gegen die Wiſſenſchaft eben ſo viel
iſt, als, um mich dieſes bekannten Gleichniſſes
zu bedienen, den Durchbruch des Oceans mit
Stroh ſtopfen zu wollen.
Die abſolute, in Ideen gegruͤndete Wiſ¬
ſenſchaft der Natur iſt demnach das erſte und
die Bedingung, unter welcher zuerſt die empi¬
riſche Naturlehre an die Stelle ihres blinden
Umherſchweifens ein methodiſches, auf ein be¬
ſtimmtes Ziel gerichtetes Verfahren ſetzen kann.
Denn die Geſchichte der Wiſſenſchaft zeigt, daß
ein ſolches Conſtruiren der Erſcheinungen durch
das Experiment, als wir gefodert haben, jeder¬
zeit nur in einzelnen Faͤllen, wie durch Inſtinct
geleiſtet worden iſt, daß alſo, um dieſe Me¬
thode der Naturforſchung allgemein geltend zu
machen, ſelbſt das Vorbild der Conſtruction
in einer abſoluten Wiſſenſchaft erfodert wird.
Die Idee einer ſolchen habe ich zu oft
und zu wiederholt vor Ihnen entwickelt, als
daß ich noͤthig achtete, ſie hier weiter als in
den allgemeinſten Beziehungen darzuſtellen.
Wiſſenſchaft der Natur iſt an ſich ſelbſt
ſchon Erhebung uͤber die einzelnen Erſcheinun¬
gen und Producte zur Idee deſſen, worinn ſie
Eins ſind und aus dem ſie als gemeinſchaftli¬
chem Quell hervorgehen. Auch die Empirie
hat doch eine dunkle Vorſtellung von der Na¬
tur als einem Ganzen, worinn Eines durch
Alles und Alles durch Eines beſtimmt iſt. Es
hilft alſo nicht, das Einzelne zu kennen, wenn
man das Ganze nicht weiß. Aber eben der
Punct, in welchem Einheit und Allheit ſelbſt
Eines ſind, wird nur durch Philoſophie er¬
kannt, oder vielmehr die Erkenntniß von ihm
iſt die Philoſophie ſelbſt.
Von dieſer iſt die erſte und nothwendige
Abſicht, die Geburt aller Dinge aus Gott oder
dem Abſoluten zu begreifen und in wie fern
die Natur die ganze reale Seite in dem ewigen
Act der Subject-Objectivirung iſt, iſt Philo¬
ſophie der Natur die erſte und nothwendige
Seite der Philoſophie uͤberhaupt.
Das Princip und das Element von ihr iſt
die abſolute Idealitaͤt, aber dieſe waͤre ewig
unerkennbar, verhuͤllt in ſich ſelbſt, wenn ſie
nicht ſich als Subjectivitaͤt in die Objectivitaͤt
verwandelte, von welcher Verwandlung die er¬
ſcheinende und endliche Natur das Symbol iſt.
Die Philoſophie im Ganzen iſt demnach abſo¬
luter Idealismus, da auch jener Act im goͤttli¬
chen Erkennen begriffen iſt, und die Naturphi¬
loſophie hat in dem erſten keinen Gegenſatz,
ſondern nur in dem relativen Idealismus, wel¬
cher von dem abſolut-Idealen bloß die eine
Seite begreift. Denn die vollendete Einbil¬
dung ſeiner Weſenheit in die Beſonderheit, bis
zur Identitaͤt beyder, producirt in Gott die
Ideen, ſo daß die Einheit, wodurch dieſe in
ſich ſelbſt und real ſind, mit der, wodurch ſie
im Abſoluten und ideal ſind, unmittelbar eine
und dieſelbige iſt. In den beſondern Dingen
aber, welche von den Ideen die bloßen Abbil¬
der ſind, erſcheinen dieſe Einheiten nicht als
Eines, ſondern in der Natur als der bloß re¬
lativ-realen Seite iſt die erſte im Uebergewicht,
ſo daß ſie im Gegenſatz gegen die andere Seite,
wo das Ideale huͤllenlos, unverſtellt in ein an¬
deres hervortritt, als das Negative, die letz¬
tere dagegen als das Poſitive und das Princip
von jener erſcheint, da doch beyde nur die rela¬
tiven Erſcheinungsweiſen des abſolut-Idealen
und in ihm ſchlechthin Eins ſind. Nach dieſer
Anſicht iſt die Natur, nicht nur in ihrem An¬
ſich, wo ſie der ganze abſolute Act der Subject-
Objectivirung ſelbſt iſt, ſondern auch der Erſchei¬
nung nach, wo ſie ſich als die relativ-reale,
oder objective Seite deſſelben darſtellt, dem
Weſen nach Eins und keine innerliche Verſchie¬
denheit in ihr, in allen Dingen Ein Leben,
die gleiche Macht zu ſeyn, dieſelbe Legirung
durch die Ideen. Es iſt keine reine Leiblich¬
keit in ihr, ſondern uͤberall Seele in Leib ſym¬
boliſch umgewandelt und fuͤr die Erſcheinung
nur ein Uebergewicht des einen oder andern.
Aus dem gleichen Grunde kann auch die Wiſ¬
ſenſchaft der Natur nur Eine ſeyn, und die
Theile, in welche ſie der Verſtand zerſplittert,
ſind nur Zweige Einer abſoluten Erkenntniß.
Conſtruction uͤberhaupt iſt Darſtellung des
Realen im Idealen, des Beſondern im ſchlecht¬
hin Allgemeinen, der Idee. Alles Beſondere
als ſolches iſt Form, von allen Formen aber
iſt die nothwendige, ewige und abſolute
Form der Quell und Urſprung. Der Act
der Subject-Objectivirung geht durch alle
Dinge hindurch, und pflanzt ſich in den be¬
ſonderen Formen fort, die, da ſie alle nur
verſchiedene Erſcheinungsweiſen der allgemeinen
und unbedingten, in dieſer ſelbſt unbedingt
ſind.
Da ferner der innere Typus aller Dinge
wegen der gemeinſchaftlichen Abkunft Einer
ſeyn muß, und dieſer mit Nothwendigkeit ein¬
geſehen werden kann, ſo wohnt dieſelbe Noth¬
wendigkeit auch der in ihm gegruͤndeten Con¬
ſtruction bey, welche demnach der Beſtaͤtigung
der Erfahrung nicht bedarf, ſondern ſich ſelbſt
genuͤgt und auch bis dahin fortgeſetzt werden
kann, wohin zu dringen die Erfahrung durch
unuͤberſteigliche Graͤnzen gehindert iſt, wie in
das innere Triebwerk des organiſchen Lebens
und der allgemeinen Bewegung.
Nicht nur fuͤr das Handeln giebt es ein
Schickſal: auch dem Wiſſen ſteht das An-ſich
des Univerſum und der Natur als eine unbe¬
dingte Nothwendigkeit vor, und wenn, nach
17
dem Ausſpruch eines Alten, der tapfere Mann
im Kampf mit dem Verhaͤngniß ein Schauſpiel
iſt, auf das ſelbſt die Gottheit mit Luſt herab¬
ſieht, ſo iſt das Ringen des Geiſtes nach der
Anſchauung der urſpruͤnglichen Natur und des
ewigen Innern ihrer Erſcheinungen ein nicht
minder erhebender Anblick. Wie in der Tra¬
goͤdie der Streit weder dadurch, daß die Noth¬
wendigkeit, noch dadurch, daß die Freyheit un¬
terliegt, ſondern allein durch die Erhebung der
einen zur vollkommenen Gleichheit mit der an¬
dern wahrhaft geloͤſt wird: ſo kann auch der
Geiſt aus jenem Kampf mit der Natur allein
dadurch verſoͤhnt heraustreten, daß ſie fuͤr ihn
zur vollkommenen Indifferenz mit ihm ſelbſt,
und zum Idealen ſich verklaͤrt.
An jenen Widerſtreit, der aus unbefrie¬
digter Begier nach Erkenntniß der Dinge ent¬
ſpringt, hat der Dichter ſeine Erfindungen in
dem eigenthuͤmlichſten Gedicht der Deutſchen
geknuͤpft und einen ewig friſchen Quell der Be¬
geiſterung geoͤffnet, der allein zureichend war,
die Wiſſenſchaft zu dieſer Zeit zu verjuͤngen und
den Hauch eines neuen Lebens uͤber ſie zu ver¬
breiten. Wer in das Heiligthum der Natur
eindringen will, naͤhre ſich mit dieſen Toͤnen
einer hoͤheren Welt und ſauge in fruͤher Ju¬
gend die Kraft in ſich, die wie in dichten Licht¬
ſtrahlen von dieſem Gedicht ausgeht und das
Innerſte der Welt bewegt.
17 *
Zwoͤlfte Vorleſung.
Ueber das Studium der Phyſik
und Chemie.
Den beſondern Erſcheinungen und Formen,
welche durch Erfahrung allein erkannt werden,
geht nothwendig das vorher, wovon ſie es ſind,
die Materie oder Subſtanz. Die Empirie kennt
dieſe nur als Koͤrper, d. h. als Materie mit
veraͤnderlicher Form, und denkt ſelbſt den Ur¬
ſtoff, wenn ſie anders darauf zuruͤckgeht, nur
als eine unbeſtimmbare Menge von Koͤrpern
unveraͤnderlicher Form, die deswegen Atomen
heißen. Es fehlt ihr alſo die Erkenntniß der
erſten Einheit, aus der alles in der Natur her¬
vorgeht, und in die alles zuruͤckkehrt.
Um zum Weſen der Materie zu gelangen,
muß durchaus das Bild jeder beſondern Art
derſelben, z. B. der ſogenannten unorganiſchen
oder der organiſchen entfernt werden, da ſie an
ſich nur der gemeinſchaftliche Keim dieſer ver¬
ſchiedenen Formen iſt. Abſolut betrachtet iſt ſie
der Act der ewigen Selbſtanſchauung des Ab¬
ſoluten, ſo fern dieſes in jenem ſich objectiv und
real macht; ſowohl dieſes An-ſich der Mate¬
rie, als wie die beſondern Dinge mit den Be¬
ſtimmungen der Erſcheinung aus ihm hervorge¬
hen, zu zeigen, kann allein Sache der Philoſo¬
phie ſeyn.
Von dem erſten habe ich hinlaͤnglich ſchon
im Vorhergehenden geredet und beſchraͤnke mich
alſo auf das andere. Die Idee jedes beſondern
Dinges iſt ſchlechthin Eine und zu dem Wer¬
den unendlich vieler Dinge derſelben Art iſt die
Eine Idee zureichend, deren unendliche Moͤg¬
lichkeit durch keine Wirklichkeit erſchoͤpft wird.
Da das erſte Geſetz der Abſolutheit dieſes iſt,
ſchlechthin untheilbar zu ſeyn, ſo kann die Be¬
ſonderheit der Ideen nicht in einer Negation
der andern Ideen, ſondern allein darinn beſte¬
hen, daß in jeder alle, aber angemeſſen der be¬
ſondern Form derſelben, gebildet ſeyn. Von
dieſer Ordnung in der Ideenwelt muß das Vorbild
fuͤr die Erkenntniß der ſichtbaren hergenommen
werden. Auch in dieſer werden die erſten For¬
men Einheiten ſeyn, welche alle andere For¬
men als beſondere in ſich tragen und aus ſich
produciren, die alſo ebendeswegen ſelbſt als
Univerſa erſcheinen. Die Art, wie ſie in die
Ausdehnung uͤbergehen, und den Raum erfuͤl¬
len, muß aus der ewigen Form der Einbil¬
dung der Einheit in die Vielheit ſelbſt abgelei¬
tet werden, die in den Ideen mit der entgegen¬
geſetzten (wie gezeigt) Eins, in der Erſcheinung
aber als dieſe unterſcheidbar und unterſchieden
iſt. Der erſte und allgemeine Typus der Raum¬
erfuͤllung iſt nothwendig, daß die ſinnlichen
Einheiten, wie ſie als Ideen aus dem Abſolu¬
ten, als dem Centro, hervorgehen, ebenſo in
der Erſcheinung aus einem gemeinſchaftlichen
Mittelpunct, oder, weil jede Idee ſelbſt wie¬
der productiv iſt und ein Centrum ſeyn kann,
aus gemeinſchaftlichen Centris gebohren wer¬
den, und wie ihre Vorbilder zugleich abhaͤngig
und ſelbſtſtaͤndig ſeyen.
Nach der Conſtruction der Materie iſt
alſo die Erkenntniß des Weltbaues und ſeiner
Geſetze die erſte und vornehmſte in der Phy¬
ſik. Was die mathematiſche Naturlehre, ſeit
der Zeit, daß durch Keplers goͤttliches Genie
jene Geſetze ausgeſprochen ſind, fuͤr Erkenntniß
derſelben geleiſtet, iſt, wie bekannt, daß ſie
eine den Gruͤnden nach ganz empiriſche Conſtru¬
ction davon verſucht hat. Man kann als all¬
gemeine Regel annehmen, daß was in einer
angeblichen Conſtruction nicht reine allgemeine
Form iſt, auch keinen wiſſenſchaftlichen Gehalt
noch Wahrheit haben koͤnne. Der Grund, aus
welchem die Centrifugalbewegung der Weltkoͤr¬
per abgeleitet wird, iſt keine nothwendige
Form, iſt empiriſches Factum. Die Newto¬
niſche Attractivkraft, wenn ſie auch fuͤr die
auf dem Standpunct der Reflexion haftende
Betrachtung eine nothwendige Annahme ſeyn
mag, iſt doch fuͤr die Vernunft, die nur
abſolute Verhaͤltniſſe kennt, und alſo fuͤr die
Conſtruction von keiner Bedeutung. Die
Gruͤnde der Kepler'ſchen Geſetze laſſen ſich,
ohne allen empiriſchen Zuſatz, rein aus der
Lehre von den Ideen und den zwey Einhei¬
ten einſehen, die an ſich ſelbſt Eine Einheit
ſind, und kraft deren jedes Weſen, indem
es in ſich ſelbſt abſolut, zugleich im Abſoluten
iſt und umgekehrt.
Die phyſiſche Aſtronomie oder die Wiſ¬
ſenſchaft der beſondern Qualitaͤten und Ver¬
haͤltniſſe der Geſtirne beruht ihren vorzuͤg¬
lichſten Gruͤnden nach ganz auf allgemeinen An¬
ſichten, und in Beziehung auf das Planeten¬
ſyſtem insbeſondere auf der Uebereinſtimmung,
welche zwiſchen dieſen und den Producten der
Erde ſtatt findet.
Der Weltkoͤrper gleicht der Idee, deren
Abdruck er iſt, darinn, daß er wie dieſe pro¬
ductiv iſt und alle Formen des Univerſum
aus ſich hervorbringt. Die Materie, obgleich
der Erſcheinung nach der Leib des Univer¬
ſum, differenziirt ſich in ſich ſelbſt wieder
zu Seele und Leib. Der Leib der Materie
ſind die einzelnen koͤrperlichen Dinge, in wel¬
chen die Einheit ganz in die Vielheit und
Ausdehnung verloren iſt, und die deswegen
als unorganiſch erſcheinen.
Die rein-hiſtoriſche Darſtellung der un¬
organiſchen Formen iſt zu einem abgeſonderten
Zweig der Kenntniß gebildet worden: nicht
ohne richtigen Sinn mit Enthaltung von al¬
ler Berufung auf innere qualitative Beſtim¬
mungen. Nachdem die ſpecifiſche Verſchieden¬
heit der Materie ſelbſt quantitativ begriffen
und die Moͤglichkeit gegeben iſt, ſie als Me¬
tamorphoſe einer und derſelben Subſtanz durch
bloße Formaͤnderung darzuſtellen: iſt auch der
Weg zu einer hiſtoriſchen Conſtruction der
Koͤrperreihe geoͤffnet, zu welcher bereits durch
Steffens Ideen ein entſchiedener Anfang ge¬
macht iſt.
Die Geologie, welche das Gleiche in An¬
ſehung der ganzen Erde ſeyn muͤßte, duͤrfte
keine ihrer Hervorbringungen ausſchließen und
muͤßte die Geneſis aller in hiſtoriſcher Ste¬
tigkeit und Wechſelbeſtimmung zeigen. Da
die reale Seite der Wiſſenſchaft immer nur
hiſtoriſch ſeyn kann, (weil außer der Wiſſen¬
ſchaft nichts iſt, was unmittelbar und ur¬
ſpruͤnglich auf Wahrheit geht, als die Hi¬
ſtorie), ſo wuͤrde die Geologie, in der Fuͤlle
der hoͤchſten Ausbildung, als Hiſtorie der
Natur ſelbſt, fuͤr welche die Erde nur Mit¬
tel- und Ausgangspunct waͤre, die wahre
Integration und rein objective Darſtellung der
Wiſſenſchaft der Natur ſeyn, zu welcher auch
die experimentirende Phyſik nur einen Ueber¬
gang bildet und das Mittel ſeyn kann.
Wie die koͤrperlichen Dinge der Leib der
Materie ſind, ſo iſt die ihr eingebildete Seele
das Licht. Durch die Beziehung auf die Dif¬
ferenz und als der unmittelbare Begriff der¬
ſelben, wird das Ideale ſelbſt endlich, und
erſcheint in der Unterordnung unter die Aus¬
dehnung, als ein Ideales, das den Raum
zwar beſchreibt, aber nicht erfuͤllt. Es iſt alſo
in der Erſcheinung ſelbſt, zwar das Ideale,
aber nicht das ganze Ideale des Acts der
Subject-Objectivirung, (indem es die eine
Seite außer ſich in dem Koͤrperlichen zuruͤck¬
laͤßt), ſondern das bloß relativ-Ideale.
Die Erkenntniß des Lichts iſt der der
Materie gleich, ja mit ihr Eins, da beyde
nur im Gegenſatz gegen einander, als die
ſubjective und objective Seite wahrhaft begrif¬
fen werden koͤnnen. Seitdem dieſer Geiſt der
Natur von der Phyſik gewichen iſt, iſt fuͤr
ſie das Leben in allen Theilen derſelben erlo¬
ſchen, wie es fuͤr ſie keinen moͤglichen Ueber¬
gang von der allgemeinen zu der organiſchen
Natur giebt. Die Newtoniſche Optik iſt der
groͤßte Beweis der Moͤglichkeit eines ganzen
Gebaͤudes von Fehlſchluͤſſen, das in allen ſei¬
nen Theilen auf Erfahrung und Experiment
gegruͤndet iſt. Als ob es nicht die, mehr
oder minder bewußt, ſchon vorhandene Theo¬
rie waͤre, welche den Sinn und die Folge der
Verſuche nach ſich, eigenwillig beſtimmt, —
wenn nicht ein ſeltner, aber gluͤcklicher Inſtinct,
oder ein durch Conſtruction gewonnener allge¬
meiner Schematismus die natuͤrliche Ordnung
vorſchreibt, — wird das Experiment, welches
wohl Einzelheiten lehren, aber nie eine ganze
Anſicht geben kann, fuͤr das untruͤgliche Prin¬
cip der Naturerkenntniß geachtet.
Der Keim der Erde wird nur durch das
Licht entfaltet. Denn die Materie muß Form
werden und in die Beſonderheit uͤbergehen,
damit das Licht als Weſen und Allgemeines
eintreten kann.
Die allgemeine Form der Beſonderwer¬
dung der Koͤrper iſt das, wodurch ſie ſich
ſelbſt gleich und in ſich zuſammenhaͤngend ſind.
Aus den Verhaͤltniſſen zu dieſer allgemeinen
Form, welche die der Einbildung der Einheit
in die Differenz iſt, muß ſich alſo auch alle
ſpecifiſche Verſchiedenheit der Materie einſe¬
hen laſſen.
Das Hervorgehen aus der Identitaͤt iſt
in Anſehung aller Dinge unmittelbar zugleich
das Zuruͤckſtreben in die Einheit, welches ihre
ideale Seite iſt, das wodurch ſie beſeelt
erſcheinen.
Den Inbegriff der lebendigen Erſcheinun¬
gen der Koͤrper darzuſtellen, iſt nach den be¬
reits bezeichneten Gegenſtaͤnden der vorzuͤg¬
lichſte und einzige der Phyſik, auch in wie
fern ſie in der gewoͤhnlichen Begraͤnzung und
Trennung von der Wiſſenſchaft der organi¬
ſchen Natur gedacht wird.
Jene Erſcheinungen ſind, als den Koͤr¬
pern weſentlich inhaͤrirende Thaͤtigkeitsaͤuße¬
rungen, uͤberhaupt dynamiſch genannt wor¬
den, ſo wie der Inbegriff derſelben nach ih¬
ren verſchieden beſtimmten Formen der dyna¬
miſche Proceß heißt.
Es iſt nothwendig, daß dieſe Formen
auf einen gewiſſen Kreis eingeſchloſſen ſeyn
und einen allgemeinen Typus befolgen. Nur
durch den Beſitz deſſelben kann man gewiß
ſeyn, weder ein nothwendiges Glied zu uͤber¬
ſehen, noch Erſcheinungen, die weſentlich Ei¬
nes ſind, als verſchiedene zu betrachten. Die
gewoͤhnliche Experimentalphyſik findet ſich in
Ruͤckſicht der Mannichfaltigkeit und Einheit
dieſer Formen in der groͤßten Ungewißheit,
ſo daß jede neue Art der Erſcheinung fuͤr ſie
Grund der Annahme eines neuen von allen
verſchiedenen Princips wird, und daß bald
dieſe Form aus jener, bald jene aus dieſer
abgeleitet wird.
Stellen wir die gangbaren Theorieen und
die Erklaͤrungsart jener Phaͤnomene im All¬
gemeinen unter den ſchon beſtimmten Maas¬
ſtab, ſo iſt in keiner derſelben irgend eines
als nothwendige und allgemeine Form, ſon¬
dern durchaus bloß als Zufaͤlligkeit begriffen.
Denn daß es ſolche imponderable Fluͤſſigkeiten
giebt, als zu jenem Behuf angenommen wer¬
den, iſt ohne alle Nothwendigkeit, und daß
dieſe eben ſo beſchaffen ſind, daß ihre homo¬
genen Elemente ſich abſtoßen, die heterogenen
ſich anziehen, wie zur Erklaͤrung der magne¬
tiſchen und elektriſchen Erſcheinungen angenom¬
men wird, iſt eine vollkommene Zufaͤlligkeit.
Wenn man die Welt dieſer hypothetiſchen Ele¬
mente ſich zuſammenſetzt, ſo erhaͤlt man fol¬
gendes Bild ihrer Verfaſſung. Zunaͤchſt in
den Poren der groͤberen Stoffe iſt die Luft,
in den Poren der Luft der Waͤrmeſtoff, in den
Poren von dieſem die elektriſche Fluͤſſigkeit,
welche wieder in den ihrigen die magnetiſche,
ſo wie dieſe in den Zwiſchenraͤumen, welche
auch ſie hat, den Aether begreift. Gleich¬
wohl ſtoͤren ſich dieſe verſchiedenen in einan¬
der eingeſchachtelten Fluͤſſigkeiten nicht und er¬
ſcheinen nach dem Gefallen des Phyſikers jede
18
in ihrer Art, ohne mit der andern vermiſcht
zu ſeyn, und finden ſich ebenſo ohne alle
Verwirrung jede wieder an ihre Stelle.
Dieſe Erklaͤrungsart iſt alſo außerdem,
daß ſie ganz ohne wiſſenſchaftlichen Gehalt iſt,
nicht einmal der empiriſchen Anſchaulichkeit
faͤhig.
Aus der Kantiſchen Conſtruction der Ma¬
terie entwickelte ſich zunaͤchſt eine hoͤhere, ge¬
gen die materielle Betrachtung der Phaͤnome¬
ne gerichtete Anſicht, die aber in allem, was
ſie Poſitives dagegen aufſtellt, ſelbſt auf ei¬
nem zu untergeordneten Standpunct zuruͤck¬
blieb. Die beyden Kraͤfte der Anziehung und
Zuruͤckſtoßung, wie ſie Kant beſtimmt, ſind
bloß formelle Factoren, durch Analyſis ge¬
fundene Verſtandesbegriffe, die von dem Le¬
ben und dem Weſen der Materie keine Ideen
geben. Es kommt dazu, daß nach denſelben
die Verſchiedenheit der Materie aus dem Ver¬
haͤltniß dieſer Kraͤfte, das er als ein bloß
arithmetiſches kannte, einzuſehen unmoͤglich
iſt. Die Nachfolger von Kant und die Phy¬
ſiker, welche eine Anwendung ſeiner Lehren
verſuchten, beſchraͤnkten ſich in Anſehung der
dynamiſchen Vorſtellung auf das bloß Nega¬
tive, wie in Anſehung des Lichts, von dem
ſie eine hoͤhere Meynung ausgeſprochen zu
haben glaubten, wenn ſie es nur uͤberhaupt
als immateriell bezeichneten, womit ſich dann
uͤbrigens jede andere mechaniſche Hypotheſe
des Euler u. a. vertrug.
Der Irrthum, der allen dieſen Anſich¬
ten gemeinſchaftlich zu Grunde lag, iſt die
Vorſtellung der Materie als reiner Realitaͤt:
es mußte erſt die allgemeine Subject-Objec¬
tivitaͤt der Dinge und der Materie insbeſon¬
dere wiſſenſchaftlich hergeſtellt ſeyn, ehe man
dieſe Formen, in denen ihr inneres Leben
ſich ausdruͤckt, begreifen konnte.
Das Seyn jedes Dinges in der Identi¬
taͤt als der allgemeinen Seele, und das Stre¬
ben zur Wiedervereinigung mit ihr, wenn es
aus der Einheit geſetzt iſt, iſt als allgemei¬
ner Grund der lebendigen Erſcheinungen ſchon
im Vorhergehenden angegeben. Die beſon¬
18 *
dern Formen der Thaͤtigkeit ſind keine der
Materie zufaͤllige, ſondern urſpruͤnglich einge¬
bohrne und nothwendige Formen. Denn wie
die Einheit der Idee im Seyn zu drey Di¬
menſionen ſich ausbreitet, druͤckt auch das Le¬
ben und die Thaͤtigkeit ſich in demſelben Ty¬
pus und durch drey Formen aus, welche dem¬
nach dem Weſen der Materie ſo nothwendig als
jene inhaͤriren. Durch dieſe Conſtruction iſt
nicht allein gewiß, daß es nur dieſe drey For¬
men der lebendigen Bewegung der Koͤrper giebt,
ſondern es iſt auch fuͤr alle beſondren Beſtim¬
mungen derſelben das allgemeine Geſetz ge¬
funden, aus dem ſie als nothwendige einge¬
ſehen werden koͤnnen.
Ich beſchraͤnke mich hier zunaͤchſt auf den
chemiſchen Proceß, da die Wiſſenſchaft ſeiner
Erſcheinungen zu einem beſondern Zweig der
Naturkenntniß gebildet worden iſt.
Das Verhaͤltniß der Phyſik zur Chemie
hat ſich in der neueren Zeit faſt zu einer gaͤnz¬
lichen Unterordnung der erſten unter die letz¬
te entſchieden. Der Schluͤſſel zur Erklaͤrung
aller Naturerſcheinungen, auch der hoͤheren
Formen, des Magnetismus, der Elektricitaͤt
u. ſ. w. ſollte in der Chemie gegeben ſeyn,
und je mehr allmaͤhlig alle Naturerklaͤrung
auf dieſe zuruͤckgebracht wurde, deſto mehr
verlor ſie ſelbſt die Mittel, ihre eigenen Er¬
ſcheinungen zu begreifen. Noch von der Ju¬
gendzeit der Wiſſenſchaft her, wo die Ahn¬
dung der innern Einheit aller Dinge dem
menſchlichen Geiſt naͤher lag, hatte die jetzige
Chemie einige bildliche Ausdruͤcke, wie Ver¬
wandtſchaft u. a. behalten, die aber, weit
entfernt Andeutungen einer Idee zu ſeyn, in
ihr vielmehr nur Freyſtaͤtten der Unwiſſenheit
wurden. Das oberſte Princip und die aͤuſ¬
ſerſte Graͤnze aller Erkenntniß wurde immer
mehr das, was ſich durch das Gewicht er¬
kennen laͤßt, und jene der Natur eingebohrnen,
in ihr waltenden Geiſter, welche die unver¬
tilgbaren Qualitaͤten wirken, wurden ſelbſt
Materien, die in Gefaͤßen aufgefangen und
eingeſperrt werden konnten.
Ich laͤugne nicht, daß die neuere Che¬
mie uns mit vielen Thatſachen bereichert hat,
obgleich es immer wuͤnſchenswerth bleibt, daß
dieſe neue Welt gleich anfangs durch ein hoͤ¬
heres Organ entdeckt worden waͤre, und die
Einbildung laͤcherlich iſt, in der Aneinander¬
reihung jener Thatſachen, die durch nichts
als die unverſtaͤndlichen Worte Stoff, Anzie¬
hung u. ſ. w. zuſammengehalten wird, eine
Theorie erlangt zu haben, da man nicht ein¬
mal einen Begriff von Qualitaͤt, von Zuſam¬
menſetzung, Zerlegung u. ſ. w. hatte.
Es mag vortheilhaft ſeyn, die Chemie
von der Phyſik abgeſondert zu behandeln:
aber dann muß ſie auch als bloße experimen¬
tirende Kunſt, ohne allen Anſpruch auf Wiſ¬
ſenſchaft, betrachtet werden. Die Conſtruction
der chemiſchen Erſcheinungen gehoͤrt nicht ei¬
ner beſondern Scienz, ſondern der allgemei¬
nen und umfaſſenden Wiſſenſchaft der Natur
an, in der ſie nicht außer dem Zuſammen¬
hang des Ganzen und als Phaͤnomene von
eigenthuͤmlicher Geſetzmaͤßigkeit, ſondern als
einzelne Erſcheinungsweiſen des allgemeinen
Lebens der Natur erkannt werden.
Die Darſtellung des allgemeinen dyna¬
miſchen Proceſſes, der im Weltſyſtem uͤber¬
haupt und in Anſehung des Ganzen der Erde
ſtatt findet, iſt im weiteſten Sinn Meteoro¬
logie und in ſo fern ein Theil der phyſiſchen
Aſtronomie, da auch die allgemeinen Veraͤn¬
derungen der Erde nur durch ihr Verhaͤltniß
zum allgemeinen Weltbau vollkommen gefaßt
werden koͤnnen.
Die Mechanik betreffend, von der ein
großer Theil in die Phyſik aufgenommen wor¬
den iſt, ſo gehoͤrt dieſe der angewandten Ma¬
thematik an; der allgemeine Typus ihrer For¬
men aber, welche nur die, rein objectiv aus¬
gedruͤckten, gleichſam getoͤdteten Formen des
dynamiſchen Proceſſes ſind, iſt ihr durch die
Phyſik vorgezeichnet.
Das Gebiet der letztern in ihrer gewoͤhn¬
lichen Abſonderung beſchraͤnkt ſich auf die
Sphaͤre des allgemeinen Gegenſatzes zwiſchen
dem Licht und der Materie oder Schwere.
Die abſolute Wiſſenſchaft der Natur begreift
in einem und demſelben Ganzen ſowohl dieſe
Erſcheinungen der getrennten Einheit, als die
der hoͤheren, organiſchen Welt, durch deren
Producte die ganze Subject-Objectivirung,
in ihren zwey Seiten zugleich, erſcheint.
Dreyzehnte Vorleſung.
Ueber das Studium der Medicin
und der organiſchen Naturleh¬
re uͤberhaupt.
Wie der Organismus, nach der aͤlteſten An¬
ſicht, nichts anderes als die Natur im Klei¬
nen und in der vollkommenſten Selbſtanſchau¬
ung iſt, ſo muß auch die Wiſſenſchaft deſſel¬
ben alle Strahlen der allgemeinen Erkenntniß
der Natur, wie in einen Brennpunct zuſam¬
menbrechen und Eins machen. Faſt zu jeder
Zeit wurde die Kenntniß der allgemeinen Phy¬
ſik wenigſtens als nothwendige Stufe und Zu¬
gang zu dem Heiligthum des organiſchen Le¬
bens betrachtet. Aber welches wiſſenſchaftliche
Vorbild konnte die organiſche Naturlehre von
der Phyſik entlehnen, die ſelbſt ohne die all¬
gemeine Idee der Natur, jene nur mit ih¬
ren eigenen Hypotheſen beſchweren und ver¬
unſtalten konnte, wie es allgemein genug ge¬
ſchehen iſt, ſeitdem die Schranken, wodurch
man die allgemeine und die lebende Natur
von einander getrennt glaubte, mehr oder
weniger durchbrochen wurden.
Der Enthuſiasmus des Zeitalters fuͤr Che¬
mie hat dieſe auch zum Erkenntnißgrund aller
organiſchen Erſcheinungen und das Leben ſelbſt
zu einem chemiſchen Proceß gemacht. Die
Erklaͤrungen der erſten Bildung des Lebendi¬
gen durch Wahlanziehung oder Kryſtalliſation,
der organiſchen Bewegungen und ſelbſt der ſo¬
genannten Sinneswirkungen durch Miſchungs¬
veraͤnderungen und Zerſetzungen, gehen vor¬
trefflich von ſtatten, nur daß diejenigen, die
ſie machen, vorerſt noch zu erklaͤren haben,
was denn Wahlanziehung und Miſchungsver¬
aͤnderung ſelbſt ſey, eine Frage, welche be¬
antworten zu koͤnnen, ſie ſich ohne Zweifel
beſcheiden.
Mit dem bloßen Uebertragen, Anwenden
von dem einen Theil der Naturwiſſenſchaft
auf den andern iſt es nicht gethan: jeder iſt
in ſich abſolut, keiner von dem andern abzu¬
leiten und alle koͤnnen nur dadurch wahrhaft
Eins werden, daß in jedem fuͤr ſich das Beſon¬
dere aus dem Allgemeinen und aus einer ab¬
ſoluten Geſetzmaͤßigkeit begriffen wird.
Daß nun erſtens die Medicin allgemeine
Wiſſenſchaft der organiſchen Natur werden
muͤſſe, von welcher die ſonſt getrennten Thei¬
le derſelben ſaͤmmtlich nur Zweige waͤren, und
daß um ihr ſowohl dieſen Umfang und innere
Einheit, als den Rang einer Wiſſenſchaft zu ge¬
ben, die erſten Grundſaͤtze, auf denen ſie ruht,
nicht empiriſch oder hypothetiſch, ſondern
durch ſich ſelbſt gewiß und philoſophiſch ſeyn
muͤſſen: dieß iſt zwar ſeit einiger Zeit allge¬
meiner gefuͤhlt und anerkannt worden, als es
in Anſehung der uͤbrigen Theile der Natur¬
lehre der Fall iſt. Aber auch hier ſollte die
Philoſophie vorerſt kein weiteres Geſchaͤft ha¬
ben, als in die vorhandene und gegebene
Mannichfaltigkeit die aͤußere formale Einheit
zu bringen und den Aerzten, deren Wiſſen¬
ſchaft durch Dichter und Philoſophen ſeit ge¬
raumer Zeit zweydeutig geworden war, wie¬
der einen guten Namen zu machen. Wenn
Browns Lehre durch nichts ausgezeichnet waͤ¬
re, als durch die Reinheit von empiri¬
ſchen Erklaͤrungen und Hypotheſen, die Aner¬
kennung und Durchfuͤhrung des großen Grund¬
ſatzes der bloß quantitativen Verſchiedenheit
aller Erſcheinungen, und die Conſequenz, mit
der ſie aus Einem erſten Princip folgert, oh¬
ne ſich etwas anderes zugeben zu laſſen, oder
je von der Bahn der Wiſſenſchaft abzuſchwei¬
fen: ſo waͤre ihr Urheber ſchon dadurch ein¬
zig in der bisherigen Geſchichte der Medicin
und der Schoͤpfer einer neuen Welt auf die¬
ſem Gebiet des Wiſſens. Es iſt wahr, er
bleibt bey dem Begriff der Erregbarkeit ſte¬
hen und hat von dieſem ſelbſt keine wiſſen¬
ſchaftliche Erkenntniß, aber er verweigert zu¬
gleich alle empiriſche Erklaͤrung davon und
warnt, ſich nicht auf die ungewiſſe Unterſu¬
chung der Urſachen, das Verderben der Phi¬
loſophie, einzulaſſen. Ohne Zweifel hat er da¬
mit nicht gelaͤugnet, daß es eine hoͤhere Sphaͤ¬
re des Wiſſens gebe, in welcher jener Begriff
ſelbſt wieder als ein abzuleitender eintreten
und aus hoͤheren eben ſo conſtruirt werden
koͤnne, wie er ſelbſt aus ihm die abgeleiteten
Formen der Krankheit hervorgehen laͤßt.
Der Begriff der Erregbarkeit iſt ein blo¬
ßer Verſtandesbegriff, wodurch zwar das ein¬
zelne organiſche Ding, aber nicht das Weſen
des Organismus beſtimmt iſt. Denn das
Abſolut-Ideale, welches in ihm ganz objec¬
tiv und ſubjectiv zugleich, als Leib und als
Seele erſcheint, iſt an ſich außer aller Be¬
ſtimmbarkeit; das einzelne Ding aber, der
organiſche Leib, den es ſich als Tempel er¬
baut, iſt durch aͤußere Dinge beſtimmbar und
nothwendig beſtimmt. Da nun jenes uͤber
die Einheit der Form und des Weſens im
Organismus wacht, als in welcher allein die¬
ſer das Symbol von ihm iſt, ſo wird es
durch jede Beſtimmung von außen, wodurch
die erſte veraͤndert wird, zur Wiederherſtel¬
lung und demnach zum Handeln beſtimmt.
Es iſt alſo immer nur indirect, naͤmlich
durch Veraͤnderung der aͤußern Bedingungen
des Lebens, niemals aber an ſich ſelbſt be¬
ſtimmbar.
Das, wodurch der Organismus Aus¬
druck der ganzen Subject-Objectivirung iſt,
iſt, daß die Materie, welche auf der tiefe¬
ren Stufe dem Licht entgegengeſetzt und als
Subſtanz erſchien, in ihm dem Licht verbun¬
den (und weil beyde, vereinigt, ſich nur
als Attribute von Einem und demſelbigen ver¬
halten koͤnnen) bloßes Accidens des An-ſich
des Organismus und demnach ganz Form
wird. In dem ewigen Act der Umwandlung
der Subjectivitaͤt in die Objectivitaͤt kann die
Objektivitaͤt oder die Materie nur Accidens
ſeyn, dem die Subjectivitaͤt als das Weſen
oder die Subſtanz entgegenſteht, welche aber
in der Entgegenſetzung ſelbſt die Abſolut¬
heit ablegt und als bloß relativ-Ideales (im
Licht) erſcheint. Der Organismus iſt es alſo,
welcher Subſtanz und Accidens als vollkom¬
men Eins und, wie in dem abſoluten Act
der Subject-Objectivirung, in Eins gebildet
darſtellt.
Dieſes Princip der Formwerdung der
Materie beſtimmt nicht allein die Erkenntniß
des Weſens, ſondern auch der einzelnen Fun¬
ctionen des Organismus, deren Typus mit
dem allgemeinen der lebendigen Bewegungen
derſelbe ſeyn muß, nur daß die Formen, wie
geſagt, mit der Materie ſelbſt Eins ſind und
ganz in ſie uͤbergehen. Wenn man alle Ver¬
ſuche der Empirie, dieſe Functionen ſowohl uͤber¬
haupt, als ihren beſondern Beſtimmungen nach
zu erklaͤren, durchgeht, ſo findet ſich auch nicht in
Einer derſelben eine Spur des Gedankens, ſie
als allgemeine und nothwendige Formen zu
faſſen. Die zufaͤllige Exiſtenz unwaͤgbarer
Fluͤſſigkeiten in der Natur, fuͤr welche eben ſo
zufaͤlligerweiſe in der Conformation des Orga¬
nismus gewiſſe Bedingungen der Anziehung,
der Zuſammenſetzung und Zerlegung gegeben
ſind, iſt auch hier das letzte troſtloſe Aſyl der
Unwiſſenheit. Und dennoch iſt ſelbſt mit die¬
ſen Annahmen noch keine Erklaͤrung dahin ge¬
langt, irgend eine organiſche Bewegung z. B.
der Contraction auch nur von Seiten ihres
Mechanismus begreiflich zu machen. Man
fiel zwar ſehr fruͤhzeitig auf die Analogie zwi¬
ſchen dieſen Erſcheinungen und denen der Elek¬
tricitaͤt: aber da man dieſe ſelbſt nicht als all¬
19
gemeine, ſondern nur als beſondere Form
kannte und auch keinen Begriff von Potenzen
in der Natur hatte, ſo wuͤrden die erſten, an¬
ſtatt mit den andern auf die gleiche Stufe,
wenn nicht auf die hoͤhere, geſetzt zu werden,
vielmehr von ihnen abgeleitet und als bloße
Wirkungen von ihnen begriffen: wobey, auch
das elektriſche Weſen als Thaͤtigkeitsprincip
zugegeben, den eigenthuͤmlichen Typus der Zu¬
ſammenziehung zu erklaͤren, noch neue Hypo¬
theſen erfodert wurden.
Die Formen der Bewegung, welche in
der anorgiſchen Natur ſchon durch Magnetis¬
mus, Elektricitat und chemiſchen Proceß aus¬
gedruͤckt ſind, ſind allgemeine Formen, die in den
letzteren ſelbſt bloß auf eine beſondere Weiſe er¬
ſcheinen. In ihrer Geſtalt als Magnetismus
u. ſ. w., ſtellen ſie ſich als bloße von der Sub¬
ſtanz der Materie verſchiedene Accidenzen dar.
In der hoͤheren Geſtalt, welche ſie durch den
Organismus erhalten, ſind ſie Formen, die
zugleich das Weſen der Materie ſelbſt ſind.
Fuͤr die koͤrperlichen Dinge, deren Be¬
griff bloß der unmittelbare Begriff von ihnen
ſelbſt iſt, faͤllt die unendliche Moͤglichkeit aller
als Licht außer ihnen: im Organismus, deſſen
Begriff unmittelbar zugleich der Begriff ande¬
rer Dinge iſt, faͤllt das Licht in das Ding
ſelbſt und in gleichem Verhaͤltniß wird auch die
zuvor als Subſtanz angeſchaute Materie ganz
als Accidens geſetzt.
Entweder iſt nun das ideelle Princip der
Materie nur fuͤr die erſte Dimenſion verbun¬
den: in dieſem Fall iſt jene auch nur fuͤr die
letztere als Dimenſion des In-ſich-ſelbſt-
Seyns von der Form durchdrungen und mit
ihr Eins: das organiſche Weſen enthaͤlt bloß
die unendliche Moͤglichkeit von ſich ſelbſt als
Individuum oder als Gattung. Oder das
Licht hat auch in der andern Dimenſion der
Schwere ſich vermaͤhlt: ſo iſt die Materie zu¬
gleich fuͤr dieſe, welche die des Seyns in an¬
dern Dingen iſt, als Accidens geſetzt, und das
organiſche Weſen enthaͤlt die unendliche Moͤg¬
lichkeit anderer Dinge außer ihm. In dem er¬
ſten Verhaͤltniß, welches das der Reproduction
19 *
iſt, waren Moͤglichkeit und Wirklichkeit beyde
auf das Individuum beſchraͤnkt und dadurch
ſelbſt eins: in dem andern, welches das der
ſelbſtſtaͤndigen Bewegung iſt, geht das Indi¬
viduum uͤber ſeinen Kreis hinaus auf andere
Dinge: Moͤglichkeit und Wirklichkeit koͤnnen
hier alſo nicht in Ein und daſſelbige fallen,
weil die andern Dinge ausdruͤcklich als andere,
als außer dem Individuum befindliche, geſetzt
ſeyn ſollen. Wenn aber die beyden vorherge¬
henden Verhaͤltniſſe in dem hoͤhern verknuͤpft
werden und die unendliche Moͤglichkeit anderer
Dinge doch zugleich als Wirklichkeit in daſſel¬
bige faͤllt, worein jene, ſo iſt damit die hoͤchſte
Function des ganzen Organismus geſetzt; die
Materie iſt in jeder Beziehung und ganz Acci¬
dens des Weſens, des Idealen, welches an ſich
productiv, aber hier, in der Beziehung auf
ein endliches Ding, als ideal zugleich ſinn¬
lich-producirend, alſo anſchauend iſt.
Wie auch die allgemeine Natur nur in
der goͤttlichen Selbſtbeſchauung beſteht und die
Wirkung von ihr iſt, ſo iſt in den lebenden
Weſen dieſes ewige Produciren ſelbſt erkennbar
gemacht und objectiv geworden. Es bedarf
kaum des Beweiſes, daß in dieſem hoͤheren Ge¬
biet der organiſchen Natur, wo der ihr einge¬
bohrne Geiſt ſeine Schranken durchbricht, jede
Erklaͤrung, die ſich auf die gemeinen Vorſtel¬
lungen von der Materie ſtuͤtzt, ſo wie alle Hy¬
potheſen, durch welche die untergeordnetern Er¬
ſcheinungen noch nothduͤrftig begreiflich gemacht
werden, voͤllig unzureichend werden: weßhalb
auch die Empirie dieſes Gebiet allmaͤhlich ganz
geraͤumt, und ſich theils hinter die Vorſtellun¬
gen des Dualismus, theils in die Teleologie
zuruͤckgezogen hat.
Nach Erkenntniß der organiſchen Functio¬
nen in der Allgemeinheit und Nothwendigkeit
ihrer Formen, iſt die der Geſetze, nach welchen
ihr Verhaͤltniß unter einander, ſowohl im In¬
dividuum als in der geſammten Welt der Or¬
ganiſationen beſtimmt iſt, die erſte und wich¬
tigſte.
Das Individuum iſt in Anſehung deſſel¬
ben auf eine gewiſſe Graͤnze eingeſchraͤnkt,
welche nicht uͤberſchritten werden kann, ohne
ſein Beſtehen als Product unmoͤglich zu ma¬
chen: es iſt dadurch der Krankheit unterwor¬
fen. Die Conſtruction dieſes Zuſtandes iſt ein
nothwendiger Theil der allgemeinen organiſchen
Naturlehre, und von dem, was man Phyſiolo¬
gie genannt hat, nicht zu trennen. In der groͤ߬
ten Allgemeinheit kann ſie vollkommen aus den
hoͤchſten Gegenſatzen der Moͤglichkeit und Wirk¬
lichkeit im Organismus und der Stoͤrung des
Gleichgewichtes beyder gefuͤhrt werden: die be¬
ſondern Formen und Erſcheinungen der Krank¬
heit aber ſind allein aus dem veraͤnderten Ver¬
haͤltniß der drey Grundformen der organiſchen
Thaͤtigkeit erkennbar. Es giebt ein doppeltes
Verhaͤltniß des Organismus, wovon ich das
erſte das natuͤrliche nennen moͤchte, weil es, als
ein rein quantitatives der inneren Factoren des
Lebens, zugleich ein Verhaͤltniß zu der Natur
und den aͤußern Dingen iſt. Das andere, wel¬
ches ein Verhaͤltniß der beyden Factoren in Be¬
zug auf die Dimenſionen iſt, und die Vollkom¬
menheit bezeichnet, in welcher der Organismus
Bild des Univerſum, Ausdruck des Abſolu¬
ten iſt, nenne ich das goͤttliche Verhaͤltniß.
Brown hat allein auf das erſte als das vor¬
nehmſte fuͤr die mediciniſche Kunſt reflectirt,
aber deshalb das andere nicht poſitiv ausge¬
ſchloſſen, deſſen Geſetze allein den Arzt die
Gruͤnde der Formen, den erſten und hauptſaͤch¬
lichſten Sitz des Misverhaͤltniſſes lehren, ihn
in der Wahl der Mittel leiten, und uͤber das,
was der Mangel an Abſtraction das Specifiſche
in der Wirkung der letztern ſowohl als in den Er¬
ſcheinungen der Krankheit genannt hat, verſtaͤn¬
digen. Daß nach dieſer Anſicht auch die Lehre
von den Arzneymitteln keine eigene Scienz,
ſondern nur ein Element der allgemeinen Wiſ¬
ſenſchaft der organiſchen Natur ſey, verſteht
ſich von ſelbſt.
Ich muͤßte nur das, von wuͤrdigen Maͤn¬
nern, vielfach Geſagte wiederholen, wenn ich
beweiſen wollte, daß die Wiſſenſchaft der Me¬
dicin in dieſem Sinne nicht nur uͤberhaupt phi¬
loſophiſche Bildung des Geiſtes, ſondern auch
Grundſaͤtze der Philoſophie vorausſetze: und,
wenn es zur Ueberzeugung von dieſer Wahr¬
heit fuͤr die Verſtaͤndigen noch etwas außer den
allgemeinen Gruͤnden beduͤrfte, waͤren es fol¬
gende Betrachtungen: daß in Anſehung dieſes
Gegenſtandes das Experiment, die einzig moͤg¬
liche Art der Conſtruction fuͤr die Empirie, an
ſich unmoͤglich iſt, daß alle angebliche medici¬
niſch: Erfahrung ihrer Natur nach zweydeutig
iſt, und mittelſt derſelben uͤber Werth oder Un¬
werth einer Lehre niemals entſchieden werden
kann, weil in jedem Fall die Moͤglichkeit
bleibt, daß ſie falſch angewendet worden: daß
in dieſem Theile des Wiſſens, wenn in irgend
einem andern, die Erfahrung erſt durch die
Theorie moͤglich gemacht werde, wie die durch
die Erregungstheorie gaͤnzlich veraͤnderte An¬
ſicht aller vergangenen Erfahrung hinlaͤnglich
beurkundet. Zum Ueberfluß koͤnnte man ſich
auf die Werke und Hervorbringungen derjeni¬
gen berufen, die ohne den geringſten Begriff
oder einige Wiſſenſchaft erſter Grundſaͤtze durch
die Macht der Zeit getrieben die neue Lehre,
obgleich ſie ihnen unverſtaͤndlich iſt, dennoch in
Schriften oder Lehrvortraͤgen behaupten wol¬
len, und ſelbſt den Schuͤlern laͤcherlich werden,
indem ſie das Unvereinbare und Widerſprechen¬
de damit zu vereinen ſuchen, auch das Wiſſen¬
ſchaftliche wie einen hiſtoriſchen Gegenſtand
behandeln, und da ſie von Beweiſen reden,
doch immer nur zu erzaͤhlen vermoͤgen: auf die
man anwenden moͤchte, was zu ſeiner Zeit Ga¬
lenus von dem großen Haufen der Aerzte ge¬
ſagt hat: So ungeuͤbt und ungebildet und da¬
bey ſo frech und ſchnell im Beweiſen, wenn ſie
ſchon nicht wiſſen, was ein Beweis iſt — wie
ſoll man mit dieſen vernunftloſen Weſen noch
laͤnger ſtreiten und ſeine Zeit an ihren Erbaͤrm¬
lichkeiten verlieren!
Dieſelben Geſetze, welche die Metamor¬
phoſen der Krankheit beſtimmen, beſtimmen
auch die allgemeinen und bleibenden Verwand¬
lungen, welche die Natur in der Production
der verſchiedenen Gattungen uͤbt. Denn auch dieſe
beruhen einzig auf der ſteten Wiederholung eines
und deſſelben Grundtypus mit beſtaͤndig veraͤn¬
derten Verhaͤltniſſen, und es iſt offenbar, daß
die Medicin erſt dann in die allgemeine orga¬
niſche Naturlehre vollkommen ſich aufloͤſen
wird, wenn ſie die Geſchlechter der Krankhei¬
ten, dieſer idealen Organismen, mit der glei¬
chen Beſtimmtheit, wie die aͤchte Naturge¬
ſchichte die Geſchlechter der realen Organismen
conſtruirt, wo denn beyde nothwendig als ſich
entſprechend erſcheinen muͤſſen.
Aber was kann die hiſtoriſche Conſtru¬
ction der Organismen, welche den ſchaffenden
Geiſt durch ſeine Labyrinthe verfolgt, anders
leiten, als die Form der aͤußern Bildung, da
kraft des ewigen Geſetzes der Subject-Objecti¬
virung das Aeußere in der ganzen Natur Aus¬
druck und Symbol des Inneren iſt, und ſich
eben ſo regelmaͤßig und beſtimmt wie dieſes ver¬
aͤndert?
Die Denkmaͤler einer wahren Geſchichte
der organiſch-zeugenden Natur ſind alſo die
ſichtbaren Formen lebendiger Bildungen, von
der Pflanze bis zum Gipfel des Thiers, deren
Kenntniß man bisher, in einſeitigem Sinne,
als vergleichende Anatomie bezeichnet hat. Zwar
leidet es keinen Zweifel, daß in dieſer Art des
Wiſſens Vergleichung das erſte leitende Princip
iſt: aber nicht Vergleichung mit irgend einem
empiriſchen Vorbild, am wenigſten mit der
menſchlichen Bildung, welche als die vollen¬
detſte nach Einer Richtung zugleich an der
Graͤnze der Organiſation ſteht. Die erſte Be¬
ſchraͤnkung der Anatomie uͤberhaupt auf die des
menſchlichen Koͤrpers hatte zwar in dem Ge¬
brauch, der von derſelben in der Arzneykunſt
beabſichtigt wurde, einen ſehr einleuchtenden
Grund, war aber der Wiſſenſchaft ſelbſt in kei¬
nem Betracht vortheilhaft. Nicht nur weil die
menſchliche Organiſation ſo verborgen iſt, daß
um der Anatomie derſelben auch nur diejenige
Vollkommenheit zu geben, die ſie jetzt hat, die
Vergleichung mit andern Organiſationen noth¬
wendig war, ſondern auch, weil ſie, durch ihre
Potenzirtheit ſelbſt, den Geſichtspunct fuͤr die
uͤbrigen verruͤckt und die Erhebung zu einfachen
und allgemeinen Anſichten erſchwert. Die Un¬
moͤglichkeit, uͤber die Gruͤnde einer ſo verwickel¬
ten Bildung im Einzelnen die geringſte Re¬
chenſchaft abzulegen, nachdem man ſich ſelbſt
den Weg dazu verſperrt hatte, fuͤhrte die Tren¬
nung der Anatomie und Phyſiologie, die ſich
beyde wie Aeußeres und Inneres entſprechen
muͤßten, und jene ganz mechaniſche Art des
Vortrags herbey, der in den meiſten Lehrbuͤ¬
chern und auf Academieen der herrſchende iſt.
Der Anatom, welcher ſeine Wiſſenſchaft
zugleich als Naturforſcher und im allgemeinen
Geiſte behandeln wollte, muͤßte zuvoͤrderſt erken¬
nen, daß es einer Abſtraction, einer Erhebung
uͤber die gemeine Anſicht bedarf, um die wirkli¬
chen Formen auch nur hiſtoriſch wahr auszuſpre¬
chen. Er begreife das Symboliſche aller Geſtal¬
ten und daß auch in dem Beſondern immer eine
allgemeine Form, wie in dem Aeußern ein in¬
nerer Typus ausgedruͤckt iſt. Er frage nicht,
wozu dient dieſes oder jenes Organ? ſondern,
wie iſt es entſtanden? und zeige die reine Noth¬
wendigkeit ſeiner Formation. Je allgemeiner,
je weniger auf den beſondern Fall eingerichtet
die Anſichten ſind, aus denen er die Geneſis
der Formen herleitet, deſto eher wird er die
unausſprechliche Naivetaͤt der Natur in ſo vielen
ihrer Bildungen erreichen und faſſen. Am we¬
nigſten wolle er, indem er die Weisheit und
Vernunft Gottes zu bewundern meynt, ſeine
eigene Unweisheit und Unvernunft zu bewun¬
dern geben.
Beſtaͤndig ſey in ihm die Idee von der
Einheit und inneren Verwandtſchaft aller Or¬
ganiſationen, der Abſtammung von Einem Ur¬
bild, deſſen Objectives allein veraͤnderlich, das
Subjective aber unveraͤnderlich iſt: und jene
darzuſtellen, halte er fuͤr ſein einziges wahres
Geſchaͤft. Er bemuͤhe ſich vor allem um das
Geſetz, nach welchem jene Veraͤnderlichkeit ſtatt
findet: er wird erkennen: daß weil das Urbild
an ſich immer daſſelbige bleibt, auch das, wo¬
durch es ausgedruͤckt wird, nur der Form nach
veraͤnderlich ſeyn koͤnne, daß alſo eine gleiche
Summe von Realitaͤt in allen Organiſationen
verwendet und nur verſchiedentlich genutzt wird:
daß eine Erſetzung des Zuruͤckſtehens der einen
Form durch das Hervortreten der andern und
des Uebergewichts von dieſer durch das Zuruͤck¬
draͤngen von jener ſtatt habe. Er wird ſich aus
Vernunft und Erfahrung einen Schematismus
aller innern und aͤußern Dimenſionen entwer¬
fen, in welche ſich der productive Trieb werfen
kann: wodurch er fuͤr die Einbildungskraft
ein Prototyp aller Organiſationen gewinnt,
das in ſeinen aͤußerſten Graͤnzen unbeweglich,
innerhalb derſelben aber der groͤßten Freyheit
der Bewegung faͤhig iſt.
Die hiſtoriſche Conſtruction der organi¬
ſchen Natur wuͤrde, in ſich vollendet, die reale
und objective Seite der allgemeinen Wiſſen¬
ſchaft derſelben zum vollkommenen Ausdruck der
Ideen in dieſer, und dadurch mit ihr ſelbſt
wahrhaft Eins machen.
Vierzehnte Vorleſung.
Ueber Wiſſenſchaft der Kunſt,
in Bezug auf das academi¬
ſche Studium.
Wiſſenſchaft der Kunſt kann vorerſt die hiſto¬
riſche Conſtruction derſelben bedeuten. In die¬
ſem Sinne fodert ſie als aͤußere Bedingung
nothwendig unmittelbare Anſchauung der vor¬
handenen Denkmaͤler. Da dieſe in Anſehung
der Werke der Dichtkunſt allgemein moͤglich iſt,
wird auch jene in der angegebenen Beziehung,
als Philologie, ausdruͤcklich unter die Gegen¬
ſtaͤnde des academiſchen Vortrags gezaͤhlt.
Demungeachtet wird auf Univerſitaͤten nichts
ſeltener gelehrt als Philologie in dem zu¬
vor beſtimmten Sinne, welches nicht zu ver¬
wundern, da jene eben ſo ſehr Kunſt iſt, wie
die Poeſie und der Philologe nicht minder als
der Dichter gebohren wird.
Noch viel weniger alſo iſt die Idee einer
hiſtoriſchen Conſtruction der Werke bildender
Kunſt auf Univerſitaͤten zu ſuchen, da ſie der
unmittelbaren Anſchauung derſelben beraubt
ſind, und wo etwa auch Ehrenhalber, mit Un¬
20
terſtuͤtzung einer reichen Bibliothek, ſolche Vor¬
traͤge verſucht werden, ſchraͤnken ſie ſich von
ſelbſt auf die bloß gelehrte Kenntniß der Kunſt¬
geſchichte ein.
Univerſitaͤten ſind nicht Kunſtſchulen. Noch
weniger alſo kann die Wiſſenſchaft derſelben in
practiſcher oder techniſcher Abſicht auf ihnen
gelehrt werden.
Es bleibt alſo nur die ganz ſpeculative
uͤbrig, welche nicht auf Ausbildung der empi¬
riſchen, ſondern der intellectuellen Anſchauung
der Kunſt gerichtet waͤre. Aber eben hiemit
wird die Vorausſetzung einer philoſophiſchen
Conſtruction der letztern gemacht, gegen welche
ſich von Seiten der Philoſophie, wie der
Kunſt, bedeutende Zweifel erheben.
Sollte zuvoͤrderſt der Philoſoph, deſſen in¬
tellectuelle Anſchauung allein auf die, ſinnlichen
Augen verborgene und unerreichbare, nur dem
Geiſte zugaͤngliche Wahrheit gerichtet ſeyn ſoll,
ſich mit der Wiſſenſchaft der Kunſt befaſſen,
welche, nur die Hervorbringung des ſchoͤnen
Scheins zur Abſicht hat, und entweder bloß
die taͤuſchenden Nachbilder von jener zeigt oder
ganz ſinnlich iſt, wie ſie der groͤßte Theil der
Menſchen begreift, der ſie als Sinnenreiz, als
Erholung, Abſpannung des durch ernſtere Ge¬
ſchaͤfte ermuͤdeten Geiſtes anſieht, als ange¬
nehme Erregung, die vor jeder andern nur das
voraus hat, daß ſie durch ein zarteres Me¬
dium geſchieht, wodurch ſie aber fuͤr das Ur¬
theil des Philoſophen, außer dem, daß er ſie als
eine Wirkung des ſinnlichen Triebes betrachten
muß, nur das noch verwerflichere Gepraͤge der
Verderbniß und der Civiliſation erhalten kann.
Nach dieſer Vorſtellung derſelben koͤnnte Philoſo¬
phie ſich von der ſchlaffen Sinnlichkeit, welche die
Kunſt ſich wegen dieſer Beziehung gefallen
laͤßt, nur durch abſolute Verdammung derſel¬
ben unterſcheiden.
Ich rede von einer heiligeren Kunſt, der¬
jenigen, welche, nach den Ausdruͤcken der Al¬
ten, ein Werkzeug der Goͤtter, eine Verkuͤndi¬
gerin goͤttlicher Geheimniſſe, die Enthuͤllerin
der Ideen iſt, von der ungebohrnen Schoͤn¬
heit, deren unentweihter Strahl nur reine
20 *
Seelen inwohnend erleuchtet, und deren Ge¬
ſtalt dem ſinnlichen Auge eben ſo verborgen und
unzugaͤnglich iſt, als die der gleichen Wahrheit.
Nichts von dem, was der gemeinere Sinn
Kunſt nennt, kann den Philoſophen beſchaͤfti¬
gen: ſie iſt ihm eine nothwendige, aus dem Ab¬
ſoluten unmittelbar ausfließende Erſcheinung,
und nur ſo fern ſie als ſolche dargethan und be¬
wieſen werden kann, hat ſie Realitaͤt fuͤr ihn.
„Aber hat nicht ſelbſt der goͤttliche Plato
in ſeiner Republik die nachahmende Kunſt ver¬
dammt, die Poeten aus ſeinem Vernunftſtaat
verbannt, nicht nur als unnuͤtze, ſondern als
verderbliche Glieder, und kann irgend eine Au¬
toritaͤt beweiſender fuͤr die Unvertraͤglichkeit
der Poeſie und Philoſophie ſeyn, als dieſes
Urtheil des Koͤniges der Philoſophen?“
Es iſt weſentlich, den beſtimmten Stand¬
punct zu erkennen, aus welchem Plato jenes
Urtheil uͤber die Dichter ſpricht: denn wenn ir¬
gend ein Philoſoph die Abſonderung der Stand¬
puncte beobachtet hat, iſt es dieſer, und ohne
jene Unterſcheidung wuͤrde es, wie uͤberall, ſo
hier insbeſondere, unmoͤglich ſeyn, ſeinen bezie¬
hungsreichen Sinn zu faſſen, oder die Wider¬
ſpruͤche ſeiner Werke uͤber denſelbigen Gegen¬
ſtand zu vereinigen. Wir muͤſſen uns vorerſt
entſchließen, die hoͤhere Philoſophie und die
des Plato insbeſondere als den entſchiedenen
Gegenſatz in der griechiſchen Bildung, nicht
nur in Beziehung auf die ſinnlichen Vorſtellun¬
gen der Religion, ſondern auch auf die objecti¬
ven und durchaus realen Formen des Staates
zu denken. Ob nun in einem ganz idealen und
gleichſam innerlichen Staat, wie der Platoni¬
ſche, von der Poeſie auf andere Weiſe die Re¬
de ſeyn koͤnne und jene Beſchraͤnkung, die er
ihr auferlegt, nicht eine nothwendige ſey? die
Beantwortung dieſer Frage wuͤrde uns hier zu
weit fuͤhren. Jener Gegenſatz aller oͤffentli¬
chen Formen gegen die Philoſophie mußte noth¬
wendig eine gleiche Entgegenſetzung der letztern
gegen die erſtere hervorbringen, wovon Plato
weder das fruͤheſte noch das einzige Beyſpiel
iſt. Von Pythagoras an und noch weiter zu¬
ruͤck, bis auf Plato herab, erkennt ſich die
Philoſophie ſelbſt als eine exotiſche Pflanze im
griechiſchen Boden, ein Gefuͤhl, das ſchon in
dem allgemeinen Trieb ſich ausdruͤckte, welcher
diejenigen, die entweder durch die Weisheit fruͤ¬
herer Philoſophen oder die Myſterien in hoͤhere
Lehren eingeweiht waren, nach dem Mutter¬
land der Ideen, dem Orient fuͤhrte.
Aber auch abgeſehen von dieſer bloß hiſto¬
riſchen, nicht philoſophiſchen, Entgegenſetzung,
die letztere vielmehr zugegeben, was iſt Plato's
Verwerfung der Dichtkunſt, verglichen insbe¬
ſondere mit dem, was er in andern Werken
zum Lob der enthuſiaſtiſchen Poeſie ſagt, an¬
ders, als Polemik gegen den poetiſchen Rea¬
lismus, eine Vorahndung der ſpaͤtern Rich¬
tung des Geiſtes uͤberhaupt und der Poeſie ins¬
beſondere? Am wenigſten koͤnnte jenes Urtheil
gegen die chriſtliche Poeſie geltend gemacht
werden, welche im Ganzen eben ſo beſtimmt
den Charakter des Unendlichen traͤgt, wie die
antike im Ganzen den des Endlichen. Daß
wir die Graͤnzen, welche die letztere hat, ge¬
nauer beſtimmen koͤnnen, als Plato, der ih¬
ren Gegenſatz nicht kannte, daß wir eben des¬
wegen uns zu einer umfaſſenderen Idee und
Conſtruction der Poeſie als er erheben und
das, was er als das Verwerfliche der Poeſie
ſeiner Zeit betrachtete, nur als die ſchoͤne
Schranke derſelben bezeichnen, verdanken wir
der Erfahrung der ſpaͤteren Zeit und ſehen als
Erfuͤllung, was Plato weiſſagend vermißte.
Die chriſtliche Religion und mit ihr der aufs
Intellectuelle gerichtete Sinn, der in der alten
Poeſie weder ſeine vollkommene Befriedigung,
noch ſelbſt die Mittel der Darſtellung finden
konnte, hat ſich eine eigene Poeſie und Kunſt
geſchaffen, in der er ſie findet: dadurch ſind die
Bedingungen der vollſtaͤndigen und ganz obje¬
ctiven Anſicht der Kunſt, auch der antiken, ge¬
geben.
Es erhellt hieraus, daß die Conſtruction
derſelben ein wuͤrdiger Gegenſtand nicht nur
uͤberhaupt des Philoſophen, ſondern auch ins¬
beſondere des chriſtlichen Philoſophen ſey, der
ſich ein eigenes Geſchaͤft daraus zu machen hat,
das Univerſum derſelben zu ermeſſen und dar¬
zuſtellen.
Aber iſt, um die andere Seite dieſes Ge¬
genſtandes herauszukehren, ſeinerſeits nun der
Philoſoph geeignet, das Weſen der Kunſt zu
durchdringen und mit Wahrheit darzuſtellen?
„Wer kann, ſo hoͤre ich fragen, von je¬
nem goͤttlichen Princip, das den Kuͤnſtler
treibt, jenem geiſtigen Hauch, der ſeine Werke
beſeelt, wuͤrdig reden, als wer ſelbſt von die¬
ſer heiligen Flamme ergriffen iſt? Kann man
verſuchen, dasjenige der Conſtruction zu unter¬
werfen, was eben ſo unbegreiflich in ſeinem
Urſprung, als wundervoll in ſeinen Wirkungen
iſt? Kann man das unter Geſetze bringen und
beſtimmen wollen, deſſen Weſen es iſt, kein
Geſetz als ſich ſelbſt anzuerkennen? Oder iſt
nicht das Genie durch Begriffe ſo wenig zu
faſſen, als es durch Geſetze erſchaffen werden
kann? Wer wagt es, noch uͤber das hinaus
einen Gedanken haben zu wollen, was offen¬
bar das Freyeſte, das Abſoluteſte iſt im gan¬
zen Univerſum, wer uͤber die letzten Graͤnzen
hinaus ſeinen Geſichtskreis zu erweitern, um
dort neue Graͤnzen zu ſtecken.“
So koͤnnte ein gewiſſer Enthuſiasmus re¬
den, der die Kunſt nur in ihren Wirkungen
aufgefaßt haͤtte, und weder ſie ſelbſt wahrhaft
noch die Stelle kennte, welche der Philoſophie
im Univerſum angewieſen iſt. Denn auch an¬
genommen, daß die Kunſt aus nichts hoͤherem
begreiflich ſey, ſo iſt doch ſo durchgreifend, ſo
allwaltend das Geſetz des Univerſum, daß al¬
les, was in ihm begriffen iſt, in einem andern
ſein Vorbild oder Gegenbild habe, ſo abſolut
die Form der allgemeinen Entgegenſtellung des
Realen und Idealen, daß auch auf der letzten
Graͤnze des Unendlichen und Endlichen, da
wo die Gegenſaͤtze der Erſcheinung in die rein¬
ſte Abſolutheit verſchwinden, daſſelbe Verhaͤlt¬
niß ſeine Rechte behauptet und in der letzten
Potenz wiederkehrt. Dieſes Verhaͤltniß iſt das
der Philoſophie und der Kunſt.
Die letztere, obgleich ganz abſolut, voll¬
kommene In-Eins-Bildung des Realen und
Idealen verhaͤlt ſich doch ſelbſt wieder zur Phi¬
loſophie wie Reales zum Idealen. In dieſer
loͤſt der letzte Gegenſatz des Wiſſens ſich in die
reine Identitaͤt auf und nichts deſto weniger
bleibt auch ſie im Gegenſatz gegen die Kunſt
immer nur ideal. Beyde begegnen ſich alſo
auf dem letzten Gipfel und ſind ſich, eben kraft
der gemeinſchaftlichen Abſolutheit, Vorbild und
Gegenbild. Dieß iſt der Grund, daß in das In¬
nere der Kunſt wiſſenſchaftlich kein Sinn tiefer
eindringen kann, als der der Philoſophie, ja daß
der Philoſoph in dem Weſen der Kunſt ſo gar kla¬
rer, als der Kuͤnſtler ſelbſt zu ſehen vermag.
In ſo fern das Ideelle immer ein hoͤherer Re¬
flex des Reellen iſt, in ſo fern iſt in dem Phi¬
loſophen nothwendig auch noch ein hoͤherer ide¬
eller Reflex von dem, was in dem Kuͤnſtler
reell iſt. Hieraus erhellt nicht nur uͤberhaupt,
daß in der Philoſophie die Kunſt Gegenſtand
eines Wiſſens werden koͤnne, ſondern auch, daß
außer der Philoſophie und anders als durch
Philoſophie von der Kunſt nichts auf abſolute
Art gewußt werden koͤnne.
Der Kuͤnſtler, da in ihm daſſelbe Prin¬
cip objectiv iſt, was ſich in dem Philoſophen
ſubjectiv reflectirt, verhaͤlt ſich darum auch zu
jenem nicht ſubjectiv oder bewußt, nicht als ob
er nicht gleichfalls durch einen hoͤheren Reflex
ſich deſſelben bewußt werden koͤnnte: aber dieß
iſt er nicht in der Qualitaͤt des Kuͤnſtlers. Als
ſolcher iſt er von jenem Princip getrieben und
beſitzt es eben darum ſelbſt nicht; wenn er es
mit demſelben zum idealen Reflex bringt, ſo
erhebt er ſich eben dadurch als Kuͤnſtler zu ei¬
ner hoͤheren Potenz, verhaͤlt ſich aber als ſol¬
cher auch in dieſer ſtets objectiv: das Sub¬
jective in ihm tritt wieder zum Objectiven, wie
im Philoſophen ſtets das Objective ins Sub¬
jective aufgenommen wird. Darum bleibt die
Philoſophie der innern Identitaͤt mit der Kunſt
ungeachtet doch immer und nothwendig Wiſſen¬
ſchaft d. h. ideal, die Kunſt immer und noth¬
wendig Kunſt d. h. real.
Wie alſo der Philoſoph die Kunſt ſogar
bis zu der geheimen Urquelle und in die erſte
Werkſtaͤtte ihrer Hervorbringungen ſelbſt verfol¬
gen koͤnne, iſt nur vom rein objectiven Stand¬
punct, oder von dem einer Philoſophie aus,
die nicht im Idealen zu der gleichen Hoͤhe mit
der Kunſt im Realen geht, unbegreiflich. Die¬
jenigen Regeln, die das Genie abwerfen kann,
ſind ſolche, welche ein bloß mechaniſcher Ver¬
ſtand vorſchreibt; das Genie iſt autonomiſch,
nur der fremden Geſetzgebung entzieht es ſich,
nicht der eigenen, denn es iſt nur Genie, ſofern
es die hoͤchſte Geſetzmaͤßigkeit iſt; aber eben dieſe
abſolute Geſetzgebung erkennt die Philoſophie
in ihm, welche nicht allein ſelbſt autonomiſch
iſt, ſondern auch zum Princip aller Autonomie
vordringt. Zu jeder Zeit hat man daher ge¬
ſehen, daß die wahren Kuͤnſtler ſtill, einfach,
groß und nothwendig ſind in ihrer Art, wie
die Natur. Jener Enthuſiasmus, der in ih¬
nen nichts erblickt, als das von Regeln freye
Genie, entſteht ſelbſt erſt durch die Reflexion,
die von dem Genie nur die negative Seite er¬
kennt: es iſt ein Enthuſiasmus der zweyten
Hand, nicht der, welcher den Kuͤnſtler beſeelt
und der in einer gottaͤhnlichen Freyheit zugleich
die reinſte und hoͤchſte Nothwendigkeit iſt.
Allein wenn nun der Philoſoph auch am
eheſten das Unbegreifliche der Kunſt darzuſtel¬
len, das Abſolute in ihr zu erkennen faͤhig iſt:
wird er eben ſo geſchickt ſeyn, das Begreifliche
in ihr zu begreifen und durch Geſetze zu beſtim¬
men? Ich meyne die techniſche Seite der
Kunſt: wird ſich die Philoſophie zu dem Em¬
piriſchen der Ausfuͤhrung und der Mittel und
Bedingungen derſelben herablaſſen koͤnnen?
Die Philoſophie, die ganz allein mit
Ideen ſich beſchaͤftigt, hat in Anſehung des
Empiriſchen der Kunſt nur die allgemeinen Ge¬
ſetze der Erſcheinung, und auch dieſe nur in
der Form der Ideen aufzuzeigen: denn die
Formen der Kunſt ſind die Formen der Dinge
an ſich und wie ſie in den Urbildern ſind. So
weit alſo jene allgemein und aus dem Univer¬
ſum an und fuͤr ſich eingeſehen werden koͤnnen,
iſt ihre Darſtellung ein nothwendiger Theil der
Philoſophie der Kunſt, nicht aber in ſo fern
ſie Regeln der Ausfuͤhrung und Kunſtausuͤbung
enthaͤlt. Denn uͤberhaupt iſt Philoſophie der
Kunſt Darſtellung der abſoluten Welt in der
Form der Kunſt. Nur die Theorie bezieht ſich
unmittelbar auf das Beſondere oder einen
Zweck, und iſt das, wornach eine Sache em¬
piriſch zu Stande gebracht werden kann. Die
Philoſophie dagegen iſt durchaus unbedingt,
ohne Zweck außer ſich. Wenn man auch dar¬
auf ſich berufen wollte, daß das Techniſche der
Kunſt dasjenige iſt, wodurch ſie den Schein
der Wahrheit erhaͤlt, was alſo dem Philoſo¬
phen anheim fallen koͤnnte, ſo iſt dieſe Wahr¬
heit doch bloß empiriſch: diejenige, welche der
Philoſoph in ihr erkennen und darſtellen ſoll,
iſt hoͤherer Art, und mit der abſoluten Schoͤn¬
heit Eins und daſſelbe, die Wahrheit der
Ideen.
Der Zuſtand des Widerſpruchs und der
Entzweyung, auch uͤber die erſten Begriffe,
worinn ſich das Kunſturtheil nothwendig in ei¬
nem Zeitalter befindet, welches die verſiegten
Quellen derſelben durch die Reflexion wieder
oͤffnen will, macht es doppelt wuͤnſchenswuͤrdig,
daß die abſolute Anſicht der Kunſt auch in Be¬
zug auf die Formen, in denen dieſe ſich aus¬
druͤckt, auf wiſſenſchaftliche Art, von den er¬
ſten Grundſaͤtzen aus, durchgefuͤhrt wuͤrde, da,
ſo lange dieß nicht geſchehen iſt, im Urtheil
wie in der Foderung, neben dem, was an ſich
gemein und platt iſt, auch das Beſchraͤnkte,
das Einſeitige, das Grillenhafte beſtehen kann.
Die Conſtruction der Kunſt in jeder ihrer
beſtimmten Formen bis ins Concrete herab
fuͤhrt von ſelbſt zur Beſtimmung derſelben
durch Bedingungen der Zeit und geht alſo da¬
durch in die hiſtoriſche Conſtruction uͤber. An
der vollſtaͤndigen Moͤglichkeit einer ſolchen und
Ausdehnung auf die ganze Geſchichte der Kunſt
iſt um ſo weniger zu zweifeln, nachdem der
allgemeine Dualismus des Univerſum, in dem
Gegenſatz der antiken und modernen Kunſt,
auch in dieſem Gebiet dargeſtellt und auf die
bedeutendſte Weiſe, theils durch das Organ der
Poeſie ſelbſt, theils durch die Kritik geltend ge¬
macht worden iſt. Da Conſtruction allgemein
Aufhebung von Gegenſaͤtzen iſt, und die, wel¬
che in Anſehung der Kunſt durch ihre Zeitab¬
haͤngigkeit geſetzt ſind, wie die Zeit ſelbſt, un¬
weſentlich und bloß formell ſeyn muͤſſen, ſo
wird die wiſſenſchaftliche Conſtruction in der
Darſtellung der gemeinſchaftlichen Einheit be¬
ſtehen, aus der jene ausgefloſſen ſind und
ſich ebendadurch uͤber ſie zum umfaſſenderen
Standpunct erheben.
Eine ſolche Conſtruction der Kunſt iſt al¬
lerdings mit nichts von dem zu vergleichen,
was bis auf die gegenwaͤrtige Zeit unter dem
Namen von Aeſthetik, Theorie der ſchoͤnen
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, oder irgend einem
andern exiſtirt hat. In den allgemeinſten
Grundſaͤtzen des erſten Urhebers jener Bezeich¬
nung lag wenigſtens noch die Spur der Idee
des Schoͤnen, als des in der concreten und
abgebildeten Welt erſcheinenden Urbildlichen.
Seit der Zeit erhielt dieſe eine immer beſtimm¬
tere Abhaͤngigkeit vom Sittlichen und Nuͤtzli¬
chen: ſo wie in den pſychologiſchen Theorieen
ihre Erſcheinungen ohngefaͤhr gleich den Ge¬
ſpenſter-Geſchichten oder anderm Aberglauben
wegerklaͤrt wurden, bis der hierauf folgende
Kantiſche Formalismus zwar eine neue und hoͤ¬
here Anſicht, mit dieſer aber eine Menge kunſt¬
leerer Kunſtlehren gebohren hat.
Die Saamen einer aͤchten Wiſſenſchaft
der Kunſt, welche treffliche Geiſter ſeitdem
ausgeſtreut haben, ſind noch nicht zum wiſſen¬
ſchaftlichen Ganzen gebildet, das ſie jedoch er¬
warten laſſen. Philoſophie der Kunſt iſt noth¬
wendiges Ziel Philoſophen, der in dieſer
das innere Weſen ſeiner Wiſſenſchaft, wie in
einem magiſchen und ſymboliſchen Spiegel
ſchaut; ſie iſt ihm als Wiſſenſchaft an und fuͤr
ſich wichtig, wie es z. B. die Naturphiloſophie
iſt, als Conſtruction der merkwuͤrdigſten aller
Producte und Erſcheinungen, oder Conſtruction
einer eben ſo in ſich geſchloſſenen und vollende¬
ten Welt, als es die Natur iſt. Der begei¬
ſterte Naturforſcher lernt durch ſie die wahren
Urbilder der Formen, die in der Natur nur
verworren ausgedruͤckt findet, in den Werken
der Kunſt und die Art, wie die ſinnlichen Din¬
ge aus jenen hervorgehen, durch dieſe ſelbſt
ſinnbildlich erkennen.
Der innige Bund, welcher die Kunſt und
21
Religion vereint, die gaͤnzliche Unmoͤglichkeit,
einerſeits der erſten eine andere poetiſche Welt
als innerhalb der Religion und durch Religion
zu geben, die Unmoͤglichkeit auf der andern
Seite, die letztere zu einer wahrhaft objectiven
Erſcheinung anders als durch die Kunſt zu brin¬
gen, machen die wiſſenſchaftliche Erkenntniß
derſelben dem aͤchten Religioͤſen auch ſchon in
dieſer Beziehung zur Nothwendigkeit.
Endlich gereicht es demjenigen, der un¬
mittelbar oder mittelbar Antheil an der Staats¬
verwaltung hat, zu nicht geringer Schande,
weder uͤberhaupt fuͤr die Kunſt empfaͤnglich
zu ſeyn, noch eine wahre Kenntniß von ihr zu
haben. Denn wie Fuͤrſten und Gewalthaber
nichts mehr ehrt, als die Kuͤnſte zu ſchaͤtzen,
ihre Werke zu achten und durch Aufmunterung
hervorzurufen: ſo gewaͤhrt dagegen nichts einen
traurigern und fuͤr ſie ſchimpflichern Anblick,
als wenn diejenigen, welche die Mittel haben,
dieſe zu ihrem hoͤchſten Flor zu befoͤrdern, dieſel¬
ben an Geſchmackloſigkeit, Barbarey oder ein¬
ſchmeichelnde Niedrigkeit verſchwenden. Wenn
es auch nicht allgemein eingeſehen werden koͤnn¬
te, daß die Kunſt ein nothwendiger und inte¬
granter Theil einer nach Ideen entworfenen
Staatsverfaſſung iſt, ſo muͤßte wenigſtens das
Alterthum daran erinnern, deſſen allgemeine
Feſte, verewigende Denkmaͤler, Schauſpiele,
ſo wie alle Handlungen des oͤffentlichen Lebens
nur verſchiedene Zweige Eines allgemeinen ob¬
jectiven und lebendigen Kunſtwerks waren.
Inhalt.
-
Erſte Vorleſung. Ueber den abſoluten
Begriff der Wiſſenſchaft — — S. 1
-
Zweite Vorleſung. Ueber die wiſſen¬
ſchaftliche und ſittliche Beſtimmung der
Academieen — — — — — 27
-
Dritte Vorleſung. Ueber die erſten
Vorausſetzungen des akademiſchen Stu¬
dium — — — — — — 59
-
Vierte Vorleſung. Ueber das Stu¬
dium der reinen Vernunftwiſſenſchaf¬
ten: der Mathematik, und der Philo¬
ſophie im Allgemeinen — — — 81
-
Fuͤnfte Vorleſung. Ueber die ge¬
woͤhnlichen Einwendungen gegen das
Studium der Philoſophie — — 101
-
Sechſte Vorleſung. Ueber das Stu¬
dium der Philoſophie insbeſondre — 119
-
Siebente Vorleſung. Ueber einige
aͤußre Gegenſaͤtze der Philoſophie, vor¬
naͤmlich den der poſitiven Wiſſenſchaf¬
ten 143
-
Achte Vorleſung. Ueber die hiſtoriſche
Conſtruction des Chriſtenthums[ ]165
-
Neunte Vorleſung. Ueber das Stu¬
dium der Theologie[ ]187
-
Zehnte Vorleſung. Ueber das Stu¬
dium der Hiſtorie und der Jurispru¬
denz[ ]211
-
Eilfte Vorleſung. Ueber die Natur¬
wiſſenſchaft im Allgemeinen[ ]237
-
Zwoͤlfte Vorleſung. Ueber das Stu¬
dium der Phyſik und Chemie[ ]261
-
Dreyzehnte Vorleſung. Ueber das
Studium der Medicin und der organi¬
ſchen Naturlehre uͤberhaupt[ ]281
-
Vierzehnte Vorleſung. Ueber Wiſ¬
ſenſchaft der Kunſt, in Bezug auf das
academiſche Studium[ ]303
Jena,
gedruckt bei Frommann und Weſſelhoͤft.