Die deutschen Auswanderungen im neunzehnten Jahrhundert
und deren Ursachen,
so wie Entwickelung des Einflusses, welchen dieselben auf die Lage und Sitten der Bewohner Deutschlands gehabt haben,
von
Friedrich Müller,
Königlich Hannoverschem Revierförster, Mitglied der Westfälischen Gesellschaft zur Verbreitung vaterländischer Cultur
und Mitglied des historischen Vereins für Nieder = Sachsen.
Einleitung.
Aeltere Volks - Verhältnisse.
Der große Strom deutscher Völker, welcher im Laufe
der neueren Zeit seine Richtung nach Nordamerika nimmt,
liefert wieder den geschichtlichen Beweis, daß sowohl im
Leben der Nationen, wie in dem einzelner Menschen, alles
im Kreislaufe sich dreht, und kein Ereigniß auf die Bühne
der Welt tritt, von dem nicht die Anklänge schon in dem
Raume verflossener Jahrhunderte liegen.
So weit wir im Stande sind, unsere Blicke rückwärts
zu leiten in die dunklen Wälder des alten Deutschlands, eben
so oft schauen wir auf die großen Bewegungen, auf die Un-
ruhen der Völker, auf das immerwährende Wogen und Drän-
gen derselben, auf das Wandern und Ziehen einzelner Stämme,
wie auf den unermeßlichen Strom ganzer Nationen, der un-
aufhaltsam sich über ganze Reiche ergoß, und unter seinen
aufgewühlten Wellen alles begrub, was sich ihm entgegensetzte.
Die alten Throne erzitterten und brachen unter der Last einer
andern, der Gothen und Vandalen, die Deutschland über-
schwemmten; nach ihnen kamen die Hunnen, deren Erscheinen
für ganz Europa das Signal einer allgemeinen und großen
Völkerbewegung ward. Mehre Jahrhunderte hindurch währ-
ten die schrecklichen Züge, denen sich die Slaven anreihten,
um in Deutschland von dem Wohnsitze älterer Bewohner diese
zu verdrängen und sich selbst darauf niederzulassen; mit Feuer
und Schwerdt vertilgten die Ströme wilder Varbaren die hei-
mischen Stämme, deren Loos Unterwerfung oder Tod war,
und so bildeten sich nach und nach durch die deutschen Gauen
die Reiche der Sachsen, Friesen, Thüringer und Bayern,
das ganze weite Land einnehmend, von dem Gestade des deut-
schen Meeres bis zu den höhenumkränzten Ufern der Ober-
Donau; von den fruchtreichen Geländen des Rheins, bis zu
den kalten Strecken der Sarmaten und Wenden. So zogen die alt = germanischen Völker, um zu erobern, aus der
deutschen Heimath, sich andere Wohnsitze aufsuchend, und damals, in den älte-
sten Zeiten der Völker=Wanderungen, war es der Westen und Süden, Jtalien,
Gallien, Spanien, Afrika, selbst das nordische Jsland, wohin die großartigen
Züge gingen.
Nicht lange bestand, was einmal der Völkerbewegung
anheim gefallen war; tief im Gemüthe der deutschen Stämme
ruhte die Sucht nach Wanderung, und die kühnen Angeln und
Sachsen zogen nach Britannien, um dort zu siegen und Besitz
zu erwerben, Reiche zu gründen und um für immer auf jener
Jnsel sächsisches Blut zu lassen. Bald wälzten die Franken
in unaufhörlichen Zügen wieder über den Rhein und mischten
sich mit den Deutschen, nach langen Kriegen, vielen Kämpfen
und gräulichem Blutvergießen; mit ihnen zog aber auch der
Glaube des Welterlösers in die deutschen Länder und begann
neues Leben, neues Wirken nach und nach segensreich zu be-
reiten und eine andere Volksbildung zu schaffen.
So haben die nordischen Wanderungen zwar eine allge-
meine Erschütterung in Germanien hervorgebracht; so haben
die fränkischen Einzüge den Christenglauben endlich als des
Sieges Palme gestiftet; so sind neue Menschen, neue Rechte,
Gewohnheiten, Sitten, Verfassungen, Gesetze, Sprachen
und Staaten in Deutschland einheimisch geworden; so sind
einzelne, früher unbekannte Völker durch Waffen, Geist und
Handel die Lenker des Erdkreises geworden, deren Väter in
den namenlosen Steppen am Ufer der Wolga vielleicht ihre
Rosse tränkten.
Einige Jahrhunderte hindurch, nachdem das Staaten-
wesen durch das Christenthum sich ausgebildet hatte, und die
Kaiser aus sächsischen und fränkischen Geschlechtern die Häup-
ter Deutschlands bildeten, fanden die Wanderungen eine Ab-
leitung in den häufigen Zügen über die Alpen und gen Rom,
die sich unter jedem Reichsoberhaupte erneuten und die mittel-
alterliche Sucht nach Abenteuern, nach entfernten Ländern
genoß in diesen Römerzügen wenigstens einige Befriedigung.
Dann aber erscholl der Ruf um das verlorne Grab des Hei-
lands von Stadt zu Stadt, von Burg zu Burg, von Gau
zu Gau durch Deutschland und alles, Ritter und Prälaten,
Pilger und Landleute, Krieger und Bürgersleute, ward ent-
flammt, und eine großartige Wanderung der deutschen Völker
durch die Kreuzzüge währte ein paar Jahrhunderte. Ganze
Niederlassungen, Reiche sogar würden sich dort im gelobten
Lande, im entfernten Theile Klein=Asiens, gebildet haben
für die Dauer, wenn nicht der Sarazenen Schwerdter so sieg-
reich gegen die Christen gewesen wären. Nach solchen großartigen Wanderungen in den Orient, wie vermochten
es die Deutschen, lange Zeit ruhig zu sitzen? Neue Züge wurden nun in die
Slavenländer unternommen, und Preußen, Litthauen und Siebenbürgen von
deutschen Kämpfern und Auswanderern überschwemmt in langjähriger Ausdehnung,
und noch finden sich in Cur = und Liefland unzählige adelige Geschlechter aus
jenen Zeiten ritterlicher Kämpfe und deutscher Wanderungen, deren Namen
ächt deutsch, und gleich mit denen vieler Niedersächfischer und Süddeutscher
Edlen sind.
Lange Jahrhunderte darauf ward Deutschland von ähn-
lichen Völkerwanderungen verschont, indem im Mittelalter
zu viele innere Bewegung im Reiche jeden Trieb nach Außen
unterdrückt hielt; dennoch würde vielleicht in der Folgezeit ein
Drang nach irgend einer Ferne sich gebildet haben, wenn nicht
ein ungeheurer Volkssturm sich über die Länder deutscher Zunge
dadurch erhoben hätte, daß daß die Kirchen = Reformation
das Land bis in seinen Angeln auf hundert Jahre erschüttert
hätte. Diese allgemeine Bewegung der Geister entbrannte zu-
letzt in einem dreißig Jahre langen, verheerenden Kriege, der
alle Theile Deutschlands gegen einander trieb, seine Volks-
stämme in unaufhörlicher Unruhe erhielt, und das ganze Reich
derartig erschöpfte, daß ein Jahrhundert dazu gehörte, die
verlornen Kräfte wieder zu sammeln.
Eine allgemeine Erschütterung Deutschlands erfolgte erst
wieder durch den Einbruch der französischen Heere, und dann
ein bis jetzt noch dauernder Frieden.
So haben sich also für dieses Land von jeher großartige
Volksbewegungen und Wanderungen, in Zwischenräumen
einiger Jahrhunderte stets gezeigt, woran seine Lage, die Mitte
Europa's, der Geist der Nation, der Volks = Character die
tiefliegende Veranlassung waren. So sehr Standhaftigkeit
und Ausdauer, Treue und Vaterlandsliebe, Ruhe und Be-
sonnenheit den deutschen Mann vor vielen andern auszeichnen,
eben so sehr ist es auch nicht zu verkennen, daß ein Drang
nach Abenteuern, ein Streben nach dem Fremden ihm inne
wohnen, und selbst die immerwährenden Wanderungen der
deutschen Handwerksburschen liefern hierzu den Beweis, in-
dem bei anderen Nationen Aehnliches nicht vorkommt. Nur darin unterscheiden sich die neueren Auswanderungen sehr von
denen der älteren Zeiten, daß der Deutsche aus den geringern Volksclassen jetzt
meistens nur die Heimath verläßt, um in der demüthigen Gestalt als Ar-
beiter, wohl gar als Bettler, der Knecht der Welt zu werden; wogegen in
den frühern Jahrhunderten der Deutsche ruhmvoll mit dem Schwerdte in der
Hand fortzog, als Held und Eroberer auftrat und durch seine Oberherrschaft
den fremden Ländern deutsche Sitten und deutsches Wesen brachte. Nur die
allerneuste Zeit sieht auch den Gelehrten, den jungen Handelsmann, den Künst-
ler, den gebildeten Handwerker fortziehen, -- Stände, die ihre deutsche Eigen-
thümlichkeit zu bewahren wissen werden, und so nimmt gerade jetzt in den
1840ger Jahren die deutsche Auswanderung einen edlern und höhern Cha-
rakter an, und berechtigt auch für das Mutterland zu einstigen schönen Hoffnungen!
Die neueren Bustände.
Nach den Kämpfen mit Frankreich, wobei Deutschland wieder
eine Völkerwanderung gesehen, indem die Stämme Asiens und der
russischen Steppen seine Gauen durchzogen, lagerte sich endlich der
Frieden über Stadt und Land, und die alte Ordnung des Reiches
gestützt auf neue Grundlagen verhieß die langersehnte Volksruhe.
Auf dem Congresse zu Wien befestigten die deutschen Herrscher
ein neues Staatenband unter sich, und setzten unter andern fest,
daß den Unterthanen der Bundesländer die Auswanderung er-
laubt sei.
Hierbei hatten die Regierungen zunächst wohl nur die Wan-
derungen von einem Bundeslande zum andern im Sinne, und
dachten nicht der großen Folgen, welche sich hieraus, aus diesem
Artikel der Wiener Congreß = Acte, entwickeln könnten. Die
Menschen geben die Gesetze; in einer höheren Hand aber liegt
die freie Entwicklung der Völker, und was der Augenblick mit
Zweifel und Mißtrauen anschaut, ruht im Raume der Zukunft
als die Nothwendigkeit zu einem großen geschichtlichen Ereignisse:
so auch gab die Bundes = Acte die freie Wahl der Wanderung,
nicht ahnend, daß dreißig Jahre nachher dadurch germanische
Sitten und Gebräuche, deutsche Rechte und Gewohnheiten jenseits
des atlantischen Weltmeers, am fernen Mississippi und Ohio,
am Missouri und Hudson, in den Urwäldern Nordamerika's
einheimisch werden sollten.
Nach dem Pariser Frieden aber bethätigte sich in Deutsch-
land ein ganz anderer Volksgeist. Seit langen Jahren hatten
die dortigen Landesregierungen schon für eine allgemeine Bildung
die sorgfältigste Pflege geübt; durch vortreffliche Schulen gelangte
der niedere Stand zu einer vernünftigen Anschauung der Dinge
und zur klaren Einsicht, zum vorurtheilsfreien Denken; dem Bür-
ger boten Gymnasien und Lyceen, Gewerbschulen und die mannich-
faltigsten Anstalten die vielfachste Gelegenheit, sich die klarsten
Kenntnisse zu erwerben; den höheren Ständen öffneten Akademien
und Universitäten die tiefsten Blicke in das unermeßliche Reich
des Wissens und der Gelehrsamkeit, und so hatte sich über Deutsch-
land eine Volksbildung ausgebreitet, in welcher dasselbe von keinem
Lande übertroffen wird.
Alles aber, was derselben dienlich sein konnte, hatte sich
auch dargeboten; war es auf der einen Seite der gute, klare
Verstand -- nicht südlich sprudelnd und leicht, nicht nördlich kalt
und stumpf -- der den Deutschen beseelt; so traten auf der andern
der rege beste Wille und die trefflichsten Anleitungen der Landes-
regierungen befördernd und helfend entgegen und scheuten die Opfer
nicht, wohlwissend, daß Bildung und Einsicht die Erfüllung und
Erkennung der Pflichten gegen die Bande des Staats mit zur
Folge haben. Waren es ferner auf der einen Seite des Friedens
Segnungen, die sich wohlthätig über Deutschland breiteten; so
hatten auf der andern dieselben zum Gefolge einen Aufschwung
im Handel und in den Gewerben, in den Wissenschaften und in
den Erfindungen eine solche Höhe hervorgerufen, daß mit Leich-
tigkeit Presse und Dampf die Producte des Geistes verbreiteten,
und auf diese Weise sich Alles vereint, was dazu beitragen kann,
ein gesundes Wissen mit klarer Einsicht zu paaren, und so die
Volksbildung auf einen erhabenen Standpunkt zu bringen. Schrif-
ten und Abbildungen, die sonst nur einen mühsamen Weg in die
Studirstube einzelner Gelehrten fanden, oder in Prachtbänden
auf Landgütern und Schlössern unbenutzt in verschlossenen Glas-
schränken prangten, liest man jetzt in den Stuben der Handwerker
und in den Häusern der Bauern, und so wird, befördert durch
Wohlfeilheit und rasche Verbreitung, eine unendliche, eine namen-
lose Masse von Wissen über das Volk gebracht. Was ehemals
über Erfindungen und Entdeckungen, über Länder = und Völker-
kunde, über die Wunder tropischer Gegenden, in fabelhaften Sagen
und vergrößernden Erzählungen, sich meistens nur mündlich über-
trug und oft die irrigsten Vorstellungen verbreitete, ruht jetzt
durch Schnellpresse und Steindruck, in Schrift und Bild, in der
Hand des einfachsten Mannes und gibt ihm Kunde von dem-
jenigen, was er früher nicht einmal ahnete, wovon ihm jede
Vorstellung fehlte, und läßt ihn einen Blick dorthin werfen, wo
umrankt von Lignanen der Urwälder stolze Pracht des Bodens
Reinheit und Frische bewahrt haben, unter den kräftigsten Ein-
flüssen einer noch jugendlichen Riesennatur. Der einfache, deutsche
Landwirth liest, staunt, prüft und wiegt gedankenvoll das Haupt,
durchblitzt von aufdämmernden Lebensbildern einer sorgenfreiern
Zukunft!
Mit dem Pariser Frieden entfesselten sich die Meere. Der
vergebliche Kampf, den Frankreichs Kaiser mit Albion um die
Herrschaft der See geführt, war dadurch beendigt, und die Poly-
penarme, welche die britische Flotte um den Continent Curopas
schlang, zogen sich nach und nach zurück; der Nebelschleier lichtete
sich und jenseits des Oceans her strahlte das jungfräuliche Bild
Nordamerika's, umwallt von seinem sternenbesäeten Banner,
thronend auf Freiheit und Recht.
Während Deutschland in den Banden französischer Zwing-
herrschaft lag, war über Amerikas Norden im reinsten Glanze
die Morgenröthe einer schönen Zukunft aufgegangen, und staunend
sah das mittlere Europa diesen Phönix emporsteigen, von dessen
Dasein ihm die genaue Kunde gemangelt, indem jede Nachricht
seewärts abgehalten worden war durch die Continentalsperre. Daß
die Vereinigten Staaten mit Heldenmuth sich von England frei-
gefochten, daß in jugendlicher Entwicklung diese weiten, uner-
meßlichen Länder fröhlich aufgeblüht, dieses wußte man im deut-
schen Volke; daß aber mit wahrem Riesenschwunge dort Häfen,
Städte, Canäle, Chausseen, Landgüter und die Bodencultur einen
solchen außerordentlichen Schwung genommen, wovon die Welt-
geschichte bisher kein Beispiel gezeigt; daß Amerikas Handel durch
alle Meere gehe, seine Flaggen an allen Küsten wehen, daß dort
keine Abgaben und Steuern den freien, innern Verkehr hemmen,
den Grund und Boden keine Lasten drücken und die Personen
selbst vom Schatze frei seien; daß der Millionair dort, gleich dem
Taglöhner, der reiche Kaufmann, wie der Farmer und Bieber-
fänger nur als Bürger, ohne Vorzug und Vorrecht, gelte: --
dieses Alles erfuhr man erst im deutschen Volke, als die Kriege
Europas im Jnnern beendigt waren, und die ersten Wünsche, die
ersten Blicke flogen nach dem Lande hinüber, wo Washington's
Muth für die Freiheit gekämpft, Franklin's Weisheit solche
befestigt hatte.
Die Auswanderungen, welche zwar in den beiden vorher-
gehenden Jahrhunderten schon begonnen hatten, nahmen von nun
an einen ganz andern Charakter an. Voll Hoffnung für eine
neue, bessere Zukunft steuerten die Deutschen durch das Nordmeer,
und den Canal, der Frankreich und England von einander trennt,
der unermeßliche atlantische Ocean ward durchsegelt, um jenseits
desselben das Land der aufblühenden Freiheit jubelnd zu begrüßen.
Mit Wehmuth sahen wir die ersten Auswanderer unserer Zeit
von dem deutschen, vaterländischen Boden scheiden und eine zweite
Heimath suchen, die gastlich die Arme ausbreitet, die Kommen-
den zu empfangen und dereinst reichlich zu ernähren. Man ahnte
nicht, welche große Zukunft für spätere Zeiten dahinter verborgen
liege!
Fassen wir die Auswanderungen selbst jetzt näher ins Auge,
so weit solche den germanischen Boden betreffen.
( Fortsetzung folgt. )