Herrn Ernst Ziel in Leipzig.
Mein lieber Landsmann und Freund,
Ich benutze einen freien Augenblick, um Ihnen zu schreiben. Ich freue
mich sehr, daß Sie mit meiner Besprechung Ihrer Gedichte zufrieden sind. Mich
hat lange Nichts so gequält u.und gedrückt, wie die Verzögerung in dem Abdruck
meiner Anzeige; zwar wußte ich mich frei von Schuld an der Verzögerung, aber
trotzdem quälte mich der Gedanke, was Sie wohl von mir denken möchten, da
die angekündigte Besprechung so ungebührlich lange auf sich warten ließ.
Und so war ich deñ heilfroh, als mir die „Allgemeine Zeitung“ endlich zuging.
Ich kom̃e nun noch auf einen Punkt meiner Besprechung zurück. Ich würde
das nicht thun, weñ es sich dabei um eine Verschiedenheit „prinzipieller Stand-
punkte“ handelte. Ich glaube aber vielmehr, daß wir ganz auf demselben Stand-
punkt auch in dieser metrischen Frage stehen u.und daß wir, weñ wir auch noch
nicht ganz einig sind, uns jedoch jedenfalls sehr bald werden verständigen
können. Ich gebe Ihnen nämlich ohne Weiteres zu, daß – um die vorliegende
Frage in bestim̃ten Grenzen zu fassen oder – nach Goethe's Vorschlag enger zu
„bepaalen“ – der Widerstreit zwischen steigenden und sinkenden Spondeen
eine wesentliche Härte enthält und also im Allgemeinen nicht angewendet
werden sollte außer eben da, wo der Vers einen Widerstreit der Bewe-
gung veranschaulichen soll, s. z.b. Schlegel's Hexameter (in meiner „Verskunst“
S. 129b Z. 329ff) zb. kaūm vōrrǖckt – nach der Skansion: ⍘ _ ⍘, nach dem Accent
_ ⍘ _ wie im folgenden Vers: fortarbeitet ⍘ _ ⍘ ⏑, nach dem Accent
⍘ ⍘ _ ⏑ uund: Wog' Abgründe: ⍘ _ ⍘ ⏑, nach dem Acc.Accent: St _ ⍘ _ ⏑, wie
weiter: Sturm aufwühlt ⍘ _ ⍘, nach dem Accent: _ ⍘ _ ppp.).
Da derartiges aber in Platen's Distichon nicht vorliegt, so halt
ich mit Ihnen den Pentameter-Anfang
Bleiben der Stolz Deutschland's
nicht für musterhaft, sondern für hart. Weñ nun aber das Spondeus „Deutsch-
land's“ an eine Stelle rückte, wo es metrisch (dem Accent gemäß) nicht
einen steigenden, sondern einen sinkenden Spondeus bildet, so werden Sie, glaube
ich, gegen den Pentameter metrisch Nichts mehr einwenden
Holpricht ist der Hexameter zwar, doch wird das Gedicht stets
Bleiben uns Deutschland's Stolz, bleiben die Probe der Kunst.
(Ich sage absichtlich u.und ausdrücklich: metrisch Nichts mehr einwenden; deñ daß ich die zusammentreffenden Zischlaute in „uns Deutschlands Stolz“ euphonisch nicht billige,
ist richtig, aber für das Metrische ohne Belang). Wollten Sie nun aber mit
Rücksicht auf die Euphonie lieber ändern:
Bleiben für Deūtschlā̆nd eĭn Stolz ppp.,
so würde ich das metrisch nicht als Verbesserung anzuerkennen im Stande sein,
sondern demn Palimbacchius – – ⏑ statt des Daktylus als hart bezeichnen.
Dies aber – und nur dies – ist der Punkt, in dem ich für Ihre Behandlung
der Distichen eine strengere Abwägung der Quantität gewünscht habe.
Es wäre mir natürlich lieb, weñ Sie nach dieser Erörterung mir
vollständig zustim̃en könnten; aber seien Sie überzeugt, daß für
mich die Beziehungen zwischen uns nicht im geringsten verkürzt werden, weñ
Sie fortfahren, die Quantität von Land in Deutschland ppp. dem Accent zu Liebe für mein Ohr
ein wenig zu sehr zu verkürzen. Bin ich doch vollkom̃en von Ihnen
überzeugt, daß Sie mir es freundlich zu Gute halten, weñ ich in der
Silbenwägung für Ihre Accentgefühl allzustrenge bin.
Jedenfalls wird es Sie freuen, zu hören, daß jetzt von mei-
ner „Verskunst“ die 2te und von meinen „Sprachbriefen“ die 3te Auflage
erscheint. Wesentliche Änderungen habe ich in beiden Arbeiten nicht vor-
genom̃en; doch habe ich Auftrag gegeben, daß Ihnen sofort nach dem
Erscheinen der 1. Brief von den „Sprachbriefen“ zugehe. Nehmen Sie
die Sendung freundlich auf als ein Zeichen herzlichen Danks für
die freundliche Förderung, die Sie meinen Arbeiten durch Ihre
Empfehlung in der „Gartenlaube“ haben zu Theil werden lassen.
In ganz kurzer Zeit wird Ihnen aber auch noch ein anderes
Heft von mir durch den Verleger zugesandt werden, nämlich das 5. Heft
meines „Ergänzungs-Wörterbuches“. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen früher
schon geschrieben, wie schlim̃ es mir mit diesem Werk gegangen
dadurch, daß der ursprüngliche Verleger Leopold Abenheim.
nach dem Erscheinen des
vierten Heftes bankbrüchig geworden und mein Manuskript, so weit er es mir noch
kurz vorher abgelockt, in die Gantmasse gekom̃en. Daß meine Forderungen ananer-
kañt wurden, nützte mir so wenig, wie der Umstand, daß ich mit meiner Klage
(auf Herausgabe des Mscr.Manuscripts) – auf den Weg des Civilprozesses verwiesen wurde.
Jetzt hat ein neuer VerlegerGustav Joël von der Frau des bankbrüchigen (die allein aus
der Masse durch Übernahme des Vorhandenen befriedigt worden) das Geschäft gekauft
und ich bin froh, daß – weñ auch mit bedeutenden Opfern meinerseits – das ins
Stocken gerathene Werk wieder in Gang kom̃t. Ich hoffe, mit diesem „Ergänz.Ergänzungs-
Wörterb.Wörterbuch“ unserem Volk u.und unserer Sprache einen wesentlichen Dienst zu
erweisen und wünsche, daß Sie mich in dieser Hoffnung bestärken können.
Mit landsmännischem Gruß
hochachtungsvoll und freundschaftlich er-
gebenst der Ihre
Dan. Sanders.
Altstrelitz, d 18. Juni 1881
Ich bitte, mich Ihrer Frau Gemahlin zu empfehlend und auch Herrn Fr.
Hoffmann meine Grüße zu übermitteln.