Zarathustra's Vorrede.
I.
Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er
seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in
das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner
Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.
Endlich aber verwandelte sich sein Herz, — und eines
Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor
die Sonne hin und sprach zu ihr also:
„Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn
du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!
Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle:
du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt ge¬
worden sein, ohne mich, meinen Adler und meine
Schlange.
Aber wir warteten deiner an jedem Morgen,
nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich
dafür.
Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie
die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich
bedarf der Hände, die sich ausstrecken.
Ich möchte verschenken und austheilen, bis die
Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer
Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reich¬
thums froh geworden sind.
Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des
Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch
der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!
Ich muss, gleich dir, untergehen, wie die Men¬
schen es nennen, zu denen ich hinab will.
So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne
Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann!
Segne den Becher, welcher überfliessen will, dass
das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin
den Abglanz deiner Wonne trage!
Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden,
und Zarathustra will wieder Mensch werden.“
— Also begann Zarathustra's Untergang.
2.
Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und
Niemand begegnete ihm. Als er aber in die Wälder
kam, stand auf einmal ein Greis vor ihm, der seine
heilige Hütte verlassen hatte, um Wurzeln im Walde
zu suchen. Und also sprach der Greis zu Zarathustra:
Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchem
Jahre gieng er hier vorbei. Zarathustra hiess er; aber
er hat sich verwandelt.
Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst
du heute dein Feuer in die Thäler tragen? Fürchtest
du nicht des Brandstifters Strafen?
Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge,
und an seinem Munde birgt sich kein Ekel. Geht er
nicht daher wie ein Tänzer?
Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zara¬
thustra, ein Erwachter ist Zarathustra: was willst du
nun bei den Schlafenden?
Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und
das Meer trug dich. Wehe, du willst an's Land steigen?
Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?
Zarathustra antwortete: „Ich liebe die Menschen.“
Warum, sagte der Heilige, gieng ich doch in den
Wald und die Einöde? War es nicht, weil ich die
Menschen allzu sehr liebte?
Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht.
Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache.
Liebe zum Menschen würde mich umbringen.
Zarathustra antwortete: „Was sprach ich von
Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.“
Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm
ihnen lieber Etwas ab und trage es mit ihnen — das
wird ihnen am wohlsten thun: wenn es dir nur wohl¬
thut!
Und willst du ihnen geben, so gieb nicht mehr,
als ein Almosen, und lass sie noch darum betteln!
„Nein, antwortete Zarathustra, ich gebe kein Al¬
mosen. Dazu bin ich nicht arm genug.“
Der Heilige lachte über Zarathustra und sprach
also: So sieh zu, dass sie deine Schätze annehmen!
Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben
nicht, dass wir kommen, um zu schenken.
Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch
die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten
einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne auf¬
steht, so fragen sie sich wohl: wohin will der
Dieb?
Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde!
Gehe lieber noch zu den Thieren! Warum willst du
nicht sein, wie ich, — ein Bär unter Bären, ein Vogel
unter Vögeln?
„Und was macht der Heilige im Walde?“ fragte
Zarathustra.
Der Heilige antwortete: Ich mache Lieder und
singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine
und brumme ich: also lobe ich Gott.
Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe
ich den Gott, der mein Gott ist. Doch was bringst
du uns zum Geschenke?
Als Zarathustra diese Worte gehört hatte, grüsste
er den Heiligen und sprach: „Was hätte ich euch zu
geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch
Nichts nehme!“ — Und so trennten sie sich von ein¬
ander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie
zwei Knaben lachen.
Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu
seinem Herzen: „Sollte es denn möglich sein! Dieser
alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon
gehört, dass Gott todt ist!“ —
3.
Als Zarathustra in die nächste Stadt kam, die an
den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk ver¬
sammelt auf dem Markte: denn es war verheissen
worden, dass man einen Seiltänzer sehen solle. Und
Zarathustra sprach also zum Volke:
Ich lehre euch den Übermenschen. Der
Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was
habt ihr gethan, ihn zu überwinden?
Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hin¬
aus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein
und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Men¬
schen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Ge¬
lächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas
soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Ge¬
lächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen
gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst
wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch
mehr Affe, als irgend ein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch
nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von
Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder
Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer
Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der
Erde!
Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der
Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von
überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es,
ob sie es wissen oder nicht.
Verächter des Lebens sind es, Absterbende und
selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen
sie dahinfahren!
Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel,
aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevel¬
haften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furcht¬
barste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher
zu achten, als den Sinn der Erde!
Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib:
und damals war diese Verachtung das Höchste: — sie
wollte ihn mager, grässlich, verhungert. So dachte
sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.
Oh diese Seele war selber noch mager, grässlich
und verhungert: und Grausamkeit war die Wollust
dieser Seele!
Aber auch ihr noch, meine Brüder, sprecht mir:
was kündet euer Leib von eurer Seele? Ist eure
Seele nicht Armuth und Schmutz und ein erbärmliches
Behagen?
Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch.
Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen
Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden.
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der
ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung
untergehn.
Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das
ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde,
in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und eben¬
so eure Vernunft und eure Tugend.
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meinem
Glücke! Es ist Armuth und Schmutz, und ein erbärm¬
liches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein
selber rechtfertigen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner
Vernunft! Begehrt sie nach Wissen wie der Löwe
nach seiner Nahrung? Sie ist Armuth und Schmutz
und ein erbärmliches Behagen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner
Tugend! Noch hat sie mich nicht rasen gemacht. Wie
müde bin ich meines Guten und meines Bösen! Alles das
ist Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meiner
Gerechtigkeit! Ich sehe nicht, dass ich Gluth und
Kohle wäre. Aber der Gerechte ist Gluth und Kohle!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was liegt an meinem
Mitleiden! Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das Der
genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein
Mitleiden ist keine Kreuzigung.“
Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach,
dass ich euch schon so schreien gehört hätte!
Nicht eure Sünde — eure Genügsamkeit schreit
gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde schreit
gen Himmel!
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge
lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft
werden müsstet?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist
dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn! —
Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer
aus dem Volke: „Wir hörten nun genug von dem Seil¬
tänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!“ Und alles
Volk lachte über Zarathustra. Der Seiltänzer aber,
welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte
sich an sein Werk.
4.
Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte
sich. Dann sprach er also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier
und Übermensch, — ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-
dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefähr¬
liches Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine
Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann
am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und
ein Untergang ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei
denn als Untergehende, denn es sind die Hinüber¬
gehenden.
Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die
grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht
nach dem andern Ufer.
Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen
einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein:
sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst
des Übermenschen werde.
Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne,
und welcher erkennen will, damit einst der Über¬
mensch lebe. Und so will er seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass
er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm
Erde, Thier und Pflanze vorbereite: denn so will er
seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn
Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der
Sehnsucht.
Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist für
sich zurückbehält, sondern ganz der Geist seiner Tugend
sein will: so schreitet er als Geist über die Brücke.
Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen
Hang und sein Verhängniss macht: so will er um seiner
Tugend willen noch leben und nicht mehr leben.
Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden
haben will. Eine Tugend ist mehr Tugend, als zwei,
weil sie mehr Knoten ist, an den sich das Verhäng¬
niss hängt.
Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der
nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn
er schenkt immer und will sich nicht bewahren.
Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der
Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt:
bin ich denn ein falscher Spieler? — denn er will zu
Grunde gehen.
Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten
voraus wirft und immer noch mehr hält, als er ver¬
spricht: denn er will seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt
und die Vergangenen erlöst: denn er will an den
Gegenwärtigen zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, welcher seinen Gott züchtigt, weil
er seinen Gott liebt: denn er muss am Zorne seines
Gottes zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der
Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu
Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke.
Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass
er sich selber vergisst, und alle Dinge in ihm sind:
so werden alle Dinge sein Untergang.
Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzens
ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines Herzens,
sein Herz aber treibt ihn zum Untergang.
Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen
sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über
den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz
kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde.
Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein
schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber
heisst Übermensch. —
5.
Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte,
sahe er wieder das Volk an und schwieg. „Da stehen
sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie: sie
verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese
Ohren.
Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass
sie lernen, mit den Augen hören? Muss man rasseln
gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie
nur dem Stammelnden?
Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen
sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's,
es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.
Drum hören sie ungern von sich das Wort „Ver¬
achtung“. So will ich denn zu ihrem Stolze reden.
So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen:
das aber ist der letzte Mensch.“
Und also sprach Zarathustra zum Volke:
Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel
stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim
seiner höchsten Hoffnung pflanze.
Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber
dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein
hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht
mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen
hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt
hat, zu schwirren!
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich
sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen
Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit
des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht
mehr verachten kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist
Sehnsucht? Was ist Stern?“ — so fragt der letzte
Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr
hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein
Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte
Mensch lebt am längsten.
„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die
letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart
war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt
noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man
braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen
sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der
noch über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme
Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen
Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unter¬
haltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung
nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist
zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch
gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche,
Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in's
Irrenhaus.
„Ehemals war alle Welt irre“ — sagen die Feinsten
und blinzeln.
Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist:
so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich
noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt
es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein
Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.
„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die
letzten Menschen und blinzeln. —
Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche
man auch „die Vorrede“ heisst: denn an dieser Stelle
unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge.
„Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, —
so riefen sie — mache uns zu diesen letzten Menschen!
So schenken wir dir den Übermenschen!“ Und alles
Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra
aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:
Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund
für diese Ohren.
Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte
ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich ihnen gleich
den Ziegenhirten.
Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Ge¬
birge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt
und ein Spötter in furchtbaren Spässen.
Und nun blicken sie mich an und lachen: und
indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in
ihrem Lachen.
6.
Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm
und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich
hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus
2
einer kleinen Thür hinausgetreten und gieng über das
Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war‚
also, dass es über dem Markte und dem Volke hieng.
Als er eben in der Mitte seines Weges war, öffnete
sich die kleine Thür noch einmal, und ein bunter Ge¬
sell, einem Possenreisser gleich, sprang heraus und
gieng mit schnellen Schritten dem Ersten nach. „Vor¬
wärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme, vor¬
wärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass
ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst
du hier zwischen Thürmen? In den Thurm gehörst
du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du
bist, sperrst du die freie Bahn!“ — Und mit jedem
Worte kam er ihm näher und näher: als er aber nur
noch einen Schritt hinter ihm war, da geschah das
Erschreckliche, das jeden Mund stumm und jedes Auge
starr machte: — er stiess ein Geschrei aus wie ein
Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege
war. Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen
sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine
Stange weg und schoss schneller als diese, wie ein
Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe. Der
Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm
hineinfährt: Alles floh aus einander und übereinander‚
und am meisten dort, wo der Körper niederschlagen
musste.
Zarathustra aber blieb stehen, und gerade neben
ihn fiel der Körper hin, übel zugerichtet und zer¬
brochen, aber noch nicht todt. Nach einer Weile kam
dem Zerschmetterten das Bewusstsein zurück, und er
sah Zarathustra neben sich knieen. „Was machst du
da? sagte er endlich, ich wusste es lange, dass mir
der Teufel ein Bein stellen werde. Nun schleppt er
mich zur Hölle: willst du's ihm wehren?“
„Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra,
das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt
keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird
noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun
Nichts mehr!“
Der Mann blickte misstrauisch auf. „Wenn du
die Wahrheit sprichst, sagte er dann, so verliere ich
Nichts, wenn ich das Leben verliere. Ich bin nicht
viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat,
durch Schläge und schmale Bissen.“
„Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der
Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu
verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde:
dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.“
Als Zarathustra diess gesagt hatte, antwortete der
Sterbende nicht mehr; aber er bewegte die Hand,
wie als ob er die Hand Zarathustra's zum Danke
suche. —
7.
Inzwischen kam der Abend, und der Markt barg
sich in Dunkelheit: da verlief sich das Volk, denn
selbst Neugierde und Schrecken werden müde. Zara¬
thustra aber sass neben dem Todten auf der Erde und
war in Gedanken versunken: so vergass er die Zeit.
2 *
Endlich aber wurde es Nacht, und ein kalter Wind
blies über den Einsamen. Da erhob sich Zarathustra
und sagte zu seinem Herzen:
Wahrlich, einen schönen Fischfang that heute
Zarathustra! Keinen Menschen fieng er, wohl aber
einen Leichnam.
Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer
noch ohne Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum Ver¬
hängniss werden.
Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren:
welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen
Wolke Mensch.
Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn
redet nicht zu ihren Sinnen. Eine Mitte bin ich noch
den Menschen zwischen einem Narren und einem
Leichnam.
Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege
Zarathustra's. Komm, du kalter und steifer Gefährte!
Ich trage dich dorthin, wo ich dich mit meinen Händen
begrabe.
8.
Als ZarathustrasZarathustra diess zu seinem Herzen gesagt
hatte, lud er den Leichnam auf seinen Rücken und
machte sich auf den Weg. Und noch nicht war er
hundert Schritte gegangen, da schlich ein Mensch an
ihn heran und flüsterte ihm in's Ohr — und siehe!
Der, welcher redete, war der Possenreisser vom Thurme.
„Geh weg von dieser Stadt, oh Zarathustra, sprach er;
es hassen dich hier zu Viele. Es hassen dich die
Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind
und Verächter; es hassen dich die Gläubigen des
rechten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr
der Menge. Dein Glück war es, dass man über dich
lachte: und wahrlich, du redetest gleich einem Possen¬
reisser. Dein Glück war es, dass du dich dem todten
Hunde geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast
du dich selber für heute errettet. Geh aber fort
aus dieser Stadt — oder morgen springe ich über
dich hinweg, ein Lebendiger über einen Todten.“ Und
als er diess gesagt hatte, verschwand der Mensch;
Zarathustra aber gieng weiter durch die dunklen
Gassen.
Am Thore der Stadt begegneten ihm die Todten¬
gräber: sie leuchteten ihm mit der Fackel in's Gesicht,
erkannten Zarathustra und spotteten sehr über ihn.
„Zarathustra trägt den todten Hund davon: brav, dass
Zarathustra zum Todtengräber wurde! Denn unsere
Hände sind zu reinlich für diesen Braten. Will Zara¬
thustra wohl dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun
wohlan! Und gut Glück zur Mahlzeit! Wenn nur
nicht der Teufel ein besserer Dieb ist, als Zarathu¬
stra! — er stiehlt sie Beide, er frisst sie Beide!“
Und sie lachten mit einander und steckten die Köpfe
zusammen.
Zarathustra sagte dazu kein Wort und gieng seines
Weges. Als er zwei Stunden gegangen war, an
Wäldern und Sümpfen vorbei, da hatte er zu viel das
hungrige Geheul der Wölfe gehört, und ihm selber
kam der Hunger. So blieb er an einem einsamen
Hause stehn, in dem ein Licht brannte.
Der Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra,
wie ein Räuber. In Wäldern und Sümpfen überfällt
mich mein Hunger und in tiefer Nacht.
Wunderliche Launen hat mein Hunger. Oft
kommt er mir erst nach der Mahlzeit, und heute kam
er den ganzen Tag nicht: wo weilte er doch?
Und damit schlug Zarathustra an das Thor des
Hauses. Ein alter Mann erschien; er trug das Licht
und fragte: „Wer kommt zu mir und zu meinem
schlimmen Schlafe?“
„Ein Lebendiger und ein Todter, sagte Zarathustra.
Gebt mir zu essen und zu trinken, ich vergass es
am Tage. Der, welcher den Hungrigen speiset, er¬
quickt seine eigene Seele: so spricht die Weisheit.“
Der Alte gieng fort, kam aber gleich zurück und
bot Zarathustra Brod und Wein. „Eine böse Gegend
ist's für Hungernde, sagte er; darum wohne ich hier.
Thier und Mensch kommen zu mir, dem Einsiedler.
Aber heisse auch deinen Gefährten essen und trinken,
er ist müder als du.“ Zarathustra antwortete: „Todt
ist mein Gefährte, ich werde ihn schwerlich dazu über¬
reden.“ „Das geht mich Nichts an, sagte der Alte
mürrisch; wer an meinem Hause anklopft, muss auch
nehmen, was ich ihm biete. Esst und gehabt euch
wohl!“ —
Darauf gieng Zarathustra wieder zwei Stunden und
vertraute dem Wege und dem Lichte der Sterne: denn
er war ein gewohnter Nachtgänger und liebte es, allem
Schlafenden in's Gesicht zu sehn. Als aber der
Morgen graute, fand sich Zarathustra in einem tiefen
Walde, und kein Weg zeigte sich ihm mehr. Da legte
er den Todten in einen hohlen Baum sich zu Häupten —
denn er wollte ihn vor den Wölfen schützen — und sich
selber auf den Boden und das Moos. Und alsbald
schlief er ein, müden Leibes, aber mit einer unbe¬
wegten Seele.
9.
Lange schlief Zarathustra, und nicht nur die Mor¬
genröthe gieng über sein Antlitz, sondern auch der
Vormittag. Endlich aber that sein Auge sich auf:
verwundert sah Zarathustra in den Wald und die Stille,
verwundert sah er in sich hinein. Dann erhob er
sich schnell, wie ein Seefahrer, der mit Einem
Male Land sieht, und jauchzte: denn er sah eine
neue Wahrheit. Und also redete er dann zu seinem
Herzen:
Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich
und lebendige, — nicht todte Gefährten und Leich¬
name, die ich mit mir trage, wohin ich will.
Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir
folgen, weil sie sich selber folgen wollen — und dort¬
hin, wo ich will.
Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede
Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zara¬
thustra einer Heerde Hirt und Hund werden!
Viele wegzulocken von der Heerde — dazu kam
ich. Zürnen soll mir Volk und Heerde: Räuber will
Zarathustra den Hirten heissen.
Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten
und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen
sich die Gläubigen des rechten Glaubens.
Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie
am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der
Werthe, den Brecher, den Verbrecher: — das aber
ist der Schaffende.
Siehe die Gläubigen aller Glauben! Wen hassen
sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der
Werthe, den Brecher, den Verbrecher: — das aber
ist der Schaffende.
Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leich¬
name, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die
Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue
Werthe auf neue Tafeln schreiben.
Gefährten sucht der Schaffende, und Miterntende:
denn Alles steht bei ihm reif zur Ernte. Aber ihm
fehlen die hundert Sicheln: so rauft er Ähren aus und
ist ärgerlich.
Gefährten sucht der Schaffende, und solche, die
ihre Sicheln zu wetzen wissen. Vernichter wird man
sie heissen und Verächter des Guten und Bösen.
Aber die Erntenden sind es und die Feiernden.
Mitschaffende sucht Zarathustra, Miterntende und
Mitfeiernde sucht Zarathustra: was hat er mit Heerden
und Hirten und Leichnamen zu schaffen!
Und du, mein erster Gefährte, gehab dich wohl!
Gut begrub ich dich in deinem hohlen Baume, gut
barg ich dich vor den Wölfen.
Aber ich scheide von dir, die Zeit ist um. Zwi¬
schen Morgenröthe und Morgenröthe kam mir eine
neue Wahrheit.
Nicht Hirt soll ich sein, nicht Todtengräber. Nicht
reden einmal will ich wieder mit dem Volke; zum
letzten Male sprach ich zu einem Todten.
Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden
will ich mich zugesellen: den Regenbogen will ich
ihnen zeigen und alle die Treppen des Übermenschen.
Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und
den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für Uner¬
hörtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit
meinem Glücke.
Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang;
über die Zögernden und Saumseligen werde ich hin¬
wegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!
10.
Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen ge¬
sprochen, als die Sonne im Mittag stand: da blickte
er fragend in die Höhe — denn er hörte über sich
den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler
zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng
eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer
Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.
„Es sind meine Thiere!“ sagte Zarathustra und
freute sich von Herzen.
Das stolzeste Thier unter der Sonne und das
klügste Thier unter der Sonne — sie sind ausgezogen
auf Kundschaft.
Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe.
Wahrlich, lebe ich noch?
Gefährlicher fand ich's unter Menschen als unter
Thieren, gefährliche Wege geht Zarathustra. Mögen
mich meine Thiere führen!“
Als Zarathustra diess gesagt hatte, gedachte er der
Worte des Heiligen im Walde, seufzte und sprach
also zu seinem Herzen:
Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von
Grund aus sein, gleich meiner Schlange!
Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn
meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit gehe!
Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt:
— ach, sie liebt es, davonzufliegen! — möge mein
Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!
— Also begann Zarathustra's Untergang.
Die Reden
Zarathustra's.
Von den drei Verwandlungen.
Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes:
wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das
Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken,
tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem
Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist,
so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut
beladen sein.
Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der
tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner
Stärke froh werde.
Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hoch¬
muth wehe zu thun? Seine Thorheit leuchten lassen,
um seiner Weisheit zu spotten?
Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn
sie ihren Sieg feiert? Auf hohe Berge steigen, um
den Versucher zu versuchen?
Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der
Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an
der Seele Hunger leiden?
Oder ist es das: krank sein und die Tröster heim¬
schicken und mit Tauben Freundschaft schliessen, die
niemals hören, was du willst?
Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen,
wenn es das Wasser der Wahrheit ist, und kalte Frösche
und heisse Kröten nicht von sich weisen?
Oder ist es das: Die lieben, die uns verachten, und
dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten
machen will?
Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist
auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die
Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.
Aber in der einsamsten Wüste geschieht die
zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist,
Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner
eignen Wüste.
Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will
er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will
er mit dem grossen Drachen ringen.
Welches ist der grosse Drache, den der Geist
nicht mehr Herr und Gott heissen mag? „Du-sollst“
heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen
sagt „ich will“.
„Du-sollst“ liegt ihm am Wege, goldfunkelnd,
ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden
„Du sollst!“
Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schup¬
pen, und also spricht der mächtigste aller Drachen:
„aller Werth der Dinge — der glänzt an mir.“
„Aller Werth ward schon geschaffen, und aller
geschaffene Werth — das bin ich. Wahrlich, es
soll kein „Ich will“ mehr geben!“ Also spricht der
Drache.
Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im
Geiste? Was genügt nicht das lastbare Thier, das
entsagt und ehrfürchtig ist?
Neue Werthe schaffen — das vermag auch der
Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem
Schaffen — das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch
vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des
Löwen.
Recht sich nehmen zu neuen Werthen — das ist
das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und
ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm
und eines raubenden Thieres Sache.
Als sein Heiligstes liebte er einst das „Du-sollst“:
nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heilig¬
sten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner
Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das
Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was
muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde
werden?
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neu¬
beginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine
erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, be¬
darf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will
nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Welt¬
verlorene.
Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes:
wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen
das Kameel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. — —
Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in
der Stadt, welche genannt wird: die bunte Kuh.
Von den Lehrstühlen der Tugend.
Man rühmte Zarathustra einen Weisen, der gut
vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse: sehr
werde er geehrt und gelohnt dafür, und alle Jünglinge
sässen vor seinem Lehrstuhle. Zu ihm gieng Zarathustra,
und mit allen Jünglingen sass er vor seinem Lehrstuhle.
Und also sprach der Weise:
Ehre und Scham vor dem Schlafe! Das ist das
Erste! Und Allen aus dem Wege gehn, die schlecht
schlafen und Nachts wachen!
Schamhaft ist noch der Dieb vor dem Schlafe:
stets stiehlt er sich leise durch die Nacht. Schamlos
aber ist der Wächter der Nacht, schamlos trägt er
sein Horn.
Keine geringe Kunst ist schlafen: es thut schon
Noth, den ganzen Tag darauf hin zu wachen.
Zehn Mal musst du des Tages dich selber über¬
winden: das macht eine gute Müdigkeit und ist Mohn
der Seele.
Zehn Mal musst du dich wieder mit dir selber
versöhnen; denn Überwindung ist Bitterniss, und
schlecht schläft der Unversöhnte.
3
Zehn Wahrheiten musst du des Tages finden: sonst
suchst du noch des Nachts nach Wahrheit, und deine
Seele blieb hungrig.
Zehn Mal musst du lachen am Tage und heiter
sein: sonst stört dich der Magen in der Nacht, dieser
Vater der Trübsal.
Wenige wissen das: aber man muss alle Tugenden
haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeug¬
niss reden? Werde ich ehebrechen?
Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten
Magd? Das Alles vertrüge sich schlecht mit gutem
Schlafe.
Und selbst wenn man alle Tugenden hat, muss
man sich noch auf Eins verstehn: selber die Tugenden
zur rechten Zeit schlafen schicken.
Dass sie sich nicht mit einander zanken, die artigen
Weiblein! Und über dich, du Unglückseliger!
Friede mit Gott und dem Nachbar: so will es der
gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des Nach¬
bars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um.
Ehre der Obrigkeit und Gehorsam, und auch der
krummen Obrigkeit! So will es der gute Schlaf. Was
kann ich dafür, dass die Macht gerne auf krummen
Beinen wandelt?
Der soll mir immer der beste Hirt heissen, der
sein Schaf auf die grünste Aue führt: so verträgt es
sich mit gutem Schlafe.
Viel Ehren will ich nicht, noch grosse Schätze:
das entzündet die Milz. Aber schlecht schläft es sich
ohne einen guten Namen und einen kleinen Schatz.
Eine kleine Gesellschaft ist mir willkommener als
eine böse: doch muss sie gehn und kommen zur rechten
Zeit. So verträgt es sich mit gutem Schlafe.
Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie
fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich, wenn
man ihnen immer Recht giebt.
Also läuft der Tag dem Tugendsamen. Kommt
nun die Nacht, so hüte ich mich wohl, den Schlaf zu
rufen! Nicht will er gerufen sein, der Schlaf, der der
Herr der Tugenden ist!
Sondern ich denke, was ich des Tages gethan und
gedacht. Wiederkäuend frage ich mich, geduldsam
gleich einer Kuh: welches waren doch deine zehn
Überwindungen?
Und welches waren die zehn Versöhnungen und
die zehn Wahrheiten und die zehn Gelächter, mit
denen sich mein Herz gütlich that?
Solcherlei erwägend und gewiegt von vierzig Ge¬
danken, überfällt mich auf einmal der Schlaf, der Un¬
gerufne, der Herr der Tugenden.
Der Schlaf klopft mir auf mein Auge: da wird
es schwer. Der Schlaf berührt mir den Mund: da bleibt
er offen.
Wahrlich, auf weichen Sohlen kommt er mir, der
liebste der Diebe, und stiehlt mir meine Gedanken:
dumm stehe ich da wie dieser Lehrstuhl.
Aber nicht lange mehr stehe ich dann: da liege
ich schon. —
Als Zarathustra den Weisen also sprechen hörte,
lachte er bei sich im Herzen: denn ihm war dabei ein
3*
Licht aufgegangen. Und also sprach er zu seinem
Herzen:
Ein Narr ist mir dieser Weise da mit seinen vier¬
zig Gedanken: aber ich glaube, dass er sich wohl auf
das Schlafen versteht.
Glücklich schon, wer in der Nähe dieses Weisen
wohnt! Solch ein Schlaf steckt an, noch durch eine
dicke Wand hindurch steckt er an.
Ein Zauber wohnt selbst in seinem Lehrstuhle.
Und nicht vergebens sassen die Jünglinge vor dem
Prediger der Tugend.
Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen.
Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn und müsste
ich Unsinn wählen, so wäre auch mir diess der wählens¬
würdigste Unsinn.
Jetzo verstehe ich klar, was einst man vor Allem
suchte, wenn man Lehrer der Tugend suchte. Guten
Schlaf suchte man sich und mohnblumige Tugenden
dazu!
Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstühle war
Weisheit der Schlaf ohne Träume: sie kannten keinen
bessern Sinn des Lebens.
Auch noch heute wohl giebt es Einige, wie diesen
Prediger der Tugend, und nicht immer so Ehrliche:
aber ihre Zeit ist um. Und nicht mehr lange stehen
sie noch: da liegen sie schon.
Selig sind diese Schläfrigen: denn sie sollen bald
einnicken. —
Also sprach Zarathustra.
Von den Hinterweltlern.
Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits
des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Eines
leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da
die Welt.
Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines
Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich
Unzufriednen.
Gut und böse und Lust und Leid und Ich und
Du — farbiger Rauch dünkte mich's vor schöpfe¬
rischen Augen. Wegsehn wollte der Schöpfer von
sich, — da schuf er die Welt.
Trunkne Lust ist's dem Leidenden, wegzusehn von
seinem Leiden und sich zu verlieren. Trunkne Lust
und Selbst-sich-Verlieren dünkte mich einst die Welt.
Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen
Widerspruches Abbild und unvollkommnes Abbild —
eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen Schöpfer:
— also dünkte mich einst die Welt.
Also warf auch ich einst meinen Wahn jenseits
des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Jenseits
des Menschen in Wahrheit?
Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war
Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!
Mensch war er, und nur ein armes Stück Mensch
und Ich: aus der eigenen Asche und Gluth kam es
mir, dieses Gespenst, und wahrlich! Nicht kam es
mir von Jenseits!
Was geschah, meine Brüder? Ich überwand mich,
den Leidenden, ich trug meine eigne Asche zu Berge,
eine hellere Flamme erfand ich mir. Und siehe! Da
wich das Gespenst von mir!
Leiden wäre es mir jetzt und Qual dem Genesenen,
solche Gespenster zu glauben: Leiden wäre es mir jetzt
und Erniedrigung. Also rede ich zu den Hinter¬
weltlern.
Leiden war's und Unvermögen — das schuf alle
Hinterwelten; und jener kurze Wahnsinn des Glücks,
den nur der Leidendste erfährt.
Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten
will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende
Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die
schuf alle Götter und Hinterwelten.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war's,
der am Leibe verzweifelte, — der tastete mit den
Fingern des bethörten Geistes an die letzten Wände.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war's,
der an der Erde verzweifelte, — der hörte den Bauch
des Seins zu sich reden.
Und da wollte er mit dem Kopfe durch die letzten
Wände, und nicht nur mit dem Kopfe, — hinüber zu
„jener Welt“.
Aber „jene Welt“ ist gut verborgen vor dem
Menschen, jene entmenschte unmenschliche Welt, die
ein himmlisches Nichts ist; und der Bauch des Seins
redet gar nicht zum Menschen, es sei denn als Mensch.
Wahrlich, schwer zu beweisen ist alles Sein und
schwer zum Reden zu bringen. Sagt mir, ihr Brüder,
ist nicht das Wunderlichste aller Dinge noch am besten
bewiesen?
Ja, diess Ich und des Ich's Widerspruch und Wirr¬
sal redet noch am redlichsten von seinem Sein, dieses
schaffende, wollende, werthende Ich, welches das Maass
und der Werth der Dinge ist.
Und diess redlichste Sein, das Ich — das redet
vom Leibe, und es will noch den Leib, selbst wenn
es dichtet und schwärmt und mit zerbrochnen Flügeln
flattert.
Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je
mehr es lernt, um so mehr findet es Worte und Ehren
für Leib und Erde.
Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre
ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand
der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn
zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!
Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen
Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen,
und gut ihn heissen und nicht mehr von ihm bei Seite
schleichen, gleich den Kranken und Absterbenden!
Kranke und Absterbende waren es, die verachte¬
ten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und
die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese
süssen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und
Erde!
Ihrem Elende wollten sie entlaufen, und die Sterne
waren ihnen zu weit. Da seufzten sie: „Oh dass es
doch himmlische Wege gäbe, sich in ein andres Sein
und Glück zu schleichen!“ — da erfanden sie sich ihre
Schliche und blutigen Tränklein!
Ihrem Leibe und dieser Erde nun entrückt wähnten
sie sich, diese Undankbaren. Doch wem dankten sie
ihrer Entrückung Krampf und Wonne? Ihrem Leibe
und dieser Erde.
Milde ist Zarathustra den Kranken. Wahrlich, er
zürnt nicht ihren Arten des Trostes und Undanks.
Mögen sie Genesende werden und Überwindende und
einen höheren Leib sich schaffen!
Nicht auch zürnt Zarathustra dem Genesenden,
wenn er zärtlich nach seinem Wahne blickt und Mitter¬
nachts um das Grab seines Gottes schleicht: aber
Krankheit und kranker Leib bleiben mir auch seine
Thränen noch.
Vieles krankhafte Volk gab es immer unter Denen,
welche dichten und gottsüchtig sind; wüthend hassen
sie den Erkennenden und jene jüngste der Tugenden,
welche heisst: Redlichkeit.
Rückwärts blicken sie immer nach dunklen Zeiten:
da freilich war Wahn und Glaube ein ander Ding;
Raserei der Vernunft war Gottähnlichkeit, und Zweifel
Sünde.
Allzugut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen,
dass an sie geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei.
Allzugut weiss ich auch, woran sie selber am besten
glauben.
Wahrlich nicht an Hinterwelten und erlösende
Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch sie
am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding
an sich.
Aber ein krankhaftes Ding ist er ihnen: und gerne
möchten sie aus der Haut fahren. Darum horchen sie
nach den Predigern des Todes und predigen selber
Hinterwelten.
Hört mir lieber, meine Brüder, auf die Stimme
des gesunden Leibes: eine redlichere und reinere
Stimme ist diess.
Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der
vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom
Sinn der Erde.
Also sprach Zarathustra.
Von den Verächtern des Leibes.
Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort
sagen. Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir,
sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl sagen —
und also stumm werden.
„Leib bin ich und Seele“ — so redet das Kind.
Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden?
Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin
ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele
ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit
mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine
Heerde und ein Hirt.
Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine
Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein
kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.
„Ich“ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber
das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, — dein
Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich,
aber thut Ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das
hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist
möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende:
so eitel sind sie.
Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter
ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch
mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den
Ohren des Geistes.
Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht,
bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch
des Ich's Beherrscher.
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein
Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter
Weiser — der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt
er, dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner
besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib
gerade deine beste Weisheit nöthig hat?
Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen
Sprünge. „Was sind mir diese Sprünge und Flüge
des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem
Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's und der
Einbläser seiner Begriffe.“
Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!“
Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr
leide — und dazu eben soll es denken.
Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!“ Da
freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich
freue — und dazu eben soll es denken.
Den Verächtern des Leibes will ich ein Wort sagen.
Dass sie verachten, das macht ihr Achten. Was ist es,
das Achten und Verachten und Werth und Willen schuf?
Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Ver¬
achten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende
Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.
Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Ver¬
ächter des Leibes, dient ihr eurem Selbst. Ich sage
euch: euer Selbst selber will sterben und kehrt sich
vom Leben ab.
Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten
will: — über sich hinaus zu schaffen. Das will es am
liebsten, das ist seine ganze Inbrunst.
Aber zu spät ward es ihm jetzt dafür: — so will
euer Selbst untergehn, ihr Verächter des Leibes.
Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet
ihr zu Verächtern des Leibes! Denn nicht mehr ver¬
mögt ihr über euch hinaus zu schaffen.
Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der
Erde. Ein ungewusster Neid ist im scheelen Blick
eurer Verachtung.
Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des
Leibes! Ihr seid mir keine Brücken zum Über¬
menschen! —
Also sprach Zarathustra.
Von den Freuden- und Leidenschaften.
Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es
deine Tugend ist, so hast du sie mit Niemandem ge¬
meinsam.
Freilich, du willst sie bei Namen nennen und
liebkosen; du willst sie am Ohre zupfen und Kurzweil
mit ihr treiben.
Und siehe! Nun hast du ihren Namen mit dem
Volke gemeinsam und bist Volk und Heerde geworden
mit deiner Tugend!
Besser thätest du, zu sagen: „unaussprechbar ist
und namenlos, was meiner Seele Qual und Süsse
macht und auch noch der Hunger meiner Einge¬
weide ist.“
Deine Tugend sei zu hoch für die Vertraulichkeit
der Namen: und musst du von ihr reden, so schäme
dich nicht, von ihr zu stammeln.
So sprich und stammle: „Das ist mein Gutes,
das liebe ich, so gefällt es mir ganz, so allein will ich
das Gute.
Nicht will ich es als eines Gottes Gesetz, nicht
will ich es als eine Menschen-Satzung und -Nothdurft:
kein Wegweiser sei es mir für Über-Erden und
Paradiese.
Eine irdische Tugend ist es, die ich liebe: wenig
Klugheit ist darin und am wenigsten die Vernunft
Aller.
Aber dieser Vogel baute bei mir sich das Nest:
darum liebe und herze ich ihn, — nun sitzt er bei mir
auf seinen goldnen Eiern.“
So sollst du stammeln und deine Tugend loben.
Einst hattest du Leidenschaften und nanntest sie
böse. Aber jetzt hast du nur noch deine Tugenden:
die wuchsen aus deinen Leidenschaften.
Du legtest dein höchstes Ziel diesen Leidenschaften
an's Herz: da wurden sie deine Tugenden und Freuden¬
schaften.
Und ob du aus dem Geschlechte der Jähzornigen
wärest oder aus dem der Wollüstigen oder der Glaubens-
Wüthigen oder der Rachsüchtigen:
Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu
Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln.
Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller:
aber am Ende verwandelten sie sich zu Vögeln und
lieblichen Sängerinnen.
Aus deinen Giften brautest du dir deinen Balsam;
deine Kuh Trübsal melktest du, — nun trinkst du die
süsse Milch ihres Euters.
Und nichts Böses wächst mehr fürderhin aus dir,
es sei denn das Böse, das aus dem Kampfe deiner
Tugenden wächst.
Mein Bruder, wenn du Glück hast, so hast du
Eine Tugend und nicht mehr: so gehst du leichter
über die Brücke.
Auszeichnend ist es, viele Tugenden zu haben,
aber ein schweres Loos; und Mancher gieng in die
Wüste und tödtete sich, weil er müde war, Schlacht
und Schlachtfeld von Tugenden zu sein.
Mein Bruder, ist Krieg und Schlacht böse? Aber
nothwendig ist diess Böse, nothwendig ist der Neid
und das Misstrauen und die Verleumdung unter deinen
Tugenden.
Siehe, wie jede deiner Tugenden begehrlich ist
nach dem Höchsten: sie will deinen ganzen Geist, dass
er ihr Herold sei, sie will deine ganze Kraft in Zorn,
Hass und Liebe.
Eifersüchtig ist jede Tugend auf die andre, und
ein furchtbares Ding ist Eifersucht. Auch Tugenden
können an der Eifersucht zu Grunde gehn.
Wen die Flamme der Eifersucht umringt, der
wendet zuletzt, gleich dem Scorpione, gegen sich selber
den vergifteten Stachel.
Ach, mein Bruder, sahst du noch nie eine Tugend
sich selber verleumden und erstechen?
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden
muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben, —
denn du wirst an ihnen zu Grunde gehn. —
Also sprach Zarathustra.
Vom bleichen Verbrecher.
Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer,
bevor das Thier nicht genickt hat? Seht, der bleiche
Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die
grosse Verachtung.
„Mein Ich ist Etwas, das überwunden werden soll:
mein Ich ist mir die grosse Verachtung des Menschen“:
so redet es aus diesem Auge.
Dass er sich selber richtete, war sein höchster
Augenblick: lasst den Erhabenen nicht wieder zurück
in sein Niederes!
Es giebt keine Erlösung für Den, der so an sich
selber leidet, es sei denn der schnelle Tod.
Euer Tödten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und
keine Rache. Und indem ihr tödtet, seht zu, dass ihr
selber das Leben rechtfertiget!
Es ist nicht genug, dass ihr euch mit Dem ver¬
söhnt, den ihr tödtet. Eure Traurigkeit sei Liebe zum
Übermenschen: so rechtfertigt ihr euer Noch-Leben!
„Feind“ sollt ihr sagen, aber nicht „Bösewicht“;
„Kranker“ sollt ihr sagen, aber nicht „Schuft“; „Thor“
sollt ihr sagen, aber nicht „Sünder“.
Und du, rother Richter, wenn du laut sagen
wolltest, was du Alles schon in Gedanken gethan hast:
so würde Jedermann schreien: „Weg mit diesem Un¬
flath und Giftwurm!“
Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes
die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad
des Grundes rollt nicht zwischen ihnen.
Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich.
Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that:
aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.
Immer sah er sich nun als Einer That Thäter.
Wahnsinn heisse ich diess: die Ausnahme verkehrte
sich ihm zum Wesen.
Der Strich bannt die Henne; der Streich, den
er führte, bannte seine arme Vernunft — den Wahn¬
sinn nach der That heisse ich diess.
Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt
es noch: und der ist vor der That. Ach, ihr krocht
mir nicht tief genug in diese Seele!
So spricht der rothe Richter: „was mordete doch
dieser Verbrecher? Er wollte rauben.“ Aber ich sage
euch: seine Seele wollte Blut, nicht Raub: er dürstete
nach dem Glück des Messers!
Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahn¬
sinn nicht und überredete ihn. „Was liegt an Blut!
sprach sie; willst du nicht zum mindesten einen Raub
dabei machen? Eine Rache nehmen?“
Und er horchte auf seine arme Vernunft: wie Blei
lag ihre Rede auf ihm, — da raubte er, als er mordete.
Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.
4
Und nun wieder liegt das Blei seiner Schuld auf
ihm, und wieder ist seine arme Vernunft so steif, so
gelähmt, so schwer.
Wenn er nur den Kopf schütteln könnte, so würde
seine Last herabrollen: aber wer schüttelt diesen
Kopf?
Was ist dieser Mensch? Ein Haufen von Krank¬
heiten, welche durch den Geist in die Welt hinaus¬
greifen: da wollen sie ihre Beute machen.
Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder
Schlangen, welche selten bei einander Ruhe haben, —
da gehn sie für sich fort und suchen Beute in der
Welt.
Seht diesen armen Leib! Was er litt und be¬
gehrte, das deutete sich diese arme Seele, — sie deu¬
tete es als mörderische Lust und Gier nach dem
Glück des Messers.
Wer jetzt krank wird, den überfällt das Böse, das
jetzt böse ist: wehe will er thun, mit dem, was ihm
wehe thut. Aber es gab andre Zeiten und ein an¬
dres Böses und Gutes.
Einst war der Zweifel böse und der Wille zum
Selbst. Damals wurde der Kranke zum Ketzer und
zur Hexe: als Ketzer und Hexe litt er und wollte
leiden machen.
Aber diess will nicht in eure Ohren: euren Guten
schade es, sagt ihr mir. Aber was liegt mir an euren
Guten!
Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahr¬
lich nicht ihr Böses. Wollte ich doch, sie hätten einen
Wahnsinn, an dem sie zu Grunde giengen, gleich
diesem bleichen Verbrecher!
Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hiesse Wahr¬
heit oder Treue oder Gerechtigkeit: aber sie haben
ihre Tugend, um lange zu leben und in einem er¬
bärmlichen Behagen.
Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer
mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht. —
Also sprach Zarathustra.
4 *
Vom Lesen und Schreiben.
Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was
Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut:
und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.
Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu ver¬
stehen: ich hasse die lesenden Müssiggänger.
Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für
den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser — und der
Geist selber wird stinken.
Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die
Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das
Denken.
Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum
Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.
Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht
gelesen, sondern auswendig gelernt werden.
Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu
Gipfel: aber dazu musst du lange Beine haben. Sprüche
sollen Gipfel sein: und Die, zu denen gesprochen wird,
Grosse und Hochwüchsige.
Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der
Geist voll einer fröhlichen Bosheit: so passt es gut zu
einander.
Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin
muthig. Muth, der die Gespenster verscheucht, schafft
sich selber Kobolde, — der Muth will lachen.
Ich empfinde nicht mehr mit euch: diese Wolke,
die ich unter mir sehe, diese Schwärze und Schwere,
über die ich lache, — gerade das ist eure Gewitter¬
wolke.
Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung
verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin.
Wer von euch kann zugleich lachen und er¬
hoben sein?
Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht
über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste.
Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig —
so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt
immer nur einen Kriegsmann.
Ihr sagt mir: „das Leben ist schwer zu tragen.“
Aber wozu hättet ihr Vormittags euren Stolz und
Abends eure Ergebung?
Das Leben ist schwer zu tragen: aber so thut
mir doch nicht so zärtlich! Wir sind allesammt hübsche
lastbare Esel und Eselinnen.
Was haben wir gemein mit der Rosenknospe,
welche zittert, weil ihr ein Tropfen Thau auf dem
Leibe liegt?
Es ist wahr: wir lieben das Leben, nicht, weil
wir an's Leben, sondern weil wir an's Lieben ge¬
wöhnt sind.
Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es
ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.
Und auch mir, der ich dem Leben gut bin, scheinen
Schmetterlinge und Seifenblasen und was ihrer Art
unter Menschen ist, am meisten vom Glücke zu wissen.
Diese leichten thörichten zierlichen beweglichen
Seelchen flattern zu sehen — das verführt Zarathustra
zu Thränen und Liedern.
Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu
tanzen verstünde.
Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn
ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der
Schwere, — durch ihn fallen alle Dinge.
Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet
man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere tödten!
Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich
laufen. Ich habe fliegen gelernt: seitdem will ich
nicht erst gestossen sein, um von der Stelle zu kommen.
Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich
mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.
Also sprach Zarathustra.
Vom Baum am Berge.
Zarathustra's Auge hatte gesehn, dass ein Jüngling
ihm auswich. Und als er eines Abends allein durch
die Berge gieng, welche die Stadt umschliessen, die
genannt wird „die bunte Kuh“: siehe, da fand er im
Gehen diesen Jüngling, wie er an einen Baum gelehnt
sass und müden Blickes in das Thal schaute. Zara¬
thustra fasste den Baum an, bei welchem der Jüngling
sass, und sprach also:
Wenn ich diesen Baum da mit meinen Händen
schütteln wollte, ich würde es nicht vermögen.
Aber der Wind, den wir nicht sehen, der quält
und biegt ihn, wohin er will. Wir werden am schlimm¬
sten von unsichtbaren Händen gebogen und gequält.
Da erhob sich der Jüngling bestürzt und sagte:
„ich höre Zarathustra und eben dachte ich an ihn.“
Zarathustra entgegnete:
„Was erschrickst du desshalb? - Aber es ist mit
dem Menschen wie mit dem Baume.
Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will,
um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, ab¬
wärts, in's Dunkle, Tiefe, — in's Böse.“
„Ja in's Böse! rief der Jüngling. Wie ist es mög¬
lich, dass du meine Seele entdecktest?“
Zarathustra lächelte und sprach: „Manche Seele
wird man nie entdecken, es sei denn, dass man sie
zuerst erfindet.“
„Ja in's Böse! rief der Jüngling nochmals.
Du sagtest die Wahrheit, Zarathustra. Ich traue
mir selber nicht mehr, seitdem ich in die Höhe will, und
Niemand traut mir mehr, — wie geschieht diess doch?
Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute wider¬
legt mein Gestern. Ich überspringe oft die Stufen,
wenn ich steige, — das verzeiht mir keine Stufe.
Bin ich oben, so finde ich mich immer allein.
Niemand redet mit mir, der Frost der Einsamkeit
macht mich zittern. Was will ich doch in der Höhe?
Meine Verachtung und meine Sehnsucht wachsen
mit einander; je höher ich steige, um so mehr ver¬
achte ich Den, der steigt. Was will er doch in der
Höhe?
Wie schäme ich mich meines Steigens und Stol¬
perns! Wie spotte ich meines heftigen Schnaubens!
Wie hasse ich den Fliegenden! Wie müde bin ich in
der Höhe!“
Hier schwieg der Jüngling. Und Zarathustra be¬
trachtete den Baum, an dem sie standen und sprach also:
Dieser Baum steht einsam hier am Gebirge; er
wuchs hoch hinweg über Mensch und Thier.
Und wenn er reden wollte, er würde Niemanden
haben, der ihn verstünde: so hoch wuchs er.
Nun wartet er und wartet, — worauf wartet er
doch? Er wohnt dem Sitze der Wolken zu nahe: er
wartet wohl auf den ersten Blitz?
Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüng¬
ling mit heftigen Gebärden: „Ja, Zarathustra, du
sprichst die Wahrheit. Nach meinem Untergange ver¬
langte ich, als ich in die Höhe wollte, und du bist
der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich
noch, seitdem du uns erschienen bist? Der Neid auf
dich ist's, der mich zerstört hat!“ — So sprach der
Jüngling und weinte bitterlich. Zarathustra aber legte
seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich fort.
Und als sie eine Weile mit einander gegangen
waren, hob Zarathustra also an zu sprechen:
Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte
es sagen, sagt mir dein Auge alle deine Gefahr.
Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach
Freiheit. Übernächtig machte dich dein Suchen und
überwach.
In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet
deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten
nach Freiheit.
Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie
bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle
Gefängnisse zu lösen trachtet.
Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit
ersinnt: ach, klug wird solchen Gefangnen die Seele,
aber auch arglistig und schlecht.
Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes.
Viel Gefängniss und Moder ist noch in ihm zurück:
rein muss noch sein Auge werden.
Ja, ich kenne deine Gefahr. Aber bei meiner
Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf deine
Liebe und Hoffnung nicht weg!
Edel fühlst du dich noch, und edel fühlen dich
auch die Andern noch, die dir gram sind und böse Blicke
senden. Wisse, dass Allen ein Edler im Wege steht.
Auch den Guten steht ein Edler im Wege: und
selbst wenn sie ihn einen Guten nennen, so wollen
sie ihn damit bei Seite bringen.
Neues will der Edle schaffen und eine neue Tugend.
Altes will der Gute, und dass Altes erhalten bleibe.
Aber nicht das ist die Gefahr des Edlen, dass er
ein Guter werde, sondern ein Frecher, ein Höhnender,
ein Vernichter.
Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre höchste
Hoffnung. Und nun verleumdeten sie alle hohen Hoff¬
nungen.
Nun lebten sie frech in kurzen Lüsten, und über
den Tag hin warfen sie kaum noch Ziele.
„Geist ist auch Wollust“ — so sagten sie. Da
zerbrachen ihrem Geiste die Flügel: nun kriecht er
herum und beschmutzt im Nagen.
Einst dachten sie Helden zu werden: Lüstlinge
sind es jetzt. Ein Gram und ein Grauen ist ihnen
der Held.
Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwöre
ich dich: wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!
Halte heilig deine höchste Hoffnung! —
Also sprach Zarathustra.
Von den Predigern des Todes.
Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist
voll von Solchen, denen Abkehr gepredigt werden muss
vom Leben.
Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben
ist das Leben durch die Viel-zu-Vielen. Möge man
sie mit dem „ewigen Leben“ aus diesem Leben weg¬
locken!
„Gelbe“: so nennt man die Prediger des Todes,
oder „Schwarze“. Aber ich will sie euch noch in
andern Farben zeigen.
Da sind die Fürchterlichen, welche in sich das
Raubthier herumtragen und keine Wahl haben, es sei
denn Lüste oder Selbstzerfleischung. Und auch ihre
Lüste sind noch Selbstzerfleischung.
Sie sind noch nicht einmal Menschen geworden,
diese Fürchterlichen: mögen sie Abkehr predigen vom
Leben und selber dahinfahren!
Da sind die Schwindsüchtigen der Seele: kaum
sind sie geboren, so fangen sie schon an zu sterben
und sehnen sich nach Lehren der Müdigkeit und Ent¬
sagung.
Sie wollen gerne todt sein, und wir sollten ihren
Willen gut heissen! Hüten wir uns, diese Todten zu
erwecken und diese lebendigen Särge zu versehren!
Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder
ein Leichnam; und gleich sagen sie „das Leben ist
widerlegt!“
Aber nur sie sind widerlegt und ihr Auge, wel¬
ches nur das Eine Gesicht sieht am Dasein.
Eingehüllt in dicke Schwermuth und begierig auf
die kleinen Zufälle, welche den Tod bringen: so warten
sie und beissen die Zähne auf einander.
Oder aber: sie greifen nach Zuckerwerk und
spotten ihrer Kinderei dabei: sie hängen an ihrem
Strohhalm Leben und spotten, dass sie noch an einem
Strohhalm hängen.
Ihre Weisheit lautet: „ein Thor, der leben bleibt,
aber so sehr sind wir Thoren! Und das eben ist das
Thörichtste am Leben!“ —
„Das Leben ist nur Leiden“ — so sagen Andre
und lügen nicht: so sorgt doch, dass ihr aufhört! So
sorgt doch, dass das Leben aufhört, welches nur
Leiden ist!
Und also laute die Lehre eurer Tugend „du
sollst dich selber tödten! Du sollst dich selber davon¬
stehlen!“ —
„Wollust ist Sünde, — so sagen die Einen, welche
den Tod predigen — lasst uns bei Seite gehn und
keine Kinder zeugen!“
„Gebären ist mühsam, — sagen die Andern —
wozu noch gebären? Man gebiert nur Unglückliche!“
Und auch sie sind Prediger des Todes.
„Mitleid thut noth — so sagen die Dritten. Nehmt
hin, was ich habe! Nehmt hin, was ich bin! Um so
weniger bindet mich das Leben!“
Wären sie Mitleidige von Grund aus, so würden
sie ihren Nächsten das Leben verleiden. Böse sein —
das wäre ihre rechte Güte.
Aber sie wollen loskommen vom Leben: was
schiert es sie, dass sie Andre mit ihren Ketten und
Geschenken noch fester binden! —
Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und
Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid
ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes?
Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das
Schnelle, Neue, Fremde, — ihr ertragt euch schlecht,
euer Fleiss ist Flucht und Wille, sich selber zu ver¬
gessen.
Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet
ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber
ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch —
und selbst zur Faulheit nicht!
Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod
predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen
der Tod gepredigt werden muss.
Oder „das ewige Leben“: das gilt mir gleich, —
wofern sie nur schnell dahinfahren!
Also sprach Zarathustra.
Vom Krieg und Kriegsvolke.
Von unsern besten Feinden wollen wir nicht ge¬
schont sein, und auch von Denen nicht, welche wir
von Grund aus lieben. So lasst mich denn euch die
Wahrheit sagen!
Meine Brüder im Kriege! Ich liebe euch von
Grund aus, ich bin und war Euresgleichen. Und ich
bin auch euer bester Feind. So lasst mich denn euch
die Wahrheit sagen!
Ich weiss um den Hass und Neid eures Herzens.
Ihr seid nicht gross genug, um Hass und Neid nicht
zu kennen. So seid denn gross genug, euch ihrer
nicht zu schämen!
Und wenn ihr nicht Heilige der Erkenntniss sein
könnt, so seid mir wenigstens deren Kriegsmänner.
Das sind die Gefährten und Vorläufer solcher Heiligkeit.
Ich sehe viel Soldaten: möchte ich viel Kriegs¬
männer sehn! „Ein-form“ nennt man's, was sie tra¬
gen: möge es nicht Ein-form sein, was sie damit ver¬
stecken!
Ihr sollt mir Solche sein, deren Auge immer nach
einem Feinde sucht — nach eurem Feinde. Und bei
Einigen von euch giebt es einen Hass auf den ersten
Blick.
Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt
ihr führen und für eure Gedanken! Und wenn euer
Gedanke unterliegt, so soll eure Redlichkeit darüber
noch Triumph rufen!
Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen
Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr, als den langen.
Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum
Kampfe. Euch rathe ich nicht zum Frieden, sondern
zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede
sei ein Sieg!
Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn
man Pfeil und Bogen hat: sonst schwätzt und zankt
man. Euer Friede sei ein Sieg!
Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den
Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es,
der jede Sache heiligt.
Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge
gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden,
sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verun¬
glückten.
Was ist gut? fragt ihr. Tapfer sein ist gut. Lasst
die kleinen Mädchen reden: „gut sein ist, was hübsch
zugleich und rührend ist.“
Man nennt euch herzlos: aber euer Herz ist ächt,
und ich liebe die Scham eurer Herzlichkeit. Ihr schämt
euch eurer Fluth, und Andre schämen sich ihrer Ebbe.
Ihr seid hässlich? Nun wohlan, meine Brüder! So
nehmt das Erhabne um euch, den Mantel des Hässlichen!
Und wenn eure Seele gross wird, so wird sie
übermüthig, und in eurer Erhabenheit ist Bosheit.
Ich kenne euch.
In der Bosheit begegnet sich der Übermüthige
mit dem Schwächlinge. Aber sie missverstehen ein¬
ander. Ich kenne euch.
Ihr dürft nur Feinde haben, die zu hassen sind,
aber nicht Feinde zum Verachten. Ihr müsst stolz auf
euern Feind sein: dann sind die Erfolge eures Feindes
auch eure Erfolge.
Auflehnung — das ist die Vornehmheit am Scla¬
ven. Eure Vornehmheit sei Gehorsam! Euer Befehlen
selber sei ein Gehorchen!
Einem guten Kriegsmanne klingt „du sollst“ an¬
genehmer, als „ich will“. Und Alles, was euch lieb
ist, sollt ihr euch erst noch befehlen lassen.
Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer höch¬
sten Hoffnung: und eure höchste Hoffnung sei der
höchste Gedanke des Lebens!
Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von
mir befehlen lassen — und er lautet: der Mensch ist
Etwas, das überwunden werden soll.
So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krie¬
ges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger
will geschont sein!
Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund
aus, meine Brüder im Kriege!
Also sprach Zarathustra.
Vom neuen Götzen.
Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch
nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten.
Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die
Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom
Tode der Völker.
Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer.
Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem
Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“
Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die
Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe
über sie hin: also dienten sie dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele
und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und
hundert Begierden über sie hin.
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat
nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an
Sitten und Rechten.
Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht
seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der
Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten
und Rechten.
5
Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten
und Bösen; und was er auch redet, er lügt — und
was er auch hat, gestohlen hat er's.
Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen
beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Ein¬
geweide.
Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses
Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahr¬
lich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen!
Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!
Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüs¬
sigen ward der Staat erfunden!
Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-
Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!
„Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der
ordnende Finger bin ich Gottes“ — also brüllt das
Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte
sinken auf die Kniee!
Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er
seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen
Herzen, die gerne sich verschwenden!
Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten
Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient
eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!
Helden und Ehrenhafte möchte er um sich auf¬
stellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im
Sonnenschein guter Gewissen, — das kalte Unthier!
Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet,
der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer
Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.
Ködern will er mit euch die Viel-zu-Vielen! Ja,
ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des
Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren!
Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das
sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzens¬
dienst allen Predigern des Todes!
Staat nenne ich's, wo Alle Gifttrinker sind, Gute
und Schlimme: Staat, wo Alle sich selber verlieren,
Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbst¬
mord Aller — „das Leben“ heisst.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen
sich die Werke der Erfinder und die Schätze der
Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl — und
Alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!
Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind
sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es
Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich
nicht einmal verdauen.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichthümer
erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen
sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld, —
diese Unvermögenden!
Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie
klettern über einander hinweg und zerren sich also in
den Schlamm und die Tiefe.
Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn
ist es, — als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft
sitzt der Schlamm auf dem Thron — und oft auch der
Thron auf dem Schlamme.
Wahnsinnige sind sie mir Alle und kletternde Affen
5 *
und Überheisse. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte
Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese
Götzendiener.
Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste
ihrer Mäuler und Begierden! Lieber zerbrecht doch
die Fenster und springt in's Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege!
Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege!
Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer!
Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die
Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und
Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht.
Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben.
Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger be¬
sessen: gelobt sei die kleine Armuth!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der
Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied
des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche
Weise.
Dort, wo der Staat aufhört, — so seht mir doch
hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regen¬
bogen und die Brücken des Übermenschen? —
Also sprach Zarathustra.
Von den Fliegen des Marktes.
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich
sehe dich betäubt vom Lärme der grossen Männer und
zerstochen von den Stacheln der kleinen.
Würdig wissen Wald und Fels mit dir zu schwei¬
gen. Gleiche wieder dem Baume, den du liebst, dem
breitästigen: still und aufhorchend hängt er über dem
Meere.
Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt;
und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm
der grossen Schauspieler und das Geschwirr der gif¬
tigen Fliegen.
In der Welt taugen die besten Dinge noch Nichts,
ohne Einen, der sie erst aufführt: grosse Männer heisst
das Volk diese Aufführer.
Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das
Schaffende. Aber Sinne hat es für alle Aufführer und
Schauspieler grosser Sachen.
Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich
die Welt: — unsichtbar dreht sie sich. Doch um die
Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so
ist es der Welt Lauf.
Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen
des Geistes. Er glaubt immer an Das, womit er am
stärksten glauben macht, — glauben an sich macht!
Morgen hat er einen neuen Glauben und über¬
morgen einen neueren. Rasche Sinne hat er, gleich
dem Volke, und veränderliche Witterungen.
Umwerfen — das heisst ihm: beweisen. Toll
machen — das heisst ihm: überzeugen. Und Blut gilt
ihm als aller Gründe bester.
Eine Wahrheit, die nur in feine Ohren schlüpft,
nennt er Lüge und Nichts. Wahrlich, er glaubt nur
an Götter, die grossen Lärm in der Welt machen!
Voll von feierlichen Possenreissern ist der Markt
— und das Volk rühmt sich seiner grossen Männer!
das sind ihm die Herrn der Stunde.
Aber die Stunde drängt sie: so drängen sie dich:
Und auch von dir wollen sie Ja oder Nein. Wehe, du
willst zwischen Für und Wider deinen Stuhl setzen?
Dieser Unbedingten und Drängenden halber sei
ohne Eifersucht, du Liebhaber der Wahrheit! Niemals
noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Un¬
bedingten.
Dieser Plötzlichen halber gehe zurück in deine
Sicherheit: nur auf dem Markt wird man mit Ja? oder
Nein? überfallen.
Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen:
lange müssen sie warten, bis sie wissen, was in ihre
Tiefe fiel.
Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich
alles Grosse: abseits vom Markte und Ruhme wohnten
von je die Erfinder neuer Werthe.
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich
sehe dich von giftigen Fliegen zerstochen. Fliehe
dorthin, wo rauhe, starke Luft weht!
Fliehe in deine Einsamkeit! Du lebtest den Kleinen
und Erbärmlichen zu nahe. Fliehe vor ihrer unsicht¬
baren Rache! Gegen dich sind sie Nichts als Rache.
Hebe nicht mehr den Arm gegen sie! Unzählbar
sind sie, und es ist nicht dein Loos, Fliegenwedel
zu sein.
Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen;
und manchem stolzen Baue gereichten schon Regen¬
tropfen und Unkraut zum Untergange.
Du bist kein Stein, aber schon wurdest du hohl
von vielen Tropfen. Zerbrechen und zerbersten wirst
du mir noch von vielen Tropfen.
Ermüdet sehe ich dich durch giftige Fliegen, blutig
geritzt sehe ich dich an hundert Stellen; und dein
Stolz will nicht einmal zürnen.
Blut möchten sie von dir in aller Unschuld, Blut
begehren ihre blutlosen Seelen — und sie stechen da¬
her in aller Unschuld.
Aber, du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen
Wunden; und ehe du dich noch geheilt hast, kroch
dir der gleiche Giftwurm über die Hand.
Zu stolz bist du mir dafür, diese Naschhaften zu
tödten. Hüte dich aber, dass es nicht dein Verhäng¬
niss werde, all ihr giftiges Unrecht zu tragen!
Sie summen um dich auch mit ihrem Lobe: Zu¬
dringlichkeit ist ihr Loben. Sie wollen die Nähe
deiner Haut und deines Blutes.
Sie schmeicheln dir wie einem Gotte oder Teufel;
sie winseln vor dir wie vor einem Gotte oder Teufel.
Was macht es! Schmeichler sind es und Winsler und
nicht mehr.
Auch geben sie sich dir oft als Liebenswürdige.
Aber das war immer die Klugheit der Feigen. Ja,
die Feigen sind klug!
Sie denken viel über dich mit ihrer engen Seele,
— bedenklich bist du ihnen stets! Alles, was viel be¬
dacht wird, wird bedenklich.
Sie bestrafen dich für alle deine Tugenden. Sie
verzeihen dir von Grund aus nur — deine Fehlgriffe.
Weil du milde bist und gerechten Sinnes, sagst
du: „unschuldig sind sie an ihrem kleinen Dasein.“
Aber ihre enge Seele denkt: „Schuld ist alles grosse
Dasein.“
Auch wenn du ihnen milde bist, fühlen sie sich
noch von dir verachtet; und sie geben dir deine Wohl¬
that zurück mit versteckten Wehthaten.
Dein wortloser Stolz geht immer wider ihren
Geschmack; sie frohlocken, wenn du einmal beschei¬
den genug bist, eitel zu sein.
Das, was wir an einem Menschen erkennen, das
entzünden wir an ihm auch. Also hüte dich vor den
Kleinen!
Vor dir fühlen sie sich klein, und ihre Niedrigkeit
glimmt und glüht gegen dich in unsichtbarer Rache.
Merktest du nicht, wie oft sie stumm wurden,
wenn du zu ihnen tratest, und wie ihre Kraft von
ihnen gieng wie der Rauch von einem erlöschenden
Feuer?
Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen
Nächsten: denn sie sind deiner unwerth. Also hassen
sie dich und möchten gerne an deinem Blute saugen.
Deine Nächsten werden immer giftige Fliegen sein;
Das, was gross an dir ist, — das selber muss sie gif¬
tiger machen und immer fliegenhafter.
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dort¬
hin, wo eine rauhe, starke Luft weht. Nicht ist es
dein Loos, Fliegenwedel zu sein. —
Also sprach Zarathustra.
Von der Keuschheit.
Ich liebe den Wald. In den Städten ist schlecht
zu leben: da giebt es zu Viele der Brünstigen.
Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu
gerathen, als in die Träume eines brünstigen Weibes?
Und seht mir doch diese Männer an: ihr Auge
sagt es — sie wissen nichts Besseres auf Erden, als
bei einem Weibe zu liegen.
Schlamm ist auf dem Grunde ihrer Seele; und
wehe, wenn ihr Schlamm gar noch Geist hat!
Dass ihr doch wenigstens als Thiere vollkommen
wäret! Aber zum Thiere gehört die Unschuld.
Rathe ich euch, eure Sinne zu tödten? Ich rathe
euch zur Unschuld der Sinne.
Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit
ist bei Einigen eine Tugend, aber bei Vielen beinahe
ein Laster.
Diese enthalten sich wohl: aber die Hündin Sinn¬
lichkeit blickt mit Neid aus Allem, was sie thun.
Noch in die Höhen ihrer Tugend und bis in den
kalten Geist hinein folgt ihnen diess Gethier und sein
Unfrieden.
Und wie artig weiss die Hündin Sinnlichkeit um
ein Stück Geist zu betteln, wenn ihr ein Stück Fleisch
versagt wird!
Ihr liebt Trauerspiele und Alles, was das Herz zer¬
bricht? Aber ich bin misstrauisch gegen eure Hündin.
Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern
nach Leidenden. Hat sich nicht nur eure Wollust
verkleidet und heisst sich Mitleiden?
Und auch diess Gleichniss gebe ich euch: nicht
Wenige, die ihren Teufel austreiben wollten, fuhren
dabei selber in die Säue.
Wem die Keuschheit schwer fällt, dem ist sie zu
widerrathen: dass sie nicht der Weg zur Hölle werde
— das ist zu Schlamm und Brunst der Seele.
Rede ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir
nicht das Schlimmste.
Nicht, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern
wenn sie seicht ist, steigt der Erkennende ungern in
ihr Wasser.
Wahrlich, es giebt Keusche von Grund aus: sie
sind milder von Herzen, sie lachen lieber und reich¬
licher als ihr.
Sie lachen auch über die Keuschheit und fragen:
„was ist Keuschheit!
„Ist Keuschheit nicht Thorheit? Aber diese Thor¬
heit kam zu uns und nicht wir zu ihr.
„Wir boten diesem Gaste Herberge und Herz: nun
wohnt er bei uns, — mag er bleiben, wie lange er will!“
Also sprach Zarathustra.
Vom Freunde.
„Einer ist immer zu viel um mich“ — also denkt
der Einsiedler. „Immer Einmal Eins — das giebt auf
die Dauer Zwei!“
Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche:
wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund
gäbe?
Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte:
der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Ge¬
spräch der Zweie in die Tiefe sinkt.
Ach, es giebt zu viele Tiefen für alle Einsiedler.
Darum sehnen sie sich so nach einem Freunde und
nach seiner Höhe.
Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne
an uns selber glauben möchten. Unsre Sehnsucht nach
einem Freunde ist unser Verräther.
Und oft will man mit der Liebe nur den Neid
überspringen. Und oft greift man an und macht sich
einen Feind, um zu verbergen, dass man angreifbar ist.
„Sei wenigstens mein Feind!“ — so spricht die
wahre Ehrfurcht, die nicht um Freundschaft zu bitten
wagt.
Will man einen Freund haben, so muss man auch
für ihn Krieg führen wollen: und um Krieg zu führen,
muss man Feind sein können.
Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren.
Kannst du an deinen Freund dicht herantreten, ohne
zu ihm überzutreten?
In seinem Freunde soll man seinen besten Feind
haben. Du sollst ihm am nächsten mit dem Herzen
sein, wenn du ihm widerstrebst.
Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen?
Es soll deines Freundes Ehre sein, dass du dich ihm
giebst, wie du bist? Aber er wünscht dich darum
zum Teufel!
Wer aus sich kein Hehl macht, empört: so sehr
habt ihr Grund, die Nacktheit zu fürchten! Ja, wenn
ihr Götter wäret, da dürftet ihr euch eurer Kleider
schämen!
Du kannst dich für deinen Freund nicht schön
genug putzen: denn du sollst ihm ein Pfeil und eine
Sehnsucht nach dem Übermenschen sein.
Sahst du deinen Freund schon schlafen, — damit
du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst
das Gesicht deines Freundes? Es ist dein eignes
Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen Spiegel.
Sahst du deinen Freund schon schlafen? Er¬
schrakst du nicht, dass dein Freund so aussieht?
Oh, mein Freund, der Mensch ist Etwas, das über¬
wunden werden muss.
Im Errathen und Stillschweigen soll der Freund
Meister sein: nicht Alles musst du sehn wollen. Dein
Traum soll dir verrathen, was dein Freund im Wachen
thut.
Ein Errathen sei dein Mitleiden: dass du erst
wissest, ob dein Freund Mitleiden wolle. Vielleicht
liebt er an dir das ungebrochne Auge und den Blick
der Ewigkeit.
Das Mitleiden mit dem Freunde berge sich unter
einer harten Schale, an ihm sollst du dir einen Zahn
ausbeissen. So wird es seine Feinheit und Süsse
haben.
Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brod und
Arznei deinem Freunde? Mancher kann seine eignen
Ketten nicht lösen und doch ist er dem Freunde ein
Erlöser.
Bist du ein Sclave? So kannst du nicht Freund sein.
Bist du ein Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben.
Allzulange war im Weibe ein Sclave und ein
Tyrann versteckt. Desshalb ist das Weib noch nicht
der Freundschaft fähig: es kennt nur die Liebe.
In der Liebe des Weibes ist Ungerechtigkeit und
Blindheit gegen Alles, was es nicht liebt. Und auch
in der wissenden Liebe des Weibes ist immer noch
Überfall und Blitz und Nacht neben dem Lichte.
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig:
Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel. Oder,
besten Falles, Kühe.
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig.
Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn
fähig der Freundschaft?
Oh über eure Armuth, ihr Männer, und euren Geiz
der Seele! Wie viel ihr dem Freunde gebt, das will
ich noch meinem Feinde geben, und will auch nicht
ärmer damit geworden sein.
Es giebt Kameradschaft: möge es Freundschaft
geben!
Also sprach Zarathustra.
Von tausend und Einem Ziele.
Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: so
entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses. Keine
grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als gut
und böse.
Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte;
will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen,
wie der Nachbar schätzt.
Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem
andern Hohn und Schmach: also fand ich's. Vieles
fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen
Ehren geputzt.
Nie verstand ein Nachbar den andern: stets ver¬
wunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn
und Bosheit.
Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke.
Siehe, es ist seiner Überwindungen Tafel; siehe, es
ist die Stimme seines Willens zur Macht.
Löblich ist, was ihm schwer gilt; was unerlässlich
und schwer, heisst gut, und was aus der höchsten
Noth noch befreit, das Seltene, Schwerste, — das preist
es heilig.
Was da macht, dass es herrscht und siegt und
glänzt, seinem Nachbarn zu Grauen und Neide: das
gilt ihm das Hohe, das Erste, das Messende, der Sinn
aller Dinge.
Wahrlich, mein Bruder, erkanntest du erst eines
Volkes Noth und Land und Himmel und Nachbar: so
erräthst du wohl das Gesetz seiner Überwindungen
und warum es auf dieser Leiter zu seiner Hoffnung
steigt.
„Immer sollst du der Erste sein und den Andern
vorragen: Niemanden soll deine eifersüchtige Seele
lieben, es sei denn den Freund“ — diess machte einem
Griechen die Seele zittern: dabei gieng er seinen Pfad
der Grösse.
„Wahrheit reden und gut mit Bogen und Pfeil
verkehren“ — so dünkte es jenem Volke zugleich
lieb und schwer, aus dem mein Name kommt — der
Name, welcher mir zugleich lieb und schwer ist.
„Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel
der Seele hinein ihnen zu Willen sein“: diese Tafel
der Überwindung hängte ein andres Volk über sich
auf und wurde mächtig und ewig damit.
„Treue üben und um der Treue Willen Ehre und
Blut auch an böse und fährliche Sachen setzen“: also
sich lehrend bezwang sich ein anderes Volk, und also
sich bezwingend wurde es schwanger und schwer von
grossen Hoffnungen.
Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr
Gutes und Böses. Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie
6
fanden es nicht, nicht fiel es ihnen als Stimme vom
Himmel.
Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich
zu erhalten, — er schuf erst den Dingen Sinn, einen
Menschen-Sinn! Darum nennt er sich „Mensch“, das
ist: der Schätzende.
Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden!
Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz
und Kleinod.
Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und
ohne das Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl.
Hört es, ihr Schaffenden!
Wandel der Werthe, — das ist Wandel der Schaffen¬
den. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss.
Schaffende waren erst Völker und spät erst Ein¬
zelne; wahrlich, der Einzelne selber ist noch die jüngste
Schöpfung.
Völker hängten sich einst eine Tafel des Guten
über sich. Liebe, die herrschen will, und Liebe, die
gehorchen will, erschufen sich zusammen solche Tafeln.
Älter ist an der Heerde die Lust, als die Lust am
Ich: und so lange das gute Gewissen Heerde heisst,
sagt nur das schlechte Gewissen: Ich.
Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen
Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde
Ursprung, sondern ihr Untergang.
Liebende waren es stets und Schaffende, die
schufen Gut und Böse. Feuer der Liebe glüht in aller
Tugenden Namen und Feuer des Zorns.
Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker:
keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als
die Werke der Liebenden: „gut“ und „böse“ ist ihr
Name.
Wahrlich, ein Ungethüm ist die Macht dieses Lobens
und Tadelns. Sagt, wer bezwingt es mir, ihr Brüder?
Sagt, wer wirft diesem Thier die Fessel über die
tausend Nacken?
Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker
gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt
noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Mensch¬
heit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der
Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch —
sie selber noch? —
Also sprach Zarathustra.
6 *
Von der Nächstenliebe.
Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne
Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächsten¬
liebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber.
Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und
möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich
durchschaue euer „Selbstloses“.
Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig
gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich
der Mensch hin zum Nächsten.
Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch
rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-
Liebe!
Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe
zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die
Liebe zu Menschen ist die Liebe zu Sachen und Ge¬
spenstern.
Diess Gespenst, das vor dir herläuft, mein Bruder,
ist schöner als du; warum giebst du ihm nicht dein
Fleisch und deine Knochen? Aber du fürchtest dich
und läufst zu deinem Nächsten.
Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt
euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur
Liebe verführen und euch mit seinem Irrthum ver¬
golden.
Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei
Nächsten und deren Nachbarn; so müsstet ihr aus euch
selber euren Freund und sein überwallendes Herz
schaffen.
Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von
euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt,
gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von
euch.
Nicht nur Der lügt, welcher wider sein Wissen
redet, sondern erst recht Der, welcher wider sein Nicht¬
wissen redet. Und so redet ihr von euch im Verkehre
und belügt mit euch den Nachbar.
Also spricht der Narr: „der Umgang mit Menschen
verdirbt den Charakter, sonderlich wenn man keinen hat.“
Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht,
und der Andre, weil er sich verlieren möchte. Eure
schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der
Einsamkeit ein Gefängniss.
Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum
Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen mit
einander seid, muss immer ein sechster sterben.
Ich liebe auch eure Feste nicht: zu viel Schau¬
spieler fand ich dabei, und auch die Zuschauer ge¬
bärdeten sich oft gleich Schauspielern.
Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den
Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und
ein Vorgefühl des Übermenschen.
Ich lehre euch den Freund und sein übervolles
Herz. Aber man muss verstehn, ein Schwamm zu
sein, wenn man von übervollen Herzen geliebt sein will.
Ich lehre euch den Freund, in dem die Welt
fertig dasteht, eine Schale des Guten, — den schaffenden
Freund, der immer eine fertige Welt zu verschenken hat.
Und wie ihm die Welt auseinander rollte, so rollt
sie ihm wieder in Ringen zusammen, als das Werden
des Guten durch das Böse, als das Werden der Zwecke
aus dem Zufalle.
Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache
deines Heute: in deinem Freunde sollst du den Über¬
menschen als deine Ursache lieben.
Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch
nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.
Also sprach Zarathustra.
Vom Wege des Schaffenden.
Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung
gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen?
Zaudere noch ein Wenig und höre mich.
„Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle
Vereinsamung ist Schuld“: also spricht die Heerde.
Und du gehörtest lange zur Heerde.
Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch
tönen. Und wenn du sagen wirst „ich habe nicht mehr
Ein Gewissen mit euch“, so wird es eine Klage und
ein Schmerz sein.
Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine
Gewissen: und dieses Gewissens letzter Schimmer glüht
noch auf deiner Trübsal.
Aber du willst den Weg deiner Trübsal gehen,
welches ist der Weg zu dir selber? So zeige mir dein
Recht und deine Kraft dazu!
Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht?
Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad?
Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich
sich drehen?
Ach, es giebt so viel Lüsternheit nach Höhe! Es
giebt so viel Krämpfe der Ehrgeizigen! Zeige mir,
dass du keiner der Lüsternen und Ehrgeizigen bist!
Ach, es giebt so viel grosse Gedanken, die thun
nicht mehr als ein Blasebalg: sie blasen auf und
machen leerer.
Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Ge¬
danken will ich hören und nicht, dass du einem Joche
entronnen bist.
Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen
durfte? Es giebt Manchen, der seinen letzten Werth
wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf.
Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell
aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?
Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes
geben und deinen Willen über dich aufhängen wie
ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und
Rächer deines Gesetzes?
Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und
Rächer des eignen Gesetzes. Also wird ein Stern
hinausgeworfen in den öden Raum und in den eisigen
Athem des Alleinseins.
Heute noch leidest du an den Vielen, du Einer:
heute noch hast du deinen Muth ganz und deine Hoff¬
nungen.
Aber einst wird dich die Einsamkeit müde
machen, einst wird dein Stolz sich krümmen und
dein Muth knirschen. Schreien wirst du einst „ich
bin allein!“
Einst wirst du dein Hohes nicht mehr sehn und
dein Niedriges allzunahe; dein Erhabnes selbst wird
dich fürchten machen wie ein Gespenst. Schreien wirst
du einst: „Alles ist falsch!“
Es giebt Gefühle, die den Einsamen tödten wollen;
gelingt es ihnen nicht, nun, so müssen sie selber ster¬
ben! Aber vermagst du das, Mörder zu sein?
Kennst du, mein Bruder, schon das Wort „Ver¬
achtung“? Und die Qual deiner Gerechtigkeit, Sol¬
chen gerecht zu sein, die dich verachten?
Du zwingst Viele, über dich umzulernen; das
rechnen sie dir hart an. Du kamst ihnen nahe und
giengst doch vorüber: das verzeihen sie dir niemals.
Du gehst über sie hinaus: aber je höher du steigst,
um so kleiner sieht dich das Auge des Neides. Am
meisten aber wird der Fliegende gehasst.
„Wie wolltet ihr gegen mich gerecht sein! —
musst du sprechen — ich erwähle mir eure Ungerech¬
tigkeit als den mir zugemessnen Theil.“
Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem
Einsamen: aber, mein Bruder, wenn du ein Stern
sein willst, so musst du ihnen desshalb nicht weniger
leuchten!
Und hüte dich vor den Guten und Gerechten!
Sie kreuzigen gerne Die, welche sich ihre eigne Tugend
erfinden, — sie hassen den Einsamen.
Hüte dich auch vor der heiligen Einfalt! Alles ist
ihr unheilig, was nicht einfältig ist; sie spielt auch
gerne mit dem Feuer — der Scheiterhaufen.
Und hüte dich auch vor den Anfällen deiner Liebe!
Zu schnell streckt der Einsame Dem die Hand ent¬
gegen, der ihm begegnet.
Manchem Menschen darfst du nicht die Hand geben,
sondern nur die Tatze: und ich will, dass deine Tatze
auch Krallen habe.
Aber der schlimmste Feind, dem du begegnen
kannst, wirst du immer dir selber sein; du selber
lauerst dir auf in Höhlen und Wäldern.
Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und
an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen
sieben Teufeln!
Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und
Wahrsager und Narr und Zweifler und Unheiliger und
Bösewicht.
Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen
Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht
erst Asche geworden bist!
Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden:
einen Gott willst du dir schaffen aus deinen sieben
Teufeln!
Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich
selber liebst du und desshalb verachtest du dich, wie
nur Liebende verachten.
Schaffen will der Liebende, weil er verachtet!
Was weiss Der von Liebe, der nicht gerade verachten
musste, was er liebte!
Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung
und mit deinem Schaffen, mein Bruder; und spät erst
wird die Gerechtigkeit dir nachhinken.
Mit meinen Thränen gehe in deine Vereinsamung,
mein Bruder. Ich liebe Den, der über sich selber
hinaus schaffen will und so zu Grunde geht. —
Also sprach Zarathustra.
Von alten und jungen Weiblein.
„Was schleichst du so scheu durch die Dämme¬
rung, Zarathustra? Und was birgst du behutsam unter
deinem Mantel?
„Ist es ein Schatz, der dir geschenkt? Oder ein
Kind, das dir geboren wurde? Oder gehst du jetzt
selber auf den Wegen der Diebe, du Freund der
Bösen?“ —
Wahrlich, mein Bruder! sprach Zarathustra, es
ist ein Schatz, der mir geschenkt wurde: eine kleine
Wahrheit ist's, die ich trage.
Aber sie ist ungebärdig wie ein junges Kind; und
wenn ich ihr nicht den Mund halte, so schreit sie
überlaut.
Als ich heute allein meines Weges gieng, zur
Stunde, wo die Sonne sinkt, begegnete mir ein altes
Weiblein und redete also zu meiner Seele:
„Vieles sprach Zarathustra auch zu uns Weibern,
doch nie sprach er uns über das Weib.“
Und ich entgegnete ihr: „über das Weib soll man
nur zu Männern reden.“
„Rede auch zu mir vom Weibe, sprach sie; ich
bin alt genug, um es gleich wieder zu vergessen.“
Und ich willfahrte dem alten Weiblein und sprach
also zu ihm:
Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am
Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft.
Der Mann ist für das Weib ein Mittel: der Zweck ist
immer das Kind. Aber was ist das Weib für den Mann?
Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel.
Desshalb will er das Weib, als das gefährlichste
Spielzeug.
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und
das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andre ist
Thorheit.
Allzusüsse Früchte — die mag der Krieger nicht.
Darum mag er das Weib; bitter ist auch noch das
süsseste Weib.
Besser als ein Mann versteht das Weib die Kinder,
aber der Mann ist kindlicher als das Weib.
Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will
spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das
Kind im Manne!
Ein Spielzeug sei das Weib, rein und fein, dem
Edelsteine gleich, bestrahlt von den Tugenden einer
Welt, welche noch nicht da ist.
Der Strahl eines Sternes glänze in eurer Liebe!
Eure Hoffnung heisse: „möge ich den Übermenschen
gebären!“
In eurer Liebe sei Tapferkeit! Mit eurer Liebe
sollt ihr auf Den losgehn, der euch Furcht einflösst!
In eurer Liebe sei eure Ehre! Wenig versteht
sich sonst das Weib auf Ehre. Aber diess sei eure
Ehre, immer mehr zu lieben, als ihr geliebt werdet,
und nie die Zweiten zu sein.
Der Mann fürchte sich vor dem Weibe, wenn es
liebt: da bringt es jedes Opfer, und jedes andre Ding
gilt ihm ohne Werth.
Der Mann fürchte sich vor dem Weibe, wenn es
hasst: denn der Mann ist im Grunde der Seele nur
böse, das Weib aber ist dort schlecht.
Wen hasst das Weib am meisten? — Also sprach
das Eisen zum Magneten: „ich hasse dich am meisten,
weil du anziehst, aber nicht stark genug bist, an dich
zu ziehen.“
Das Glück des Mannes heisst: ich will. Das Glück
des Weibes heisst: er will.
„Siehe, jetzt eben ward die Welt vollkommen!“
— also denkt ein jedes Weib, wenn es aus ganzer
Liebe gehorcht.
Und gehorchen muss das Weib und eine Tiefe
finden zu seiner Oberfläche. Oberfläche ist des Weibes
Gemüth, eine bewegliche stürmische Haut auf einem
seichten Gewässer.
Des Mannes Gemüth aber ist tief, sein Strom
rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine
Kraft, aber begreift sie nicht. —
Da entgegnete mir das alte Weiblein: „Vieles
Artige sagte Zarathustra und sonderlich für Die, welche
jung genug dazu sind.
„Seltsam ist's, Zarathustra kennt wenig die Weiber,
und doch hat er über sie Recht! Geschieht diess dess¬
halb, weil beim Weibe kein Ding unmöglich ist?
„Und nun nimm zum Danke eine kleine Wahrheit!
Bin ich doch alt genug für sie!
„Wickle sie ein und halte ihr den Mund: sonst
schreit sie überlaut, diese kleine Wahrheit.“
„Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit!“ sagte
ich. Und also sprach das alte Weiblein:
„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche
nicht!“ —
Also sprach Zarathustra.
Vom Biss der Natter.
Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigen¬
baume eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine
Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter
und biss ihn in den Hals, so dass Zarathustra vor
Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht ge¬
nommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte
sie die Augen Zarathustra's, wand sich ungeschickt
und wollte davon. „Nicht doch, sprach Zarathustra;
noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest
mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.“ „Dein Weg
ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift
tödtet.“ Zarathustra lächelte. „Wann starb wohl je
ein Drache am Gift einer Schlange? — sagte er.
Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich
genug, es mir zu schenken.“ Da fiel ihm die Natter
von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.
Als Zarathustra diess einmal seinen Jüngern er¬
zählte, fragten sie: „Und was, oh Zarathustra, ist die
Moral deiner Geschichte?“ Zarathustra antwortete dar¬
auf also:
Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten
und Gerechten: meine Geschichte ist unmoralisch.
So ihr aber einen Feind habt, so vergeltet ihm
nicht Böses mit Gutem: denn das würde beschämen.
Sondern beweist, dass er euch etwas Gutes ange¬
than hat.
Und lieber zürnt noch, als dass ihr beschämt!
Und wenn euch geflucht wird, so gefällt es mir nicht,
dass ihr dann segnen wollt. Lieber ein Wenig mit¬
fluchen!
Und geschah euch ein grosses Unrecht, so thut
mir geschwind fünf kleine dazu! Grässlich ist Der an¬
zusehn, den allein das Unrecht drückt.
Wusstet ihr diess schon? Getheiltes Unrecht ist
halbes Recht. Und Der soll das Unrecht auf sich neh¬
men, der es tragen kann!
Eine kleine Rache ist menschlicher, als gar keine
Rache. Und wenn die Strafe nicht auch ein Recht
und eine Ehre ist für den Übertretenden, so mag ich
auch euer Strafen nicht.
Vornehmer ist's, sich Unrecht zu geben als Recht
zu behalten, sonderlich wenn man Recht hat. Nur
muss man reich genug dazu sein.
Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus
dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker
und sein kaltes Eisen.
Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche
Liebe mit sehenden Augen ist?
So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur
alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt!
7
So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden
freispricht, ausgenommen den Richtenden!
Wollt ihr auch diess noch hören? An Dem, der
von Grund aus gerecht sein will, wird auch noch die
Lüge zur Menschen-Freundlichkeit.
Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus!
Wie kann ich Jedem das Seine geben! Diess sei mir
genug: ich gebe Jedem das Meine.
Endlich, meine Brüder, hütet euch Unrecht zu
thun allen Einsiedlern! Wie könnte ein Einsiedler ver¬
gessen! Wie könnte er vergelten!
Wie ein tiefer Brunnen ist ein Einsiedler. Leicht
ist es, einen Stein hineinzuwerfen; sank er aber bis
zum Grunde, sagt, wer will ihn wieder hinausbringen?
Hütet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet
ihr's aber, nun, so tödtet ihn auch noch!
Also sprach Zarathustra.
Von Kind und Ehe.
Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder:
wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele,
dass ich wisse, wie tief sie sei.
Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe.
Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind
sich wünschen darf?
Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der
Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also
frage ich dich.
Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die
Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir?
Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich
nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst
du bauen deinem Siege und deiner Befreiung.
Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst
du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und
Seele.
Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern
hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe!
Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste
Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, — einen
Schaffenden sollst du schaffen.
7 *
Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das
Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen.
Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den
Wollenden eines solchen Willens.
Diess sei der Sinn und die Wahrheit deiner Ehe.
Aber Das, was die Viel-zu-Vielen Ehe nennen, diese
Überflüssigen, — ach, wie nenne ich das?
Ach, diese Armuth der Seele zu Zweien! Ach,
dieser Schmutz der Seele zu Zweien! Ach, diess er¬
bärmliche Behagen zu Zweien!
Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre
Ehen seien im Himmel geschlossen.
Nun, ich mag ihn nicht, diesen Himmel der Über¬
flüssigen! Nein, ich mag sie nicht, diese im himm¬
lischen Netz verschlungenen Thiere!
Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt,
zu segnen, was er nicht zusammenfügte!
Lacht mir nicht über solche Ehen! Welches Kind
hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?
Würdig schien mir dieser Mann und reif für den
Sinn der Erde: aber als ich sein Weib sah, schien
mir die Erde ein Haus für Unsinnige.
Ja, ich wollte, dass die Erde in Krämpfen bebte,
wenn sich ein Heiliger und eine Gans mit einander paaren.
Dieser gieng wie ein Held auf Wahrheiten aus
und endlich erbeutete er sich eine kleine geputzte
Lüge. Seine Ehe nennt er's.
Jener war spröde im Verkehre und wählte wähle¬
risch. Aber mit Einem Male verdarb er für alle Male
seine Gesellschaft: seine Ehe nennt er's.
Jener suchte eine Magd mit den Tugenden eines
Engels. Aber mit Einem Male wurde er die Magd
eines Weibes, und nun thäte es Noth, dass er darüber
noch zum Engel werde.
Sorgsam fand ich jetzt alle Käufer, und Alle haben
listige Augen. Aber seine Frau kauft auch der Listig¬
ste noch im Sack.
Viele kurze Thorheiten — das heisst bei euch
Liebe. Und eure Ehe macht vielen kurzen Thorheiten
ein Ende, als Eine lange Dummheit.
Eure Liebe zum Weibe und des Weibes Liebe
zum Manne: ach, möchte sie doch Mitleiden sein mit
leidenden und verhüllten Göttern! Aber zumeist er¬
rathen zwei Thiere einander.
Aber auch noch eure beste Liebe ist nur ein ver¬
zücktes Gleichniss und eine schmerzhafte Gluth. Eine
Fackel ist sie, die euch zu höheren Wegen leuchten soll.
Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt
erst lieben! Und darum musstet ihr den bittern Kelch
eurer Liebe trinken.
Bitterniss ist im Kelch auch der besten Liebe:
so macht sie Sehnsucht zum Übermenschen, so macht
sie Durst dir, dem Schaffenden!
Durst dem Schaffenden, Pfeil und Sehnsucht dem
Übermenschen: sprich, mein Bruder, ist diess dein Wille
zur Ehe?
Heilig heisst mir solch ein Wille und solche Ehe. —
Also sprach Zarathustra.
Vom freien Tode.
Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu
früh. Noch klingt fremd die Lehre: „stirb zur rechten
Zeit!“
Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra.
Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte
der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie
geboren sein! — Also rathe ich den Überflüssigen.
Aber auch die Überflüssigen thun noch wichtig
mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuss will
noch geknackt sein.
Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist
der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen
nicht, wie man die schönsten Feste weiht.
Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den
Lebenden ein Stachel und ein Gelöbniss wird.
Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich,
umringt von Hoffenden und Gelobenden.
Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein
Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der
Lebenden Schwüre weihte!
Also zu sterben ist das Beste; das Zweite aber
ist: im Kampfe zu sterben und eine grosse Seele zu
verschwenden.
Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem
Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht
wie ein Dieb — und doch als Herr kommt.
Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der
mir kommt, weil ich will.
Und wann werde ich wollen? Wer ein Ziel
hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten
Zeit für Ziel und Erben.
Und aus Ehrfurcht vor Ziel und Erben wird er
keine dürren Kränze mehr im Heiligthum des Lebens
aufhängen.
Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen:
sie ziehen ihren Faden in die Länge und gehen dabei
selber immer rückwärts.
Mancher wird auch für seine Wahrheiten und
Siege zu alt; ein zahnloser Mund hat nicht mehr das
Recht zu jeder Wahrheit.
Und Jeder, der Ruhm haben will, muss sich bei
Zeiten von der Ehre verabschieden und die schwere
Kunst üben, zur rechten Zeit zu — gehn.
Man muss aufhören, sich essen zu lassen, wenn
man am besten schmeckt: das wissen Die, welche lange
geliebt werden wollen.
Saure Äpfel giebt es freilich, deren Loos will,
dass sie bis auf den letzten Tag des Herbstes warten:
und zugleich werden sie reif, gelb und runzelig.
Andern altert das Herz zuerst und Andern der
Geist. Und Einige sind greis in der Jugend: aber
spät jung erhält lang jung.
Manchem missräth das Leben: ein Giftwurm frisst
sich ihm an's Herz. So möge er zusehn, dass ihm
das Sterben um so mehr gerathe.
Mancher wird nie süss, er fault im Sommer schon.
Feigheit ist es, die ihn an seinem Aste festhält.
Viel zu Viele leben und viel zu lange hängen sie
an ihren Ästen. Möchte ein Sturm kommen, der all
diess Faule und Wurmfressne vom Baume schüttelt!
Möchten Prediger kommen des schnellen Todes!
Das wären mir die rechten Stürme und Schüttler an
Lebensbäumen! Aber ich höre nur den langsamen
Tod predigen und Geduld mit allem „Irdischen“.
Ach, ihr predigt Geduld mit dem Irdischen? Dieses
Irdische ist es, das zu viel Geduld mit euch hat, ihr
Lästermäuler!
Wahrlich, zu früh starb jener Hebräer, den die
Prediger des langsamen Todes ehren: und Vielen ward
es seitdem zum Verhängniss, dass er zu früh starb.
Noch kannte er nur Thränen und die Schwermuth
des Hebräers, sammt dem Hasse der Guten und Ge¬
rechten, — der Hebräer Jesus: da überfiel ihn die
Sehnsucht zum Tode.
Wäre er doch in der Wüste geblieben und ferne
von den Guten und Gerechten! Vielleicht hätte er
leben gelernt und die Erde lieben gelernt — und das
Lachen dazu!
Glaubt es mir, meine Brüder! Er starb zu früh;
er selber hätte seine Lehre widerrufen, wäre er bis
zu meinem Alter gekommen! Edel genug war er zum
Widerrufen!
Aber ungereift war er noch. Unreif liebt der
Jüngling und unreif hasst er auch Mensch und Erde.
Angebunden und schwer ist ihm noch Gemüth und
Geistesflügel.
Aber im Manne ist mehr Kind als im Jünglinge,
und weniger Schwermuth: besser versteht er sich auf
Tod und Leben.
Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger
Nein-sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also
versteht er sich auf Tod und Leben.
Dass euer Sterben keine Lästerung sei auf Mensch
und Erde, meine Freunde: das erbitte ich mir von dem
Honig eurer Seele.
In eurem Sterben soll noch euer Geist und eure
Tugend glühn, gleich einem Abendroth um die Erde:
oder aber das Sterben ist euch schlecht gerathen.
Also will ich selber sterben, dass ihr Freunde
um meinetwillen die Erde mehr liebt; und zur Erde
will ich wieder werden, dass ich in Der Ruhe habe,
die mich gebar.
Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen
Ball: nun seid ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch
werfe ich den goldenen Ball zu.
Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde,
den goldenen Ball werfen! Und so verziehe ich noch
ein Wenig auf Erden: verzeiht es mir!
Also sprach Zarathustra.
Von der schenkenden Tugend.
1.
Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen
hatte, welcher sein Herz zugethan war und deren
Name lautet: „die bunte Kuh“ — folgten ihm Viele,
die sich seine Jünger nannten und gaben ihm das
Geleit. Also kamen sie an einen Kreuzweg: da sagte
ihnen Zarathustra, dass er nunmehr allein gehen wolle;
denn er war ein Freund des Alleingehens. Seine
Jünger aber reichten ihm zum Abschiede einen Stab,
an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange um die
Sonne ringelte. Zarathustra freute sich des Stabes
und stützte sich darauf; dann sprach er also zu seinen
Jüngern.
Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten
Werthe? Darum, dass es ungemein ist und unnützlich
und leuchtend und mild im Glanze; es schenkt sich
immer.
Nur als Abbild der höchsten Tugend kam Gold
zum höchsten Werthe. Goldgleich leuchtet der Blick
dem Schenkenden. Goldes-Glanz schliesst Friede zwi¬
schen Mond und Sonne.
Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich,
leuchtend ist sie und mild im Glanze: eine schenkende
Tugend ist die höchste Tugend.
Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Jünger:
ihr trachtet, gleich mir, nach der schenkenden Tugend.
Was hättet ihr mit Katzen und Wölfen gemeinsam?
Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Ge¬
schenken zu werden: und darum habt ihr den Durst,
alle Reichthümer in eure Seele zu häufen.
Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen
und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im
Verschenken-Wollen.
Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass
sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die
Gaben eurer Liebe.
Wahrlich, zum Räuber an allen Werthen muss
solche schenkende Liebe werden; aber heil und heilig
heisse ich diese Selbstsucht.
Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme,
eine hungernde, die immer stehlen will, jene Selbst¬
sucht der Kranken, die kranke Selbstsucht.
Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles
Glänzende; mit der Gier des Hungers misst sie Den,
der reich zu essen hat; und immer schleicht sie um
den Tisch der Schenkenden.
Krankheit redet aus solcher Begierde und unsicht¬
bare Entartung; von siechem Leibe redet die diebische
Gier dieser Selbstsucht.
Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes
und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung? — Und
auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende
Seele fehlt.
Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber
zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende
Sinn, welcher spricht: „Alles für mich.“
Aufwärts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleich¬
niss unsres Leibes, einer Erhöhung Gleichniss. Sol¬
cher Erhöhungen Gleichnisse sind die Namen der
Tugenden.
Also geht der Leib durch die Geschichte, ein
Werdender und ein Kämpfender. Und der Geist —
was ist er ihm? Seiner Kämpfe und Siege Herold,
Genoss und Wiederhall.
Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Böse:
sie sprechen nicht aus, sie winken nur. Ein Thor,
welcher von ihnen Wissen will!
Achtet mir, meine Brüder, auf jede Stunde, wo
euer Geist in Gleichnissen reden will: da ist der Ur¬
sprung eurer Tugend.
Erhöht ist da euer Leib und auferstanden; mit
seiner Wonne entzückt er den Geist, dass er Schöpfer
wird und Schätzer und Liebender und aller Dinge
Wohlthäter.
Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Strome
gleich, ein Segen und eine Gefahr den Anwohnenden:
da ist der Ursprung eurer Tugend.
Wenn ihr erhaben seid über Lob und Tadel, und
euer Wille allen Dingen befehlen will, als eines
Liebenden Wille: da ist der Ursprung eurer Tugend.
Wenn ihr das Angenehme verachtet und das
weiche Bett, und von den Weichlichen euch nicht
weit genug betten könnt: da ist der Ursprung eurer
Tugend.
Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese
Wende aller Noth euch Nothwendigkeit heisst: da ist
der Ursprung eurer Tugend.
Wahrlich, ein neues Gutes und Böses ist sie!
Wahrlich, ein neues tiefes Rauschen und eines neuen
Quelles Stimme!
Macht ist sie, diese neue Tugend; ein herrschender
Gedanke ist sie und um ihn eine kluge Seele: eine
goldene Sonne und um sie die Schlange der Erkenntniss.
2.
Hier schwieg Zarathustra eine Weile und sah mit
Liebe auf seine Jünger. Dann fuhr er also fort zu
reden: — und seine Stimme hatte sich verwandelt.
Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der
Macht eurer Tugend! Eure schenkende Liebe und
eure Erkenntniss diene dem Sinn der Erde! Also
bitte und beschwöre ich euch.
Lasst sie nicht davon fliegen vom Irdischen und
mit den Flügeln gegen ewige Wände schlagen! Ach,
es gab immer so viel verflogene Tugend!
Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde
zurück — ja, zurück zu Leib und Leben: dass sie der
Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn!
Hundertfältig verflog und vergriff sich bisher so
Geist wie Tugend. Ach, in unserm Leibe wohnt jetzt
noch all dieser Wahn und Fehlgriff: Leib und Wille
ist er da geworden.
Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher
so Geist wie Tugend. Ja, ein Versuch war der Mensch.
Ach, viel Unwissen und Irrthum ist an uns Leib ge¬
worden!
Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden — auch
ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es,
Erbe zu sein.
Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem
Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltete
bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn.
Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der
Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde
neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende
sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!
Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen ver¬
suchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen
sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich.
Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem
Kranken noch. Das sei seine beste Hülfe, dass er
Den mit Augen sehe, der sich selber heil macht.
Tausend Pfade giebt es, die nie noch gegangen
sind; tausend Gesundheiten und verborgene Eilande
des Lebens. Unerschöpft und unentdeckt ist immer
noch Mensch und Menschen-Erde.
Wachet und horcht, ihr Einsamen! Von der Zu¬
kunft her kommen Winde mit heimlichem Flügel¬
schlagen; und an feine Ohren ergeht gute Botschaft.
Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr
sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber
auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: —
und aus ihm der Übermensch.
Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die
Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um
sie, ein Heil bringender, — und eine neue Hoffnung!
3.
Als Zarathustra diese Worte gesagt hatte, schwieg
er, wie Einer, der nicht sein letztes Wort gesagt hat;
lange wog er den Stab zweifelnd in seiner Hand.
Endlich sprach er also: — und seine Stimme hatte
sich verwandelt.
Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr
geht nun davon und allein! So will ich es.
Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und
wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch:
schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch.
Der Mensch der Erkenntniss muss nicht nur seine
Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen
können.
Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man
immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr
nicht an meinem Kranze rupfen?
Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung
eines Tages umfällt? Hütet euch, dass euch nicht
eine Bildsäule erschlage!
Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was
liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber
was liegt an allen Gläubigen!
Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr
mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig
mit allem Glauben.
Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch
finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt,
will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde
ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer
anderen Liebe werde ich euch dann lieben.
Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden
sein und Kinder Einer Hoffnung: dann will ich zum
dritten Male bei euch sein, dass ich den grossen
Mittag mit euch feiere.
Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch
auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und
Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine
höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu
einem neuen Morgen.
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen,
dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne
seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn.
„Todt sind alle Götter: nun wollen wir,
dass der Übermensch lebe.“ — diess sei einst am
grossen Mittage unser letzter Wille! —
Also sprach Zarathustra.
Inhalt.
Vom Übermenschen und vom letzten Menschen 5
Von den drei Verwandlungen 29
Von den Lehrstühlen der Tugend 33
Von den Hinterweltlern 37
Von den Verächtern des Leibes 42
Von den Freuden- und Leidenschaften 45
Vom bleichen Verbrecher 48
Vom Lesen und Schreiben 52
Vom Baum am Berge 55
Von den Predigern des Todes 59
Vom Krieg und Kriegsvolke 62
Vom neuen Götzen 65
Von den Fliegen des Marktes _ 69
Von der Keuschheit 74
Vom Freunde 76
Von tausend und Einem Ziele _ 80
Von der Nächstenliebe _ 84
Vom Wege des Schaffenden _ 87
Von alten und jungen Weiblein 92
Vom Biss der Natter 96
Von Kind und Ehe 99
Vom freien Tode 102
Von der schenkenden Tugend 106