Rede des Hrn. Domdekan v. Hirscher in Be-
treff des gegenwärtigen Standes der Kirche, ge-
halten am 5. Nov. d. J. in der ersten badischen
Kammer. Sie lautet: Durchlauchtigster Hr. Prä-
sident, hochgeehrteste Herren! Wir haben furcht-
bare Erschütterungen erlebt. Was am meisten
erschrecken mußte, war eine weitverbreitete bis zum
Einbruch gesteigerte Treulosigkeit, war ein jeden
Rechtssinn verläugnendes Gelüsten nach fremdem
Eigenthum, und war ein, auch das ruchlofeste
Mittel, wenn es zum Zwecke diente, nicht ver-
schmähender Ehrgeiz. Jn seiner Ueberraschung ob
solcher Faulheit der Zustände fragte man sich,
woher und wie das Alles gekommen? Man fand,
daß man seit lange in weiten Kreisen dieser Auf-
klärung gehuldigt habe, welche das Leben bequem
machte und den Menschen der Selbst= und Welt-
verläugnung überhob -- jener Aufklärung, welche
nicht nur von dem Christenthum Umgang nahm,
sondern pantheistisch selbst Unsterblichkeit und Ver-
geltung beseitigte. Man begriff, wie aus dieser
Aufklärung, welche durch Wort und Beispiel all-
mählich selbst in die niederen Kreise drang, An-
deres nicht erwachsen konnte, als sich gezeigt hat.
Man fand ferner, daß man die öffentliche Wohl-
fahrt zu einseitig in die Blüthe von Kunst und
Gewerb gesetzt, die Menschenerziehung zu sehr mit
Verstandesbildung verwechselt, und die Festigkeit
der Staaten völlig oberflächlich auf die Macht
der Bajonette gegründet hatte. Man begriff, daß
der Fortschritt in der Technologie mehr eine Er-
schwerung als eine Lösung der socialen Frage sei,
daß die Verstandeskultur ohne Adel der Gesin-
nung blos zu Schlechtigkeit geschickt machte, und
daß die Soldateska ohne Gewissen eben so gut
gegen, als für das Gesetz brauchbar sei. Man
klagte auch die öffentliche und häusliche Erziehung
an. Man sagte: die Geistlichkeit hat ihrer Auf-
gabe nicht genügt; die Grundsätze des Christen-
thums erwiesen sich bei den Massen unwirksam;
und im Augenblick des Umsturzes schlossen sich
sogar nicht Wenige dieses Standes demselben an,
die Andern hatten, oder bethätigten wenigstens
keine Macht wider ihn. Auf den Universitäten
und in den Kammern, sagt man, sind seit lange
Lehren vorgetragen worden, welche eine Umwälz-
ung des Bestehenden näher oder entfernter vorbe-
reiteten; an den Mittheilungen wurde jener un-
fromme, meisterlose, und Alles meisternde Geist
gepflegt, welcher der geborene Feind des Gehor-
sams und der Ordnung ist; und daß die Volks-
schulen einen andern Geist nicht haben konnten,
als ihre Lehrer, versteht sich von selbst. Welches
aber dieser Geist gewesen, hat sich genügend zu
Tag gelegt. Was die Familienerziehung betrifft,
so warf man dieser vor, es sei Frömmigkeit und
Zucht aus ihr gewichen, und die Kinder wissen
nichts von Gebet, wenig oder gar nichts von
Ehrfurcht und Gehorsam gegen die Eltern, eben
so wenig von Bescheidenheit und Zügelung der
Wünsche. Was aber im Hause ist, pflanzt sich,
sagt man fort auf Gemeinde und Staat. --
Die von selbst sich ergebende Frage war nun,
was zu thun sei, um das Uebel, welches uns
betroffen, in der Wurzel zu heben, d. i. jenes
tiefere Uebel, von welchem der erlebte Umsturz
nur eine hervorstechende Kundgebung war, zu
heilen? -- Fruher hat man die Aufklärung als
den Weg zur öffentlichen Wohlfahrt gepriesen;
es schien, als ware Alles vortrefflich, wenn man
endlich die Hexen und Gespenster, und weiter den
Teufel und die Hölle aus den Köpfen herausge-
bracht hatte. Es ging; die Aufklärung siegte,
aber die Revolution kam doch. Freilich um es
beiläufig zu sagen, hat man den Teufel zwar
aus den Köpfen, aber nicht aus den Herzen
herausgebracht. Wiederum kam der Fortschritt
an die Tagesordnung. Vorwärts, hieß es. Fehlt
dem Volke noch Manches, so muß es wenigstens
nach Jahren im Vollbesitze aller Wohlfahrt sein.
Man setzte sich in der That in Athem; es reg-
nete sogenannte Verbesserungen und Wohlfahrts-
gesetze ohne Zahl. Aber die Revolution kam
doch; und wäre sie auch nicht gekommen, so
würde sich wohl das Volk durch all das nicht
wesentlich wohler gefühlt haben. Andere sagten,
an der Regierung fehlts. Die sorgt für sich, und
läßt das Land in Noth. Man muß ihr oppo-
niren. Je mehr man sie angreift und drängt,
desto mehr gibt sie dem Volke von seinen Rech-
ten heraus. Man schmähte und drängte sie also,
und sie gab Alles heraus; aber die Revolution
kam doch. Und sie kam, eben weil die Regie-
rung herausgegeben hatte, was zu verlangen und
zu geben verbrecherisch ist -- Ansehen und Macht. Die
Bureaukraten und Polizeimänner dagegen ver-
meinten, die Allregiererei sei es, was die Welt
beglücke. Controlen über Controlen, dann gehts
ehrlich zu; Hemmschuh und Gängelband an allen
Orten, dann laufts in pünktlicher Ordnung. Aber
die Revolution kam doch. Mißtrauen und pedan-
tische Meisterei reizt gerade zu Widersetzlichkeit
und Excessen. Nachdem aber die genannten und
ähnliche Volksbeglückungsversuche zu Schanden ge-
worden, fühlte man das Bedürfniß einer anderen,
einer neuen Grundlage der öffentlichen Wohlfahrt.
Welches sollte diese sein? -- Die Vertreter des
Christenthums, die Sprecher der Kirche traten
auf und sagten: Es ist wahr, es haben sich bei
dem Volke und noch mehr bei dessen Führern
schlechte Grundsätze aufgethan, und es ist die Furcht
vor Gott, der Sinn für Recht und der Gehor-
sam gegen Gesetz und Obrigkeit gewichen. Der
eigentliche Grund davon aber ist, weil es gelun-
gen, den Glauben an das Evangelium, an
Christus und sein Gesetz zu untergraben. Man
hat von der Religion abgelassen, und damit von
der Gewissenhaftigkeit und häuslichen und bürger-
lichen Tugend. Stellt den Flor des Christen-
thums her, so habt ihr, wenn auch nicht Alles,
doch das gethan, ohne welches alles Andere nichts
ist. Wer Gott nicht fürchtet, wird auch keinen König
und kein Gesetz achten. Wollt ihr aber, so fuh-
ren die Vertreter des Christenthums fort, wollt
ihr den Flor dieser Religion und, daß sie alle
Klassen der Gesellschaft durchdringe, und ein tu-
gendreiches und gesegnetes Dasein gründe, so
müßt ihr deren Pflege ohne Verkümmerung Jenen
überlassen, denen dieselbe von ihrem Stifter an-
vertraut ist: ihr müßt die Kirche frei geben. Was
ihr mit euerer Bevormundung, euerer halben Be-
seitigung und kaum verhüllten Feindseligkeit gegen
das positive Christenthum erwirkt habet, das habt
ihr gesehen. Jhr werft der Geistlichkeit vor, sie
habe vielfach keinen, vielfach verderblichen Einfluß
auf das Volk geübt. Aber wer hat sie erzogen
und in die Hand genommen? Nicht die Kirche
hatte sie zu erziehen, nicht die Kirche hatte sie an-
zustellen, nicht die Kirche hatte Macht über die
Unordentlichen unter ihnen. Jhr habt sie erzo-
gen, angestellt und gehegt. Was eure Erziehung
und Leitung tauge, das habt ihr gesehen. Gebt
der Kirche ihre Geistlichkeit wieder. Und weiter
sprachen die Vertreter des Christenthums: Jhr
klagt die Schule an, und daß sie nicht geleistet
habe, was sie sollte. Aber die Schule ist, wie
die Lehrer. Wer nun hat die Lehrer gebildet?
-- Es gibt keine Bildung, als die durch die
Jdeen und Gnaden des Christenthums. Wer
durch diese nicht in seinem Jnnersten veredelt ist,
mag Alles sein, aber gebildet ist er nicht, näm-
lich nicht humanisirt in dem eigentlichen Menschen-
wesen. Welchen Einfluß übte nun das Christen-
thum auf die höheren und niederen Schulen, d.
h. wie sorgte man, daß die Lehrer an jenen und
diesen christliche, d. h. in Ansicht, Gesinnung und
Wandel durch das Evangelium und seine Gna-
den veredelte Männer seien? Wie man gesorgt
habe, daß die Volksschullehrer dieses seien, erhel-
let klar daraus, daß die Sprecher dieses Stan-
des sich und die Schule von der Kirche emanci-
pirt haben wollten, und Widerwillen zeigten ge-
gen alles Kirchliche, einzig ausgenommen die Gü-
ter der Kirche. Und wie man gesorgt habe, daß
christlicher Geist an den gelehrten Schulen herrsche,
wird erfichtlich daraus, daß man bei Anstellungen
an diesen Schulen nach der Religiosität des Man-
nes nicht fragte, daß man den Religionsunterricht
vielfach an den Nächsten den Besten anwies, in
der Benotung der Schüler die Religion nicht
höher ziehen ließ, als die Gesanglehre und Schön-
schreibekunst, und daß man Lehrer gewähren ließ,
welche es liebten, ihrer Unkirchlichkeit vor den
Schülern Luft zu machen. Brachten sie es ja
auch in der That dahin, daß immer Wenigere von
den Jünglingen sich dem geistl. Stande zuwende-
ten. Das Alles hat seine Früchte getragen: und
soll es vom Grund aus besser werden, so sorget,
daß unsere Schulen wieder christliche werden. Und
damit dieses geschehe, so gebt derselben den ihr
gebührenden Einfluß wieder. Und ferner sprachen
die Vertreter des Christenthums: Jhr klagt die
Familien an, und nehmet mit Betrübniß wahr,
daß in denselben der alte Glaube und seine Kraft,
daß Zucht und strenge Sitte, daß Einfachheit und
Genügsamkeit abhanden gekommen. Wenn die
Familien zerfallen, sagt ihr, wie können die Staa-
ten bestehen? Ganz richtig. Allein wer trägt die
Schuld dieses Verfalles? -- Wie lange schon
durfte der Unglaube, der Jndifferentismus, die
Kirchenfeindlichkeit, die sittliche Frivolität, der
Grundsatz der Emanzipation des Fleisches ec. durch
die Presse in allen Weisen für sich wirken? Die
Bücher und Tagblätter dieser Richtung lagen
in allen Museen auf und drängten sich bald in
alle Familien. Selbst das niedrigste Schmutzblatt
suchte sich pikant zu machen durch irgend einen
Ausfall auf Religion und altväterliche Sitte. Sogar
durch Volkskalender wurde das Gift verbreitet. Und
wer das ganze Jahr kein Blatt der hl. Schrift
las und keine Predigt hörte, las diese Schriften,
und war froh, der Furcht vor Gott und des un-
liebsamen Pedantismus des Gewissens hierdurch
los zu werden. Man nannte das Fortschritt, und
Keiner fühlte ein Jnteresse, hinter der Fortschrei-
tenden Zeit zurückzubleiben. Aber das war radi-
cale Auflösung der Fundamente aller sozialen und
sittlichen Ordnung. Wer nun hätte dem furcht-
baren Uebel entgegentreten können und sollen? --
Die Regierungen sagen, wir konnten nicht: die
Presse war frei. Es sei dies dahingestellt! Es
ließe sich darüber Vieles reden. Jedenfalls aber
war die Kirche und Schule es, welche entgegen-
treten konnte und sollte. Jn der That wurden
diese Greuellehren in den Schulen von den unbe-
fangenen Gemüthern der Zöglinge entlarvt und
die Jugend aller Klassen und Orte vor solch
ruchlosem Getrieb mit Abscheu erfüllt; und wur-
den diese Greuellehren von der Geistlichkeit in
Wort und Schrift bekämpft, und ward ihre Schrift
durch die Familien verbreitet und ihr Wort in
Predigt, Christenlehre, Beicht, überhaupt aller Or-
ten mit Anstrengung und Ausdauer geltend ge-
macht, führwahr, dann mochten manch Einzelne
dem bösen Geiste sich hingeben, die Massen aber
blieben frei, ja wurden durch den Gegensatz mit
dem Versucher in Glaube und Tugend nur desto
fester. Allein, sagten die Vertreter und Spre-
cher des Christenthums, die Geistlichkeit und
das Lehrerpersonal, wie es aus eurer Hand her-
vorgegangen, war dieser Aufgabe im Ganzen nicht
gewachsen. Zudem habt ihr die antikirchliche Presse
frei gegeben und Reklamationen gegen sie drangen
nicht durch, die kirchliche Presse dagegen habt ihr
überwacht und beengt. Ebenso habt ihr das freie
Wort überall zügellos gewähren lassen, aber ob
auch in der Kirche? Wo wäre es z. B. noch vor
zwei Jahren denkbar gewesen, daß Missionen statt
fänden, und in großem Maßstab auf die Massen
und deren christliche Orientirung wirkten? --
-- Gebt uns also Freiheit. Gebt der Kirche
Freiheit in Beidem -- in Wort und Schrift. --
Und weiter sprachen die Vertreter des Christen-
thums: Niemano kann auf Erden einen Zweck errei-
chen ohne materielle Mittel. Die Kirche besitzt, trotz
ungehenrer Verluste, diese Mittel; aber sie hat
keinen Theil an deren Verwaltung, und verfügt
nicht über deren Verwendung. Was sie als gut,
ja was sie als nothwendig erkennt, vermag sie
nicht auszuführen, sobald ihr die Mittel, welche
ihr an euch genommen, versagen zu wollen glaubt.
Und wo die Mittel auch gewährt werden,
ist nicht die Kirche es, welche dieselben ge-
währt und verwendet, sondern ihr. Nun ist es
aber eben so unnatürlich als beeinträchtigend, wenn
die Kirche die Erfüllung ihrer Zwecke dem Ermessen,
dem Belieben -- dem guten Willen Dritter soll zu
verdanken haben. Und es ist eben so unnatürlich als
entwürdigend, wenn das, was sie zu geben hat,
bei Dritten erhoben werden muß. Wer in der Welt
nichts geben und nichts entziehen kann, ist ohne
Ansehen, und in dem Maße seiner Ansehenslosigkeit
-- namentlich auf Disciplin ohne Einfluß. Gebt
uns also im Jnteresse der Sache, und im Jnteresse
des kirchlichen Ansehens die Kirchengüter zur
Verwaltung und Verwendung wenigstens soweit
als es jene Sache und dieses Jnteresse fordert.
Ueberhaupt ( und darin faßten die Vertreter und
Sprecher des Christenthums, und der Kirche als
der Bewahrerin desselben, ihre Forderungen und
Erwartungen zusammen ) überhaupt, gebt der Kirche
jene Selbstständigkeit zurück, ohne welche sie nicht
lebendig wirken, und jenen Einfluß auf Glauben und
Leben der Völker nicht üben kann, welchen sie als Hü-
terin und Pflegerin des großen Völkerbildungsinstituts,
-- des Christenthums -- zu üben die Mission hat.
Verkümmert ihre Sendung nicht! Diese und ähn-
liche Reden und Vorstelungen der Vertreter und
Sprecher der Kirche wurden gewürdigt, und ihre
Wahrheit anerkannt. Die beiden Großstaaten
Deutschlands -- Oesterreich und Preußen -- ga-
ben der Kirche ( wenigstens der katholischen ) eine
genügende Selbstständigkeit zurück, vertrauend, daß
dieselbe die ihr gewährte Freiheit treu und weise
gebrauchen, die Tugend der Väter wieder erwecken,
und damit der gesellschaftlichen Ordnung und
Wohlfahrt ihre feste und einzig ausreichende Stütze
geben werde. Es waren sicher nicht die in Frank-
furt stipulirten Grundrechte ( so sehr auch die
Freiheit des religiösen Bekenntnisses zu den
Grundrechten gehört ) , es war nicht die in
Frankfurt ausgesprochene Kirchenfreiheit, was die
Großstaaten bewog, der Kirche Freiheit zu geben,
es war vielmehr die Ueberzeugung, daß die Kirche
nur im Stande der Freiheit dem Staate das wer-
den und sein könne, was sie soll. ( Schluß f. )