Joachim Nettelbeck’s
Lebens-Geſchichte.
Erſtes Baͤndchen.
Am 20ſten September 1738 ward ich zu
Colberg gebohren, und bekam dann den
Taufnamen Joachim. Mein Vater, Jo-
hann David Nettelbeck, war hier Brauer
und Brandtweinbrenner und ſtand bei der
Buͤrgerſchaft in beſonderer Liebe und An-
haͤnglichkeit. Dies Gluͤck iſt mir von ihm
uͤbererbt, und genieſſe es noch jetzt, in mei-
nem Alter, bei meinen lieben Mitbuͤrgern.
Meine Mutter war aus des Schiffers Blan-
ken Geſchlecht. Auch meiner beiden Pathen
— nemlich der Kaufleute, Herren Lorenz
Runge und Gruͤneberg — muß ich hier
dankbar erwaͤhnen, weil ſo manche ihrer vaͤ-
terlich gemeynten Vorſtellungen, und was
ſie mir ſonſt Gutes eingepraͤgt, bei mir ei-
nen Eindruck gemacht, der mich durch mein
ganzes Leben begleitet hat.
Der Guͤtige Leſer wolle ſich’s gefallen laſ-
ſen, etwas von meinen erſten Jugendjahren
zu hoͤren. Seit ich kaum das Alter von
dreiviertel Jahren erreicht, bin ich bei mei-
1. Bändchen. (1)
nen Groß-Eltern vaͤterlicher Seits erzogen
worden: aber ſobald ich habe lallen koͤnnen,
ſtand auch mein Sinn darauf, ein Schiffer
zu werden. Dies mag wohl daher kom-
men, daß mir dergleichen oftmals vorgeplau-
dert worden. Mein Hang dazu trieb mich
ſo gewaltig, daß ich aus jedem Holzſpahn,
aus jedem Stuͤckchen Baumrinde, was mir
in die Haͤnde fiel, kleine Schiffchen ſchni-
tzelte, ſie mit Segeln von Federn oder Pa-
pier ausruͤſtete, und damit auf Rinnſteinen
und Teichen, oder auf der Perſante, hand-
thierte.
Meines Vaters Bruder war Schiffer; und
keine groͤſſere Freude gab es fuͤr mich, als
wenn er mit ſeinem Schiffe hier im Hafen
lag. Denn da hatte ich zu Hauſe keine
Ruhe, ſondern bat, man moͤchte mich nach
der Muͤnde laſſen. O, welch ein vergnuͤgtes
Leben, wenn ich auf dem Schiffe war, und
mit den Schiffsleuten in ihrer Arbeit her-
umſprang!
Nicht viel geringer war meine Liebe und
Freude am Garten-Weſen: denn auch mein
Großvater war ein ſonderlicher Garten-
freund; nahm mich beſtaͤndig mit dahin; gab
mir ſogar ein klein Fleckchen Land zum Ei-
genthum und ließ mich ſehen und lernen,
was zur Garten-Arbeit gehoͤrte. Hier legte
ich Obſtkerne; ich verpflanzte, ich pfropfte
und oculirte; ich begoß und pflegte meine
Gewaͤchſe. Meine Kernſtaͤmmchen wuchſen
heran; und ſieben von dieſen ſelbſtgezogenen
Baͤumen ſind noch (wie ſehr es mir auch
um ſie leid that, da ich jetzt der Beſitzer
des nemlichen Gartens bin) in der letzten
franzoͤſiſchen Belagerung umgehauen worden.
An dieſes kleine, aber fuͤr mich unſchaͤtz-
bare Grundſtuͤck, deſſen Pflege noch in die-
ſem Augenblick die Freude meines Alters
ausmacht, heften ſich zugleich auch ein paar
meiner fruͤheſten und lebendigſten Erinne-
rungen, die ich darum nicht ganz mit Still-
ſchweigen uͤbergehen darf.
Jch mochte wohl ein Buͤrſchchen von 5
oder 6 Jahren ſeyn und noch in meinen er-
ſten Hoͤschen ſtecken, (alſo etwa um das
Jahr 1743 oder 44) als es hier bei uns,
und im Lande weit umher, eine ſo ſchrecklich
knappe und theure Zeit gab, daß viele Men-
ſchen vor Hunger ſtarben: Denn der Schef-
fel Roggen galt den, damals beinahe fuͤr
unerſchwinglich gehaltenen Preis von einem
Thaler acht Groſchen. Es kamen, von land-
einwaͤrts her, viele arme Leute nach Colberg,
die ihre kleinen hungrigen Wuͤrmer auf
Schiebkarren mit ſich brachten, um Korn
von hier zu holen, weil man Getreide-
Schiffe in unſerm Hafen erwartete, die der
grauſamen Roth ſteuern ſollten. Alle Stra-
ßen bei uns lagen voll von dieſen ungluͤck-
lichen ausgehungerten Menſchen. Meine
Großmutter, bei der ich, wie ſchon geſagt,
erzogen ward, ließ taͤglich mehrere Koͤrbe
voll Gruͤnkohl in unſerm Garten pfluͤcken,
kochte Einen Keſſel voll nach dem Andern
fuͤr unſre verſchmachtenden Gaͤſte, und mir
ward das gern uͤbernommene Ehren-Aemt-
chen zu Theil, ihnen dieſe Speiſe in kleinen
Schuͤſſelchen, nebſt einer Brodſchnitte, zuzu-
tragen. Da riſſen mir denn Alte und Junge
meinen Napf begierig aus der Hand, oder
auch wohl unter einander ſelbſt vor dem
Munde weg. Jch kann nicht ausſprechen,
welch einen ſchauderhaften Eindruck dieſe
Scene auf meine kindiſche Seele machte!
Endlich langte ein Schiff mit Roggen
auf der Rheede an, dem ſich tauſend ſehn-
ſuͤchtige Augen und Herzen entgegen richte-
ten. Aber, o Jammer! beim Einlaufen in
den Hafen ſtieß es gegen eine Steinkiſte
des Hafendammes und nahm ſo betraͤchtli-
chen Schaden, daß es, im Strome ſelbſt,
nur wenige Hundert Schritte weiter, der
Muͤnder Vogtey gegenuͤber, in den Grund
ſank. Sollte die koſtbare Ladung nicht ganz
verloren ſeyn, ſo mußten ſchleunige Anſtal-
ten getroffen werden, das verungluͤckte Fahr-
zeug wieder uͤber Waſſer zu bringen. Dazu
wurden denn zwei Schiffe benutzt, die eben
auch im Hafen lagen, und wovon das Eine
von meines Vaters Bruder gefuͤhrt wurde.
So war ich denn auch bei dieſem Empor-
winden, an welchem ich eine kindiſche Freude
hatte, beſtaͤndig zugegen; ward mitunter
auch wohl, als unnuͤtz und hinderlich, uͤber
Seite geſchoben, und habe daruͤber all dieſe
einzelnen Umſtaͤnde nur um ſo beſſer im Ge-
daͤchtniß behalten.
Gieng nun gleich das Wiederflottmachen
des Schiffes gluͤcklich von Statten, ſo war
doch das Korn durchnaͤßt, zum Vermahlen
untuͤchtig und die Hoffnung all der darauf
vertroͤſteten Menſchen vereitelt. Die Colber-
ger Buͤrger kauften den beſchaͤdigten Roggen
um ein Viertel des geltenden Marktpreiſes;
und da mein Vater damals koͤniglicher Korn-
meſſer im Orte war, ſo gieng auf dieſe
Weiſe die ganze geborgene Ladung durch
ſeine Haͤnde. Jeder ſuchte mit ſeinem Kauf
ſo gut, als moͤglich, zurecht zu kommen und
ihn auf’s ſchnellſte zu trocknen. Alle Stra-
ßen waren auf dieſe Weiſe mit Laken und
Schuͤrzen uͤberdeckt, auf welchen das Getreide
der Luft und Sonne ausgeſetzt wurde. Kurze
Zeit darauf erſchien ein zweites großes Korn-
ſchiff; und nun ward es endlich moͤglich, die
fremde Armuth zu befriedigen.
Jm naͤchſtfolgenden Jahre erhielt Colberg,
aus des großen Friedrichs verſorgender
Guͤte, ein Geſchenk, das damals hier zu
Lande noch voͤllig unbekannt war. Ein großer
Frachtwagen nemlich voll Kartoffeln, langte
auf dem Markte an; und durch Trommel-
ſchlag in der Stadt und auf den Vorſtaͤdten
ergieng die Bekanntmachung, daß jeder Gar-
tenbeſitzer ſich zu einer beſtimmten Stunde
vor dem Rathhauſe einzufinden habe, indem
des Koͤnigs Majeſtaͤt ihnen eine beſondre
Wohlthat zugedacht habe. Man ermißt leicht,
wie Alles und Jedes in eine ſtuͤrmiſche Be-
wegung gerieth; und das nur um ſo mehr,
je weniger man wußte, was es mit dieſem
Geſchenke zu bedeuten habe.
Die Herren vom Rathe zeigten nunmehr
der verſammleten Menge die neue Frucht
vor, die hier noch nie ein menſchliches Auge
erblickt hatte. Daneben ward eine umſtaͤnd-
liche Anweiſung verleſen, wie dieſe Kar-
toffeln gepflanzt und bewirthſchaftet, desglei-
chen wie ſie gekocht und zubereitet werden
ſollten. Beſſer freilich waͤre es geweſen,
wenn man eine ſolche geſchriebene oder ge-
bruckte Jnſtruktion gleich mit vertheilt haͤtte:
denn nun achteten in dem Getuͤmmel die We-
nigſten auf jene Vorleſung. Dagegen nah-
men die guten Leute die hochgeprieſenen
Knollen verwundert in die Haͤnde; rochen,
ſchmeckten und leckten dran; kopfſchuͤttelnd
bot ſie Ein Nachbar dem Andern; man brach
ſie von einander und warf ſie den gegen-
waͤrtigen Hunden vor, die dran herum
ſchnopperten und ſie gleichmaͤßig verſchmaͤh-
ten. Nun war ihnen das Urtel geſpro-
chen! „Die Dinger‟ — hieß es — „rie-
chen nicht, und ſchmecken nicht; und nicht
einmal die Hunde moͤgen ſie freſſen. Was
waͤre uns damit geholfen?‟ — Am Allge-
meinſten war dabei der Glaube, daß ſie zu
Baͤumen heranwuͤchſen, von welchen man zu
ſeiner Zeit aͤhnliche Fruͤchte herabſchuͤttle.
Alles dies ward auf dem Markte, dicht vor
meiner Eltern Thuͤre, verhandelt; gab auch
mir genug zu denken und zu verwundern
und hat ſich darum auch, bis auf’s Jota,
in meinem Gedaͤchtniß erhalten.
Jnzwiſchen ward des Koͤnigs Wille voll-
zogen und ſeine Segensgabe unter die an-
weſenden Garten-Eigenthuͤmer ausgetheilt,
nach Verhaͤltniß ihrer Beſitzungen; jedoch
ſo, daß auch die Geringeren nicht unter ei-
nigen Metzen ausgiengen. Kaum irgend
Jemand hatte die ertheilte Anweiſung zu ih-
rem Anbau recht begriffen. Wer ſie alſo
nicht geradezu, in ſeiner getaͤuſchten Erwar-
tung, auf den Kehrichthaufen warf, gieng
doch bei der Auspflanzung ſo verkehrt, als
moͤglich, zu Werke. Einige ſteckten ſie hie
und da einzeln in die Erde, ohne ſich weiter
um ſie zu kuͤmmern; Andre (und darunter
war auch meine liebe Großmutter mit ih-
rem, ihr zugefallenen Viert) glaubten das
Ding noch kluͤger anzugreifen, wenn ſie dieſe
Kartoffeln beiſammen auf Einen Haufen
ſchuͤtteten und mit etwas Erde bedeckten.
Da wuchſen ſie nun zu einem dichten Filz
in einander; und ich ſehe noch oft in meinem
Garten nachdenklich den Fleck drauf an, wo
ſolchergeſtalt die gute Frau hierinn ihr erſtes
Lehrgeld gab.
Nun mochten aber wohl die Herren vom
Rath gar bald in Erfahrung gebracht haben,
daß es unter den Empfaͤngern viele loſe Ver-
aͤchter gegeben, die ihren Schatz gar nicht
einmal der Erde anvertraut haͤtten. Dar-
um ward in den Sommer-Monaten durch
den Rathsdiener und Feldwaͤchter eine allge-
meine und ſtrenge Kartoffel-Schau ver-
anſtaltet und den widerſpenſtig Befundenen
eine kleine Geldbuße aufgelegt. Das gab
wiederum ein großes Geſchrei, und diente
auch eben nicht dazu, der neuen Frucht an
den Beſtraften beſſere Goͤnner und Freunde
zu erwecken.
Das Jahr nachher erneuerte der Koͤnig
ſeine wohlthaͤtige Spende durch eine aͤhnliche
Ladung. Allein diesmal verfuhr man dabei
hoͤheren Orts auch zweckmaͤßiger, indem zu-
gleich ein Landreuter mitgeſchickt wurde, der,
als ein gebohrner Schwabe, (Sein Name
war Eilert, und ſeine Nachkommen dauern
noch in Treptow fort) des Kartoffelbaues
kundig und den Leuten bei der Auspflanzung
behuͤlflich war, und ihre weitere Pflege be-
ſorgte. So kam alſo dieſe neue Frucht zu-
erſt ins Land, und hat ſeitdem, durch immer
vermehrten Anbau, kraͤftig gewehrt, daß nie
wieder eine Hungersnoth ſo allgemein und
druͤckend bei uns hat um ſich greifen koͤnnen.
Dennoch erinnere ich mich gar wohl, daß
ich erſt volle vierzig Jahre ſpaͤter (1785)
bei Stargard, zu meiner angenehmen Ver-
wunderung, die erſten Kartoffeln im freien
Felde ausgeſetzt gefunden habe.
Doch, es iſt wohl Zeit, daß ich von die-
ſen langen Abſchweifungen wieder in meine
goldnen Jugendjahre und zu meinen damali-
gen Lieblings-Beſchaͤftigungen zuruͤckkehre!
Bei manchen andern Kindereien war ich
auch ein großer Liebhaber von Tauben.
Von meinem Fruͤhſtuͤcks-Gelde ſparte ich
mir ſo viel am Munde ab, daß ich mir ein
Paar kaufen konnte. Das war nun eine
Herrlichkeit! Da aber meine Groß-Eltern
unter dem Poſthauſe, bei Herrn Frauendorf,
wohnten, ſo gab es hier keine Gelegenheit,
die Tauben ausfliegen zu laſſen. Jch machte
daher mit dem ſogenannten „Poſtjungen,‟
Johann Witte (nachherigem Poſt- und Banco-
Director in Memel) einen Accord, daß er
meine Tauben zu ſich nehmen, ich aber taͤg-
lich eine gewiſſe Portion Erbſen zum Fuͤttern
hergeben ſollte, die ich meinen Groß-Eltern
leider! heimlich in den Taſchen wegtrug.
Die Tauben vermehrten ſich: hinfolglich auch
die Futter-Erbſen.
Bei all dieſen Spielereien ward (wie-
derum leider!) die Schule verſaͤumt: ich
hatte weder Luſt noch Zeit dazu. Wenn
meine Großmutter meynte, ich ſaͤße fleiſſig
auf der Schulbank, ſo ſchiffte ich in Rinn-
ſteinen und Teichen, oder ich verkehrte mit
meinen Tauben; und das machte mir ſo viel
zu ſchaffen, daß ich weder bei Tage, noch
bei Nacht, davor ruhen konnte. Dieſe un-
ruhige Geſchaͤftigkeit hat mich auch nach-
mals in mein maͤnnliches Weſen, bei weit
wichtigern Dingen, und ſelbſt bis in mein
Alter, verfolgt. Freilich wohl habe ich mir
dabei weniger fuͤr mich, als fuͤr andre mei-
ner Mitmenſchen, zu thun und zu ſorgen
gemacht.
Einigen Vorſchub zu dieſen Poſſen that
mir auch wohl Pathe Runge, der nicht
Frau noch Kinder hatte, mich ſehr liebte
und ſich viel mit mir abgab. Endlich aber
nahm er mich einmal etwas ernſthafter in’s
Verhoͤr, (wie auch zuweilen von Pathe Gruͤ-
neberg geſchah) und gab mir zu bedenken,
daß, wenn ich Schiffer werden wollte, ſo
muͤßte ich auch fleiſſig in die Schule gehen,
eine firme Hand ſchreiben und gut rechnen
lernen; fonſt duͤrft’ ich nie an ſo etwas
denken. Mir fuhr das gewaltig auf’s Herz.
Jch ſann nach, was denn wohl von meinem
jetzigen Thun und Treiben abgeſtellt werden
muͤßte? — Was anders, als meine Tauben,
die mir ſo viel Zeit koſteten, und doch ſo
ſehr am Herzen lagen! Wie ich’s aber auch
bedenken mochte, ſo war es doch nicht an-
ders: — ich mußte meine lieben Thierchen
fahren laſſen, die ſich indeß anſehnlich ver-
mehrt hatten! Dies geſchah denn auch mit-
telſt eines foͤrmlichen ſchriftlichen Contracts,
wodurch ich den Johann Witte, kindiſcher
Weiſe, zu ihrem alleinigen Herrn und Be-
ſitzer einſetzte.
So war ich alſo meine Tauben los; und
nun kriegt’ ich einen ſo brennenden Trieb
zur Schule, daß mich die Lernbegierde auf
all meinen Schritten und Tritten verfolgte.
Jch wollte und mußte ja ein Schiffer wer-
den! Auch alle meine heiligen Chriſt-Ge-
ſchenke, woran es meine Herren Pathen
nicht fehlen lieſſen, hatten immer eine Be-
ziehung auf die Schifferſchaft. Bald war
es ein runder hollaͤndiſcher Matroſen-Hut,
bald lange Schifferhoſen, bald wieder Pfef-
ferkuchen, als Schiffer geformt, u. dergl.
So mocht’ es etwa in meinem achten
Jahre ſeyn, als Pathe Lorenz Runge mir,
unter andern Weihnachts-Beſcheerungen, auch
eine Anweiſung zur Steuermanns-Kunſt in
hollaͤndiſcher Sprache verehrte. Dies Buch
machte meine Phantaſie ſo rege, daß ich
Tag und Nacht fuͤr mich ſelbſt darinn ſtu-
dirte, bis mein Vater ein naͤheres Einſehen
hatte und mir bei einem hieſigen Schiffer,
Namens Neymann, zwei woͤchentliche Unter-
richtstage in jener edlen Kunſt ausmachte.
Dagegen blieben die andern vier Tage noch
zum Schreiben und Rechnen bei einem an-
dern geſchickten Lehrer, Namens Schuͤtz, be-
ſtimmt. Ein Jahr ſpaͤter aber ward die
Steuermanns-Kunſt die Hauptſache und alles
Andre in die Neben- und Privat-Stunden
verwieſen.
Mein Eifer fuͤr dieſe Sache gieng ſo
weit, daß ich im Winter oftmals bei ſtren-
ger Kaͤlte, wenn des Nachts klarer Himmel
war, und wenn meine Eltern glaubten, daß
ich im warmen Bette ſteckte, heimlich auf
den Wall und die hohe Katze gieng, mit
meinen Jnſtrumenten die Entfernung der
mir bekannten Sterne vom Horizont oder
vom Zenith maaß und darnach die Pol-
Hoͤhe berechnete. Dann, wenn ich des Mor-
gens erfroren nach Hauſe kam, verwun-
derte ſich Alles uͤber mich und erklaͤrte mich
fuͤr einen uͤberſtudierten Narren. Schlimmer
aber war es, daß man mich nun des Abends
ſorgfaͤltiger bewachte und mich nicht aus
dem Hauſe ließ. Dennoch ſuchte und fand
ich oftmals Gelegenheit, bei Nacht wieder
auf meine Sternwarte zu kommen; was mir
aber, wenn ich mich Morgens wieder ein-
ſtellte, von meinem Vater manche ſchwere
Ohrfeige einbrachte.
Aehnlicher Lohn ward mir auch ſonſt noch
fuͤr aͤhnlichen Eifer! Zu oft hatte ich gehoͤrt,
daß ein Seemann vor allen Dingen lernen
muͤſſe, gut klettern, um die Maſten bei Tag
und Nacht zu beſteigen, als daß ich nicht
haͤtte begierig werden ſollen, mich darin bei
Zeiten zu uͤben. Hiezu fand ſich eine er-
wuͤnſchte Gelegenheit durch die naͤhere Be-
kanntſchaft mit dem Sohne des damaligen
Gloͤckners. Er war in meinen Jahren, hieß
David, und wollte auch Schiffer werden.
Mit dieſem machte ich mich, auſſer der
Schulzeit, auf den Boden der großen Kirche
in das Sparrwerk und die Balkenverbin-
dungen bis hoch unter das kupferne Dach
hinauf. Hier ſtiegen und krochen wir uͤberall
herum, daß wir uns in der gewaltigen Ver-
zimmerung dieſes großen Gebaͤudes oftmals
dergeſtalt verirrten, daß Einer vom Andern
nicht wußte. Kamen wir dann wieder zu-
ſammen, ſo konnten wir nicht genug erzaͤh-
len, wo wir geweſen waren und was wir
geſehen hatten.
Bald gieng es nun zu einem Wagſtuͤck
weiter. Auch in die Spitze des Thurms
krochen wir in dem inwendigen Holzverbande
hinauf — ſo hoch, bis wir uns in dem be-
engten Raume nicht weiter ruͤhren konnten.
Aber eben dieſe Gewandtheit und Orts-Kennt-
niß kam mir in der Folge recht gut zu ſtat-
ten, um hier in der aͤußerſten Spitze, wo
ein Wetterſtrahl am 28ſten April 1777 ge-
zuͤndet hatte, das Feuer loͤſchen zu koͤnnen;
wie ich zu ſeiner Zeit weiter unten erzaͤh-
len werde.
Und nunmehr genuͤgte es uns nicht, bloß
innerhalb uns von Balken zu Balken zu
ſchwingen: es ſollte auch auſſerhalb des Ge-
baͤudes geklettert werden! So machten wir
uns denn auf das kupferne Dach; ſtiegen bei
den Glocken aus den Luken auf das Geruͤſt;
von da auf die Farſt des kupfernen Kirchen-
daches, und indem wir darauf, wie auf ei-
nem Pferde ritten, rutſchten wir laͤngshin
vom Thurm bis an den Giebel, und auf
gleiche Weiſe wieder zuruͤck. Ein paar Hun-
dert Zuſchauer gafften drunten, zu unſrer
großen Freude, nach uns beiden jungen Wag-
haͤlſen in die Hoͤhe. Auch mein Vater war,
ohne daß ich es wußte, unter dem Haufen
geweſen; und ſo konnt’ es nicht fehlen, daß
mich, bei meiner Heimkunft, fuͤr dieſe Helden-
that eine derbe Tracht Schlaͤge erwartete.
Aber die Luſt zu einem wiederhohlten Ver-
ſuche war mir dennoch nicht ausgetrieben
worden! Jch lauerte es nur ab, daß mein
Vater verreiſet war; und an einem ſchoͤnen
Sommertage, Nachmittags um vier Uhr,
als ich der Zucht des Herrn Schuͤtz entlau-
fen war, konnt ich nicht drum hin, meinen
lieben Thurm wieder zu beſuchen. Ein
Schulkamerad, David Spaͤrke, eines hieſigen
Schiffers Sohn, leiſtete mir Geſellſchaft.
Dieſen beredete ich, den Ritt auf dem Kir-
chendache mitzumachen. Jch zuerſt ſtieg aus
der Luke auf das Geruͤſt und von da auf
die Farſt des Daches. David Spaͤrke kam
mir zuverſichtlich nach, da er mich ſo flink
und ſicher darauf handthieren ſah.
Allein kaum war er mir ſechs oder acht
Fuß nachgeritten, ſo uͤberfiel ihn ploͤtzlich
eine Angſt, daß er erbaͤrmlich zu ſchreien
begann, ſich zu beiden Seiten an den kup-
fernen Reifen feſtklammerte und nicht vor-
nicht ruͤckwaͤrts kommen konnte. Jch kehrte
mich nach ihm um, kam dicht zu ihm heran;
und hier ſaßen wir nun Beide, ſahen uns
betruͤbt in’s Geſicht und wußten nicht, wo
aus noch ein. Er wagte es nicht, ſich um-
zudrehen: ich konnte an ihm nicht vorbei-
kommen. Dabei hoͤrte er nicht auf, in ſeiner
Seelenangſt aus vollem Halſe zu ſchreien.
Auf der Straße gab es einen Zuſammen-
lauf, und bald auch Huͤlfe. Denn der alte
Gloͤckner mit ſeinem Sohne und mehreren
Andern kamen auf den Thurm und zogen
meinen Freund David mit umgeworfenen
Leinen ruͤcklings nach dem Geruͤſt und ſo
vollends in die Luke hinein. Jch aber folgte,
wie
wie ein armer Suͤnder, zitternd und be-
bend nach.
Des naͤchſten Tages kam mein Vater
wieder nach Hauſe: und da gab es denn,
wie zu erwarten war, rechtſchaffene, aber
verdiente Pruͤgel. Damit aber nicht genug,
meynte auch Herr Schuͤtz, mein Lehrer, es
muͤſſe hier, der uͤbrigen Schulkameradſchaft
wegen, noch ein anderweitiges Beiſpiel zu
Nutz und Lehre ſtatuirt werden, und bat
ſich’s bei meinem Vater aus, gleichfalls noch
Gericht uͤber mich halten zu duͤrfen. Das
ward ihm gern bewilligt. Meine Strafe
beſtand in einem dreitaͤgigen Quartier in
dem dunkeln Carzer auf dem Schulhofe.
Hier ward ich Nachmittags, ſobald die
Schulzeit abgelaufen war, eingeſperrt und
immer erſt Morgens um acht Uhr, wo die
Schule wieder anging, herausgelaſſen. Nur
Mittags durft ich nach Hauſe gehen, um
zu eſſen; aber ſchon in der naͤchſten Stunde
auf meiner Schulbank mich einfinden und um
vier Uhr meine traurige Wanderung in die
Finſterniß wieder antreten.
Naͤchſt der Unbequemlichkeit einer einzigen
taͤglichen Mahlzeit bei einem (Gott weiß es)
geſegneten Appetite, war’s meine groͤßte
Quaal und Noth, daß ich die Schaam und
Schande nicht bemeiſtern konnte, von den
1. Bändchen. (2)
andern Schulbuben uͤber mein Abentheuer
noch ausgelacht zu werden. Niemand hatte
Mitleid mit meinem Unſtern; ausgenommen
ein einziges gutherziges Maͤdchen, die aͤlteſte
Tochter des Kaufmanns, Herrn Seeland.
(Wenn ich mich recht entſinne, nannte man
ſie Doͤrtchen) Doͤrtchen alſo ſteckte mir den
letzten Abend, mit Thraͤnen in den Augen,
ihre Semmel zu; konnt’ es aber nicht ſo
heimlich abthun, daß es nicht von den An-
dern waͤre geſehen und verrathen worden.
Die Semmel ward mir vom Lehrer wieder
abgenommen und confiſcirt. Jch weinte;
ſie weinte; Herr Schuͤtz ſelbſt konnte ſich
deſſen nicht erwehren. Jch bekam meine
Semmel zuruͤck: aber bloß — wie er hin-
zuſetzte — um das gute Kind zu beruhi-
gen. — Jch habe nachher, im Jahre 1782
(Alſo nach Verlauf von 34 Jahren!) die
Freude gehabt, dieſes nemliche Doͤrtchen
Seeland in Memel wieder anzutreffen.
Jhre Eltern waren in ihrem Wohlſtande
zuruͤckgekommen, den ſie damals durch eine
Auswanderung nach Rußland zu verbeſſern
hofften. Jch hatte jene Semmel noch nicht
vergeſſen; und es hat mir wohlgethan, ſie
einigermaaßen vergelten zu koͤnnen.
Endlich, da ich etwa eilf Jahre alt ſeyn
mochte, ſollte es, zu meiner unſaͤglichen
Freude, Ernſt mit meiner kuͤnftigen Beſtim-
mung werden. Meines Vaters Bruder nahm
mich auf ſein Schiff, die Suſanna, als Ka-
juͤten-Waͤchter; und ſo gieng meine erſte
Ausflucht nach Amſterdam. Hier ſah ich
nun eine Menge großer Schiffe auf dem Y
vor Anker liegen, die nach Oſt- und Weſt-
Jndien gehen ſollten. Taͤglich ward auf
ihnen mit Trommeln, Pauken und Trompe-
ten muſicirt, oder mit Kanonen geſchoſſen.
Das machte mir allmaͤhlich das Herz groß!
Jch dachte: Wer doch auch auf ſo einem
Schiffe fahren koͤnnte! — und das gieng
mir nur um ſo viel mehr im Kopfe herum,
als es damals unter all unſern Schiffsleu-
ten, wie ich oft gehoͤrt hatte, fuͤr einen
Glaubens-Artikel galt: daß, wer nicht, von
Holland aus, auf dergleichen Schiffen gefah-
ren waͤre, auch fuͤr keinen rechtſchaffenen
Seemann gelten koͤnnte. Gerade das aber
machte ja mein ganzes Sinnen und Denken
aus! — Jm Vorbeigehn will ich aber noch
hinzufuͤgen, daß jener Glaube auf einem
ganz guten Grunde beruhte. Man findet
wirklich bei keiner Nation eine groͤßere Ord-
nung auf den Schiffen, als bei den Hollaͤn-
dern, auf ſolchen bedeutenden Fahrten in
fremde Welttheile.
Wovon mir das Herz voll war, gieng
mir auch alle Augenblicke der Mund uͤber.
Jch geſtand meinem Oheim, wie gerne ich
am Bord eines ſolchen anſehnlichen Oſtin-
dien-Fahrers ſeyn und die Reiſe mitmachen
moͤchte. Er gab mir immer die einzige Ant-
wort, die darauf paßte: Daß ich nicht klug
im Kopfe ſeyn muͤßte. Endlich aber ward
dieſer Hang in mir zu maͤchtig, als daß ich
ihm laͤnger widerſtehen konnte. Jn einer
Nacht, zwei Tage vor unſrer Abreiſe, ſchluͤpfte
ich heimlich in unſre angehaͤngte Joͤlle —
ganz wie ich gieng und ſtand und ohne das
geringſte von meinen Kleidungsſtuͤcken mit
mir zu nehmen. Man ſollte nemlich nicht
glauben, daß ich deſertirt, ſondern daß ich
ertrunken ſey; und wollte ſo verhindern,
daß mir nicht weiter auf den andern Schif-
fen nachgeſpuͤrt wuͤrde. Unter dieſen aber
hatte ich mir Eins auf’s Korn gefaßt, von
welchem mir bekannt geworden war, daß es
am andern naͤchſten Morgen nach Oſtindien
unter Segel gehen ſollte. Das Letztere zwar
war richtig: aber uͤber ſeine Beſtimmung
befand ich mich im Jrrthum: denn es war
zum Sklaven-Handel auf der Kuͤſte von
Guinea beſtimmt.
Still und vorſichtig kam ich mit meiner
Joͤlle an der Seite dieſes Schiffes an, ohne
von irgend Jemand auf demſelben bemerkt
zu werden. Eben ſo ungeſehen ſtieg ich an
Bord, indem ich mein kleines Fahrzeug mit
dem Fuße zuruͤckſtieß und es treibend ſeinem
Schickſal uͤberließ. Bald aber ſammlete ſich
das ganze Schiffsvolk (Es waren deren
84 Koͤpfe, wie ich nachmals erfuhr) ver-
wundert um mich her. Jeder wollte wiſſen,
woher ich kaͤme? wer ich waͤre? was ich
wollte? Statt aller Antwort — Und was
haͤtt’ ich auch ſagen koͤnnen? — fing ich an,
erbaͤrmlich zu weinen.
Der Kapitain war dieſe Nacht nicht an
Bord. Man brachte mich alſo zu den Steu-
erleuten, welche das Verhoͤr in’s Kreuz und
in die Queere mit mir erneuerten. Auch
hier hatt’ ich nichts, als Thraͤnen und
Schluchzen. „Aha, Burſche!‟ legte ſich
endlich Einer auf’s Rathen — „Jch merke
ſchon! Du biſt von einem Schiffe weggelau-
fen und denkſt, daß wir dich mitnehmen
ſollen?‟ — Das war ganz meines Herzens-
Meynung. Jch ſtammelte alſo ein Ja dar-
auf hervor; konnte mich aber diesmal nicht
entſchlieſſen, noch weiter herauszubeichten.
Jnzwiſchen hatte man einiges Mitleid mit
mir; gab mir ein Glas Wein, ſammt einem
Butterbrod und Kaͤſe, und wies mir eine
Schlafſtelle an, mit dem Bedeuten, daß mor-
gen fruͤh der Kapitain an Bord kommen
werde, der mich vielleicht wohl mitnehmen
moͤchte. — Da lag ich nun die ganze Nacht
ſchlaflos, und uͤberdachte, was ich ſagen und
verſchweigen wollte.
Am andern Morgen, mit Tages-Anbruch,
fand ſich der Lootſe ein; der Anker ward
aufgewunden und man machte ſich ſegelfer-
tig; wobei ich treuherzig und nach Kraͤften
mit Hand anlegte. Unter dieſen Beſchaͤfti-
gungen kam endlich auch der Kapitain heran.
Jch ward ihm vorgeſtellt; und auch ſeine
erſte und natuͤrlichſte Frage war: Was ich
auf ſeinem Schiffe wollte? — Jch fuͤhlte
mich nun ſchon ein wenig gefaßter, und gab
ihm uͤber mein Wie und Woher ſo ziemlich
ehrlichen Beſcheid; nur ſetzte ich hinzu (Und
dieſe Luͤge hat mir nachmals oft bitter leid
gethan: denn mein Oheim war gegen mich
die Guͤtigkeit ſelbſt, als ob ich ſein eigen
Kind waͤre Dieſer habe mich auf der Reiſe
oftmals unſchuldig geſchlagen; wie das denn
auch nur noch geſtern geſchehen ſey. Jch
koͤnne dies nicht laͤnger ertragen; und ſo
ſey ich heimlich weggegangen, und baͤte
flehentlich, der Kapitain moͤchte die Guͤte
haben, mich anzunehmen. Jch wollte gerne
gut thun.
Nun ich einmal ſo weit gegangen war,
durft’ ich auch die richtige Antwort auf die
weitere Frage nach meines Oheims Namen
und Schiffe nicht ſchuldig bleiben. „Gut!‟
ſagte der Kapitain — „Jch werde mit dem
Manne daruͤber ſprechen.‟ — Das klang
nun gar nicht auf mein Ohr! Jch hub von
neuem an zu weinen; ſchrie, ich wuͤrde uͤber
Bord ſpringen und mich erſaͤufen, und trieb
es ſo arg und klaͤglich, (Mir war aber auch
gar nicht wohl um’s Herz!) daß nach und
nach das Mitleid bei meinem Richter zu
uͤberwiegen ſchien. Er gieng mit ſeinen
Steuerleuten in die Kajuͤte, um die Sache
ernſtlicher zu uͤberlegen; ich aber lag indeß,
von Furcht und Hoffnung hin und her
geworfen, wie auf der Folter: denn die
Schande, vielleicht zu meinem Oheim zu-
ruͤckgebracht zu werden, ſchien mir uner-
traͤglich.
Endlich rief man mich in die Kajuͤte.
„Jch habe mir’s uͤberlegt;‟ hub hier der
Kapitain an — „und du magſt bleiben.
Du ſollſt Steuermanns-Junge ſeyn und mo-
natlich ſechs Gulden Gage haben; auch will
ich fuͤr deine Kleidungsſtuͤcke ſorgen. Doch,
hoͤre, ſobald wir mit dem Schiffe in den
Texel kommen, ſchreibſt du ſelbſt an deines
Vaters Bruder und erklaͤrſt ihm den ganzen
Zuſammenhang. Den Brief will ich ſelbſt
leſen und auch fuͤr ſeine ſichre Beſtellung
ſorgen.‟ — Man denke, wie freudig ich
einſchlug, und was fuͤr ein Stein mir vom
Herzen fiel!
Jetzt giengen wir auch unter Segel. Al-
lein ich will es auch nur geſtehen, daß, ſo
wie ich meines Oheims Schiff ſo aus der
Ferne darauf anſah, mir’s innerlich leid
that, es bis zu dieſem thoͤrichten Schritte
getrieben zu haben. Trotz dieſem Herzweh,
erwog ich, daß er nicht mehr zuruͤckgethan
werden konnte, wofern ich nicht vor Beſchaͤ-
mung vergehen ſollte. Jch machte mich alſo
ſtark; und als wir im Texel ankamen, ſchrieb
ich meinen Abſchiedsbrief, den der Kapitain
las und billigte und mein Steuermann an
die Poſt-Schuyte beſorgen ſollte.
Wie die Folge ergeben hat, iſt jedoch die-
ſer Brief, mit oder ohne Schuld des Beſtel-
lers, nicht an meinen Oheim gelangt; ent-
weder daß Dieſer zu fruͤh von Amſterdam
abgegangen, oder daß das Blatt unterweges
verloren gegangen. Mein Tod ſchien alſo
ungezweifelt: denn man glaubte, (wie ich in
der Folge erfuhr) ich ſey in der Nacht aus
der Joͤlle gefallen, die man am naͤchſten
Morgen zwiſchen andern Schiffen umhertrei-
bend gefunden hatte.
Nachdem wir im Texel unſre Ladung,
Waſſer, Proviant und alle Zubehoͤr, welche
der Sklaven-Handel erfordert, an Bord ge-
nommen hatten, giengen wir in See. Mein
Kapitain hieß Gruben und das Schiff
Afrika. Alle waren mir gut und geneigt;
ich ſelbſt war vergnuͤgt und ſpuͤrte weiter
kein Heimweh. Wir hatten zwei Neger von
der Kuͤſte von Guinea, als Matroſen, an
Bord. Dieſe gab mir mein Steuermann zu
Lehrern in der dort gewoͤhnlichen Landes-
ſprache Laͤngs der Kuͤſte von Guinea, bedient man
ſich einer Sprache, die in einem bunten Ge-
miſch von portugieſiſchen, noch mehreren eng-
liſchen und aus den Reger-Mundarten herge-
nommenen Woͤrtern beſteht, und womit man
ſich uͤberall beim Handel verſtaͤndlich macht.
Tiefer landeinwaͤrts aber ſind ganz davon ab-
weichende Sprachen im Gange, und auch
dieſe wieder unter ſich ſelbſt dergeſtalt ver-
ſchieden, daß, wenn man irgendwo einen
Sklaven aus dem Jnnern kauft, und nur
Eine Meile weiter einen Andern von einer
verſchiedenen Nation, Beide ſich unter einan-
der ſchwerlich verſtehen werden.
Anm. des Vf.; und ich darf wohl ſagen, daß
ſie an mir einen gelehrigen Schuͤler fanden.
Denn meine Luſt, verbunden mit der Leich-
tigkeit, womit man in meinem damaligen Al-
ter fremde Sprachtoͤne ſich einpraͤgt, brach-
ten mich binnen kurzem zu der Fertigkeit,
daß ich nachher an der Kuͤſte meinem Steu-
ermann zum Dollmetſcher dienen konnte.
Und das war es eben, was er gewollt hatte.
Unſre Fahrt war gluͤcklich, aber ohne be-
ſonders merkwuͤrdige Vorfaͤlle. Jn der
ſechsten Woche erblickten wir St. Antonio,
Eine von den Jnſeln des gruͤnen Vorgebuͤr-
ges, (Capo verde) und drei Wochen ſpaͤter
hatten wir unſer Reiſe-Ziel erreicht und
giengen an der Pfeffer-Kuͤſte, bei Cap Me-
ſurado, unter 6 Grad noͤrdlicher Breite, vor
Anker, um uns mit friſchem Waſſer und
Brennholz zu verſorgen. Zugleich war dies
die erſte Station, von wo aus unſer Han-
del betrieben werden ſollte.
Spaͤterhin glengen wir, oberhalb Windes,
weiter oͤſtlich nach Cap Palmas; und hier
erſt begann das Verkehr lebendiger zu wer-
den. Die Schaluppe wurde mit Handels-
Artikeln beladen, mit Lebensmitteln fuͤr 12
Mann Beſatzung auf ſechs Wochen verſehen
und mit ſechs kleinen Drehbaſſen, die ein
Pfund Eiſen ſchoſſen, ausgeruͤſtet. Mein
Steuermann befehligte im Boot; ich aber,
ſein kleiner Dollmetſcher, blieb auch nicht da-
hinten, und ward ihm im Handel vielfach
nuͤtzlich. Wir machten in dieſem Fahrzeuge
drei Reiſen laͤngs der Kuͤſte, entfernten uns
bis zu 50 Meilen vom Schiffe und waren
gewoͤhnlich drei Wochen abweſend. Nach
und nach kauften wir hierbei 24 Sklaven,
Maͤnner und Frauen, (Auch eine Mutter
mit einem einjaͤhrigen Kinde war dabei!) eine
Anzahl Elephanten-Zaͤhne und etwas Gold-
ſtaub zuſammen. Bei dem letzten Abſtecher
ward auch der Europaͤiſche Briefſack auf dem
Hollaͤndiſchen Haupt-Caſtell St. George de
la Mina von uns abgegeben.
Unſer Schiff fanden wir, bei unſerer Heim-
kehr, etwas weiter oſtwaͤrts, nach der Rheede
von Laque la How oder Cap Lagos vorge-
ruͤckt. Acht unſrer Gefaͤhrten waren, in der
Zwiſchenzeit, auf demſelben, in Folge des
ungeſunden Klima, geſtorben. Dagegen hatte
der Kapitain anderthalb Hundert Schwarze,
beiderlei Geſchlechts, eingekauft und einen
guten Handel mit Elfenbein und Goldſtaub
gemacht. Fuͤr alle dieſe Artikel gilt Cap
Lagos als eine Haupt-Station, weil landein-
waͤrts ein großer See, von vielen Meilen
lang und breit, vorhanden iſt, auf welchem
die Sklaven von den Menſchenhaͤndlern (Kaffi-
cieren) aus dem Jnnern in Canots herbeige-
fuͤhrt werden.
Gerade in dieſer Gegend war auch Kapi-
tain Gruben bei den hier anſaͤßigen reichen
Sklavenhaͤndlern von Alters her wohl be-
kannt und gern gelitten. Dennoch war ihm
ſchon auf einer vorigen Reiſe hieher ein
Plan fehlgeſchlagen, den er entworfen hatte,
ſich, zum Vortheil der Hollaͤndiſchen Regie-
rung, an dieſem wohlgelegenen Platze unver-
merkt feſter einzuniſten. Er hatte es mit
den reichen Negern verabredet, ein abgebun-
denes hoͤlzernes Haus, nach Europaͤiſcher
Bauart, mitzubringen und dort aufzurichten,
worin zehn bis zwanzig Weiſſe wohnen koͤnn-
ten, und welches durch einige, daneben auf-
gepflanzte Kanonen geſchuͤtzt werden ſollte.
Als es aber fertig da ſtand, kamen dieſe
Anſtalten den guten Leutchen doch ein wenig
bedenklich vor. Sie bezahlten lieber dem
Kapitain ſein Haͤuschen, das ſo ziemlich ei-
ner kleinen Feſtung glich, reichlich mit Gold-
ſtaub; und ſo ſahen es auch noch meine Au-
gen, indem es von einem reichen Kafficier
bewohnt wurde.
Nachdem wir von hier noch eine Boot-
reiſe, gleich den vorigen, und mit eben ſo
gutem Erfolg, gemacht hatten, giengen wir,
nach vier bis fuͤnf Wochen, mit dem Schiffe
weiter nach Axim, dem erſten Hollaͤndiſchen
Kaſtell an dieſer Kuͤſte; wo denn auch fortan
der Schaluppen-Handel ein Ende hatte. Fer-
ner ſteuerten wir, Cabo tres Puntas vorbei,
nach Accada, Boutrou, Saconda, Chama,
St. Georg de la Mina und Moure. Ue-
berall wurden Einkaͤufe gemacht; ſo daß wir
endlich unſre volle Ladung, beſtehend in 420
Negern jedes Geſchlechts und Alters, bei-
ſammen hatten. Alle dieſe Umſtaͤnde ſind
mir noch jetzt, in meinem hohen Alter, ſo
genau und lebendig im Gedaͤchtniſſe, als
wenn ich ſie erſt vor ein paar Jahren erlebt
haͤtte.
Nunmehr gieng die Reiſe von der Afrika-
niſchen Kuͤſte nach Surinam, queer uͤber
den Atlantiſchen Ocean, hinuͤber, wo unſre
Schwarzen verkauft werden ſollten. Waͤh-
rend neun bis zehn Wochen, die wir in
See waren, ſahen wir weder Land noch
Strand; erreichten aber unſern Beſtimmungs-
Ort gluͤcklich, vertauſchten unſre ungluͤckliche
Fracht gegen eine Ladung von Kaffee und
Zucker, und traten ſodann den Ruͤckweg nach
Holland an. Wir brauchten dazu wiederum
acht bis neun Wochen, bis wir endlich, wohl-
behalten, im Angeſicht von Amſterdam den
Anker fallen lieſſen. Es war im Junius
1751, und die ganze Reiſe hin und zuruͤck
hatte 21 Monate gedauert. Eilf Leute von
unſrer Mannſchaft waren waͤhrend dieſer
Zeit verſtorben.
Jn Amſterdam ließ ich es mein Erſtes
ſeyn, nach Colberg an meine Eltern zu
ſchreiben und ihnen Bericht von meiner
abentheuerlichen Reiſe zu erſtatten. Denke
man ſich ihr freudiges Erſtaunen beim Em-
pfang dieſer Zeitung! Jch war todt, und
war wieder lebendig geworden! Jch war
verloren und war wiedergefunden! Jhre
Empfindungen druͤckten ſich in den Briefen
aus, die ich unverzuͤglich von dort her er-
hielt. Segen und Fluch wurden mir darinn
vorgeſtellt. Jch Ungluͤckskind waͤre ja noch
nicht einmal eingeſegnet! Augenblicklich ſollt’
ich mich aufmachen und nach Hauſe kommen!
Es traf ſich erwuͤnſcht, daß ich mich in
Amſterdam mit einem Landsmanne, dem
Schiffer Chriſtian Damitz, zuſammen fand.
Auf ſeinem Schiffe gieng ich nach Colberg
zuruͤck. Von meinem Empfange daheim
aber thue ich wohl am beſten, zu ſchweigen.
Jn meiner Vaterſtadt blieb ich nun und
hielt mich wieder zum Schul-Unterricht, bis
ich mein vierzehntes Jahr erreicht und die
Confirmation hinter mir hatte. Dann aber
war auch laͤnger mit mir kein Halten; ich
wollte und mußte zur See, wie der Fiſch
in’s Waſſer, und mein Vater uͤbergab mich
(zu Oſtern 1752) an Schiffer Mich. Damitz,
der ſo eben von Colberg nach Memel nnd
von da nach Liverpool abgehen wollte, und
in den er ein beſonderes Vertrauen ſetzte.
Beide Fahrten waren gluͤcklich. Wir gien-
gen weiter nach Duͤnkirchen, wo wir eine
Ladung Taback einnahmen; dann uͤber Nor-
wegen nach Danzig — und ſo kam ich, kurz
nach Neujahr, zu Lande, um 19 Thaler Loͤh-
nung reicher, nach Colberg zuruͤck. Jch
glaubte Wunder, was ich in dieſen neun
Monaten verdient haͤtte! Und noch vor we-
nig Jahren brachten es unſre Matroſen
wohl auf 15 und mehr Thaler monatlich.
So aͤndern ſich die Zeiten!
Jn den beiden naͤchſtfolgenden Jahren
(1753 und 54) ſchwaͤrmte ich auf mehr als
Einem Colbergſchen Schiffe, und unter ver-
ſchiedenen Kapitainen, auf der Oſt- und
Nordſee umher, und war bald in Daͤnemark
und Schweden, bald in England und Schott-
land, in Holland und Frankreich zu finden.
Auf all dieſen Reiſen entſinn’ ich mich aber
keines Dings, das hier wieder erwaͤhnt zu
werden verdiente: denn Sturm und gut
Wetter, und was dem weiter angehoͤrt und
auf ſolchen Reiſen unausbleiblich vorfaͤllt,
ſind bei einem Seemann etwas Alltaͤgliches,
und es iſt meine Art nicht, davon viel Auf-
hebens zu machen.
Eben darum aber mochte dies einfoͤrmige
Leben meinem feurigen Sinn laͤnger nicht
anſtehen. Der alte Hang zum Abentheuern
erwachte; ſo daß ich in Amſterdam, wo ich
mit Kapitain Joach. Blank, einem alten lie-
ben Colbergſchen Landsmann und Verwand-
ten, zuſammentraf, der Verſuchung zu einem
weitern Ausflug laͤnger nicht widerſtehen
konnte, ſondern mich, ohne weitere Erlaub-
niß von Hauſe, flugs und freudig auf ſein
Schiff Chriſtina, das nach Surinam beſtimmt
war, als Konſtabler verdung. Als indeß
auf der Hinfahrt unſer Steuermann das
Ungluͤck hatte, uͤber Bord zu fallen und zu
ertrinken, kam ich fuͤr dieſe Reiſe zu der
Ehre, den Unter-Steuermann vorzuſtellen.
Daß ich mich hier auf eine ausfuͤhrliche
Beſchreibung der Kolonie Surinam einlaſſe,
wird wohl nicht von mir erwartet werden.
Man weiß, daß ſie ihren Namen von dem
Fluſſe Surinam fuͤhrt, an welchem auch dritt-
halb Meilen aufwaͤrts die Hauptſtadt Para-
maribo gelegen iſt. An ſeiner Muͤndung iſt
er wohl zwei Meilen breit und bleibt gegen
60 Meilen landeinwaͤrts, auch bei der nie-
drigſten Ebbe, fuͤr kleinere Fahrzeuge noch
Schiffbar. Nur wenig geringer iſt der, mit
ihm verbundene Fluß Comandewyne, welcher
bis gegen 50 Meilen aufwaͤrts befahren
wird. Mit beiden ſteht noch eine Menge
todter Arme oder Kreeks in Verbindung, und
an allen Ufern hinauf draͤngen ſich die Zucker-
und
und Kaffee-Plantagen; waͤhrend alles uͤbrige
Land eine faſt undurchdringliche Waldung
ausmacht. Eben dadurch aber wird dieſe
Kolonie Eine der ungeſundeſten in der Welt;
und wenn eine Schiffs-Equipage von 40
Mann binnen den vier Monaten, welche man
hier gewoͤhnlich verweilt, nur 8 bis 10 Todte
zaͤhlt, ſo wird dies fuͤr ein auſſerordentliches
Gluͤck gehalten.
Dieſe große Sterblichkeit hat aber zum
Theil auch wohl ihren Grund in den an-
ſtrengenden Arbeiten, wozu die Schiffsmann-
ſchaften nach hieſigem Gebrauch angehalten
werden: denn ſie muͤſſen ebenſowohl den
Transport der mitgebrachten Ladung an euro-
paͤiſchen Guͤtern nach den einzelnen Planta-
gen, als die Ruͤckfracht aus denſelben an
Kolonial-Waaren, beſorgen. Man bedient
ſich dazu einer Art von Fahrzeugen, Punten
genannt, die wie Prahme gebauet ſind und
ein zugeſpitztes, mit Schilf gedecktes Wet-
terdach tragen; ſo daß ſie das Anſehen eines,
auf dem Waſſer ſchwimmenden, deutſchen
Bauerhauſes gewaͤhren. Zwei ſolcher Pun-
ten werden jedem Schiffe zugegeben; und mir,
als Unter-Steuermann, kam es zu, mit Huͤlfe
von vier Matroſen, die Fahrten auf den
Stroͤmen damit zu verrichten, wozu denn oft
14 Tage, und noch laͤngere Zeit, erfordert
wurden.
1. Bändchen. (3)
Bei unſrer Ankunft gab es auf dem
Schiffe ein kleines Abentheuer, das unſern
Schiffer eine Zeitlang in nicht geringe Sorge
ſetzte, endlich aber doch einen ziemlich luſti-
gen Ansgang gewann. Unter der Ladung
nemlich, die wir in Amſterdam eingenommen
hatten, befand ſich auch eine Kiſte von etwa
drei Fuß in’s Gevierte, woruͤber der Kapitain
zwar das richtige Connoiſſement in Haͤnden
hatte, ohne gleichwohl, beim Loͤſchen vor Pa-
ramaribo, die Kiſte ſelbſt an Bord wieder
auffinden zu koͤnnen. Sie war an einen dor-
tigen Juden adreſſirt, deſſen wiederholte Nach-
frage, trotz allem Suchen, unbefriedigt blei-
ben mußte. Dieſe Verlegenheit ſchlau be-
nutzend, brachte endlich der Hebraͤer nicht
nur ſeine Klage bei dem hollaͤndiſchen Fiſcal
(Kolonie-Richter) an, ſondern reichte zugleich
ein langes Verzeichniß ein von goldenen und
ſilbernen Taſchenuhren, Geſchmeiden und an-
dern Koſtbarkeiten, zu einem Belauf von bei-
nahe 4000 Gulden an Werthe, die in der
Kiſte enthalten geweſen. Der Prozeß gieng
ſeinen Gang, und der Jude brachte ſeine Be-
weiſe ſo buͤndig vor, daß das endlich erfolgte
rechtskraͤftige Erkenntniß meinen Kapitain
zur voͤlligen Schadloshaltung binnen 14 Ta-
gen verurtheilte, dem es uͤbrigens uͤberlaſſen
blieb, ſich wiederum an ſeine Leute zu halten.
Ganz unerwartet aber fand ſich nunmehr
die verwuͤnſchte Kiſte im hintern unterſten
Schiffsraum wieder auf, wo ſie, durch ir-
gend ein Verſehen, hoch mit Brennholz uͤber-
ſtauet geweſen war. Gluͤcklicher Weiſe hatte
das Siegel derſelben, das auch auf dem Con-
noiſſement abgedruckt war, keinen Schaden
gelitten. Aber zugleich kam es uns wunder-
lich vor, daß die Kiſte, beim Heben und
Schuͤtteln derſelben, ſich gar nicht ſo anließ,
als ob Sachen von der angegebenen Art darin
enthalten ſeyn koͤnnten. Dieſer Verdacht
ward dem Fiſcal unter der Hand geſteckt.
Er kam ſelbſt an Bord; uͤberzeugte ſich von
der Richtigkeit des Connoiſſements und der
Unverſehrtheit des Siegels, und da der Jude
ein armer Teufel war, dem ſich mit einer
Geldſtrafe nichts anhaben ließ: ſo ſollte er,
wie es in aller Welt Brauch iſt, fuͤr den ver-
ſuchten Betrug mit ſeiner Haut bezahlen.
Zufoͤrderſt ward ihm gemeldet, daß ſein
Eigenthum wieder zum Vorſchein gekommen
ſey und von ihm alſo gleich am Bord in Em-
pfang genommen werden koͤnne. Sein Er-
ſchrecken uͤber dieſe Rachricht war drollig
genug: aber dem Frieden nicht trauend, ver-
langte er, man moͤchte ihm die Kiſte in Got-
tes Namen nur an Land und in ſein Haus
ſchaffen; bis, auf ſeine beharrliche Weigerung,
der Fiſcal ihn durch zwei Reger mit Gewalt
und gebunden an Bord holen ließ. Hier
mußt’ er, in deſſen Beiſeyn, die Kiſte, als
die ſeinige und als vollkommen unverletzt,
anerkennen; dann aber auch oͤffnen, und nun
kam ein gar bunter Jnhalt zum Vorſchein!
Der ganze Troͤdel beſtand aus Redouten-An-
zuͤgen und fratzenhaften Geſichts-Larven; der
ungluͤckliche Eigenthuͤmer aber ward, auf des
Richters Geheiß, uͤber ſeine Kiſte hingeſtreckt
und von ein paar Matroſen mit ihren Tau-
Endchen ſo unbarmherzig zugedeckt, daß ihm
wahrſcheinlich alle aͤhnliche Speculationen fuͤr
eine lange Zeit vergangen ſeyn werden.
Eher haͤtte man Surinam damals eine
deutſche, als eine hollaͤndiſche Kolonie
nennen koͤnnen: denn auf den Plantagen, wie
in Paramaribo, traf man unter hundert Weiſ-
ſen immer vielleicht neun und neunzig an,
die hier aus allen Gegenden von Deutſch-
land zuſammengefloſſen waren. Unter ihnen
hatte ich, waͤhrend dieſer Reiſe, Gelegenheit,
auch zwei Gebruͤder, des Namens Kniffel,
kennen zu lernen, die aus Belgard in Pom-
mern gebuͤrtig, und alſo meine naͤchſten Lands-
leute waren. Sie hatten in fruͤherer Zeit,
als gemeine hollaͤndiſche Soldaten, ſich hieher
verirrt: aber Gluͤck, Fleiß und Rechtlichkeit
hatten ſie ſeither zu Millionairs gemacht,
welche hier eines wohlverdienten Anſehens
genoſſen. Am Comandewyne beſaßen ſie zwei
Kaffee-Plantagen. Die Eine hieß Friedrichs-
burg; und eine Andere dicht daneben, welche
von ihnen ſelbſt angelegt worden, hatten ſie,
ihrer Vaterſtadt zu Ehren, Belgard ge-
nannt. Zu Paramaribo war eine Reihe von
Haͤuſern, die eine Straße von 400 Schritten
in der Laͤnge bildeten, ihr Eigenthum und
fuͤhrte nach ihnen den Namen Kniffels-
Loge. Ebendaſelbſt hatten ſie eine lutheri-
ſche Kirche aufgefuͤhrt und zur Erhaltung
derſelben, fuͤr ewige Zeiten, die Einkuͤnfte der
Plantage Belgard gewidmet.
Dieſe Gebruͤder ſtanden ſchon ſeit laͤngerer
Zeit mit meinem Kapitain Blank, als einem
Colberger und Landsmann, in beſonders
freundſchaftlichem Verkehr. Er verſorgte ſie
und ihre Plantagen ausſchließlich mit Allem,
was ſie aus Europa bedurften; und hin-
wiederum fuͤhrte er alle ihre dortigen Er-
zeugniſſe nach Holland zuruͤck. So geſchah
es auch bei der gegenwaͤrtigen Reiſe; da ich
denn oft von ihm mit Auftraͤgen an ſie ge-
ſchickt und ihnen auf dieſe Weiſe bekannt
und lieb wurde. Schon die vielfaͤltigen Be-
weiſe von Guͤte, die ich von ihnen Beider-
ſeits erfuhr, wuͤrden mich veranlaßt haben,
Jhrer hier zu gedenken, wenn nicht auch der
Verfolg meiner Lebensgeſchichte mir wieder-
holte Gelegenheit gaͤbe, auf ihren Namen
zuruͤckzukommen.
Unſre Heimfahrt nach Amſterdam, die
ſechs Wochen waͤhrte, war gluͤcklich, aber ohne
weitere Merkwuͤrdigkeit. Wir waren 14
Monate abweſend geweſen, und unſer Schiff
bedurfte einer voͤllig neuen Verzimmerung,
die ſich bis in den November 1755 zu ver-
zoͤgern drohte. Dies dauerte mir zu lange,
und gab die Veranlaſſung, daß ich in einen
andern Dienſt, unter Kapitain Wendorp,
uͤbergieng. Sein Schiff war nach Curaſſao
beſtimmt; auf der Ruͤckreiſe ergaͤnzten wir
bei St. Euſtaz unſre Ladung, und nach neun
Monaten, die ich hier kurz uͤbergehe, warfen
wir wiederum vor Amſterdam wohlbehalten
die Anker.
Hier warteten Briefe auf mich von mei-
nen Eltern, von ſo drohendem Jnhalt und
angefuͤllt mit ſo gerechten Vorwuͤrfen, daß
ich’s wohl nicht laͤnger verſchieben durfte,
mich zum Zweitenmal, als der verlorne
Sohn, reuig nach Hauſe auf den Weg zu
machen. Doch fand ich gleich im voraus
einigen Troſt in dem Vorſchlage, daß mei-
nes Vaters Bruder beſtimmt ſey, des Herrn
Beckers Schiff, genannt die Hoffnung, mit
einer Ladung Holz von Ruͤgenwalde nach
Liſſabon zu fuͤhren; und mit dem ſollte ich
fahren. Dies war im Jahre 1756.
So gieng ich denn als Paſſagier nach
Danzig, und traf es da eben recht, daß
zwoͤlf junge und ſchmucke ſeefahrende Leute
ausgeſucht werden ſollten, um die ſoge-
nannte Herren-Borſe auf’s ſtattlichſte zu be-
mannen. Es war nemlich zu der Zeit der
Koͤnig Auguſt von Pohlen in der Stadt an-
weſend; und auf der Rheede lag eine zahl-
reiche Flotte von ruſſiſchen Kriegsſchiffen
vor Anker, der er einen Beſuch abzuſtatten
gedachte. Zu dieſer Luſtfahrt, die Weichſel
herunter, ſollte nun jene Staatsjacht dienen.
Zufaͤllig kriegte man mich mit an, um die
Mannſchaft vollzaͤhlig zu machen; und ſo-
wohl das Auſſerordentliche bei der Sache,
als auch der Dukaten, der dabei fuͤr jeden
Mann abfallen ſollte, machten mir Luſt, die-
ſen Ehrendienſt zu verrichten.
Das dauerte aber nur ſolange, bis wir
zum Schiffer-Aelteſten Karſten kamen, wo wir
zu der Feierlichkeit mit einer Art von Uni-
form aufgeputzt werden ſollten, die mit blan-
ken Schilden und vielen rothen, gruͤnen und
blauen Baͤndern verbraͤmt war. So aus-
ſtaffiiert, hielt man mir zuletzt einen Spiegel
vor: — aber wie erſchrak ich, als ich ſah,
was fuͤr einen Narren man aus mir gemacht
hatte! Das war jedoch das Wenigſte! Allein
das Herz im Leibe wollte mir zerſpringen,
wenn ich dabei bedachte, daß ich einen andern,
als meines eignen Koͤnigs Namenszug im
Schilde an meiner Stirne tragen ſollte.
Die Thraͤnen traten mir in die Augen.
Mir war’s, als muthete man mir zu, meinen
großen Friedrich zu verlaͤugnen. Gerne haͤtt’
ich mir Alles wieder vom Leibe geriſſen und
haͤtte den Handel wieder aufgeſagt, wenn es
moͤglich geweſen waͤre. Doch ich war Ein-
mal unter den Woͤlfen, und mußte mit ihnen
heulen! Jndeß gelobte ich mir’s, dieſen Makel
dadurch wieder gut zu machen, daß ich den
verheiſſenen Dukaten dem erſten preuſſiſchen
Soldaten zuwuͤrfe, der mir begegnen wuͤrde.
Ein alter Huſar wurde dies Gluͤckskind; und
der mag ſich wohl nicht ſchlecht verwundert
haben, daß ein achtzehnjaͤhriges Buͤrſchchen,
wie ich, mit Golde um ſich warf!
Jm Monat Auguſt traf ich in Colberg
ein, fand meines Oheims Schiff bereits in
der Ausruͤſtung und gieng mit demſelben auf
die Ruͤgenwalder Rheede, wo wir unſre La-
dung Holz einnahmen. Mit mir fuhr mein
juͤngerer Bruder, 16 Jahr alt, als Kajuͤten-
waͤrter. Auch hatte mein Oheim ſeinen eig-
nen 14 jaͤhrigen Sohn mitgenommen; und
es befanden ſich Unſrer in Allem 13 Men-
ſchen am Borde. Aber gleich der Anfang
dieſer Fahrt verſprach wenig Gutes, da wir
durch Sturm und widrige Winde dergeſtalt
aufgehalten wurden, daß wir erſt mit Aus-
gang Octobers im Sunde anlangten.
Hier gieng mein Oheim mit mir und
noch drei andern Matroſen in der Seegel-
Schaluppe nach Helſingoͤr an Land, woſelbſt
ſeine Geſchaͤfte ihn ſo lange verweilten, daß
wir erſt Abends um neun Uhr auf den Ruͤck-
weg kamen. Die See gieng hoch, und un-
ſer Fahrzeug, das mit Waſſer- und Bier-
faͤſſern und andern Proviſionen ſchwer bela-
den war, hielt wenig Bord. Zudem ſtand
uns ein ſteifer Suͤdwind entgegen, der uns
zum Laviren noͤthigte; und eben machten wir
einen Schlag dicht hinter dem Daͤniſchen
Wachtſchiffe voruͤber, als ein harter Stoß-
wind ſo ploͤtzlich aufſtieg und ſo ungeſtuͤm in
unſre Seegel fiel, daß die Schaluppe Waſſer
ſchoͤpfte, umſchlug und im Hui! den Kiel
nach oben kehrte.
Wir, die wir drinne ſaßen, wurden ſam̃t
und ſonders herausgeſpuͤlt. Jch ergriff ein
Ruderholz, und war ſo gluͤcklich, mich uͤber
dem Waſſer zu erhalten. Wo die Andern
blieben, ſah ich nicht. Jndeß war unſer Un-
gluͤck von dem Daͤniſchen Kriegsſchiffe nicht
unbemerkt geblieben; und ſogleich auch ſtieß
ein Fahrzeug ab, uns zu retten. Allein es
war ſtockfinſter und von uns Verungluͤckten
keine Seele aufzufinden. Nur die Schaluppe
kam ihnen in den Wurf und ward geborgen;
freilich aber war die ganze Ladung davon-
geſchwommen und gieng verloren.
Unter uns Umhertreibenden mochte ich
wohl der Erſte ſeyn, der ſich gluͤcklich aus
dieſem boͤſen Handel zog. Jch trieb nemlich
gegen ein vor Anker liegendes Schiff, und er-
hielt mich ſo lange am Ankertau, bis die
Leute mich zu ſich an Bord ziehen konnten.
Mein guter Oheim hingegen ward ebenſowohl
durch den harten Sturm, als die ſchnelle
Stroͤmung, beinah eine Viertelmeile weit, bis
unterhalb des Daͤniſchen Kaſtells davon ge-
fuͤhrt. Aber indem er ſich kuͤmmerlich an
einem Spriet Eine ſtarke, funfzehnfuͤßige Stange vom Scha-
luppen-Segel. feſtgeklammert erhielt, braucht’
er wohl eine Stunde, bevor er mit Schwim-
men das Land erreichte. Zwei Matroſen
wurden durch eine Lootſen-Jolle gerettet;
Einer aber blieb leider! verloren.
Erſt am Morgen fanden wir vier Gebor-
genen uns in Helſingoͤr wieder zuſammen.
Unſre Schaluppe ward uns von dem Wacht-
ſchiffe wieder zuruͤckgegeben; wir erſetzten
unſre verungluͤckte Ladung durch angekaufte
neue Vorraͤthe, verſahen uns mit friſchen
Rudern und kehrten ſodann nach unſerm
Schiffe zuruͤck. Sobald auch nur Wind und
Wetter wieder guͤnſtiger geworden waren,
ſaͤumten wir nicht, unſre Fahrt, trotz der
ſpaͤten und boͤſen Jahreszeit, fortzuſetzen.
Am 2. December nahmen wir, nicht ohne
Beunruhigung, wahr, daß ein gewaltiger
Sturm aus Norden uns auf die Flaͤmiſchen
Baͤnke geworfen hatte, deren Gefaͤhrlichkeit
wir nur gar zu wohl kannten. Nur zu
bald auch bekamen wir mehrere heftige Grund-
ſtoͤße, die unſer Steuerruder ausſetzten und
uns Seiner verluſtig machten. Um nicht au-
genblicklich auf den Strand zu gerathen, blieb
nichts uͤbrig, als uns auf der Stelle vor
zwei Anker zu legen. Es war zehn Uhr Vor-
mittags; das Land eine kleine halbe Meile ent-
fernt, und unſer Ankerplatz, auf vier Faden
Tiefe, mitten in der ſchaͤumenden Brandung;
waͤhrend unſre Segel, die wir nicht mehr
feſt machen konnten, im Winde flatterten.
Welle fuͤr Welle ſtuͤrmte uͤber das Verdeck
hinweg; ſo daß wir in Einem fort unter
Waſſer ſtanden, und, da wir hier keine Lei-
bes-Bergung mehr fanden, uns ſaͤmmtlich
oben im Maſt erhielten.
Unſre Lage ward noch unerfreulicher, da
mein Oheim gegen uns bemerkte, daß wir
uns hier im Angeſicht der Flandriſchen Kuͤſte
befaͤnden und es kaum wuͤrden vermeiden koͤn-
nen, auf den Strand zu laufen. Hier war
alſo Oeſterreichiſches Gebiet; wir Preußiſche
Unterthanen, und Preuſſen mit Oeſterreich
ſeit kurzem im Kriege begriffen. Er ver-
bot uns demnach fuͤr jenen Fall, es auf ir-
gend eine Weiſe zu verrathen, daß wir von
Ruͤgenwalde kaͤmen und ein Preuſſiſches Schiff
haͤtten. Vielmehr ſollten wir in der Aus-
ſage uͤbereinſtimmen: Schiff und Ladung ſey
Schwediſches Eigenthum, komme von Greifs-
walde und ſey nach Liſſabon beſtimmt. So-
bald der Sturm es nur zulaſſe, ſetzte er hin-
zu, — wolle er hinabſteigen, die Preuſſiſche
Flagge vernichten und eben ſowohl ſeine Schiffs-
papiere uͤber Seite zu bringen, als der be-
reitgehaltenen Schwediſchen Documente aus
der Kajuͤte habhaft zu werden ſuchen.
Wirklich auch entſchloß er ſich zu dieſem
gewagten Verſuche: aber beim Niederſteigen
ſchwankte der Maſt dergeſtalt und ein un-
gluͤcklicher Schlag des peitſchenden Segels
traf ihn ſo gewaltſam, daß es ihm unmoͤg-
lich wurde, ſich laͤnger zu halten. Er fiel;
ſtuͤrzte mit dem Ruͤcken auf den Rand des,
auf dem Verdecke ſtehenden Bootes, von da
mit dem Kopf gegen die ſcharfe Ecke eines
Poͤllers, und endlich auf das Deck, welches
die Sturzwellen immerfort ſo hoch, als die
Seitenborde ragten, mit Waſſer uͤberſchwem̃t
hielten; und ſo ſahen wir ihn in dieſem
Waſſer hin und her geſpuͤlt werden. Der
Anblick war ſo graͤßlich, daß wir ihn laͤnger
nicht ertragen konnten. Jch wagte mich mit
noch zwei Matroſen hinab in dieſer Noth;
wir zogen ihn mit Muͤhe auf das Kajuͤten-
Deck, wo doch nicht jede Woge eine Ueber-
ſchwemmung verurſachte, und waren nun in
der Naͤhe Zeugen von ſeinem jammervollen
Geſchick. Der Schlag des Segels hatte das
linke Auge getroffen, welches weit aus dem
Kopfe nur noch an einer ſchwachen Sehne
hervorhieng. Das Blut drang zugleich aus
Mund, Naſe und Ohren. Aus der hohlen
Bruſt ſtoͤhnte ein dumpfes Roͤcheln, ohne
Spur eines Bewußtſeyns. Troſt- und rath-
los ſchob ich ihm das hangende Auge in den
Kopf zuruͤck und band ihm mein Halstuch
daruͤber. Um und neben ihm lagen nun ich,
ſein Sohn und noch ein getreuer Matroſe
in feſter Umklammerung, um uns gegen die
Gewalt der Sturzſeen zu erhalten, und un-
beweglich, bis gegen fuͤnf Uhr Abends, da
endlich unſre Ankertaue brachen und wir, bei
halber Fluth, unaufhaltſam gegen den Strand
getrieben wurden.
Endlich ſtieß das Schiff auf den Grund
und hielt mit heftigen Stoͤßen an, ſo lange
das Waſſer im Wachſen blieb. Erſt als die
Cbbe wieder eintrat, ſaß es voͤllig feſt: aber
nun brachen ſich auch die rollenden Wellen
mit ſolcher Macht dagegen, daß jede Ein-
zelne daruͤber weg ſchlug und Schaum und
Giſcht die volle Hoͤhe des Maſtes emporge-
wirbelt wurden. Allmaͤhlig brach auch das
Gebaͤude in all ſeinen Fugen; und wir ſahen
die Stuͤcken davon, unter unſern Fuͤßen, Eins
nach dem Andern davontreiben. So wie aber
die Ebbe ſich immer weiter zuruͤckzog, ließ
auch die zertruͤmmernde Gewalt des Wogen-
drangs nach, die uns ſonſt unausbleiblich in
den Abgrund mit fortgeriſſen haͤtte; das Ver-
deck ward von Waſſer frei, und wir konnten
wieder einen Gedanken an Rettung faſſen.
Es war Mondenſchein; und am Lande
erblickten wir eine Menge von Menſchen,
die uns aber, bei unſerer noch betraͤchtlichen
Entfernung vom Ufer, nicht helfen konnten.
Zwar banden wir ledige Waſſerfaͤſſer an
Taue, und warfen ſie uͤber Bord, in der
Meynung, daß ſie dorthinwaͤrts treiben ſoll-
ten: allein die Stroͤmungen der Ebbe riſſen
ſie vielmehr in der entgegengeſetzten Richtung
mit ſich fort. Jetzt fiel uns ein, daß wir
einen Pudel auf dem Schiffe hatten, der
wohl an Land ſchwimmen und die erſehnte
Gemeinſchaft mit jenen Helfern bewirken
koͤnnte, wenn wir ihm ein Tau um den Leib
baͤnden und dieſes nach und nach fahren
lieſſen. Es geſchah: doch das arme Thier
wollte dem Schiff nicht von der Seite; und
wenn auch eine Sturzwelle es eine Strecke
mit ſich fortſchleuderte, ſo kam es doch alſo-
bald wieder zuruͤckgeſchwommen und winſelte,
an Bord aufgenommen zu werden. Verge-
bens ſchlugen wir nach ihm mit Stangen
und Tauen, bis es uns endlich erbarmte und
wir das treue Geſchoͤpf wieder an Bord
nahmen.
So ſchlich die Mitternacht heran, wo uns
bedaͤuchtete, daß nunmehr die Ebbezeit wohl
abgelaufen ſeyn muͤßte. Jetzt alſo befanden
wir uns dem Strande am naͤchſten, der,
unſrer Schaͤtzung nach, zwei- oder dreihun-
dert Schritte entfernt ſeyn mochte; und ſo
war es denn auch an der hoͤchſten Zeit, Al-
les aufzubieten, um, wo moͤglich, lebendig an
Land zu kommen, bevor die Fluth wieder
ſtiege, deren Gewalt ohnehin das Schiff nicht
mehr ausdauern konnte, ohne gaͤnzlich in
Truͤmmern zu gehen. Es mußte gewagt
ſeyn! So wie demnach Eine Sturzwelle nach
der Andern ſich zu uns heranwaͤlzte, ſo ſprang
auch, der Reihe nach, Jemand von uns uͤber
Bord und ward ſogleich mit der Brandung
gegen das Ufer hin getrieben, wo die Men-
ſchen, uns aufzufangen und aufs Trockne
zu bringen, bereit ſtanden.
Jch, ſammt meinem Bruder und dem
Sohn meines Oheims — wir waren die
Letzten, die, um den Roͤchelnden her, mit
den Armen feſt verſchlungen, dies Alles vom
Kajuͤten-Deck mit anſahen, aber uns nicht
entſchlieſſen konnten, dies theure Jammerbild
dahinten zu laſſen. Wir ſchrieen, wir wim-
merten, und wußten nicht, was wir mit dem-
ſelben aufangen ſollten. Vom Strande her
ward uns durch ein Sprachrohr unaufhoͤrlich
zugeſchrieen: „Springt uͤber Bord! Springt
uͤber Bord! Waͤchſt das Waſſer mit der Fluth
wieder an: ſo ſeyd ihr verloren — Springt!
Springt!‟
Angefeuert und beaͤngſtigt zugleich durch
dies Rufen, zogen wir endlich unſern Leiden-
den, deſſen Bewußtſeyn voͤllig geſchwunden
war, hart an den Bord des Schiffes und
nahmen eine beſonders maͤchtige Sturzwelle
in Acht, mit welcher wir ihn in Gottes Na-
men dahin fahren lieſſen. Zu unſrer unaus-
ſprechlichen Freude ſahen wir, wie er mit
derſelben, im Fluge, dem Laude zugefuͤhrt
wurde, und wie dort die guten Leute ihn
auffingen, ehe er noch von der See wieder
zuruͤckgeſpuͤlt werden konnte. Jetzt trieb
ich meinen Bruder, den entſcheidenden Sprung
zu wagen; dann den Sohn meines Oheims;
und Ein Stein nach dem Andern fiel mir vom
Herzen, da ich ſie alſobald gerettet und in
Sicherheit erblickte. Nun warf ich mich
gleichfalls, als der Letzte, wohlgemuthet in
die rollenden Wogen; und in der naͤchſten
Minute umfiengen mich auch bereits huͤlf-
reiche Arme, die mich den Strand hinauf
in’s Trockne trugen.
Es
Es ergab ſich, daß die Mehrzahl unſrer
menſchenfreundlichen Retter aus oͤſterreichi-
ſchen Soldaten beſtand, welche hier, ſeitdem
ihre Kaiſerinn, Maria Thereſia, ſich auch mit
England im Kriege befand, zu Deckung der
Kuͤſte poſtirt ſtanden und etwa alle zweitau-
ſend Schritte ein Wachthaus am Strande
hatten. Jn ein ſolches Gebaͤude ward nun
auch unſer armer zerſchmetterter Oheim von
uns, mit Huͤlfe der Soldaten, an Armen und
Beinen getragen, und man deckte ihn mit
Allem, was ſich an trocknen Kleidungsſtuͤcken
vorfand, ſorgfaͤltig zu, um ihn wieder zu
erwaͤrmen. Neben ihm, zu beiden Seiten,
lagen ſein Sohn und ich, hielten ihn umfaßt
und nahmen ihm von Zeit zu Zeit das ge-
ronnene Blut aus dem Munde.
So mochte er etwa eine Stunde gelegen
haben, als er, zum Erſtenmale wieder nach
ſeinem ungluͤcklichen Fall, den Mund zu der
hervorgeſtoͤhnten Frage oͤffnete: „O Gott! Jſt
mir noch zu helfen?‟ — Das war Muſik
in meinen Ohren! Mit freudiger Haſt erwie-
derte ich ihm: „Ja, ja, lieber Vatersbruder!
Gott kann — Gott wird Euch noch wieder
helfen. Wir ſind am Lande.‟ — „So bringt
mich denn zu einem Doctor; — war ſeine
kaum verſtaͤndliche Antwort; und ich konnte
ihn damit troͤſten, daß bereits nach demſelben
geſchickt ſey.
3. Bändchen. (4)
Dem war wirklich alſo: denn ſofort nach
unſrer Landung war auch an die naͤchſte Gar-
niſon in Veurne, welches dreiviertel Meilen
entfernt lag, eine Meldung geſchehen und um
aͤrztliche Huͤlfe gebeten worden. Zugleich er-
fuhren wir von den Soldaten, daß wir uns
hier drei Meilen von Nieuport und zwei Mei-
len von Duͤnkirchen befaͤnden. Der Grund
und Boden unter uns war Oeſterreichiſch,
aber die franzoͤſiſche Grenze, nach letzterem
Orte hinwaͤrts, nur eine Viertelmeile entfernt.
Als man uns (wie ſofort geſchah) uͤber un-
ſer Woher und Wohin befragte, ſo erklaͤrten
wir uns, der fruͤheren Abrede eingedenk, fuͤr
Schwediſch-Pommern aus Greifswalde, die
eine Ladung Balken nach Liſſabon haͤtten
bringen wollen.
Am dritten December, mit dem fruͤhen
Morgen, erſchien ein Fuhrwerk, mit Stroh
gefuͤllt und einer Leinwand-Decke verſehen,
welches angewieſen war, unſern armen Oheim
in das Lazareth nach Nieuport zu ſchaffen.
Dieſer Ort war mir, aus Furcht einer moͤg-
lichen Entdeckung unſrer wahren Herkunft,
nicht recht gemuͤthlich: dagegen vermeynte
ich, unſerm Elende in Duͤnkirchen vielleicht
beſſern Rath zu ſchaffen, wo ich vor ein paar
Jahren bereits geweſen war und einigermaaſ-
ſen des Orts Gelegenheit kannte. Jch lag
daher unſerm Fuͤhrer an, ſeinen Kranken lie-
ber nach der franzoͤſiſchen Grenzſtadt zu brin-
gen; und hiezu ließ er ſich auch um ſo bereit-
williger finden, da er eine Meile am Wege
erſparte.
Mit ſchwerer Muͤhe ward der Oheim auf
den Wagen gehoben. Jch und ſein Sohn
legten uns zu beiden Seiten neben ihn und
hielten ihn, moͤglichſt ſanft, in unſern Armen;
waͤhrend mein Bruder den Wagen begleitete,
welcher den ebenen Weg laͤngs dem See-
ſtrande einſchlug. Gott weiß aber, daß ich
wohl nie mehr geweint und gejammert habe,
als auf dieſer Fahrt. Der geringſte Anſtoß
des Wagens verurſachte dem Kranken die
peinlichſten Schmerzen, daß er klaͤglich win-
ſelte und zugleich an den Stuͤcken geronne-
nen Blutes im Munde und Halſe zu erſticken
drohte, wie ſehr ich auch, durch Herausnahme
derſelben, bemuͤht war, ihm Luft zu ver-
ſchaffen.
So kamen wir endlich Nachmittags (Es
war an einem Sonntage) in Duͤnkirchen an.
Jch ließ den Fuhrmann vor einem Wirths-
hauſe halten, welches das Schild „zum rothen
Loͤwen‟ fuͤhrte: denn hier hatt’ ich bei meiner
fruͤheren Anweſenheit jezuweilen ein Glas
Bier getrunken und rechnete mich alſo, in
meinem Sinn, zu den Bekannten des Hauſes.
Das hinderte jedoch nicht, daß ich hier mit
meiner unerwuͤnſchten Begleitung geradezu
ab- und nach dem Kloſter-Hoſpital hingewie-
ſen wurde, wo der rechte Ort fuͤr fremde
Kranke und Gebrechliche ſey. Wirklich auch
waren wir dort kaum angelangt und mein
Oheim vom Wagen gehoben, ſo ſahen wir
ihn auch von einem Schwarm katholiſcher
Ordensgeiſtlicher umzingelt, die ihn in Em-
pfang nahmen und zufoͤrderſt auf einen lan-
gen und breiten Tiſch ausſtreckten, wo er bis
auf die nackte Haut enkleidet wurde.
Hiernaͤchſt fand ſich eine Anzahl von Doc-
toren und Chirurgen ein, welche nun zu ei-
ner genaueren Unterſuchung ſeiner Verletzun-
gen ſchritten. Die erſte Operation geſchah
durch Loͤſung des Tuches, welches ich dem
Armen, gleich nach ſeinem ungluͤcklichen Falle,
um das Auge gebunden. Jetzt war dieſes
mit dem geronnenen Blute an dem Verbande
feſt getrocknet und zog ſich mit demſelben
weit aus dem Kopfe hervor. Da es nur
noch durch einen duͤnnen Nervenſtrang in der
Augenhoͤhle befeſtigt hieng, ſo war es freilich
rettungslos verloren; ward kurzweg abge-
ſchnitten und auf eine Theetaſſe hingelegt.
Bei weiterer Unterſuchung ergab ſich’s,
daß das linke Bein, oberhalb dem Knie, im
dicken Fleiſche gebrochen war: doch am be-
denklichſten blieb die Zerſchmetterung eines
Ruͤckenwirbels, dicht unterm Kreuz, und die
dem armen Manne auch wohl die empfind-
lichſten Schmerzen verurſachen mochte: denn
waͤhrend man ihn nach der Kunſt behandelte
und die Gliedmaaſſen bald ſo, bald anders,
reckte und dehnte, hoͤrte er nicht auf, zu win-
ſeln und zu aͤchzen. Uns drei Jungen, die
wir Zeugen von dem Allen waren, ſchnitt
jeder Klageton tief durch’s Herz; und wir
heulten und lamentirten mit ihm in die Wette;
ſo daß man ſich genoͤthigt ſah, uns aus dem
Gemache fortzuweiſen.
Nachdem der Kranke endlich geſchient und
verbunden worden, legte man ihn auf ein
Feldbette, welches man in die Mitte des Zim-
mers hingeſtellt hatte. Eine Kloſter-Nonne
(Beguine) ſaß neben ihm und floͤßte ihm von
Zeit zu Zeit einen Loͤffel rothen Weines ein,
den ſie auf einem Kohlenbecken zu ihrer Seite
erwaͤrmte. Am Kopfende des Bettes aber
ſtanden wir arme Verlaſſene und weinten
unſre bitterlichen Thraͤnen; und ſo waͤhrte
das bis Abends, wo ein Pater uns andeu-
tete, daß wir die Nacht uͤber im Kloſter nicht
bleiben koͤnnten, ſondern uns nach einer an-
dern Herberge umſehen muͤßten. Dieſe fan-
den wir denn auch, zu unſrer nothduͤrftigen
Erquickung, in dem vorgedachten Wirths-
hauſe: doch brachten wir eine ſchlafloſe truͤb-
ſelige Nacht zu, und wußten nicht, wo Troſt
und Huͤlfe zu finden.
Kaum graute auch nur der Morgen, ſo
machten wir uns wieder nach dem Kloſter
auf den Weg, wo wir unſern armen Leiden-
den, unter fortwaͤhrendem Geſtoͤhn und Seuf-
zen, noch in dem nemlichen Zuſtande, wie
geſtern, fanden. Was konnten wir abermals
thun, als um ihn her ſtehen und die Luft
mit unſern Klagen erfuͤllen? Jndeß hatte
man uns, auf unſre Nachfrage, verſtaͤndigt,
daß heute Poſttag ſey; und ſo ließ ich mir
im Gaſthofe Papier und uͤbrige Zubehoͤr reichen
und brachte den Reſt des Tages damit zu,
ſowohl an unſern Schiffs-Rheeder, Herrn
Becker, als an meine Eltern nach Colberg,
zu ſchreiben und ihnen Meldung von unſerm
erlittenen Ungluͤck zu thun. Die Briefe wur-
den verſiegelt; und am naͤchſten Morgen ſtan-
den wir wiederum, von Herzen betruͤbt, am
Bette unſers Kranken, ohne daß wir eine
merkliche Veraͤnderung an ihm ſpuͤrten. Jch
beugte mich indeß dicht zu ſeinem Ohre und
verſuchte die Frage: „Lieber Vatersbruder,
ſollen wir auch nach Colberg ſchreiben?‟ —
Er hatte mich verſtanden: denn er ſchuͤttelte
mit dem Kopfe, als ob er Nein! ſagen wollte.
So ſchwach auch dieſer Hoffnungsſtrahl ſeiner
wiederkehrenden Beſinnung war, ſo erfuͤllte
er mich doch mit Muth, daß wohl noch Al-
les wieder gut werden koͤnnte. Jch glaubte
darum auch, daß ich die Briefe unbedenklich
abgehen laſſen duͤrfte; gab den andern Bei-
den einen verſtohlenen Wink, und eilte mit
ihnen nach dem Poſt-Comptoir.
Unſre Abweſenheit mochte etwa dreivier-
tel Stunden gedauert haben. Doch als wir
wieder in das Kloſter und das Krankenzim-
mer eintraten, fanden wir, zu unſrer hoͤchſten
Beſtuͤrzung und mit einem Schmerz, der ſich
mit nichts vergleichen laͤßt, — nur unſers
guten Oheims Leiche vor. Sie ward auch
alsbald aus dem Bette genommen, auf den
nemlichen Tiſch, wie vorhin, ausgeſtreckt,
abermals voͤllig entkleidet, und der wieder-
holten genauen Beſichtigung der Aerzte unter-
worfen; wo ſich denn die zuvor bemerkten
Verletzungen noch deutlicher beſtaͤtigten. So-
bald uns aber die Doctoren verlaſſen hatten,
traten einige Pfaffen herzu, und fragten mich:
Zu welchem Glauben dieſer unſer Schiffs-
Capitain ſich bekannt habe? — Jch armer
religioͤſer Narr Dieſe Wendung war zu charakteriſtiſch, als daß
der Her. etwas an derſelben haͤtte aͤndern moͤgen.
Wer moͤchte auch Anſtoß daran nehmen, da ſie
unſtreitig unendlich beſſer gemeynt, als ausge-
druͤckt iſt, und auch ſchwerlich mißverſtanden wer-
den wird. antwortete unbedenklich:
„Ei, zum Lutherſchen!‟
So wie dies ungluͤckliche Geſtaͤndniß uͤber
meine Lippen floh, war es gleich, als ob das
Gewitter in’s Kloſter geſchlagen haͤtte. Alles
gerieth in Bewegung; der Eine ſprach hitzig
mit dem Andern; Niemand wollte den Seli-
gen anfaſſen, und doch mußten die Ketzerge-
beine, ehe die Sonne untergieng, aus dem
geweiheten Bezirk fortgeſchafft werden. Man
ſteckte uns endlich eine beſchriebene Karte in
die Hand, die an einen Tiſchler lautete,
welcher wohl die Lieferung der Saͤrge fuͤr
das Hoſpital auf ſich haben mochte. Denn
als wir ihn uns endlich ausgefragt hatten,
fanden wir deren bei ihm einen reichlichen
Vorrath vor und wurden bedeutet, unter
denſelben Einen nach der Groͤße unſrer Leiche
auszuſuchen. Unſre Wahl fiel auf den laͤng-
ſten, weil unſer Oheim von einer anſehnlichen
Statur geweſen war; und mit dieſem Sarge
wanderten wir nun nach dem Kloſter zuruͤck.
Hier trieb man uns, ohne ſich zu irgend
einiger Handreichung zu verſtehen, mit bar-
ſchem Ernſt, den Leichnam unverzuͤglich ein-
zuſargen und ihn, aus dem Gemache hinweg,
auf die Straße unter einen, uns dazu ange-
wieſenen Schoppen zu bringen. Unſre Weh-
muth kannte keine Grenzen. Jndeß thaten
wir, wie uns geboten worden; man reichte
uns Hammer und Naͤgel, um den Deckel
zuzuſchlagen, und nun hoben wir an, den
Sarg mit den uns ſo theuren Ueberreſten
eine kurze Strecke auf den Flur fortzuziehen
und zu ſchieben. Hier aber uͤbermannte und
laͤhmte der ungeheure Schmerz ploͤtzlich all
unſre Kraͤfte, und wir fuͤhlten uns, in ein
lautes und vereintes Jammergeſchrei aus-
brechend, ohne Vermoͤgen, die geliebte Laͤſt
auch nur Einen Schritt weiter zu bringen.
Jch fiel vor dem einen Pater auf die Kniee,
und bat um Gottes willen, man moͤchte ſich
Unſer erbarmen: denn wir koͤnnten hier nichts
mehr thun.
Jetzt gab es ein kurzes Geſpraͤch unter
den Anweſenden; ein Aufwaͤrter ward fort-
geſchickt, und binnen einer Viertelſtunde er-
ſchienen vier Kerle mit einer Trage, und Je-
der mit einem Spaten verſehen. Sie pack-
ten die Leiche an; und ſo gieng der Zug
zum Thore hinaus, etwa zweitauſend Schritte
weit und gerade auf eine Kirche zu. Wir,
die wir den Traͤgern gefolgt waren, meyn-
ten, der Leichenzug eile dem Kirchhofe zu.
Das war aber weit gefehlt: denn es gieng,
neben dem Gotteshauſe voruͤber, wohl noch
tauſend Schritte weiter auf ein freies Feld;
und da die Traͤger ihre Laſt wohl zwanzig
Mal niedergeſetzt hatten, um friſchen Athem
zu ſchoͤpfen, ſo begann es bereits dunkel zu
werden, bevor wir die Grabſtaͤtte erreichten.
Es war ein Fleck am Wege, der nichts
hatte, was einem Todtenacker aͤhnlich ſah.
Hier ſollten wir nun ein Grab graben; da
es aber den Kerlen damit zulange waͤhrte,
nahmen ſie uns verdrießlich die Spaten aus
den Haͤnden, ſchaufelten und ſchalten uns
„Ketzer.‟ Wir hingegen gaben alle moͤgliche
gute Worte; und ſobald auch nur das Grab
ſo tief geoͤffnet war, daß der obere Sarg-
deckel unter Erde kommen konnte, ſenkten wir
die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein,
fuͤllten die Erde druͤber her, nahmen unter
tauſend heiſſen Thraͤnen Abſchied, und wan-
derten bekuͤmmert wieder auf unſern rothen
Loͤwen zu; — doch nur, um, nach einer
aͤngſtlich durchſeufzten Nacht, gleich am naͤch-
ſten Morgen wieder das Grab des lieben
Oheims aufzuſuchen und auf demſelben zu
jammern.
Fuͤrwahr, wer eine menſchliche Seele
hat, wird unſer Elend mit uns fuͤhlen! Da
ſaßen wir drei Jungen, von Achtzehn bis zu
vierzehn Jahren herab, in der groͤßten Lei-
bes- und Seelen-Noth — in einem ganz
fremden Lande, auf dem freien Felde und
uͤber dem friſchen Grabhuͤgel unſers geliebten
Vaters und Fuͤhrers! — ſaßen, als eine
arge Ketzerbrut von Jedermann gemieden und
ausgeſtoßen, ohne einen Pfennig im Vermoͤ-
gen, nichts in und wenig auf dem Leibe,
in dieſer rauhen Jahreszeit, ohne Troſt oder
Huͤlfe von Menſchen! Betteln konnten
und wollten wir nicht: lieber haͤtten wir hier
auf dieſer Grabes-Erde des geliebten Hin-
geſchiedenen gleichfalls verſcheiden und ver-
ſchmachten moͤgen! Er allein war in dieſen
troſtloſen Augenblicken unſer Gedanke und
unſre Zuflucht. „O Vatersbruder, erbarmt
Euch!‟ riefen wir unaufhoͤrlich, bis wir
uns muͤde geſchrieen hatten und das Thoͤ-
richte unſers Beginnens einſahen.
Jetzt erſt konnten wir uns unter einan-
der berathen, was wir in dieſer unſrer gaͤnz-
lichen Verlaſſenheit anzufangen haͤtten? Der
Schluß fiel dahinaus, daß wir des naͤchſten
Morgens zu unſerm Schiff und unſern an-
dern Kameraden zuruͤckkehren wollten. Wo
dieſe blieben, wollten auch wir bleiben und
ihr Schickſal mit ihnen theilen. Unſer ein-
ziger und letzter Nothanker aber war des
verſtorbenen Oheims Taſchenuhr, die wir an
uns genommen hatten und, wenn uns zuletzt
das Waſſer an die Seele gienge, loszuſchla-
gen gedachten. Ob dies ſchon im rothen
Loͤwen wuͤrde geſchehen muͤſſen, wohin wir
nun zunaͤchſt zuruͤckkehrten, ſollten wir als-
bald erfahren. Geſaͤttigt und durch einigen
Schlaf erquickt, kam denn auch am Morgen
darauf unſre bisherige Zeche zur Sprache.
Doch der gute Wirth, den unſer trauriges
Schickſal erbarmt hatte, war mit unſerm
Dank und einem herzlichen Gott lohn’s! zu-
frieden; wir aber wanderten ebenfalls in
Gottes Namen wieder den Strand entlang,
um unſre zuruͤckgelaſſenen Ungluͤcksgefaͤhrten
aufzuſuchen.
Noch waren wir indeß keine Meile ge-
gangen, als unſer Schiffskoch, Namens Ro-
loff, uns aufſtieß und uns berichtete: Die
Oeſterreichiſchen Strandwaͤchter haͤtten unſre
Preuſſiſche Flagge von dem zertruͤmmerten
Schiffe am Ufer aufgefiſcht; die Mannſchaft
ſey hierauf nochmals in ein ſcharfes Verhoͤr
genommen worden und habe ſich endlich zu
ihrer wahren Landsmannſchaft bekennen muͤſ-
ſen. Von Stund an habe man ſie als
Kriegsgefangene und mit Haͤrte behandelt;
habe ſie genoͤthigt, die Truͤmmer des Schiffs
und der Ladung mit angeſtrengter Arbeit an’s
Land bergen zu helfen, zugleich aber auch ſie
in ſo genauer Obacht gehalten, daß nicht
Einer, ohne militairiſche Begleitung, ſich nur
bis zwiſchen die naͤchſten Sand-Duͤnen habe
entfernen duͤrfen. Dennoch ſey es ihm ſelbſt
in dieſer letzten Nacht gegluͤckt, ſeinen Auf-
ſehern zu entwiſchen; und er gedenke nun-
mehr nach Duͤnkirchen zu gehen, wo er in
Sicherheit zu ſeyn hoffe; — uns aber rathe
er wohlmeynend, auf der Stelle wieder mit
ihm umzukehren.
Jn der That war auch dieſer Vorſchlag
der beſte, und ward unbedenklich von uns
angenommen. Jndem ich aber in unſrer
neuen Noth Alles reiflich bei mir uͤberdachte,
kam mir wieder der Kaufmann in Duͤnkirchen
zu Sinn, an welchen Schiffer Damitz vor
vier Jahren, als er mit mir von Liverpool
kam, ſeine Ladung Taback abgeliefert hatte.
Sein Haus war mir noch erinnerlich: doch
ſein Name nicht. Jndeß beſchloß ich, gera-
desweges zu ihm zu gehen, ihm unſre Noth
zu klagen und ihn um Rath und Beiſtand zu
bitten. Daneben fiel mir bei, daß unſer
Schiff in Amſterdam fuͤr Seeſchaden und
Tuͤrken-Gefahr verſichert geweſen und daß
der Commiſſionair, der dies Aſſecuranz-Ge-
ſchaͤft beſorgt hatte, den Namen Emanuel de
Kinder fuͤhrte. Jch konnte demnach den
Duͤnkircher Kaufmann bitten, daß er an die-
ſen Agenten unſers Rheeders nach Amſterdam
ſchriebe und in unſerm Namen um einen
Vorſchuß von einhundert Gulden fuͤr Rech-
nung Hrn. Beckers oder meines Vaters in
Colberg baͤte. Damit ließ ſich dann ſchon
hoffen, unſre Heimath wieder zu erreichen.
Alles dieſes gieng auch nach Wunſch in
Erfuͤllung. Der Kaufmann war willig und
bereit, uns in der vorgeſchlagenen Weiſe zu
dienen. Binnen acht Tagen gieng auch eine
Antwort von Emanuel de Kinder an ihn ein,
mit der Anweiſung: daß, wenn wir des Net-
telbeck’s Kinder waͤren, er uns die hundert
Gulden, oder falls wir es verlangten, auch
das Zwiefache auf ſein Conto vorſchieſſen
moͤge. Allerdings war das brav von dem
Amſterdammer: aber noch heute dieſen Tag
freut es mich, daß ich dieſe Wohlthat im
Jahre 1783 — alſo 27 Jahre nachher —
an ſeinem Sohne, Florens de Kinder, habe
vergelten koͤnnen, indem ich mich, mit einer
reichen Ladung von Liſſabon kommend, an
dieſen adreſſiren ließ; und gewiß hat er hier-
bei, als Correſpondent, uͤber 2000 Gulden
gewonnen.
Jch war ein ſo guter Wirth, daß ich
mich mit der Haͤlfte des angebotenen Dar-
lehns begnuͤgte; und das um ſo lieber, da
uns der Duͤnkircher belehrte: Es ſey auf die-
ſem Platze der Brauch, daß Seefahrer, die
an der dortigen Kuͤſte ihr Schiff verloͤren,
einen Sou (etwa vier Pfennige unſers Gel-
des) fuͤr eine jede Meile bis nach ihrer Hei-
math, als Reiſegeld, empfiengen. Zugleich
erbot er ſich, Jemand von ſeinen Leuten mit
uns nach dem Stadthauſe zu ſchicken, um
uns dieſen Zehrpfennig auswirken zu helfen.
Dort war jedoch den Herren, denen wir Col-
berg als unſre Vaterſtadt nannten, dieſer
Ort ein ganz unbekanntes Ding: denn da-
mals hatten ihm die wiederholten Belagerun-
gen noch keinen Ruf in der politiſchen Welt
gegeben. Jch bat mir demnach eine See-
karte aus und wies in derſelben die Lage
dieſes Handelshafens nach; ward aber zu-
gleich auch aufgefordert, deſſen Entfernung
von Duͤnkirchen abzumeſſen. Dies trug uͤber
See gegen 190 Meilen aus; und eben ſoviel
Sous wurden auch Jedem von uns Dreien
auf der Stelle ausgezahlt.
So waren wir denn mit unſerm Reiſebe-
duͤrfniß nothduͤrftig ausgeruͤſtet: doch nun
galt es die Frage, welchen Weg wir ein-
ſchlagen ſollten, um wieder zu den Unſrigen
zu gelangen? Es war Winter, und die See
ſo gut, als geſperrt. Zu Lande aber haͤtten
wir uns durch die Oeſterreichiſchen Nieder-
lande wagen muͤſſen, wo wir, als Preuſſen,
Gefahr liefen, gleich an der Grenze in Nieu-
port, Oſtende, oder wo es ſonſt ſey, ange-
halten zu werden. Jndeß ereignete ſich, uͤber
unſer Erwarten, bald genug eine Gelegenheit,
die wir zu unſerm Weiterkommen nicht glaub-
ten verſaͤumen zu duͤrfen. Die Duͤnkircher
Kaper hatten nemlich einen Engliſchen Kutter
als Priſe aufgebracht und denſelben an einen
Schiffer von Bremen, Namens Heindrick
Harmanns verkauft. Dieſer belud denſelben
ſofort mit loſen Tabacksſtengeln und war wil-
lens, damit nach Hamburg zu gehen. Die
geſammte Schiffs-Mannſchaft beſtand, auſſer
ihm ſelbſt, nur aus zwei Matroſen; und wir
drei waren ihm, als Paſſagiere, um ſo lie-
ber, da wir uns erboten, gegen die Koſt,
die er uns reichen ſollte, die Wache mit zu
halten.
Vier Tage vor Weihnachten giengen wir
in See. Es begann hart zu frieren, und das
ganze Fahrzeug nahm zuletzt Geſtalt eines
großen Eisklumpens an. Da wir ſo wenig
auf dem Leibe hatten, wurden uns unſre
Wachen herzlich ſauer. Uns fror jaͤmmerlich;
daher begruben wir uns, ſo oft die Wachzeit
zu Ende lief, im Raume tief in die Tabacks-
ſtengel; kamen aber gewoͤhnlich eben ſo er-
froren wieder heraus, als wir hineingekrochen
waren. Unſre Schiffsleute verfuhren auch
ſo unbarmherzig mit uns, daß ſie uns nicht
in ihre Schlafkojen aufnehmen wollten, wie-
wohl dies, waͤhrend ſie ſelbſt ſich auf der
Wache befanden, fuͤglich haͤtte geſchehen koͤn-
nen. Eben ſo wenig lieſſen ſie uns, zu
unſrer Erwaͤrmung, das geringſte von ihren
Klei-
Kleidungsſtuͤcken zukommen; und ſelbſt die
kaͤrglichen Mundbiſſen, die wir erhielten,
wurden uns nur mit Widerwillen und Brum-
men hingeſtoßen.
So kamen wir vor die Muͤndung der
Elbe. Da wir hier aber Alles mit Eis be-
ſetzt fanden und uͤberdem auch ſich ein Oſt-
wind erhob, wurde der Beſchluß gefaßt,
wieder umzukehren und an der Hollaͤndiſchen
Kuͤſte einen Nothhafen zu ſuchen. Vor der
Jnſel Schelling fand ſich auch ein Lootſe
zu uns an Bord, der uns, ſchon bei ſpaͤter
Abendzeit, zwiſchen die Baͤnke im Vorwaſſer
brachte. Weil uns indeß der Wind entge-
genſtand und wir nicht weiter hineinkom-
men konnten, warfen wir Anker, und der
Lootſe gieng wieder an Land, mit dem Ver-
ſprechen, ſobald der Wind ſich umſetzte, zu
uns zuruͤckzukehren. Aus den Aeuſſerungen
unſers Schiffers gieng hervor, wie erwuͤnſcht
es ihm ſey, gerade an dieſem Punkte an
Land gekommen zu ſeyn: denn ſein Vater
fahre als Beurtſchiffer von Bremen nach
Haarlingen, und eben jetzt muͤſſe die Reihe
an ihm ſeyn; ſo daß er hoffen duͤrfe, den-
ſelben an letzterm Orte vorzufinden, von wo
wir hier nur zwei oder drei Meilen entfernt
ſeyen.
Es war gerade der erſte Januar des
Jahrs 1757. Abends um zehn Uhr ſetzte
1. Bändchen. (5)
ſich der Wind in Nordweſten; und indem
er zu einem fliegenden Sturm anwuchs,
wurde das Schiff vom Anker getrieben;
ſaß auch, ehe wir uns deſſen verſahen, auf
einer Bank feſt, wo die Sturzwogen un-
aufhoͤrlich uͤber das Fahrzeug hinwegrollten
und bis hoch an die Maſten emporſchaͤum-
ten. Das Schiff war ſcharf im Kiel ge-
baut; ſo oft daher eine Welle ſich verlief,
fiel es ſo tief auf die Seite, daß die Ma-
ſten beinahe das Waſſer beruͤhrten. Gleich-
wohl erhielt uns Gottes Barmherzigkeit, daß
wir nicht vom Borde hinweggeſpuͤlt wurden.
Dieſe aͤngſtliche Lage dauerte wohl vier bis
fuͤnf Minuten, wo endlich eine beſonders hohe
und maͤchtige Welle uns hob und mit ſich
uͤber die Bank hinuͤber ſchleuderte.
So gelangten wir zwar fuͤr den Augen-
blick wieder in fahrbares Waſſer: doch ehe
wir noch Zeit hatten, uns unſrer Rettung
zu freuen, jagte der Sturm unſer Fahrzeug
vollends auf den Strand, und die branden-
den Wellen zogen auf’s neue im ſchaͤumen-
den Gebrauſe uͤber das Verdeck und unſre
Koͤpfe hinweg. Der Schiffer mit ſeinen
beiden Leuten befand ſich zufaͤllig auf dem
niedriger liegenden Hintertheile des Schiffs;
waͤhrend wir drei Paſſagiere uns vorne in
der Hoͤhe befanden und den Fockmaſt um-
klammert hielten, um nicht von den ſpuͤlenden
Wogen mit fortgeriſſen zu werden. Die
Angſt, mit etwas Hoffnung vermiſcht, machte
uns maͤuschen ſtille: Jene aber ſchrieen und
wimmerten, daß die Luft davon erklang, ohne
daß wir ihnen helfen, oder ſie zu uns em-
porklimmen konnten.
Die Nacht war ziemlich dunkel; auf dem
Lande lag Schnee, und rings um uns her
ſchaͤumte die Brandung; folglich war Alles
weiß, und es ließ ſich nicht unterſcheiden,
wie nahe oder wie fern wir dem trocknen
Ufer ſeyn moͤchten. Je laͤnger ich indeß
meine Aufmerkſamkeit hierauf ſpannte, deſto
gewiſſer auch daͤuchtete mir’s, daß beim
Ruͤcklauf der Wellen nur ein kleiner Zwi-
ſchenraum bis zum Lande ſtatt finden koͤnne.
Jch nahm einen Zeitpunkt wahr, wo das
Verdeck nach vorne frei vom Waſſer war,
und kroch an dem langen Bugſpriet hinan,
das nach dem Strande hin gerichtet ſtand;
da ſah ich nun deutlich, daß jedesmal, wenn
die See zuruͤcktrat, das Ufer kaum eine
Schiffslaͤnge von uns entfernt blieb.
Jetzt ſchien mir unſre Rettung laͤnger
nicht unmoͤglich. Jch nahm behutſam den
Ruͤckweg zu meinen Gefaͤhrten; theilte ihnen
meine gluͤckliche Entdeckung mit und ſprach
ihnen Muth ein, mir nach auf das Bug-
ſpriet zu klettern. Sobald die naͤchſte Welle
ſich weit genug zuruͤckzoͤge, wollte ich’s zu-
erſt verſuchen, mich ſchnell an einem Tau
(deren dort uͤberall eine Menge zerriſſen
hieng) hinabzulaſſen; und wenn ich feſten
Boden unter mir fuͤhlte, ſollten ſie, auf
mein gegebenes Zeichen, beim naͤchſten Ab-
lauf einer Woge, meinem Beiſpiele getroſt
nachfolgen. Auch den Uebrigen ſchrie ich
zu, ſich auf dieſem Wege zu retten: allein
das Sturm- und Wellengebrauſe war zu
maͤchtig, als daß ich haͤtte koͤnnen verſtanden
werden.
Unſer Wagſtuͤck gelang nach Wunſch;
wir kamen gluͤcklich an Land und fielen alle
Drei voll Entzuͤcken auf unſre Kniee, um
dem goͤttlichen Erretter unſern Dank darzu-
bringen. Durchnaͤßt bis auf die Haut und
erſtarrt vor Froſt, war indeß hier nicht der
Ort und die Zeit, lange hinter uns zu ſehen.
Vielmehr wanderten wir unverzuͤglich auf
eine Feuerbaake zu, die hier auf dem Schel-
ling zum Beſten der Seefahrenden unterhal-
ten wird, und deren Licht wir etwa 2000
Schritte von uns flimmern ſahen. Wohl
hundert Mal fielen wir in der dicken Fin-
ſterniß und auf den unebenen Sandduͤnen
uͤber unſere eigenen Fuͤße: aber innig froh,
dem toſenden Meere entronnen zu ſeyn, haͤt-
ten wir auch wohl groͤßeres Leid nicht ge-
achtet, und gelangten endlich auch wohlbe-
halten zu dem Feuerthurme. Die Thuͤre
deſſelben ward im Dunkeln ausgetaſtet; vor
uns oͤffnete ſich eine Windeltreppe, die wir
hinanſtiegen; und droben im Wachſtuͤbchen
fanden wir einen Mann auf der Pritſche
ausgeſtreckt, dem, bei unſerm unerwarteten
Eintritt, im Todesſchrecken das Pfeifchen
aus dem Munde entſank; bis wir uns Bei-
derſeits beſannen und naͤher mit einander
verſtaͤndigten.
Auf den Bericht von unſrer ungluͤckli-
chen Strandung erklaͤrte er uns, daß er
verpflichtet ſey, dies Ereigniß ſofort im
naͤchſten Dorfe, welches kaum einige tauſend
Schritte entfernt liege, anzuzeigen. Er lud
uns ein, ihn dorthin zu begleiten; kam uns
erſtarrten armen Burſchen aber gar bald
aus dem Geſicht und uͤberließ es uns, ihm,
ſo gut wir konnten, nachzuhumpeln. Un-
zaͤhlige Male purzelten wir auf dieſem kur-
zen Wege; kamen ſelbſt in Gefahr uns zu
verirren, und fanden uns nur dann erſt zu
dem Dorfe hin, als wir eine Glocke gezo-
gen hoͤrten, welche das Zeichen gab, daß
alles Mannsvolk auf und empor ſollte, um
unſer geſtrandetes Schiff aufzuſuchen und
zu bergen.
Wir wurden indeß in ein Haus gefuͤhrt,
wo des Fragens nach unſerm erlittenen Un-
gluͤck kein Ende war; wo aber die guten
Leute zugleich auch trockne Kleider, Speiſen,
Warmbier und ſogar Gluͤhwein, und was ſie
ſonſt irgend im Vermoͤgen hatten, herbei
brachten, um uns zu erquicken. Sie wein-
ten in die Wette mit uns — wir vor Freude,
ſie vor Mitleid; und nicht eher verlieſſen ſie
uns, als bis ſie uns in einem warmen Bette
zur Ruhe gebracht hatten.
Am Morgen, da wir uns wieder ermun-
tert hatten, erfuhren wir, daß die Dorfs-
mannſchaft von ihrem naͤchtlichen Zuge wie-
der heimgekehrt ſey. Sie hatte das ge-
ſtrandete Schiff in der Dunkelheit nicht fin-
den koͤnnen, war aber, bei anbrechendem
Tage, auf die einzelnen, laͤngs dem Ufer
umhertreibenden Truͤmmer geſtoßen, ohne
jedoch weder einen lebendigen Menſchen,
noch eine ausgeworfene Leiche anzutreffen.
Wir blieben alſo leider! die einzigen Gebor-
genen! Es ward uns indeß angerathen, uns
zu Mynheer de Droſt, der die polizeiliche
Aufſicht auf der Jnſel fuͤhrte, zu begeben
und demſelben unſer Ungluͤck vorſtellig zu
machen, da zudem eine Caſſe vorhanden ſey,
woraus armen ſchiffbruͤchigen Leuten, wie
wir, eine Unterſtuͤtzung gereicht zu werden
pflege. Auch moͤchten wir deren wohl um
ſo mehr beduͤrftig ſeyn, da jetzt zwiſchen dem
Schelling und dem feſten Lande Alles mit
Eis geſtopft und ſo bald an kein Hinuͤber-
kommen zu denken ſey.
Dieſer Vorſchlag kam uns gar gelegen.
Ohne uns alſo zu aͤuſſern, daß wir noch
mit Geld und mit einer Taſchenuhr (Beides
hatt’ ich ſorgfaͤltig in meinen Beinkleidern
verwahrt) verſehen waͤren, machten wir uns
zu dem Landdroſten auf den Weg, ihm un-
ſre Lage zu ſchildern. Der brave Mann
hoͤrte uns mit dem aͤuſſerſten Mitleid an;
ließ auch ſofort einen Schneider kommen,
der uns eine tuͤchtige Jacke und Hoſen an-
meſſen mußte, und verſah uns mit doppel-
ten Hemden, Halstuͤchern, Struͤmpfen, einer
Filzmuͤtze und andern Nothwendigkeiten mehr.
Hiermit auch nicht zufrieden, ließ er einen
Mann kommen, dem er uns in die Koſt
befahl; und ſo blieben wir in dieſer men-
ſchenfreundlichen Pflege bis in die Mitte
des Januars, wo endlich das Eis zwiſchen
dem Schelling und Haarlingen aufgieng und
wir ein Schiff von dorther nach dem Schel-
ling durchbrechen ſahen.
Sobald dies Fahrzeug an Land gekom-
men war, beeilten wir uns, den Schiffer,
welcher ſchnell loͤſchen und dann den Ruͤck-
weg antreten wollte, dahin zu vermoͤgen,
daß er uns einen Platz an ſeinem Borde ge-
ſtattete. Auf ſeine ausweichende Antwort,
die uns wenig Hoffnung uͤbrig ließ, hielten
wir’s fuͤr das Gerathenſte, auf der Stelle
unſern großmuͤthigen Goͤnner, den Droſten,
anzutreten und ihm unſer neues Anliegen
vorzutragen. Sogleich auch war er zur
Vermittelung bereit; ließ den Schiffer ru-
fen; verdung uns ihm als Paſſagiere bis
Haarlingen und an ſeinen eignen Tiſch, wie
lang oder kurz die Ueberfahrt auch waͤhren
moͤchte, und berichtigte die Koſten mit funf-
zehn Gulden vor unſern Augen. Es ver-
ſteht ſich, daß wir ihm aus Herzensgrunde
und mit weinenden Augen dankten, indem
wir zugleich Abſchied von ihm nahmen, um
mit unſerm Schiffer zu gehen. Dieſem hal-
fen wir vergnuͤgt loͤſchen und eine neue La-
dung einnehmen; und ſo konnten wir ſchon
nach 48 Stunden mit ihm vom Schelling
abſegeln.
Wir brauchten einen Tag und beinahe
die ganze folgende Nacht, um uns durch das
Eis zu arbeiten, bis wir mit dem Morgen
vor Haarlingen anlegten. Hier nahmen wir
ſofort unſer kleines Buͤndel auf den Arm,
und waren im Begriff, laͤngs dem Kai zum
naͤchſten Thore hinauszuziehen, als wir zu-
faͤllig an einem Fahrzeuge voruͤber ſchlender-
ten, welches, wie mehrere andre, im Eiſe
eingefroren war. Auf demſelben ſtand ein
kleiner alter Mann, der uns anrief und deſ-
ſen Neugier wir uͤber unſre Umſtaͤnde, erſt
im Allgemeinen und dann im Beſondern, be-
friedigen mußten. Wir thaten es, als ehr-
liche Pommern, in aller Unbefangenheit, und
nannten letzlich auch den Namen „Heindrick
Harmanns‟, als des Schiffers, mit dem
wir unſern neuerlichen Unfall erlitten und
der dabei ein Raub der empoͤrten Wogen
geworden.
Kaum gieng der ungluͤckliche Name uͤber
meine Lippen, ſo ſchlug der alte Mann die
Haͤnde uͤber dem Kopf zuſammen, und ſchrie,
daß es in die Luͤfte klang: „Barmherziger
Gott! Mein Sohn! mein Sohn!‟ Zugleich
ſank er auf ſeine Kniee nieder und mit dem
Angeſicht auf das Verdeck, und jammerte
unablaͤſſig: „Mein Sohn! o, mein Sohn!‟
— Uns ſchnitt der klaͤgliche Anblick durch’s
Herz; wir weinten mit ihm und konnten
nicht von der Stelle. Als wir uns Beider-
ſeits ein wenig erholt hatten, drang er in
uns, ihm in ſeine Kajuͤte zu folgen. Hier
mußten wir ihm den ganzen Verlauf um-
ſtaͤndlich erzaͤhlen; auch wollt’ er uns (als
ob ihm dies einigen Troſt gaͤbe) den ganzen
Tag nicht von ſeiner Seite laſſen: aber
waͤhrend er uns Kaffee, Wein und Alles,
was er nur bei der Seele hatte, vorſetzte,
uͤberwaͤltigte ihn immer von neuem der
Gram um ſein verlornes Kind, und preßte
auch uns Thraͤnen der Ruͤhrung und des
Mitleids aus.
Gegen den Abend, wo es uns endlich
die hoͤchſte Zeit daͤuchtete, unſern Stab wei-
ter zu ſetzen, hub er an: „Liebe Jungen,
heute koͤnnt und ſollt ihr nicht mehr von
dannen. Jch will euch in ein gutes Haus
bringen, wo ihr euch die Nacht uͤber erho-
len koͤnnt. Aber morgen fruͤh hol’ ich euch
ab und gehe eine Strecke Weges mit euch.
Jhr ſeyd jung und unerfahren, und braucht
Anweiſung und guten Rath, wie ihr eure
Reiſe weiter anzuſtellen habt. Kommt denn,
in Gottes Namen!‟
Unſer Fuͤhrer ſchien in der Herberge,
zu welcher er uns geleitete, und wo es von
Biergaͤſten wimmelte, gar wohl bekannt.
Er erzaͤhlte ſeines Sohnes und unſer Un-
gluͤck; auch wir mußten erzaͤhlen, und ſo
verſtrich der Abend, bis der Wirth, in Er-
mangelung ſeiner abweſenden Ehegenoſſinn,
uns in ein recht artiges Zimmer hinauf-
leuchtete, uns Dreien ein großes, mit Bet-
ten hoch ausgeſtopftes Nachtlager anwies
und uns ſodann eine freundliche Ruhe
wuͤnſchte. Wirklich that ſie uns Noth, und
wir krochen wohlgemuthet und behaͤglich un-
ter die Decke zuſammen.
Leider aber hatten wir diesmal unſre
Rechnung — zwar nicht ohne den Wirth,
aber doch ohne die Wirthinn gemacht! Denn
kaum war uns ſo ein ſuͤßes halbes Stuͤnd-
chen zwiſchen Schlaf und Wachen verlaufen,
ſo kam es unter Zank und Gepolter die
Treppe hinauf geſtuͤrmt; unſre Zimmerthuͤre
ward ungeſtuͤm aufgeriſſen, und eine gellende
Stimme gebot uns, ſofort das warme Neſt
zu raͤumen und ihr ſauberes Bettzeug nicht
zu verfumfeien. Da half kein Widerreden;
wir ſprangen auf, lieſſen die Ohren haͤngen
und duckten uns in einen Winkel zuſammen,
bis die Betten, die der Dame ſo feſt an’s
Herz gewachſen waren, mit einem Strohſack,
einer Matratze und einer Art von Pferde-
decke vertauſcht worden. Das war ein boͤ-
ſer Wechſel! und der unfreundlich genug
ausgeſtoßene Wunſch einer guten Nacht,
womit uns die geſtrenge Hausfrau verließ,
hinderte nicht, daß wir eine ſehr boͤſe Nacht
unter Froſt, Verdruß und Schlafloſigkeit zu-
brachten.
Unſer ehrlicher Vater Harmanns, der in
ſeiner Kajuͤte geſchlafen hatte, und dem wir
am Morgen unſer naͤchtliches Abentheuer
mittheilten, nahm ſich den Affront, welcher
ſeinen Schuͤtzlingen widerfahren war, mehr
zu Herzen, als wir erwarteten. Trotz un-
ſern Vorſtellungen, las er der Wirthinn ei-
nen derben Text, ſagte ihr und ihrem Hauſe,
wo er ſo viele Jahre verkehrt hatte, alle
Gemeinſchaft auf, und wollte jede Chriſten-
ſeele warnen, keinen Fuß uͤber dieſe unwirth-
liche Schwelle zu ſetzen. Wir hatten genug
zu thun, den lieben alten Mann zu be-
ſchwichtigen, der ſich’s nicht nehmen ließ,
uns noch zu guter Letzt durch ein vollſtaͤndi-
ges Fruͤhſtuͤck ſatt zu machen; ja auch all’
unſre Taſchen mit Brodt, Kaͤſe, gekochtem
Fleiſch, und was er ſonſt wußte und hatte,
vollzuſtopfen.
Das gethan, ergriff er ſeinen Stab und
wanderte mit uns zum Thore hinaus, wie
ſehr wir ihn auch bitten mochten, umzukeh-
ren und ſeine Kraͤfte zu ſchonen. Vielmehr
hoͤrte er nicht auf, uns eifrig wegen unſers
beſſern Fortkommens zu berathen; und waͤh-
rend dieſer Beſprechungen verlief Ein Stuͤnd-
chen nach dem Andern, es ward Mittag,
und wir befanden uns in Franecker. Hier
zog er mit uns in ein Wirthshaus; ließ
auftragen, als ob wir uns fuͤr drei Tage
ſatt eſſen ſollten, und konnte ſich endlich
nur ſchwer entſchlieſſen, uns das Valet zu
geben. Noch druͤckte er uns beim Abſchiede
zwei hollaͤndiſche Dukaten in die Haͤnde;
wir aber ſchieden mit Thraͤnen der Dankbar-
keit von dieſem Ehrenmanne, und gelangten
Abends wohlbehalten nach Leuwaarden, wo
wir uͤbernachteten.
Die naͤchſte Tagereiſe brachte uns ſpaͤt
in der Dunkelheit nach Dockum: aber es
wollte uns nicht gelingen, hier eine Her-
berge zu finden. Ueberall, wo wir anklopf-
ten, beleuchtete man uns ſorgfaͤltig von allen
Seiten und zog dann die Thuͤre uns vor
der Naſe in’s Schloß, mit einem froſtigen:
„Geht weiter mit Gott!‟ — Es war eine
kalte ſtuͤrmiſche Nacht: wir irrten umher
und jammerten, bis wir endlich bei einem
Hinterhauſe an einen Stall geriethen, wo
ein Knecht noch den Duͤnger auskehrte. Ver-
gebens klagten wir auch Dieſem unſer Leid,
und baten ihn, uns die Nacht in ſeinen
warmen Stall aufzunehmen: er fuͤrchtete,
ſich dadurch Scheltworte bei ſeinem Herrn
zu verdienen, und uns blieb zuletzt nichts
uͤbrig, als uns hinter einer Scheune, zu-
naͤchſt dem Thore, wo es etwas Ueberwind
gab, zuſammen zu kauern und uns recht
herzlich ſatt zu weinen. Hatten wir eine
Weile geſeſſen, ſo ſprangen wir wieder auf
und rannten auf dem Platze hin und her,
um nicht vor Froſt zu erſtarren. Es ward
uns aber warlich je laͤnger je uͤbler zu
Muthe.
Das waͤhrte ſo fort, bis nach Mitter-
nacht, wo wir Raͤder raſſeln und ein Poſt-
horn blaſen hoͤrten. Eine Kutſche hielt am
Thore, und auch wir kamen hinter unſrer
Scheune hervor, um zu ſehen, was es
gaͤbe? Bis die Thorfluͤgel und Gatter ſich
oͤffneten, ſtanden wir aus langer Weile um
den Wagen her, an welchem der Schlag
von innen aufgemacht wurde, und von wo-
her ein lautes „Wer da?‟ an uns ergieng.
Wir fanden keine Urſache, unſrer Perſonen,
Drangſale und gegenwaͤrtigen Noth ein Hehl
zu haben; und unſer unwillkuͤhrliches Zaͤhn-
klappern legte genugſames Zeugniß ein, daß
wir die Wahrheit redeten.
Es fand ſich nun, daß ein einzelner Mann
im Wagen ſaß, und daß ihm unſer truͤbſeli-
ger Zuſtand zu Herzen gieng. Nachdem er
ſeinem Unwillen durch einige Verwuͤnſchun-
gen gegen die hartherzigen Dockumer Luft
gemacht, uns um unſre Heimath befragt
(Freilich mochten wohl Pommern und Col-
berg boͤhmiſche Doͤrfer fuͤr ihn ſeyn!) und
endlich noch erfahren hatte, daß unſer Weg
zunaͤchſt auf Groͤningen gienge: ſo uͤber-
raſchte er uns durch die willkommne Einla-
dung, zu ihm in die Kutſche zu ſteigen und
ihn bis zu dem genannten Orte zu begleiten.
Es verſteht ſich wohl, daß wir armen erfror-
nen Schlucker uns das nicht Zweimal ſagen
lieſſen. Der Wagen rollte mit uns fort,
und wir mußten unſerm Wohlthaͤter die
ganze Nacht hindurch alle unſre erlebten
Schickſale erzaͤhlen. Mit Tages Anbruch
ſahen wir uns nach Groͤningen verſetzt;
und der Mann im Wagen fuhr ſeines We-
ges weiter; doch nicht, ohne zuvor uns
mit drei hollaͤndiſchen Gulden beſchenkt zu
haben.
Wir ſahen ihm mit herzlichem Danke
nach; verfolgten aber gleichfalls unſre Straße
zum andern Thore hinaus, nachdem wir
bloß unſern Brodtbedarf erneuert hatten,
und erlebten an dieſem Tage kein ferneres
Abentheuer, als daß wir an einem Gitter-
thore von einem barſchen Kerle umgerufen
und uns ſechs Stuͤber Zollgeld abgefordert
wurden. Unſer Proteſtiren, daß wir arme
ſchiffbruͤchige Leute ſeyen, die man ja wohl
verſchonen werde, half zu nichts; wir wur-
den in die Stube des Zollhauſes gezerrt und
ſollten zahlen. Nun waͤre die Summe wohl
zu erſchwingen geweſen, und meine Kame-
raden winkten mir auch zu, nur in Gottes
Namen den Beutel zu ziehen: allein Dieſer,
ſammt unſerm ganzen kleinen Reichthum,
ſaß ſo tief und wohl verwahrt in meinen
Beinkleidern, daß ich ein billiges Bedenken
trug, ihn vor dieſen Zeugen zum Vorſchein
zu bringen. Daruͤber ſaßen wir hier wohl
eine gute halbe Stunde lang, gleichſam wie
im Arreſt, und es ward mit uns um die
ſechs Stuͤber capitulirt.
Ganz wie vom Himmel kam uns jedoch
ein Erloͤſer in der Perſon eines Poſtboten,
der zu uns eintrat, weil er hier Briefe ab-
zureichen hatte. Er ließ ſich den Handel
von beiden Partheien umſtaͤndlich vortragen,
und ſchlug ſich, wie billig, auf unſre Seite;
wobei es denn nicht ohne eine nachdruͤckliche
Gewiſſensruͤge an den unbarmherzigen Zoͤll-
ner abgieng. Dieſer aber blieb ſteif und un-
beweglich auf ſeinem Zoll-Reglement und
ſeinen ſechs Stuͤbern beſtehen; bis endlich
unſer eifriger Sachwalter den eignen Beu-
tel zog, Jenem das Wegegeld hinwarf, und
nun uns triumphirend aufforderte, in Got-
tes Namen unſers Weges zu gehen. Das
thaten wir denn auch, ohne es an unſrer
Bedankung fuͤr ſeine Großmuth mangeln zu
laſſen.
Nun aber geriethen wir in andre Noͤthe.
Meine beiden Begleiter, der angeſtrengten
Maͤr-
Maͤrſche ungewohnt, hatten die Fuͤße voller
Blaſen und fanden ſich auch anderweitig un-
bequem; ſo daß mir’s immer ſchwerer fiel,
ſie des Weges vorwaͤrts zu bringen. Gieng
ich meinen guten Schritt vorweg und ſah
dann hinter mich, ſo war der Eine noch im-
mer weiter, als der Andre, zuruͤckgeblieben.
Bat ich ſie, ſich zu foͤrdern: — ſie wollten
nicht, ſie konnten nicht; ſie weinten. Es
gedieh endlich ſo weit damit, daß mein Bru-
der auf einem Duͤngerhaufen am Wege ſitzen
blieb und unter heißen Thraͤnen betheuerte:
Jetzt vermoͤchte er nicht weiter; ich moͤchte
nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt’
ich ihm von unſerm Gelde nichts zukommen
laſſen, ſo moͤcht’ es darum ſeyn. Es ſey
ihm ohnehin ſo zu Sinne, als muͤſſ’ er hier
ſitzen bleiben und Hungers ſterben.
Meine Angſt war unausſprechlich. Jch
weinte mit ihm um die Wette; ich troͤſtete,
ich verſprach ihm goldene Berge, wenn er
nur aufſtehen und es verſuchen wollte, mit
mir fort zu humpeln. Nur bis aus naͤchſte
Dorf noch ſollt’ er ſich fortſchleppen, bevor
es Abend wuͤrde. Morgen wollten wir ein
Fuhrwerk nehmen, und Alles ſollte beſſer
werden. Unter ſolchem kraͤftigen Zureden
nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte
mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er
1. Bändchen. (6)
gieng, bis wir unſer heutiges abgekuͤrztes
Reiſeziel erreichten. Jch hielt ihm indeß
Wort, und wir fuhren von Dorf zu Dorf,
bis wir in’s Oldenburgiſche kamen. Hier
aber nahmen wir die halbe Poſt, und er-
reichten Luͤbeck: doch griff dies ſchnellere
und bequemere Fortkommen auch ſo gewal-
tig in unſre Reiſekaſſe, daß uns, wie knapp
wir’s auch unſerm Munde abdarbten und
kaum mehr, als das trockne Brodt mit ei-
nem Waſſertrunk genoſſen, endlich doch der
letzte Groſchen aus den Haͤnden zerronnen
war.
Was blieb zu thun? Jch wandte mich
in Luͤbeck an einen Kaufmann, Herrn Seng-
buſch, der mir, von Colberg her, dem
Namen nach bekannt war, und erſuchte ihn,
uns auf unſre theuer gehaltene Taſchenuhr
zwanzig Thaler vorzuſtrecken. Hiezu war
der gute Mann auch willfaͤhrig; wir konn-
ten nunmehr mit der Poſt nach Stettin
weiter gehen und fanden hier eine Gele-
genheit, die uns vollends nach Colberg foͤr-
derte, wo wir, in der Mitte des Maͤrz,
mit einem baaren Caſſen-Beſtande von ſieben
Groſchen ſechs Pfennigen anlangten und von
den Unſrigen mit einer Freude, als waͤren
wir vom Tode auferſtanden, empfangen
wurden.
Fuͤnf Tage war ich im lieben Vaterhauſe
lang geweſen und von der Noth kaum wie-
der ein wenig zur Beſinnung gekommen, als
ſchon wieder ein neuer Ungluͤcksſtern uͤber
mir aufgieng. Denn da hieß es: Die Un-
terofficiere von unſerm Bataillon, welches
damals ſeine Winter-Quartiere in Torgau
hatte, haͤtten ſich bei uns eingefunden, um
friſche Rekruten in dieſem ihrem Canton
auszuheben. Eine Schreckenszeitung fuͤr alle
Eltern jener Zeit, ſo wie fuͤr alles junge
Volk, das eine Flinte ſchleppen konnte und
nicht mochte!
Dieſe entſchiedene Abneigung des Buͤr-
gers gegen den Soldatenſtand hatte aber
auch ihre genugſame Rechtfertigung in der
heilloſen und unmenſchlichen Art, womit die
jungen Leute beim Exerziren, zumal von
den dazu angeſtellten Unterofficieren, behan-
delt wurden. Unter den Fenſtern ihrer El-
tern ſelbſt, auf oͤffentlichem Markte, wurden
ſie von dieſen rohen Menſchen bei ſolchen
Einuͤbungen mit Schieben, Stoßen und Pruͤ-
geln auf’s grauſamſte gemißhandelt; — oft
nur, um ihre neue Autoritaͤt fuͤhlen zu laſ-
ſen, oft aber auch wohl in der eigennuͤtzigen
Abſicht, um von den Angehoͤrigen Gaben
und Geſchenke zu erpreſſen. Es war ein
klaͤglicher Anblick, wenn die Muͤtter bei ſol-
chen Auftritten in Haufen daneben ſtanden,
weinten, ſchrieen, baten und von den Bar-
baren rauh und unſanft abgefuͤhrt wurden.
Klagen bei den Obern fanden nicht ſtatt,
oder wurden verſpottet: denn Dieſe dach-
ten, wie ihre Untergebenen, und ſahen mit
kalter Geringſchaͤtzung auf Alles herab, was
nicht den blauen Rock ihres Koͤnigs trug.
Wenn nun ſchon unſre Buͤrgerſoͤhne ſich
damals ſo ungern unter die militairiſche
Fuchtel beugten, ſo wird es um ſo begreifli-
cher, daß inſonderheit die jungen Seefahrer
unter ihnen dieſen Abſcheu in noch verſtaͤrk-
tem Maaſſe bei ſich empfanden, je fruͤher ſie
bereits auswaͤrts die goldne Freiheit ge-
koſtet hatten, und je weniger uͤberhaupt
ihre Handthierung mit dem harten und ge-
zwungenen Soldatendienſte uͤbereinſtimmte.
Wer es alſo irgend vermochte, entzog ſich
dieſer Sklaverei lieber durch die Flucht in’s
Ausland, und gieng dadurch dem Staate
gewoͤhnlich fuͤr immer verloren. Aber auch
der Handelsſtand hat es ſtets ſchmerzlich
empfunden, der ſich nun fuͤr die Schiffahrt
oft mit den untauglichſten Leuten behelfen
mußte.
Haͤtte ich ſelbſt nicht auch jenen Wider-
willen gegen ein ſo gebundenes Leben ſo leb-
haft gefuͤhlt, als irgend Einer unter meinen
See-Kameraden, ſo durft’ ich mich doch
ſchon um meiner kleinen Statur willen nicht
tauglich zu einem regelrechten Soldaten hal-
ten; und darum ſtand mir’s auch nie zu
Sinn, meinem großen Friedrich, ſo ſehr
ich ihn auch verehrte, in Reihe und Glied,
und mit dem Schießpruͤgel auf der Schul-
ter, zu dienen. Denke man ſich alſo mei-
nen Schreck, als ein gutmeynender Freund
unter dem angekommenen Werber-Corps
(Er hieß Lemcke) meinem Vater insgeheim
vertraute: Saͤmmtliche junge Burſche in der
Stadt, von 14 Jahren und druͤber, waͤren
bereits notirt; und um eilf Uhr wuͤrden
die Thore geſchloſſen, die Brauchbarſten dar-
unter aufgegriffen und gleich mit dem naͤch-
ſten Morgen nach Sachſen auf den Trans-
port gegeben werden.
Jetzt war es neun Uhr Morgens. Hier
galt es demnach kein Saͤumens; ich ſollte
fuͤrerſt nach der Muͤnde fluͤchten und mich
dort verbergen. Nur zu bald kam auch
dorthin das Geſchrei, daß alle Vorherſagun-
gen meines Warners puͤnktlich eingetroffen
und das Ordonnanz-Haus bereits voll von
neuen Rekruten ſtecke. Mein Vater ließ
mir durch eine vertraute Frau ſagen, daß
auch bei ihm genaue Hausſuchung nach mir
geſchehen ſey. Jch moͤchte mich daher un-
geſaͤumt aufmachen und, zwei Meilen weiter
am Strande entlang, im Dorfe Bornhagen
bei einem mir nahmhaft gemachten Bauer,
dem zu trauen ſey, eine einſtweilige Zuflucht
ſuchen. Doch dieſer gute Rath kam leider!
zu ſpaͤt; mein Aufenthalt war ſchon ver-
rathen!
Gleich am Nachmittage zeigten ſich jene
Werber uͤberall auf der Muͤnde und umring-
ten das Haus, worinn ich ſteckte, von allen
Seiten. Jch gewann nur die Zeit, mich
auf den ſtockfinſtern Boden zu fluͤchten, wo
ich in der Angſt ein großes Fiſchernetz, das
an den Sparren umher hieng, uͤber mir zu-
ſammen zog: ſo daß ich meiſt darunter ver-
deckt lag. Kaum war dies geſchehen, ſo
ruͤhrte ſich auch etwas auf der Leiter, die
unter das Dach hinauffuͤhrte. Es war der
Unterofficier Schnell, der nun ſein Seiten-
gewehr zog und mit der Spitze deſſelben in
alle Winkel blind umher taſtete. So gieng
er rund um mich und mein aufgethuͤrmtes
Netz umher, ohne mich darunter zu ahnden;
obwohl es mir nicht ganz den Kopf ver-
deckte, und mir dadurch Gelegenheit gab,
ſeine Bewegungen einigermaſſen zu beobach-
ten. Jch darf aber wohl ſagen, daß mir
dabei gar unheimlich zu Muthe war. Jndeß
fand er mich nicht; und auch unten im Hauſe
ward ich ſtandhaft verlaͤugnet.
Nun war hier aber auch meines Blei-
bens nicht laͤnger! Kaum graute der Abend,
ſo machte ich mich, in Gottes Namen, zu
meinem Bauer auf den Weg, nachdem man
mir einen tuͤchtigen Schiffshauer zu meiner
Sicherheit mitgegeben — weniger vor mei-
nen Verfolgern, als um mich im Stadtholze,
welches ich paſſiren mußte, der Woͤlfe zu
erwehren, die damals an Menſchen und
Vieh viel Ungluͤck anrichteten. Wirklich
auch war es ein wahres Wolfswetter mit
Sturm und Schneegeſtoͤber; und Gott weiß,
wie blutſauer mir dieſer Weg geworden:
denn unzaͤhlige Male brach das Eis unter
mir ein, oder ich verſank im Schnee, daß
ich vollauf zu thun hatte, um nur allemal
wieder auf die Beine zu kommen. Endlich
am Morgen erreichte ich meine Freiſtatt,
und hielt mich dort 10 oder 12 Tage ver-
borgen. Aber dieſe daͤuchteten mir bald, wie
eine halbe Ewigkeit; eben ſo wohl wegen
des ganz ungewohnten Einſitzens, als wegen
der ermangelnden Zeitungen von Hauſe; bis
mich’s nicht laͤnger ruhen ließ und ich mich
eines Abends wieder aufmachte, um in mei-
nem alten Quartier auf der Muͤnde nachzu-
fragen, ob ich mich wohl mit einiger Sicher-
heit wieder zeigen duͤrfte?
Hier lauteten indeß die Nachrichten ſo
wenig troͤſtlich, daß mir nur die ſorgfaͤltigſte
Verbergung uͤbrig blieb. Doch wollte ich
nicht gerne von der Muͤnde weichen, weil
naͤchſtens die Schiffahrt wieder aufgehen
konnte, und ich dann hier bei der Hand
war, um mit irgend einem abſegelnden Schiffe
zu entkommen. Mit einem aͤhnlichen Plane
trugen ſich noch Mehrere meiner jungen Ka-
meraden: allein eben darum waren wir auch
um ſo gewiſſer bereits nach einigen Tagen
verrathen; und eine neue Nachjagd ward
auf uns begonnen. Mitten in der Nacht
erweckte mich ein leiſes Klopfen an den Fen-
ſterladen des Kaͤmmerchens, wo ich ſchlief,
und die bekannte Stimme einer getreuen
Frauensperſon rief mir zu: „Joachim,
auf! auf aus den Federn! die Soldaten
ſind wieder auf der Muͤnde! Den, und den,
und den (die ſie mir bei Namen nannte) ha-
ben ſie ſchon beim Fluͤgel gekriegt. Mach,
daß du davon koͤmmſt!‟
Man glaubt mir’s wohl, daß ich flugs
und mit gleichen Fuͤßen aus dem Bette
ſprang. Jn der Beſtuͤrzung griff ich nach
den erſten, den beſten Kleidern, die auf den
Stuͤhlen umher lagen, und die ich fuͤr die
meinigen hielt. So ſtahl ich mich alſobald
und im Hemde auf die Straße hinaus;
ſchuͤttelte meinen Fund auseinander, um mir
davon etwas uͤben den Leib zu werfen, und
bemerkte nun erſt mit Schrecken, daß mir
nichts, als Frauenskleider, in die Haͤnde ge-
fallen waren. Was blieb zu thun? Jch
warf mir einen rothen Friesrock uͤber die
Schultern, und war im Begriff, mich
mit dem Reſte noch beſſer auszuſtaffiren,
als ich in meinem Anputzen haͤßlich geſtoͤrt
wurde.
Es waren die Herren Soldaten, die kaum
zehn Schritte von mir um eine Ecke bogen.
Jch ſuchte mein Heil in der Flucht: aber
eben dadurch verrieth ich mich, und hatte
alſobald meinen alten Widerſacher Schnell,
nebſt noch ein paar Andern, auf der Ferſe
hinter mir. Mein Lauf gieng geradesweges
nach einem, im Hafen liegenden Schiffe zu,
an deſſen Bord ſie mir nicht ſo hurtig nach-
folgen konnten. Zu meinem Gluͤcke lag an
der andern Seite des Schiffs ein Boot befe-
ſtigt. Jch ſprang hinein; fand ſogar ein
Ruder darinn vor, loͤste das Tau, ſtieß ab,
und ließ Jenen in eben dem Augenblicke das
Nachſehen, als auch ſie endlich das Verdeck
erreicht hatten.
Jenſeits, in der Maykuhle, gieng ich an
Land, und uͤberlegte nun etwas ruhiger, was
weiter zu thun ſey? Jch befand mich ſogut,
als nackend, in einer bitterlich kalten Merz-
Nacht, und mußte vor allen Dingen meine
Bloͤße zu decken ſuchen. Alſo wanderte ich
getroſt zu der naͤchſtgelegenen Holzwaͤrterei
Gruͤnhauſen; klopfte den Bowohner (Er hieß
Kroͤſſin) hervor; gab mich zu erkennen und
bat um Aufnahme. Seine abſchlaͤgige Ant-
wort durfte mich nicht befremden, da es der-
zeiten hart verboten war, Fluͤchtlinge meiner
Art zu hegen, die vielmehr ſofort angehalten
und ausgeliefert werden ſollten. Jch be-
ſchraͤnkte demnach meine Bitten auf irgend
eine Kopfbedeckung und ein Paar Struͤmpfe.
Der ehrliche Kerl reichte mir ſeine Schlaf-
muͤtze vom Kopf und ein Paar hoͤlzerne Pan-
toffeln von ſeinen Fuͤßen, und fuͤgte den Rath
hinzu, mich eiligſt zu entfernen, weil es auch
bei ihm nichts weniger als ſicher ſey, da er
gleichfalls einen Sohn im Hauſe habe, dem,
obwohl er krank und elend ſey, von den Sol-
daten nachgetrachtet werde.
So auf’s abentheuerlichſte ausſtaffiert, be-
gab ich mich nach der Maykuhle zuruͤck, um
eine anderweitige Zuflucht aufzuſuchen. Es
ſtand dort, wie ich wußte, ein alter Schiffs-
rumpf hoch auf dem Strande, der im Som-
mer als ein Bierſchank benutzt zu werden
pflegte. An dieſem kletterte ich hinan; ſtieg
oben durch das Rauchfangs-Loch, und duckte
mich da vor der Kaͤlte in einen Winkel zu-
ſammen. Daruͤber gieng endlich die lang-
weilige Nacht zu Ende. Mit dem erſten
Daͤmmerungsſtrahl gloſterte ich, von meiner
Hochwarte herab, uͤberall umher; und da
nach der Muͤnde hinaus Alles ruhig ſchien, ſo
wagte ich mich hervor, ſuchte mein verlaſſe-
nes Boot wieder auf, und ruderte mich leiſe
zu einem Schiffe heran, das nach Koͤnigsberg
gehoͤrte und von Schiffer Heinrich Geertz ge-
fuͤhrt wurde. Dieſer gute Mann nahm mich
willig auf und hielt mich laͤnger, als 14 Tage,
bei ſich verborgen.
Dennoch konnte hier meines Bleibens
nicht ewig ſeyn. Es war mir daher eine
erwuͤnſchte Zeitung, daß ein Colberger Schif-
fer, Namens Martin Albrecht, der dicht ne-
ben uns vor Anker lag, am naͤchſten Mor-
gen mit Ballaſt nach Danzig auszugehen ge-
denke. Zu dieſem Schiffe fuͤhrte mich, um
Mitternacht, mein Freund Geertz in aller
Stille. Meine ganze Reiſe-Ausruͤſtung beſtand
in einen Buͤndelchen mit Hemden und andern
kleinen Nothwendigkeiten, welches meine Mut-
ter mir unter der Hand zugeſchickt hatte.
Sobald ich an Bord hinuͤbergeſtiegen war,
dankte ich meinem freundlichen Beſchuͤtzer zum
Abſchied mit einem warmen Haͤndedruck, bat
ihn, meinen beſorgten Eltern meinen Gruß
und Lebewohl zu bringen, und ließ nunmehr
meinen guten oder boͤſen Stern weiter walten.
Auf dem Schiffe war alles ſtille. Nie-
mand hatte mich wahrgenommen. Jch oͤffne-
te die vordere Kabelgats-Luke, rutſchte hin-
unter, machte die Luke hinter mir zu und
ſuchte mir auf den Tauen und Segeln, die
hier verwahrt lagen, ein Ruheplaͤtzchen.
Bald aber uͤberlegte ich, daß dieſer Verſteck
mit Tages-Anbruch auch ſofort von Menſchen
wimmeln wuͤrde, die zu der vorhabenden Ab-
fahrt Segel und anderes Zubehoͤr daraus her-
vorlangten; wo es denn garſtig fuͤr mich
ablaufen koͤnnte. Jch verſuchte es alſo, mich
durch tauſend Gegenſtaͤnde, die ſich mir hin-
dernd in den Weg ſtellten, tiefer in den Raum
hinab zu miniren. Es gluͤckte mir endlich da-
mit: aber zu gleicher Zeit hoͤrte ich hinter
dem Ballaſt etwas raſcheln und fluͤſtern, das
mir unheimlich vorkam. Gleichwohl kroch ich
noch weiter heran, und unterſchied bald menſch-
liche Stimmen, die mir, je laͤnger ich ſie be-
horchte, um ſo bekannter vorkamen. Kurz
es gab hier eine ganz unvermuthete Erken-
nungs-Scene zwiſchen mir und eilf andern
jungen See-Kameraden, welche gleiche Noth
und gleiche Hoffnung hieher zuſammenge-
bracht hatte.
Fuͤr den Augenblick hielten wir uns zwar
geborgen: aber unter Furcht und Zagen
hatten wir nun zu erwarten, ob das Schiff
vor ſeiner Abfahrt nicht nach uns Fluͤchtlinge
viſitirt werden duͤrfte? Jnzwiſchen brach der
Tag an, und am Borde ward es uͤber unſern
Koͤpfen lebendig. Wir unterſchieden deutlich,
wie man Anſtalten machte, in See zu gehen;
ja, einwenig ſpaͤter ſpuͤrten wir, mit ſteigen-
der Freude, das Schiff in Bewegung, dann
das Anſchlagen der Brandung an die Sei-
tenborde und endlich auch den Abgang des
Lootſen, der uns zum Hafen hinaus begleitet
hatte. Da auch der Wind gut ſeyn mußte,
ſo glaubten wir, nach Verlauf von noch einer
Stunde, weit genug von Colberg, das uns
ein Schreckensort geworden, entfernt zu ſeyn,
um uns wieder an’s Tageslicht hervorwagen
zu duͤrfen. Wir ſetzten alſo die Leiter an,
ſchoben die große Luke auf, und traten wohl-
gemuthet auf das Verdeck hervor.
Das Erſtaunen des Schiffers uͤber unſern
unerwarteten Anblick kannte keine Grenzen:
aber auch von ſeinem Volke mußten ſelbſt die,
welche vielleicht um das Geheimniß wußten,
ſich billig verwundern, daß wir uns, ihnen
unter den Haͤnden, in unſrer Anzahl verdop-
pelt hatten. Eines beſonders freundlichen
Empfangs hatten wir uns indeß nicht zu
ruͤhmen. Der Kapitain, der nur ſeine ſchwere
Verantwortlichkeit erwog, tobte, wie beſeſſen.
„Koͤnnt’ ich nur gegen den Wind ankommen,‟
rief er — „ich braͤcht’ euch Alle auf der
Stelle nach Colberg zuruͤck, und machte rein
Schiff. Aber ich weiß darum wohl, wohin
ich euch abzuliefern habe.‟ — Zugleich ver-
bot er ſeinen Leuten auf’s ſtrengſte, ſich um
uns nicht zu kuͤmmern und uns weder Eſſen
noch Trinken zu reichen.
Zwar ward es mit dieſem Befehl nicht
ſo gar genau genommen, und unſre Freunde
ſteckten uns immerfort etwas von ihren Mund-
Portionen zu: allein da wir volle acht Tage
in See blieben, ſo litten wir gleichwohl grau-
ſamen Hunger und Durſt, und waren darum
von Herzen froh, als endlich die Anker im
Danziger Fahrwaſſer fielen. Hier deutete der
Schiffer ſeiner Mannſchaft in unſrer Gegen-
wart (und alſo auch wohl nicht ohne geheime
Abſicht) an: „Er gehe in dieſem nemlichen
Augenblick an Land und nach Danzig zum
Preuſſiſchen Reſidenten, um ihm uns Deſer-
teurs anzumelden und uns in ſeine Haͤnde
zu uͤberliefern. Bis dahin ſollten ſie uns
an Bord feſthalten und mit Leib und Leben
fuͤr uns einſtehen.‟ Vergeblich wandten ſie
ihm ein: „Die Parthie ſey gar zu ungleich,
da Jhrer nur fuͤnf Mann, wir aber zwoͤlf
Koͤpfe ſtark waͤren.‟ — „Was kuͤmmert’s
mich?‟ war ſeine Antwort — „Und wenn
es auch Mord und Todtſchlag giebt, ſo laßt
ſie nicht laufen!‟
Das hieß nun wohl deutlich genug: Jm-
merhin, laßt ſie laufen! — Kaum hatt’ er
auch nur den Ruͤcken gewandt, ſo machten
wir uns zum Abzuge fertig. Zum Schein
gab es zwiſchen uns und dem Schiffsvolk
ein unbedeutendes und unblutiges Handge-
menge; worauf wir unſers Weges gien-
gen, uns ſofort uͤber die Weichſel ſetzen
lieſſen und laͤngs dem Seeſtrande die Rich-
tung nach Koͤnigsberg einſchlugen. So moch-
ten wir ein paar Stunden wacker zugeſchrit-
ten ſeyn, als wir den Weg zu beſchwerlich
fanden und darum gern auf den Vorſchlag
einiger Gefaͤhrten hoͤrten, die ihn fruͤher
ſchon mehrmals gemacht hatten und das
Fortkommen an der andern Seite der Neh-
rung, laͤngs dem friſchen Haff, als ange-
nehmer und gemaͤchlicher prieſen. Sogleich
ſchlugen wir uns nach dieſer Seite hinuͤber
und entgiengen dadurch, ohne es zu ahnden,
einer Gefahr, die das bisherige Spiegelfech-
ten leicht in bittern Ernſt verwandelt haben
wuͤrde.
Denn Seinerſeits hatte der Kapitain in
Danzig nicht umhin gekonnt, ſeine Pflicht
zu thun. Wir waren geſucht, vermißt und,
auf fernere Anzeige bei der Orts-Obrig-
keit, ſofort verfolgt worden. Ein Kom-
mando von einigen Danziger Stadt-Drago-
nern ſetzte uns laͤngs dem Seeſtrande nach
und wuͤrde uns gar bald eingeholt haben,
wenn wir uns nicht bereits landeinwaͤrts ge-
lenkt haͤtten. So verfehlten ſie uns, und
kehrten unverrichteter Dinge nach Danzig
zuruͤck, waͤhrend wir ohne weitere Anfech-
tung Koͤnigsberg erreichten und, vor weite-
rer Entdeckung ſicher, uns im Gewuͤhl die-
ſes lebendigen Handelsplatzes verloren.
Es traf ſich ſehr gelegen, daß es hier,
bei eben wieder eroͤffneter Schiffahrt, Man-
gel an unterrichteten Seeleuten gab, die als
Steuerleute gebraucht werden konnten. Da-
her waͤhrte es nicht zwei oder drei Tage,
daß wir uns nicht ſammt und ſonders, und
meiſt in jener Eigenſchaft, mit Vortheil an-
gebracht hatten. Jch ſelbſt fand einen Platz
als Steuermann auf einer kleinen Jacht von
50 Laſten und 5 Mann Equipage. Mein
Schiffer hieß Berend Jantzen und war mit
einer Ladung Hauf nach Jrwin in Weſt-
Schottland beſtimmt; ſollte aber, um die
franzoͤſiſchen Kaper zu vermeiden, oben
herum durch die Nordſee und die Orkaden
ſteuern.
Wir giengen unter Segel: aber ſchon
im Sunde erlebten wir das Ungluͤck, daß
das eiſerne Band eines Waſſerfaſſes beim
Zerſpringen dem Schiffer von hinten gegen
die
die Wade ſchlug und dadurch das Bein ſo
heftig gegen eine ſcharfe Holzecke ſchleu-
derte, daß wir ihn in die Kajuͤte tragen
mußten und er an dem Schaden mehrere
Monate lang das Bette zu huͤten hatte.
Da nun er ſo wenig, als Einer unſrer Ma-
troſen, an welchem ſich bald ein veneriſches
Uebel offenbarte, auf dem Deck ausdauern
konnte, unſer Schiffsjunge aber (eigentlich
ein verdorbener Tiſchlergeſell) bei dem ge-
ringſten Sturmwetter mit Seekrankheit zu
thun hatte: ſo beruhte nunmehr die Fuͤh-
rung des Schiffes einzig auf mir und ei-
nem Motroſen; und ich darf wohl geſtehen,
daß mir bei der Sache nicht gar zu wohl zu
Muthe wurde.
Jn der That gehoͤrt auch die Schiffahrt
in dieſen Gegenden, zwiſchen Schottland
und der Jnſel Lewis und den uͤbrigen zahl-
reichen Hebriden hin, zu den gefaͤhrlichſten,
die es geben kann; — nicht nur des engen
Fahrwaſſers zwiſchen den Jnſeln und der
vielen Klippen wegen, ſondern hauptſaͤchlich
weil hier ſo ſtarke Stroͤmungen gehen, daß
es oft uͤberall brandend aufſchaͤumt und
nicht anders ausſieht, als ob Alles rings
umher dicht mit blinden Klippen beſaͤet
waͤre. Noch ungluͤcklicher aber iſt es, daß
die hollaͤndiſchen Seekarten, deren wir uns
1. Bändchen. (7)
damals allein bedienen konnten, hier durch-
aus unzuverlaͤſſig ſind und jeden Augenblick
irre fuͤhren. Das begegnete denn auch mir;
und ſo darf man ſich denn nicht wundern,
daß ich hier endlich gar nicht mehr aus oder
ein wußte.
Jn dieſer Bedraͤngniß kam uns ein eng-
liſches Schiff zu Geſicht, welches zwiſchen
zwei hohen Landſpitzen hervor ſegelte, und
von welchem ich richtigeren Beſcheid zu er-
langen hoffte. Jn dieſer Abſicht richtete
ich die Segel nach jener Seite hin, indem
ich zugleich die preuſſiſche Flagge auf-
ſteckte, welche bekanntlich weiß iſt und in
der Mitte den ſchwarzen Adler fuͤhrt. Aber
auch die franzoͤſiſche Flagge iſt von weiſſer
Farbe; und da ſich bei dem maͤßigen Winde
die meinige zu wenig entfaltete, um den Ad-
ler anſtatt der Lilien erblicken zu laſſen:
ſo ward ich von dem Englaͤnder fuͤr einen
franzoͤſiſchen Kaper angeſehen, und er ſetzte
bei dem ſtillen Wetter ſo viel Segel auf,
als ſein Schiff nur tragen konnte, um mir
zu entgehen. Jch that desgleichen, um
Jagd auf ihn zu machen; und ſo machten
wir uns beiderſeits Roth und Muͤhe, bis
zuletzt Nachmittags der Wind voͤllig erſtarb,
als ich nur noch eine kleine Viertelmeile von
dem Fluͤchtling entfernt war.
Meinen Zweck verfolgend, ſetzte ich nun-
mehr, mit Huͤlfe meines Matroſen und des
Jungen, die Joͤlle aus und ließ mich von
ihnen an den jenſeitigen Bord hinuͤber ru-
dern. Als Vorwand meines Beſuchs ſollte
mir ein mitgenommenes lediges Waſſerfaß
und die kleine Nothluͤge dienen, daß uns un-
ſer Trinkwaſſer ausgegangen. Wir kamen
dem Schiffe auch gluͤcklich zur Seite, wo
wir mit Verwunderung Alles zum Ge-
fechte in Bereitſchaft fanden; waͤhrend ſie
ſelbſt, beim naͤhern Anblick von uns drei
Koͤpfen, uͤber ihre ausgeſtandene Furcht lachen
mußten.
Meine Bitte um friſches Waſſer ſchien
unverdaͤchtig und fand willigen Eingang.
Unter der Zeit aber, daß es gezapft und in
mein Faß uͤbergefuͤllt wurde, nahm ich der
Gelegenheit wahr, ganz unbefangen nach
dem Namen dieſes und jenes Landes, das
uns eben im Geſichte lag, zu fragen. So
erfuhr ich, daß dort hinaus Cap Cantrie,
hierwaͤrts aber die Jnſel Lamlach gelegen
ſey. Jch war nun, zu meiner großen Be-
ruhigung, wieder orientirt, ohne mir die
arge Bloͤße gegeben zu haben, meine Unwiſ-
ſenheit einzugeſtehen: eben ſo wenig aber
mocht’ ich mir auch die Schande anthun,
mich hier fuͤr einen Steuermann halten zu
laſſen. Dennoch moͤcht ich unter Meines-
gleichen immer noch nicht der Duͤmmſten
Einer geweſen ſeyn; und wenn man bedenkt,
daß ich damals noch keine zwanzig Jahre
zaͤhlte, und mir meinen Mangel an Erfah-
rung, billiger Weiſe, zu gute haͤlt, ſo wird
auch, unter den angefuͤhrten Umſtaͤnden, ſelbſt
das Urtheil des gewiegteren Seemanns ſcho-
nend genug fuͤr mich ausfallen.
Jrwin, unſer Beſtimmungsort, liegt im
Grunde einer tiefen runden Bucht, in welche,
als wir ihre Hoͤhe erreichten, ein Sturm
aus Nordweſt gerade hinein blies. Da ſie
mir durchaus unbekannt war, bekanntlich
aber ſchlechten Ankergrund hat, ſo waͤre es
verwegen geweſen, mich bei dieſem Winde
und Wetter in ſie hinein zu wagen. Jch
ſteuerte alſo gegen die Jnſel Arron, um
dort vielleicht eines Lootſen habhaft zu wer-
den: allein vergebens kreuzte ich zwei Tage
umher. Meine weiſſe Flagge ſpielte mir
abermals den Streich, daß Alles auf der
See vor mir floh, und vom Lande Rie-
mand ſich zu mir heran wagte, weil ich
fuͤr einen Franzoſen gehalten wurde. Zu-
letzt naͤherte ich mich dem Strome von Port-
Glasgow; und hier gelang es mir denn,
einen Lootſen zu finden, der mich nach Jrwin
brachte.
Jch beruͤhre es nur kurz, daß wir, nach-
dem auch unſer Schiffer wieder auf die Beine
gekommen, von hier mit Ballaſt und unter
neutraler Flagge nach der Jnſel Noirmou-
tiers, an der weſtlichen Kuͤſte von Frankreich,
giengen, wo wir eine Ladung Seeſalz einnah-
men und uns dann nach Koͤnigsberg auf
den Heimweg machten. Leider konnten wir’s
im Kanal, in der Naͤhe von Dover, nicht
vermeiden, nach und nach mit ſieben engli-
ſchen Kapern zuſammen zu gerathen. Alle
dieſe Schnapphaͤhne — Kerle, mit wahren
Galgen-Phyſiognomieen, ſtiegen zu uns an
Bord, und wußten in Allem, was ihnen an-
ſtand (und ihnen ſtand faſt Alles an!) ſo
geſchickt reinen Tiſch zu machen, daß ſie es
uns ſchier unmoͤglich machten, wieder an
Land und zu Leuten zu kommen. Keſſel
und Pfannen, Tauwerk und losgebundene
Segel, Seekarten und Kompaß mußten mit
ihnen wandern. Was der Eine uns ließ,
das nahm der Andre. Ja, endlich zogen ſie
uns ſogar die Kleider vom Leibe.
Wir hatten eben, Dover gegenuͤber, bei-
legen muͤſſen, als mir, bei dem letzten uner-
wuͤnſchten Zuſpruche ſolcher Art, Einer von
dieſen Taugenichtſen, zudringlicher, als die
uͤbrigen Alle, die langen Schifferhoſen von
den Beinen ſtreifte. Das haͤtte ich ver-
ſchmerzen moͤgen: aber bei der Gelegenheit
fiel ihm auch ein Nothpfennig von etwa 13
Rubeln in die Augen, die ich in’s Hemde
eingenaͤht hatte und hier fuͤr ſicher genug
hielt. Kaum aber erreichte der ſuͤße Ton
des Silber-Geklappers ſein Ohr, ſo griff er
gierig zu, hieb mit ſeinem Hauer mir den
Hemdezipfel vom Leibe, zaͤhlte ſeine Beute
uͤber, und trieb die brittiſche Großmuth ſo
weit, mir davon einen Rubel zuruͤckzugeben.
Dabei verbot er mir, dieſen dem Schiffer
zuruͤckzuſtellen, welchem, ſeiner Meynung
nach, der ganze Fund wohl eigentlich gehoͤ-
ren moͤchte.
Jch aber war uͤber dieſe Behandlung
dermaaſſen erbittert, daß ich augenblicklich
das Ruder aufholte, die Segel abbraßte
und, da der Wind ſuͤdlich war, nach dem
Lande zuhielt. „Was ſoll das bedeuten?
Wo hinaus?‟ fragten die Kerle, die mir
auf dem Verdeck am naͤchſten ſtanden. —
„Wo hinaus?‟ antwortete ich, von der in-
nern Wuth uͤbermeiſtert — „Geraden We-
ges nach Dover, wo Jhr Schelmgezuͤchte
noch heut am lichten Galgen baumeln ſollt!‟
— Flugs kam auf dieſe Drohung das ganze
Pack aus Kajuͤte, Roof, Kabelgat und Raum,
wohin ſie ſich zum Rauben vertheilt hatten,
im dichten Kreiſe um mich her zuſammen.
So viel Haͤnde, ſo viel Piſtolen wurden mir
auch an den Kopf oder Hauer auf die Bruſt
geſetzt: doch ſchoß oder ſtach Niemand.
Dagegen riſſen ſie mich bei den Haaren
auf’s Deck nieder; Einige hielten mich an
Kopf und Fuͤßen feſt; Andre ſchlugen
mit den flachen Klingen auf mich drein,
daß mir ſchier Hoͤren und Sehen vergieng.
Endlich wollten doch die Barmherzigſten
meine weitere Mißhandlung nicht geſtatten;
doch gieng es nicht ohne einige Fußtritte
ab; und Einer, der mir nun noch die Stie-
feln von den Fuͤßen zog; ſchlug mir ſie
zum Beſchluſſe um die Ohren; zog ſie ſelbſt
auf der Stelle an, und machte ſich darauf
mit ſeinen feinen Geſellen, zuſammen drei-
zehn an der Zahl, an Bord ihres Kaper-
ſchiffes zuruͤck.
Mein Zuſtand war ſo jaͤmmerlich, daß
unſer Schiffsvolk mich fuͤr halb todt in meine
Koje trug. Nicht genug aber, daß ich, der
ich mich kaum regen konnte, der Regierung
des Schiffes abgieng: ſondern nun entſtand
auch in der naͤchſten Nacht ein Sturm, gegen
den die Uebrigen ſich zu ſchwach fuͤhlten, die
Segel einzunehmen. Dies hatte die Folge,
daß bald auch der große Maſt brach und
mit ſeiner ganzen Takelage uͤber Bord ging.
Nun trieben wir, als ein Wrack, in der See,
und haͤtten wahrſcheinlich unſern Untergang
gefunden, wenn nicht Tages darauf eine hol-
laͤndiſche Fiſcher-Schuyt in unſre Naͤhe ge-
kommen und bereitwillig geweſen waͤre, unſer
Schiff nach dem Texel und von dort nach
Medemblyk zu ſchleppen, wo ſich die bequem-
ſte Gegegenheit fand, es wieder zu vermaſten
und in ſegelfertigen Stand zu ſetzen.
Als es zugeruͤſtet war, fuͤhlte ich mich
noch zu krank und elend, um wieder mit an
Bord zu gehen. Jch mußte alſo in Medem-
blyk zuruͤckbleiben, und begab mich dort zu
einem Kompaßmacher, dem ich ſeine Kunſt
gruͤndlich ablernte; und dieſe iſt mir in der
Folge von großem Nutzen geweſen. Zugleich
ſchrieb ich in meine Heimath, und erhielt auch
bald eine Aufforderung von meinem Vater,
ungeſaͤumt nach Colberg zuruͤckzukommen. Die
Gefahr, zum Soldaten ausgehoben zu werden,
ſey jetzt nicht zu fuͤrchten, da er, als Buͤrger-
Adjutant, ſich den Feſtungs-Commandanten
v. Heyden beſonders geneigt wiſſe, und daß
es mehr, als Eine Weiſe, gebe, dem Vater-
lande rechtſchaffen zu dienen. Ueberdem ſey
es ſehr wahrſcheinlich, daß der Feſtung binnen
kurzem eine Belagerung von den Ruſſen be-
vorſtaͤnde. Es ſey alſo das Beſte, daß ich
nach Hauſe kaͤme, um mit meinen Eltern zu
leben und zu ſterben. Schluͤge ich jedoch dieſe
Ermahnung in den Wind, ſo moͤcht’ ich auch
fernerhin nimmer wagen, mich ſeinen Sohn
zu nennen. Kurz, neben dem gluͤhenden Pa-
triotismus, der ſein Herz beſeelte, ſchimmerte
immerdar noch die Beſorgniß hindurch, daß
ich meiner alten Begierde nach Abentheuern
hier in Holland abermals den Zuͤgel ſchieſſen
laſſen und mit leichtem Sinn in die weite
Welt gehen moͤchte.
Was blieb mir unter dieſen Umſtaͤnden
anders zu thun, als mich unverzuͤglich auf
das Schiff eines Landsmannes ſetzen, der zu
Amſterdam lag und unter Danziger Flagge
fuhr, und es ſo einzurichten, daß ich auf der
Colberger Rheede, im Voruͤberfahren, von ihm
an Land geſchickt wurde? Drei oder vier
Wochen darauf begann die erſte, von dem
ruſſiſchen General Palmbach geleitete Bela-
gerung meiner Vaterſtadt. Nun iſt es be-
kannt, daß ſchon von alten Zeiten her die
Einwohner von Colberg durch ihren Buͤrger-
Eid verpflichtet ſind, zur Vertheidigung der
Feſtung Leib und Leben, Gut und Blut daran-
zuſetzen. Sie blieben alſo auch bei dieſer
Gelegenheit, als brave Preuſſen, nicht hinter
ihrer Schuldigkeit zuruͤck. Meines Vaters
Poſten inſonderheit forderte, daß er in die-
ſer Zeit ſtets um die Perſon des Comman-
danten ſeyn mußte; und wo er war, da war
auch ich, um ihm, als ein flinker und ruͤh-
riger junger Menſch, zur Hand zu gehen.
Der alte wackre Heyden ſah meinen guten
Willen; und das gewann mir ſein Wohlge-
fallen in dem Maaſſe, daß ich beſtaͤndig in
ſeiner Naͤhe ſeyn und bleiben mußte. Jch
konnte ſolchergeſtalt fuͤr ſeinen zweiten Buͤr-
ger-Adjutanten gelten und wurde oftermalen
auf den Waͤllen von ihm gebraucht, ſeine
Befehle nach entfernten Poſten zu uͤberbrin-
gen. Jn der That war dies eine gute Vor-
ſchule fuͤr mich, um zu lernen, was unter
ſolchen Umſtaͤnden zum Feſtungsdienſte gehoͤrt;
und die Lection iſt mir noch im ſpaͤten Alter
trefflich zugute gekommen!
Man weiß, daß dieſe Belagerung, obgleich
ernſtlich genug gemeynt und mit uͤberlegener
Kraft begonnen, dennoch durch die Entſchloſ-
ſenheit unſers Anfuͤhrers und ſeine geſchickten
Gegenanſtalten fruchtlos blieb und daß die
Ruſſen, nachdem ſie eine Menge Pulver un-
nuͤtz verſchoſſen hatten, nach einigen Wochen
wieder abziehen mußten. Sobald aber auch
nur der Platz wieder frei geworden, war dort
meines Bleibens nicht laͤnger. Jch machte
eine Fahrt nach Amſterdam, von der ich hier
nichts Beſonderes anzufuͤhren habe, und traf
hier wieder mit meinem alten werthgehaltenen
Kapitain Joachim Blank zuſammen, den ich
vor drei Jahren ungern verlaſſen hatte. Er
hatte gerade eine neue Reiſe nach Surinam
vor, wo es denn keines langen Zuredens bei
mir bedurfte, um auf ſeinem Schiffe meine
alte Stelle als Steuermann anzunehmen.
Es war gegen das Ende Decembers, (1758)
als wir, mit einer großen Flotte von Kauf-
fahrern, und unter Bedeckung von drei hol-
laͤndiſchen Kriegsſchiffen, aus dem Texel mit
einem tuͤchtigen Sturm aus Nordoſten in
See giengen. Allein es giebt ſo mancherlei
Verzug und Beſchwerde, ſich — zumal bei
den langen Winternaͤchten — im Gedraͤnge
einer ſolchen zahlreichen Convoy zu befinden,
daß wir uns die erſte beſte finſtre Nacht zu
Nutze machten, uns heimlich von unſrer laͤſti-
gen Begleitung abzudruͤcken und unſer Heil
in uns ſelbſt zu ſuchen. Der anhaltende
guͤnſtige Wind ließ uns auch bald einen wei-
ten Vorſprung gewinnen; ſo daß wir binnen
kurzem die oͤſtlichen Paſſat-Winde erreichten
und die geſammte Fahrt vom Texel bis in
den Fluß von Surinam, — eine Strecke
von 2200 Meilen — in der ungewoͤhnlich
kurzen Zeit von 28 Tagen zuruͤcklegten.
Meine Beſchaͤftigungen an dieſem unſerm
Beſtimmungs-Orte waren die nemlichen, die
ich ſchon fruͤher angefuͤhrt habe. Jch be-
fuhr beide Stroͤme in der Colonie, verſah
die Plantagen mit den beduͤrftigen Artikeln
unſrer Ladung, und brachte von dort eine
neue Ruͤckfracht an Zucker und Kaffee zu-
ſammen. Dies ſetzte mich nun mit einer
Menge von Plantagen-Directeurs in Ver-
bindung, die großentheils meine naͤheren oder
entfernteren Landsleute waren und mir ſaͤmmt-
lich viele Liebe und Guͤte erwieſen. Jhrer
unbegrenzten Gaſtfreundlichkeit danke ich die
vergnuͤgteſten Tage meines Lebens, die un-
ſtreitig in dieſe achtmonatliche Dauer meines
Aufenthalts in dieſer Colonie fielen.
Auf unſrer Heimfahrt nach Amſterdam
hatten wir Einen der vermoͤgendſten Planta-
gen-Beſitzer als Paſſagier an Bord, den die
Sehnſucht nach dem vaterlaͤndiſchen Himmel
zuruͤck nach Europa trieb. Er hieß Polack,
war ein gebohrner Wiener und in ſeiner
Jugend als gemeiner Soldat nach Suriname
gerathen. Gluͤck und Thaͤtigkeit hoben ihn
hier allmaͤhlig zu einer glaͤnzenden Lage em-
por. Eine der groͤßten Kaffe-Plantagen,
genannt „der Maas-Strom‟ und am Com-
mendewyne gelegen, war ſein Eigenthum,
das er ohnlaͤngſt ſeinem, aus Europa zu ſich
berufenen Schweſterſohne zum Geſchenk uͤber-
geben hatte. Nie ſah ich einen ruͤhrendern
Anblick, als wie ich ihn von dort in unſrer
Schaluppe an Bord abholte. Alle Sklaven
der Pflanzung, 400 Maͤnner, Weiber und
Kinder an der Zahl, hatten ſich verſammlet,
um ihrem alten guͤtigen Herrn das Lebewohl
zu ſagen. Sie fielen rings um ihn nieder,
weinten, umfaßten ſeine Fuͤße und Haͤnde und
umklammerten ſeinen Leib, als wollten und
koͤnnten ſie ihn nimmer von ſich laſſen. Duͤrfte
man vorausſetzen, daß das Schickſal allen
Neger-Sklaven in den Colonieen einen ſo
menſchlich-denkenden Gebieter zutheilte, ſo
wuͤrde das ſo laut erhobene Geſchrei uͤber
die himmelſchreiende Ungerechtigkeit des mit
ihnen betriebenen Handels viel von ſeinem
Nachdruck verlieren.
Sobald wir unter Segel gegangen waren,
erſuchte uns Herr Polack, dem Schiffsvolk
bekannt zu machen, daß er demjenigen, der
ihm zuerſt anſagen koͤnne: Er ſehe europaͤi-
ſche Erde — ein Geſchenk von 50 Dukaten
zugedacht habe. Dieſe Nachricht verbreitete
unter Allen eine geſpannte Aufmerkſamkeit;
und der Wetteifer, eine ſo leicht zu verdie-
nende Belohnung vor den Uebrigen davon-
zutragen, wuchs mit jedem Tage, der uns
unſerm heimatlichen Erdtheile naͤher brachte.
Selbſt als wir, in der achten Woche unſrer
Fahrt, unſrer Schiffsrechnung nach, dieſes
Ziel erreicht zu haben glauben durften, blieb
dennoch eine Ungewißheit von einem Dutzend
Meilen uͤbrig, da, wie bekannt, in jenen Zei-
ten die genaue Beſtimmung der zuruͤckgeleg-
teu Laͤngen-Grade mehr auf einer muthmaaß-
lichen Schaͤtzung, als auf aſtronomiſchen Be-
rechnungen oder der Sicherheit der See-Uh-
ren, beruhte.
Jetzt wimmelte es ſchon ſeit einigen Ta-
gen auf unſern Maſten und Stengen von Men-
ſchen, die mit angeſtrengten Blicken nach Eu-
ropa ausſchaueten. Eines Nachmittags, als
ich meine Wache beendigt hatte, und ehe ich
mich in meine Koje verfuͤgte, ſtieg ich nach
oben, um mich nach allen Seiten umzuſehen;
wie dies denn nicht bloß damals, ſondern zu
allen Zeiten, meine unverbruͤchliche Weiſe war.
Mein erſter Blick nach dem oͤſtlichen Horizont
hinaus zeigte mir etwas, das beinah wie eine
entfernte Kuͤſte am Rande aufblickte. Den-
noch ſtieg mir einiger Zweifel auf, ob nicht
eine aͤhnlich geſtaltete Wolke, oder eine Ne-
belbank, mich taͤuſchte. Allein je gewiſſer ich
mich, von Jugend auf, meinem falkenſchar-
fen Geſichte anvertrauen durfte, und je laͤn-
ger und ſorgfaͤltiger ich mir dieſe Erſcheinung
uͤberlegte, deſto zuverſichtlicher ward binnen
kurzem meine Ueberzeugung, daß ich recht ge-
ſehen hatte. Um mich her und hoch uͤber
mir ſaßen Matroſen, denen gleichwohl von
meiner Entdeckung noch kein Schatten ahndete.
Auch ich ſchwieg ſtille, begab mich auf’s
Verdeck hinunter und fluͤſterte unſerm Ober-
Steuermann in’s Ohr: „Gelt Freund, ich
ſehe die engliſche Kuͤſte! Jch ſteige jetzt wie-
der nach oben; und wenn ich dann den Arm
gerade nach dem Lande hin ausſtrecke, ſo macht
darnach hier unten mit dem Kompaß die
Peilung.‟ — Unbefangen nahm ich meinen
alten Sitz im Maſtkorbe wieder ein; uͤber-
zeugte mich dann zuvor, ob unten mein Ge-
huͤlfe mit ſeinem Jnſtrumente fertig ſtand,
und deutete nun beſtimmt nach der erblickten
Kuͤſte hin. Kaum nahmen meine Nachbarn
umher dieſe Bewegung wahr, ſo ſchrieen ſie
auch alleſammt, wie aus Einer Kehle: „Land!
Land! Land!‟ — aber zu ſpaͤt! Jch hatte
ihnen bereits vorgefiſcht!
Als ich mich wieder unten zeigte, for-
derte mich unſer Kapitain auf, zu Herrn
Polack in die Kajuͤte zu gehen und ihm zum
Anblick von Europa zu gratuliren. Mein Ehr-
gefuͤhl aber wollte es nicht zulaſſen, mir ir-
gend den Schein zu geben, als habe ich mich
unter die Bewerber zu ſeiner ausgeſetzten
Praͤmie gedraͤngt. Nicht ſo aber dieſer Eh-
renmann, der mich ſelbſt zu ſich hinab noͤthigte,
mir das beſtimmte Paͤckchen Gold in die Hand
druͤckte und mich bat, es zu irgend einem An-
denken an ihn und dieſe Reiſe zu verwenden.
Bald darauf langten wir auch gluͤcklich im
Texel an; und hier beim Abſchiede wiederholte
er ſeine Freigebigkeit noch durch ein Geſchenk,
wovon der Ober-Steuermann 20 — ich 10
und die ſaͤmmtliche Schiffs-Equipage 20 Du-
katen empfingen. Am 1. December (1759)
erreichten wir Amſterdam; und unſre Fahrt
hatte diesmal ein rundes Jahr, weniger einige
Tage, gewaͤhrt. Von unſrer Bemannung,
die 44 Koͤpfe betrug, hatten wir 9 Menſchen
durch den Tod verloren.
Unthaͤtigkeit und traͤge Muße waren mir
unleidlich. Jch engagirte mich daher ſofort
wieder, als Unter-Steuermann, auf das Schiff
de goede Verwachting, unter Kapitain Sie-
wert, welches ſchon im Texel lag, nach St.
Euſtaz beſtimmt war, und kurz vor Anfang
des Jahres 1760 die Anker lichtete. Die
ſpaͤte Jahrszeit ließ uns eine ſchwere ſtuͤrmi-
ſche Fahrt in der Nordſee und im Kanal er-
warten. Auch traf dieſe Befuͤrchtung nur zu
puͤnktlich ein: denn wir buͤßten nicht nur
mehrere Segel, ſondern auch Stengen und
Raaen ein, und 5 Matroſen, ſammt dem
Schiffszimmermann, hatten das Ungluͤck, ohne
Rettung uͤber Bord geſpuͤlt zu werden. So
kamen wir, in einem aͤuſſerſt beſchaͤdigten Zu-
ſtande, in St. Euſtaz an; bewirkten jedoch
binnen vier Wochen unſre Ausbeſſerung und
Ruͤckladung, und mochten kaum die Haͤlfte
unſers Weges nach Holland zuruͤckgelegt ha-
ben, als wir von einem engliſchen Kriegs-
ſchiffe genommen wurden. Die geſammte
Mannſchaft, bis auf 4 Mann, mußte an deſ-
ſen Bord hinuͤberwandern; und ſo wurden
wir im Monat Mai nach Portsmouth auf-
gebracht. Unſer Prozeß, ob recht oder un-
recht, kam zu einer kurzen Entſcheidung: denn
da man fuͤr gut fand, in unſrer Fracht fran-
zoͤſiſches
zoͤſiſches Eigenthum zu wittern, ſo wurden
Schiff und Ladung condemnirt, die Mann-
ſchaft aber mit der ausgezahlten Gage von
Einem Monat abgefunden. Noch verdruͤß-
licher aber war uns das Erſchwerniß, welches
wir fanden, England zu verlaſſen.
Unter dieſen Umſtaͤnden blieb mir nichts
uͤbrig, als Dienſte auf einem engliſchen Schiffe,
unter Kapitain Keppel, zu nehmen. So kam
ich, mit Apſang des Julius, nach Danzig,
von wo ich ſofort an meine Eltern nach Col-
berg ſchrieb und ihnen meine Lage ſchilderte.
Dies hatte die, fuͤr mich ſehr uͤberraſchende
Folge, daß meine gute Mutter perſoͤnlich mit
der Poſt nach Danzig kam, ſich hinter den
preuſſiſchen Reſidenten ſteckte und durch Die-
ſen es mit leichter Muͤhe dahin brachte, daß
ich, als preuſſiſcher, und alſo Unterthan einer
befreundeten Macht, von dem engliſchen Schiffe
entlaſſen wurde. Unmittelbar darauf gieng
ich mit meiner guͤtigen Befreierinn nach un-
ſerer Vaterſtadt ab.
Kaum 5 oder 6 Wochen hatte ich im vaͤ-
terlichen Hauſe zu meiner Erholung zuge-
bracht, ſo trat fuͤr Colberg der Zeitpunkt je-
ner zweiten denkwuͤrdigen Belagerung ein;
und da die Ruſſen diesmal, beides zu Waſſer
und zu Lande, operirten, ſo war auch der
Hafen geſperrt, und ich ſaß alſo wieder in
der Kaltſchale! Jndeß that ich meinen Dienſt,
1. Bändchen. (8)
wie ich wußte und konnte, ebenſo, wie vor
zwei Jahren; nur gieng es diesmal noch um
Vieles waͤrmer her. Gluͤcklicher Weiſe dauerte
unſer Nothſtand nur etwa drei Wochen, da
denn die Feſtung durch den braven General
Werner, wie durch ein Wunder, entſetzt wurde.
Waͤhrend dieſer Zeit des ſiebenjaͤhrigen
Krieges blieb den preuſſiſchen Schiffen und
Seeleuten, um ihrem Erwerb nachzugehen,
kaum etwas Anderes uͤbrig, als unter der
neutralen Danziger Flagge zu fahren. Jn
ſolcher Weiſe gieng ich auch im October von
Danzig nach Koͤnigsberg, und von Koͤnigs-
berg mit einem Schiffe in See, das nach
Amſterdam beſtimmt war und von Karl Chri-
ſtian, einem in Pillau anſaͤßigen Schiffer,
gefuͤhrt wurde. Jch hatte mich als Steuer-
mann verdungen. Es war im November 1760;
und ſo fehlte es in dieſer vorgeruͤckten Jahrs-
zeit auch wiederum nicht an haͤufigem Sturm
und Unwetter, womit wir beſonders in der
Nordſee viel zu ſchaffen hatten.
Wir bekamen einen Leck, mit dem es bin-
nen kurzem ſehr bedenklich wurde, weil die
Ratzen die inwendige Fuͤtterung des Schiffs-
bodens durchgefreſſen hatten; wo denn das
Getreide, welches unſre Ladung ausmachte,
in den untern Kielraum gerathen war und
unſre Pumpen verſtopft hatte. Der Sturm
ward je laͤnger je heftiger, und wir fuͤhlten
uns dem Sinken nahe. Jn dieſer Noth blieb
uns nichts uͤbrig, als das Schiff vor dem
Winde hinlaufen zu laſſen, die Lucken zu
oͤffnen und von unſrer Ladung ſoviel moͤglich
uͤber Bord zu ſchaffen. Aber noch immer
konnten wir keinen Hafen ſehen oder erreichen,
als wir mit Einbruch der Nacht in die Schee-
ren an der ſuͤdlichſten Spitze von Norwegen
geriethen, wo wir zwar mit Muͤhe auf 70
bis 80 Klafter vor Anker kamen, aber doch
nicht verhindern konnten, daß das Hintertheil
des Schiffs auf eine Klippe ſtieß. Durch
die Gewalt dieſes Stoßes zerbrach das Ruder
ſammt dem Hinter-Steeven, und das Waſſer
im Raume ſtieg mit jeder Viertelſtunde hoͤ-
her. Wir brachten eine Nacht voll entſetz-
licher Angſt zu und ſahen unſern gewiſſen
Tod vor Augen.
Endlich aber daͤmmerte etwas Tageslicht
auf und zeigte uns eine Oeffnung zwiſchen
den Scheeren, die wir augenblicklich benutz-
ten, indem wir unſer Ankertau kappten, zu-
gleich aber auch eines Lootſen maͤchtig wur-
den, der uns in den Hafen von Klewen,
nahe bei Mandal, fuͤhrte. Froh des geret-
teten Lebens beſſerten wir hier unſer hart be-
ſchaͤdigtes Schiff aus; konnten aber erſt im
Merz 1761, und mit ſtark verminderter La-
dung, wieder in See gehen; worauf wir denn
im April unſern Beſtimmungsort erreichten,
unſer Getraide loͤſchten und dann einige Wo-
chen ſpaͤter mit Ballaſt nach der Jnſel Noir-
moutiers, weiter ſegelten, um hier eine La-
dung Seeſalz als Ruͤckfracht nach Koͤnigsberg
einzunehmen.
Waͤhrend unſrer Reiſe dahin und bei dem
ſchoͤnen Wetter, das wir im Kanal trafen,
beſchaͤftigten wir uns nebenher damit, die Ka-
juͤte neu auszumalen. Dem Schiffer ward bei
dieſer Arbeit uͤbel, und er legte ſich in ſeine
Koje, waͤhrend ich ſelbſt einer Verrichtung
auf dem Deck nachgieng. Kaum eine halbe
Stunde nachher kam auch er wieder hervor;
ſah ganz wild und verſtoͤrt aus und fragte
mit Ungeſtuͤm: Was fuͤr Land dies ſey und
wo ich mit dem Schiffe hin wolle? Mit Ver-
wunderung nahm ich ſeinen ungewoͤhnlichen
Zuſtand wahr; brachte ihn jedoch durch guͤt-
liches Zureden in die Kajuͤte und auf ſein
Lager zuruͤck; hatte aber kaum den Ruͤcken
gewandt, als ich hinter mir ein erſtaunliches
Bruͤllen und gleich darauf ein Gepolter hoͤrte,
welches mich bewog, der Veranlaſſung naͤher
nachznſchauen.
Da fand ich denn den Kapitain, der aus
ſeinem Bette herabgetaumelt war, auf dem
Boden der Kajuͤte ausgeſtreckt lag, aus Mund
und Naſe ſtark blutete und ein Loch in den
Kopf gefallen hatte. Sein Anblick war fuͤrch-
terlich; und es ſchien ſich kaum noch eine
Spur von Leben in ihm zu regen. Jch
machte flugs Laͤrm; unſer Volk kam mir zu
Huͤlfe; wir floͤßten ihm Waſſer und Brandt-
wein ein; rieben ihn, verbanden ihm ſeine
Wunde und brachten ihn wieder zu ſich. Auch
ſein geſundes Bewußtſeyn ſchien wiederge-
kehrt; ſo daß wir ihn mit guter Zuverſicht
vom Verdeck, wo wir ihn behandelt hatten,
wieder in ſeine Koje zur Ruhe legen konnten.
Zu noch beſſerer Vorſicht blieb ich bei ihm
und ſtreckte mich auf den Kleiderkaſten, der
vor ſeinem Bette angebracht war.
Nichtsdeſtoweniger uͤberfiel es ihn gleich
darauf von neuem; er taumelte uͤber mich
weg auf den Fußboden der Kajuͤte; war ſtarr,
beſinnungslos und einem Sterbenden aͤhnlich,
bis wir ihn abermals auf’s Deck an die
friſche Luft brachten, wo er ſich denn allmaͤh-
lig wieder erholte. Jch fiel darauf, und bin
auch noch jetzt der Meynung, daß der Grund
dieſer ſonderbaren Wirkung in den friſchen
Oelfarben zu ſuchen ſey, womit wir eben
handthiert hatten; zumal in dem ſogenannten
Koͤnigs-Gelb, das wir zum Anſtrich einiger
Leiſten dicht an ſeiner Koje gewaͤhlt, und deſ-
ſen ſchaͤdliche Ausduͤnſtungen er unmittelbar
mit dem Athem in ſich gezogen haben konnte.
Wir behielten ihn darum auch auf dem Ver-
deck und dann in einem luftigen Abſchlage,
bis wir ihn vollkom̃en wieder geneſen glaubten.
Einige Tage ſpaͤter befanden wir uns
Morgens unter Oueſſant, als ich eben mit
meiner Wache fertig war; und da der Ka-
pitain auf’s Deck kam, um mich abzuloͤſen,
bedeutete ich ihn: „Dort haben wir Oueſſant.
Wir duͤrfen nicht ſuͤdlicher ſteuern, als Suͤd-
ſuͤdweſt, wenn wir nicht hier in die Bucht
zwiſchen den Klippen verfallen wollen.‟ —
Jch war auch zu dieſer wohlgemeynten Wei-
ſung um ſo befugter, weil ich ohnehin auf
dem Schiffe meiſt Alles allein zu leiten hatte:
denn mit des Mannes Steuerkunſt war es
herzlich ſchlecht beſtellt, indem er zwar einige
Reiſen nach Oſtindien, aber nur als Zimmer-
mann, gemacht hatte. Seine Anſtellung als
Schiffer hatte er lediglich der Gunſt einiger
Rheeder in Koͤnigsberg, den Verwandten ſei-
ner Frau, zu danken. Auch wurden von ſei-
nen fruͤheren Fahrten allerlei ſeltſame Dinge
erzaͤhlt, die ſein Ungeſchick zu einem ſolchen
Poſten ſattſam bewieſen. Als Seemann konnt’
er es uͤbrigens mit den Bravſten aufnehmen.
Waͤhrend ich in meine Koje zur Ruhe
gieng, nahm Jener ſein Werkgeraͤth und machte
ſich an der Zimmerung des Bootes etwas zu
ſchaffen Ehe mir aber noch die Augen recht
zufielen, kam er aus demſelben hervor, trat
zu dem Matroſen am Steuer, und fragte:
„Was ſteuert Jhr?‟ — „Suͤdſuͤdweſt, Herr!‟
war die Antwort. — „Ei, warum nicht gar!
Steuert Suͤdſuͤdoſt!‟ befahl der Schiffer.
Jch erſchrack, und gerieth immer mehr in
Nachdenken, was ihn zu dieſer Widerſinnig-
keit veranlaſſen koͤnne. Kaum zehn Minuten
ſpaͤter kam er nochmals und gebot dem Mann
am Ruder, vollends gegen Suͤdoſt zu ſteuern.
Sogleich ſprang ich auf, uͤberzeugte mich,
daß Dieſer wirklich den anbefohlenen Kurs
hielt, und rief nun augenblicklich dem Kapi-
tain zu: „Um Gottes willen! Mit dem
Suͤdoſt-Kurs ſind wir ja gleich im Ungluͤck!
Wir muͤſſen wieder ſuͤdweſtlich ſteuern.‟
Der harte Kopf that, als hoͤrte er mich
nicht, und gab keine Antwort. Jch rannte
zu dem Matroſen und donnerte auf ihn ein:
„Steuert Suͤdweſt!‟ — Der Schiffer, dies
hoͤrend, warf ſeine Zimmeraxt uͤber Seite,
kam heran, und gebot Seinerſeits: „Steuert
Suͤdoſt!‟ — Was blieb mir jetzt uͤbrig, als
dem Kerl die Ruderpinne aus der Hand zu
reiſſen, und ſo meinen Willen zu erzwingen? —
bis Jener ſie mir wiederum mit Gewalt ent-
riß und wuͤthend erklaͤrte, daß es bei Suͤdoſt
verbleiben ſolle.
So abgewieſen, gieng ich in den Roof, wo
ich mein Wachtvolk herausrief und nun auch
Meinerſeits erklaͤrte: „Der Schiffer wolle
uns mit ſeinem Eigenſinn in’s Ungluͤck brin-
gen; wir fuͤhren mit dieſem Kurs dem Ver-
derben in den offenen Rachen. Gleich hin
nach vorne, und ausgeſchaut nach Klippen und
Brandung!‟ — Jn der That auch war kaum
eine halbe Stunde verlaufen, ſo ſchrieen die
Leute: „Ho da! Klippen-Brandung vor uns!‟
— Jetzt hielt ich mich auch nicht laͤnger;
griff, wie ein Sturm, in’s Ruder, holte es
hart an die Backbord-Seite, und ſah mit
Herzbeben rings umher ein Labyrinth von
Klippen weiß aufſchaͤumen.
Auch der Kapitain ſah, was vorgieng, und
ſchlich bleich und zitternd nach der Kajuͤte,
waͤhrend ich, mit Huͤlfe der Uebrigen, das
Schiff wendete und, da mir der Wind guͤn-
ſtig in die Segel ſtand, auch das kaum ver-
hoffte Gluͤck hatte, mich mit Kreuzen und La-
viren endlich wieder aus dem Untergang dro-
henden Gedraͤnge wieder herauszufinden. Von
unſerm Schiffer war und blieb nichts zu ſe-
hen, bis zur Eſſenszeit, da er mich, wie ge-
woͤhnlich, zu Tiſche rufen ließ. Kaum trat
ich in die Kajuͤte, ſo fiel er mir um den Hals;
geſtand, er ſey ganz von Sinnen geweſen, und
bat mich, alles Geſchehene zu vergeſſen; mit
heiliger Zuſicherung, daß er mir kuͤnftig ganz
meinen Willen laſſen wolle. Jch ſchaͤrfte ihm
jedoch ein wenig das Gewiſſen durch Vorſtel-
lung, wie nahe es daran geweſen, daß wir Alle
durch ſeine Schuld Kinder des Todes gewor-
den. Er erkannte das; gab gute Worte, und
damit war die Sache abgethan.
Auf der Heimreiſe hatten wir den Kanal
bereits wieder paſſirt und bei Nacht die Leucht-
feuer bei Dower deutlich erkannt, indem wir
bei einem, zum Sturm werdenden Weſtſuͤd-
weſt-Winde herliefen. Weiterhin in die Nord-
ſee, wo dieſe mehr Breite gewann, fanden
wir gewaltig hohe Wogen, die unſerm tief
mit Salz geladenen Schiffe durch oͤfteres Ue-
berſtuͤrzen ſehr beſchwerlich fielen. Eben war
meine letzte Nachtwache von zwoͤlf bis 4 Uhr
zu Ende. Jch gieng demnach zum Kapitain
in die Kajuͤte, um ihm zu ſagen, daß ſeine
Wache begoͤnne; daß es gewaltig ſtuͤrme, und
daß, wofern der Wind nicht bald nachlieſſe,
es noͤthig werden moͤchte, die Segel einzu-
nehmen und gegen den Wind zu legen. An-
ders ſey mir bange, daß uns nicht Boot,
Waſſerfaͤſſer und ſelbſt Menſchen durch die
Sturzwellen uͤber Bord geriſſen wuͤrden.
Muͤde ſuchte ich meine Lagerſtaͤtte, ohne
jedoch einſchlafen zu koͤnnen. Jch hoͤrte den
Kapitain auf’s Deck hervor kommen und
wieder in die Kajuͤte zuruͤck kehren, wobei
er Morgen- und Bußlieder zu ſingen be-
gann. Das daͤuchtete mir an ihm um ſo
verwunderlicher, da er waͤhrend der ganzen
Reiſe, außer der Zeit des gewoͤhnlichen
Schiffsgebets, nie ein geiſtliches Buch in die
Haͤnde genommen, noch eine Geſang-Note
angeſtimmt hatte. „Das mag wohl gar ein
Zeichen vor ſeinem Ende ſeyn;‟ ſagte ich
zu mir ſelbſt — „Nun, ſo iſt es doch im-
mer das Schlimmſte nicht, was er thun
kann.‟
Eine Stunde ſpaͤter trat er an mein
Bette, um mich zu fragen, ob ich ſchliefe?
— „Kann man es wohl bei Eurer ſeltſa-
men Muſik?‟ war meine Antwort. Nun
ſagte er mir: es werde nicht anders ſeyn,
als daß wir die Segel einreffen und gegen
den Wind wuͤrden drehen muͤſſen. Zugleich
bat er mich, daß ich mich etwas in die Klei-
der wuͤrfe und mit meinen Leuten auf dem
Platze waͤre, waͤhrend er ſelbſt mit ſeinem
Wachvolk die Kliefhack (Beſaane) einnehmen
wolle. — Flugs ſprang ich mit gleichen
Fuͤßen aus den Federn, machte Laͤrm und
brachte meine Mannſchaft auf die Beine.
Aber noch ſteckte ich ſelbſt erſt halb |in ei-
nem Stiefel, ſo begann der Mann am Ru-
der ein helles Geſchrei, ohne daß ich eine
Veranlaſſung dazu begriff. Jch ſtuͤrzte her-
vor — „Kerl, biſt du toll? Was ficht
dich an?‟ — „Mein Gott! mein Gott!
Da vorne muß ein Ungluͤck paſſirt ſeyn.
Sie lamentiren Alle ganz klaͤglich durch ein-
ander.‟
Jn drei Spruͤngen war ich vorne am Bug.
„Was iſt’s? was fehlt euch? |Sprecht!‟ —
„Ach, das Gott erbarme! der Schiffer iſt
uͤber Bord!‟ — „Nun denn, nicht lange
beſonnen! Friſch, daß wir ihm helfen!‟ —
Sogleich griff ich nach allem Tauwerk, das
mir zunaͤchſt zur Hand kam, und ließ die
Enden uͤber Bord laufen, damit ſich der Un-
gluͤckliche vielleicht daran halten moͤchte.
Das Gleiche that ich hinten auf dem Ka-
juͤten-Deck; aber immer noch, ohne zu wiſ-
ſen, nach welcher Seite ich ihn eigentlich zu
ſuchen hatte, da das Schiff eine fliegende
Fahrt lief. Endlich nahm ich wahr, daß er
hinten im Kielwaſſer in die Hoͤhe tauchte,
ſich in einer Entfernung von zehn oder zwan-
zig Klaftern hinter dem Schiffe zum Schwim-
men umwarf und nun mit Macht zu Ru-
dern begann. Daß er ein fertiger Schwim-
mer ſey, der in Oſtindien wohl Strecken
von mehr als einer Viertelmeile zuruͤckgelegt
habe, hatte er ſelbſt mir oftmals erzaͤhlt,
und auch wohl hinzugeſetzt: Er glaube gar
nicht, daß er erſaufen koͤnne.
Sobald ich Seiner anſichtig wurde, holte
ich das Ruder nach der Steuerbord-Seite,
um das Schiff bei den Wind zu legen und
dadurch moͤglichſt aufzuhalten. Jn dieſer
Stellung aber legte es ſich (da es ohnehin
der tiefen Ladung wegen nur wenig Bord
hielt) ſo uͤbermaͤßig auf die Seite, daß ſo-
gar die Kajuͤten-Thuͤre unter Waſſer ge-
rieth und daſſelbe wie zu einer Schleuſe
hineinſtuͤrzte. Jn dieſer Lage ſtanden wir,
wenn ſie noch wenige Minuten anhielt, in
der augenſcheinlichſten Gefahr, auf der
Stelle zu ſinken. Jch mußte mich entſchie-
ßen, das Ruder wieder nach der andern
Seite zu holen, um das Schiff in die Hoͤhe
zu bringen, bevor es ſeinen Schwerpunkt
verloͤre.
Wohl brach mir mein Herz, wenn ich
an den armen Kapitain gedachte, den wir
noch von Zeit zu Zeit mit dem ſtuͤrmenden
Elemente kaͤmpfend erblickten, ſo oft die
Woge ihn empor hob. Es gab kein Mittel
mehr, uns in ſeiner Naͤhe zu erhalten, da
das Schiff, vom Winde gejagt, gleich einem
Pfeile, durch die Fluthen dahin ſchoß. Der
Ungluͤckliche war nicht zu retten; ſelbſt wenn
wir unſer eignes Leben haͤtten preiß geben
wollen! Sogar jetzt, wo ich mich frei von
der unſaͤglichen Beſtuͤrzung fuͤhle, die in je-
nen ſchrecklichen Augenblicken auf uns Alle
druͤckte, weiß ich nicht, was noch anderes
und mehr zu ſeinem Beiſtande von uns haͤtte
verſucht werden koͤnnen.
Mittlerweile hielt der Sturm noch im-
mer an, ohne jedoch haͤrter zu werden. Jch
wagte es daher, das Schiff vor dem Winde
hinlaufen zu laſſen, bis ſich, mit dem naͤch-
ſten Tage, das Wetter allmaͤhlig wieder beſ-
ſerte. Nun aber lag mir eine andre ſchwere
Sorge auf dem Herzen, wie ich, bei uͤber-
nommener Fuͤhrung des Schiffs, den man-
cherlei Verantwortlichkeiten entgehen wollte,
die uͤber den Nachlaß unſers ungluͤcklichen
Kapitains entſtehen konnten. Unſer ganzer
Vorrath an Brodt, Gruͤtze, Erbſen und uͤbri-
gen Lebensmitteln war in der Kajuͤte aufbe-
wahrt; und Koch und Kochs-Maat hatten
taͤglich und ſtuͤndlich ihren Gang in dieſelbe,
um das Noͤthige hervor zu holen. Zugleich
aber lagen hier auch des Schiffers Habſelig-
keiten umher; und ich wußte, daß es ihm
nicht an Geld und Geldeswerth gefehlt
hatte. Noch mehr: Er hatte mir zu Zeiten
einen bedeutenden Vorrath von Koſtbarkei-
ten an Gold und Silber vorgewieſen, zu
deren Einkauf in Amſterdam ihm von ſeinen
Koͤnigsberger Freunden Auftrag gegeben
worden. Auch dieſe mußten in der Kajuͤte
und, wie ich vermuthete, in ſeinem Kaſten
befindlich ſeyn.
Um mich dieſerwegen auf jede Weiſe zu
ſichern, ließ ich gleich am andern Tage das
ganze Schiffsvolk, bis auf den Matroſen,
der das Steuer verſah, in die Kajuͤte zu-
ſammen kommen. Jn ihrer Gegenwart
nahm ich ein ſchriftliches Verzeichniß von
ſaͤmmtlicher Habe unſers verſtorbenen Schif-
fers auf; wir packten dies Alles in die vor-
handenen Kiſten, Kaſten und Saͤcke, und
ſchritten dann zu einer allgemeinen Verſiege-
lung derſelben, damit weiter keine Hand daran
ruͤhren duͤrfte. Das dazu gebrauchte Pett-
ſchaft aber ward von mir, vor ihrer Aller
Augen, durch das Kajuͤten-Fenſter in die See
geworfen.
Da bei dieſer Verhandlung alle und jede
Behaͤltniſſe hatten geoͤffnet werden muͤſſen,
um nachzuſehen, ob ſie keine Schiffs-Papiere
enthielten, die mir im Sunde oder ſonſt noͤ-
thig werden konnten, ſo erſtaunte ich nicht
wenig, daß ſich hierbei nirgends weder Gel-
der und Baarſchaften, noch ſeine Taſchenuhr
und ſilbernen Schuh- und Knie-Schnallen,
noch endlich auch jene vorerwaͤhnten golde-
nen und ſilbernen Galanterie-Waaren vor-
finden lieſſen. Unſre Meinung fiel endlich
dahin aus, daß der verungluͤckte Eigenthuͤ-
mer dieſe Sachen wohl hie und da ver-
ſteckt haben moͤchte, um ſie vor den gie-
rigen Blicken und langen Fingern der Ka-
per-Mannſchaften zu ſichern, die je zuweilen
ungelegene Beſuche an unſerm Borde mach-
ten. Allein wie ſorgfaͤltig wir auch jeden
Winkel der Kajuͤte durchſuchten, ſo ließ ſich
doch nicht die mindeſte Spur des Verlornen
entdecken.
Des dritten Tages nachher war ich im
Sunde, und zwei Tage ſpaͤter vor Pillau.
Der Wind ſtuͤrmte gerade auf das Land zu;
es gieng eine hohe See; und wie gerne ich
auch lieber geraden Weges auf Koͤnigsberg
gegangen waͤre, ſo blieb hier doch nichts an-
ders zu thun, als in den Pillauer Hafen
einzuſetzen. Allein auch dies blieb ein Wag-
ſtuͤck, wozu Muth gehoͤrte. Sobald jedoch
die noͤthigen Vorbereitungen getroffen, die
Kajuͤten-Fenſter vermacht und die Leute auf
ihrem Poſten waren, ließ ich das Schiff
vor dem Winde laufen. Gluͤcklich trafen
wir das Fahrwaſſer zwiſchen den Haaken;
zugleich aber uͤberflutete uns in der Bran-
dung Eine Sturzwoge nach der Andern von
hinten her; das Schiff ſtieß auf den Grund;
hob ſich jedoch mit der naͤchſten nachfahren-
den Welle wieder, und ich waͤre mit dem
bloßen Schreck davon gekommen, haͤtte nicht
dieſe nemliche Welle uns das Steuerruder
aus den Angeln gehoben und davon gefuͤhrt.
Noch aber verlor ich die Beſinnung nicht,
ſteuerte mit den Segeln, ſo gut ich ver-
mochte, und kam endlich bei Pillau, ohn-
weit des Bollwerks, wohlbehalten vor Anker.
Mein kuͤhnes Beginnen hatte eine Menge
neugieriger Menſchen am Bollwerk verſamm-
let, und das nur um ſo mehr, als man
bald auch unſer Schiff erkannte. Jch Mei-
nerſeits bemerkte unter dieſen Zuſchauern,
mit wehmuͤthiger Empfindung, unſers ver-
ungluͤckten Schiffers Frau, die ihre Kinder-
chen zur Seite hatte und eifrig nach uns
ausſah. Kaum trat ich an Land und fiel
ihr in die Augen, ſo rief ſie mit ſichtbarer
Beaͤnſtigung: „Gott im Himmel! wo iſt
mein Mann?‟ — Alles, was zugegen war,
umſtand mich und fragte: „Wo iſt Schiffer
Karl Chriſtian?‟ — „Krank! krank!‟ war
meine zwar vorbereitete, aber durch Ton
und Geberde nur ſchlecht beglaubigte Ant-
wort. Jch ſuchte nur mich los zu machen
und eilte zum reformirten Prediger, dem
Beichtvater der armen Frau, dem ich den
ganzen traurigen Vorfall mittheilte und ihn
mit der Bitte angieng, ihr die Todespoſt
auf eine gute Weiſe beizubringen und mit
ſeinem Troſte beiraͤthig zu ſeyn.
Das geſchah denn auch auf der Stelle.
Jch ſelbſt fand mich demnaͤchſt auch ein,
um der leidige Beſtaͤtiger ſeiner Zeitung zu
ſeyn; und ich darf wohl ſagen, daß mir das
ein ſchwerer und bittrer Gang geworden.
Am naͤchſten Morgen, wo ich hoffen konnte,
daß die ungluͤckliche Wittwe ſich der Weh-
klage etwas begeben und zu mehrerer Faſ-
ſung gekommen ſeyn wuͤrde, gieng ich wie-
derum zu ihr, und kuͤndigte ihr an, daß, da
ich mit dem Schiffe unverweilt nach Koͤ-
nigsberg hinaufgehen muͤßte, ich ihr heute
noch ihres verſtorbenen Mannes Sachen und
Geraͤthſchaften vom Schiffe in’s Haus ſchicken
wuͤr-
wuͤrde. Zugleich aber mußt’ ich ihr leider
auch ankuͤndigen, daß ſowohl ſeine Baarſchaf-
ten, als eine Menge andrer Sachen von
Werthe, auf eine, uns Allen unbegreifliche
Weiſe, unter ſeinem Nachlaß vermißt wuͤr-
den, wofern ſich nicht etwa noch in ſeinen
Papieren daruͤber eine naͤhere Auskunft ergaͤbe.
Nach dieſem betruͤbenden Abſchiede langte
ich mit dem Schiffe bei Koͤnigsberg an und
meldete mich bei den Rheedern deſſelben.
Hier war es ſofort das Erſte, daß wir ſaͤm̃t-
liches Schiffsvolk zu einer eidlichen Erklaͤrung
uͤber alle einzelnen Umſtaͤnde des dem Schif-
fer widerfahrnen Ungluͤcks aufgefordert wur-
den. Wir Alle, und ich inſonderheit, muß-
ten uns auf gleiche Weiſe von jedem Ver-
dachte einer Veruntreuung ſeines Eigenthums
reinigen und unſre Unkenntniß, wohin die
verſchwundenen Sachen gekommen, erhaͤrten.
Haͤtte nur dieſe gerichtliche Prozedur zugleich
auch meine Unſchuld vor den Augen der Welt
und der giftigen Stimme der Laͤſterung zu
rechtfertigen vermocht! Aber leider! fiel hier
die Sache ganz anders! Jch mußte mir hinter
meinem Ruͤcken Dinge nachſagen laſſen, an
die meine Seele nie gedacht hatte. Jch galt
wohl uͤberall fuͤr den Dieb, der Wittwen und
Waiſen verkuͤrzt habe, und mußte es duldeu,
daß oftmals auch in meinem Beiſeyn mit
ſpitzigen Worten auf dergleichen gedeutelt
1. Bändchen. (9)
wurde. Wie oft, aber auch wie ſchmerzlich
bitter, hab’ ich’s Gott geklagt und daruͤber
im Stillen meine Thraͤnen geweint!
Die naͤchſte Wirkung dieſes unſeligen Ver-
dachtes war, daß, nachdem das Schiff ausge-
laden worden, ich, anſtatt die Fuͤhrung deſſel-
ben zu erhalten (wie ſonſt wohl geſchehen waͤre)
es an den Schiffer Chriſtian Kummerow uͤber-
geben mußte. Ja, meine ganze Lebenslage
ſchien hieruͤber eine andre Richtung nehmen
zu wollen. Als verlobter Braͤutigam einer
Tochter des Segelmachers Johann Meller in
Koͤnigsberg, und mit großen Ausſichten und
Plaͤnen, war ich vormals ausgefahren: jetzt
kam dieſe Heirath zwar wirklich zu Stande;
aber ich ließ die Fluͤgel maͤchtig haͤngen und
beſchraͤnkte meinen in die weite Welt ſtreben-
den Sinn nunmehr auf das enge Verkehr ei-
nes kleinen Bordings-Rheeders, und meine
weiteſten Reiſen begrenzten ſich in dem ſpan-
nenlangen Raume zwiſchen Koͤnigsberg, Pillau
und Elbing. Es war der leidige Gang ei-
nes Langohrs in der Muͤhle!
Waͤre aber mein freier, immer ins Weite
geſtellte Sinn eines ſolchen Auſternlebens
nicht ſchon an ſich ſelbſt fruͤhzeitig muͤde ge-
worden, ſo waren doch Zeit und Umſtaͤnde
eben ſo wenig dazu gemacht, mir dieſe Unluſt
durch anderweitige Vortheile zu verguͤten.
Mein Bordingskahn war ein altes Fahrzeug,
das meinem Schwiegervater gehoͤrte, und
worauf ich ihm die Haͤlfte des taxirten Wer-
thes von 2000 Gulden Preuß. baar ausge-
zahlt hatte. Es waͤhrte aber nicht lange,
ſo ward ich, gleich vielen Andern Meines-
gleichen, von den Ruſſen, die damals in ganz
Preuſſen den Meiſter ſpielten, gepreßt und
zum Tranſport von Proviant und Militair-
Effecten von Pillau nach Elbing und Stuthof
gebraucht. An Bezahlung war hierbei im ge-
ringſten nicht zu denken: deſto reichlicher aber
gab es hier uͤble Behandlung und allerlei
Verdruͤßlichkeiten zu verdauen, die mir die
Galle in’s Blut jagten. Jch entſchloß mich
daher kurz und gut, der Pauke ein Loch zu
machen.
Eben lag ich auf dem friſchen Haff bei
Stuthof vor Anker. Jch war ledig, und ſollte
nach Pillau gehen. Ein ruſſiſcher Soldat
war mir an Bord zur Aufſicht gegeben, der
keinen Augenblick von mir weichen ſollte.
Dennoch war leicht ein Vorwand gefunden,
ihn an’s Land zu locken und dort bei der
Flaſche ſo angelegentlich zu beſchaͤftigen, daß
ich mich auf mein Fahrzeug zuruͤckſchleichen,
den Anker lichten und meines Weges davon-
ſegeln konnte. Der arme Kerl, der mich in-
deß nur zubald vermißte, lief mir wohl eine
halbe Meile am Strande nach, ſchrie und be-
ſchwor mich bei all ſeinen Heiligen, daß ich
ihn wieder einnehmen moͤchte. Dazu hatte
ich nun freilich keine Ohren; ich ſpannte
vielmehr noch ein Segel mehr auf, und kam
ihm ſo bald aus dem Geſichte, bis ich auf
dem Pregel bei Fiſchhof anlegte. Hier wim-
melte es eben von Schiffen, welche Bordings
brauchten, um ihnen einen Theil ihrer Fracht
nachzufuͤhren, und wo ich auf eine beſſere
Erndte zu rechnen hatte.
Wirklich auch accordirte ich hier ſogleich
eine gute Fracht nach Pillau; doch machte ich,
zu meiner Sicherheit, dem Schiffer die Be-
dingung, daß ich jenem Orte nicht naͤher, als
uͤber den Grund in der Rinne, (dem Fahr-
waſſer) kommen duͤrfte, und daß er mich,
ſobald ich ihm die Guͤter wieder an Bord ge-
geben, durch ſeine Leute ſogleich auf’s Haff
zuruͤckbugſieren helfen ſollte. So dachte ich
denn dies Spiel noch oͤfter zu wiederholen,
ohne den Ruſſen in die Scheeren zu gera-
then, und ſie oben ein in’s Faͤuſtchen auszu-
lachen. Diesmal zwar gelang es: aber den-
noch war der Handel, als ich Fiſchhof wie-
der erreichte, ſchon verrathen; und ein paar
bekannte Lootſen, die von Pillau kamen, warn-
ten mich, dort dem Frieden nicht zu trauen,
indem mir von meinen Widerſachern bereits
aufgepaßt werde.
Das Schiff, deſſen Guͤter ich diesmal ein-
genommen hatte, war indeß ſchon vor mir
nach Pillau abgeſegelt, und es blieb nichts
uͤbrig, als ihm nachzufolgen: aber zu gleicher
Zeit verließ mich mein Schiffsvolk heimlich,
dem es wohl bange werden mochte, mit mir
bei den Ruſſen in die Patſche zu kommen.
Jch ſah mich alſo auf meinem Bording allein,
ohne mir Rath zu wiſſen; bis am andern Tage
ein betrunkener Menſch (Er war Nachtwaͤch-
ter in Pillau) ſeines Weges von Koͤnigsberg,
laͤngs des Dammes, einhergetaumelt kam, dem
ich die freie Fahrt nach Hauſe anbot, wenn er
an Bord kommen und mir etwas helfen wollte.
Das ward gerne angenommen; und obwohl
er ſich einigermaaſſen wunderte, daß er mich
ſo mutterſeelenallein handthieren ſah, ſo be-
ruhigte ihn doch meine Verſicherung, daß ſich
mein Volk wohl finden werde; er half mir
mein Fahrzeug losmachen und die Segel auf-
ziehen, ſo gut er’s in ſeinem Zuſtande ver-
mochte, und ſuchte dann bald einen Winkel,
ſein Raͤuſchchen vollends auszuſchlafen.
Der Wind war guͤnſtig, und ich ſteuerte,
ſo gut es gehen wollte, auf Pillau zu. Gegen
den Abend ſah ich das Schiff, welches ich
ſuchte, bereits in der Rinne vor Anker liegen.
Allein in eben dem Augenblick, wo ich mich
ihm an Bord legte, erblickte ich auch ein
Boot, mit ruſſiſchen Soldaten angefuͤllt, die
ſich mir naͤherten und es unfehlbar auf mich
gemuͤnzt zu haben ſchienen. Nun galt es
denn im Ernſt! Auf mein Bitten verſprach
mir indeß der Schiffer, nicht nur mich in
ſeiner Joͤlle und durch ſeine Leute alſogleich
bei dem Schwaalkenberge an Land bringen zu
laſſen, ſondern auch meinen Bording, ſobald
er ledig geworden, hinter den Haacken in
Sicherheit zu ſchaffen.
Schnell warf ich mich nun in das Boot,
und ſchluͤpfte, in der eingebrochenen Dunkel-
heit, an meinen Verfolgern gluͤcklich voruͤber.
Der Wind gieng heftig aus Weſten, und es
gab eine hohe See. Obenein kamen wir,
noch in weiter Entfernung vom Lande, auf
den Grund zu ſitzen; ſo daß das Boot hoch
voll Waſſer ſpuͤlte. Waͤhrend die Kerle fluch-
ten und ſchoͤpften, bedachte ich mich nicht
lange, uͤber Bord zu ſpringen. Jch kam auf
der Bank bis an den halben Leib in’s Waſſer;
ſo wie ich aber dem Ufer naͤher watete, ge-
rieth ich immer tiefer — jetzt bis unter die
Arme, dann bis an den Hals — hinein; und
endlich mußte ich mich zum Schwimmen be-
quemen. So erreichte ich triefend das Land
und gieng nach Lockſtaͤdt, wo ich nicht nur
Gelegenheit fand, mich am warmen Ofen zu
trocknen, ſondern mir auch ein Pferd beſtellte,
auf welchem ich fruͤh vor Tage mich davon
machte und zu Mittage Koͤnigsberg mit dem
Vorſatz erreichte, mich im Hauſe meines
Schwiegervaters zu verbergen.
Doch etliche Stunden ſpaͤter fand ſich
auch bereits ein ruſſiſcher Officier mit vier
Mann Wache und in Begleitung des Bordings-
Factors Mager ein, um mich hier aufzu-
ſuchen und feſtzunehmen. Sie trafen ſogleich
auf der Hausflur mit mir zuſammen; und der
Factor, welcher ſich ſtellte, mich nicht zu
kennen, fragte mich, wo der Schiffer Nettel-
beck zu finden ſey? Jch ſtutzte einen Augen-
blick, ermuthigte mich aber doch alsbald zu
dem Beſcheide: Den wuͤrden ſie wohl in Pil-
lau ſuchen muͤſſen. „Nein! nein!‟ unter-
brach mich der Officier, welcher deutſch ſprach —
„Wir wiſſen, daß er hier ſchon wieder zu
haben iſt. Wir wollen ihn wohl heraus-
klopfen.‟ — Klopft nur! dacht’ ich, und
ſchritt ganz laͤſſig zur hintern Hofthuͤre hinaus.
Kaum aber hatt’ ich dieſe auch nur im Ruͤcken,
ſo haͤtte man ſehen ſollen, was fuͤr lange
Beine ich machte, um in den Garten und
uͤber alle Zaͤune, Planken und Hecken hinweg
an den Neuen Graben zu kommen, wo ich
bei einem guten Freunde, Heinrich Topen,
eine neue Zuflucht zu finden wußte.
Hier blieb ich unentdeckt, waͤhrend im
Hauſe meines Schwiegervaters jeder Winkel
auf’s ſorgfaͤltigſte nach mir durchſtoͤbert wurde.
Dagegen ward in Pillau mein Bordingskahn
nicht ſobald ledig, als ihn die Ruſſen auch in
Beſchlag nahmen, neu bemannten und, bis
ſpaͤt in den Herbſt hinein, zu ihrem Gebrauch
verwandten, wo ſie ihn endlich, rein ausge-
pluͤndert und der Segel und des Tauwerks
beraubt, als ein Wrack liegen lieſſen. Ver-
gebens bat ich ſchriftlich einige Freunde in
Pillau, nach meinem Eigenthum zu ſehen:
denn Niemand wollte ſich damit befaſſen, um
ſich nicht vielleicht mit den Ruſſen boͤſe Haͤn-
del zu machen.
Endlich verblutete ſich die Geſchichte; ſo
daß ich’s allmaͤhlig wagte, aus meinem Ver-
ſteck hervorzukommen; und im Fruͤhling 1762
durfte ich mich ſelbſt wieder in Pillau blicken
laſſen. Mein Fahrzeug ſtand hier am Damm
auf dem Grunde, von welchem ich es vor
allen Dingen abbrachte. Dann ſetzte ich es
nach Moͤglichkeit wieder in Stand, und fuͤhrte
es nach Koͤnigsberg, um Seiner nur zu jedem
Preiſe loszuwerden, und nun die Arme ein
wenig freier zu ruͤhren. Zu dieſem Ende
erſtand ich wieder ein zwar nicht großes,
aber tuͤchtiges Seeſchiff, „der Poſtreiter‟ ge-
nannt, von 45 bis 50 Laſten, und fand auch
ſogleich eine erwuͤnſchte Ladung von Malz,
nach Wolgaſt beſtimmt, die fuͤr 22 holl. Gul-
den die Laſt bedungen wurde. Nun ſaͤumte
ich nicht, unter ruſſiſchen Paͤſſen, meine erſte
Reiſe dahin anzutreten.
Als ich in Wolgaſt vor Anker gekommen,
vertraute mir Hr. Cantzler, der Empfaͤnger
der Ladung, daß dieſelbe fuͤr die Preuſſen in
Stettin beſtimmt ſey, und bat mich, ſolange
zu verweilen, bis er eines Fahrzeugs hab-
haft geworden, das ſie heimlich, bei Nacht
und Nebel, dorthin ſchaffen ſolle.
Jch ließ mir das gefallen. Als aber die
Ankunft des Schmugglers ſich von Einem
Tage zum Andern verzog, ward mir Zeit
und Weile lang; und zugleich auch erwachte
in mir der Patriotismus, meinen Pommer-
ſchen Landsleuten in Stettin etwas zur Liebe
zu thun. So machte ich mich denn zu Hrn.
Cantzler, und ſtellte ihm vor: Mein Fahrzeug
gienge nicht tief und waͤre gar wohl geeig-
net, uͤber’s Haff und deſſen Untiefen zu paſ-
ſiren. Waͤr’ es ihm recht, ſo unternaͤhm’
ich es wohl ſelbſt, die Ladung nach Stettin
zu bringen, da ich dieſer Gegend hinreichend
kundig waͤre.
„Mir ſchon recht!‟ erwiederte der Han-
delsherr erfreut — „Will Er ſein Schiff
dran wagen, Herr: die Ladung muß gewagt
werden! — Wie hoch die Fracht?‟ — Wir
wurden um 500 Thaler einig. — „Aber
ſehe ſich der Herr wohl vor!‟ ſetzte Jener
warnend hinzu — „Auf dem Haff liegt eine
ganze Flotte von unſern ſchwediſchen armir-
ten Schiffen. Das wird Kuͤnſte koſten!‟ —
Was war zu machen? Der Schritt war ein-
mal gethan; und waͤre mir der Handel nun
auch leid geworden, ſo erlaubte mein Ehr-
gefuͤhl doch nicht, jetzt noch zuruͤckzutreten.
Fuͤrerſt gieng ich mit meinem Schiffe die
Peene hinauf, bis ohnfern an den ſogenann-
ten Bock am Eingange des Haffs. Hier
ſah ich die ſchwediſche Armirung in einem
weiten Halb-Zirkel vor mir liegen, und in
der Mitte derſelben eine Fregatte; ſo daß
das Ding nicht wenig bedenklich ausſah und
ich meinem Muthe wacker zuſprechen mußte.
Jndeß peilte ich noch bei Tage mit dem
Kompaß, wohinaus die groͤßte Oeffnung zwi-
ſchen den Fahrzeugen war. Die Nacht fiel
rabendunkel ein; der Wind war friſch, mit
Regen und Donnerwetter vergeſellſchaftet, und
Alles ſchien mein Unternehmen beguͤnſtigen
zu wollen.
Um eilf Uhr endlich hob ich den Anker und
ſegelte gluͤcklich und ohne Hinderniß durch
die Flotte, deren eigene aufgeſteckte Feuer mir
ſogar die Richtung noch deutlicher angaben.
Schon hatt’ ich ſie eine Viertelmeile im Ruͤcken
und glaubte mich geborgen, als unerwartet
ein Schuß nach mir hin fiel, der, wie ich
jetzt erſt bemerkte, von einer, auf Vorpoſt
ausgeſtellten Galley kam. Himmel! wie ſpu-
tete ich mich, jedes Segel aufzuſetzen, das
mein Schiffchen nur tragen konnte, welches
uͤberdem, zu meinem Troſte und ſeinen Na-
men rechtfertigend, ein trefflicher Segler war.
Nicht lange aber, ſo blitzte noch ein zweiter
Schuß von der Seite nach mir auf; und die-
ſer kam von einem andern Vorpoſten-Schiffe,
dem ich ebenſowenig Rede zu ſtehen geſon-
nen war.
Nunmehr machten beide Galleyen die
ganze Nacht hindurch Jagd auf mich und
kamen mir in der That nahe genug, daß
unter den unzaͤhligen Kugeln, womit ſie mich
begruͤßten, viere durch meine Segel giengen.
Mit Tages-Anbruch war ich gegen Neu-Warp
uͤber. Hier aber kamen mir bereits drei
von unſern Preuſſiſchen armirten Fahrzeugen
entgegen, die gewoͤhnlich bei Ziegenort lagen
und durch das naͤchtliche Schieſſen allarmirt
worden waren. Unter ihrem Schutze hin-
derte mich denn nichts, meinen Beſtimmungs-
ort zu erreichen und meine Fracht abzuliefern.
Waͤhrend ich hier lag, kam der Friede
mit Rußland zu Stande. Die Conjuncturen
benutzend, macht’ ich ſchnell hinter einander
eine Reihe gluͤcklicher Fahrten; von Stettin
nach Colberg mit Salz, woran es dort, nach
der dritten Belagerung und bei den zerſtoͤr-
ten Salzkoten, dringend fehlte; von hier mit
einer Ladung Wein nach Koͤnigsberg und
wiederum dahin zuruͤck mit Roggen. Auf
dieſer letztern Reiſe kreuzte ich, bei widrigem
Winde, unter der Halbinſel Hela vor Danzig;
und hier ſah ich ein großes ruſſiſches Schiff
auf dem Strande ſtehen, an deſſen Borde es
einen gewaltigen Laͤrmen gab. Da das Wet-
ter gut war, kam mich die Luſt an, mein
Boot auszuſetzen und naͤher heranzufahren.
Man ließ mich aber ſogar das Verdeck be-
treten, ohne meine Anweſenheit gewahr zu
werden oder zu beachten. Alles lief darauf
verwirrt durch einander, und das nur um
ſo mehr, je aͤrger der ruſſiſche Landofficier,
der hier das Commando zu fuͤhren ſchien,
drauf los ſchlug und wetterte. Seeleute und
Soldaten waren gleichfalls National-Ruſſen;
und was und wie ſie es angriffen, um das
Schiff wieder abzubringen, war durchaus
verkehrte und thoͤrichte Arbeit.
Wenig erbaut durch dies Schauſpiel,
warf ich noch einige Blicke durch die offne
Lucke in den Raum und ſah, daß das Schiff
mit metallnen Kanonen, Bomben, Kugeln und
dergl. geladen war. Es ſtand mit dem Vor-
dertheil hoch auf dem abſchuͤſſigen Strande,
waͤhrend das Hintertheil noch tief im Waſſer
lag. Jch ſtieg nun in mein Boot zuruͤck, um
dieſe Tiefe dicht am Schiffe noch genauer
auszumeſſen, und gieng dann abermals an
Bord, indem ich dem Gedanken nachhieng:
ob es nicht thunlich ſeyn ſollte, die ſchwere,
aber wenig Raum fuͤllende Ladung ganz in
den hinterſten Raum zu bringen, das Schiff
ſolchergeſtalt vorne zu erleichtern, zugleich
einen Anker nach hinten in die See hinaus-
zubringen und durch vereinte Arbeit an der
Ankerwinde dem Fahrzeuge einen Schuß nach
hinten in die Tiefe zu verſchaffen, wo es
dann leicht wieder flott werden duͤrfte.
Dieſen Vorſchlag ſetzte ich nunmehr einem
ruſſiſchen Sergeanten auseinander, der etwas
Deutſch konnte und ſich an mich gewandt hat-
te, nunmehr aber den Officier in ſeiner Pruͤ-
gelei, womit derſelbe noch immer, wie raſend,
fortfuhr, unterbrach und ihm meine Mey-
nung mittheilte. Je mehr der Menſch vor-
her den Kopf verloren hatte, um ſo gewiſ-
ſer erſchien ich ihm jetzt als ein Engel vom
Himmel. Er war von meinem Anſchlage
ganz, wie elektriſirt; fiel mir um den Hals,
nnd drang mir ſogar ſeinen Stock auf, mit
der Bitte, Alles zu commandiren und anzu-
ordnen, wie ich es fuͤr das Beſte erachten
wuͤrde. Mit ſo voller Gewalt bekleidet, griff
ich auch ſofort mein Werk mit Feuer an.
Der Anker ward ausgebracht; waͤhrend Al-
les, was eine Hand regen konnte, die Bom-
ben, Kugeln u. ſ. w. moͤglichſt nach hinten
tranſportiren mußte. Dadurch ſenkte ſich
das Schiff hier wirklich auch ſo tief, daß das
Waſſer faſt bis an die Kajuͤten-Fenſter ſtieg,
ohne daß gleichwohl der Kiel hier den Grund
erreichte. Jetzt, ließ ich mit Gewalt auf
den Anker winden, und — ſiehe da! nach 2
oder 3 Stunden Arbeit lief das Schiff gleich-
ſam, wie vom Stapel, und war gluͤcklich wie-
der flott geworden.
Nie habe ich einen erfreuteren Menſchen
geſehen, als dieſen Officier, ſobald mein Stuͤck
Arbeit gelungen war. Er herzte und kuͤßte
mich; ich mußte ihm meinen Namen ſagen,
den er ſich in ſeine Schreibtafel zeichnete,
und zugleich ſchrieb er ein ruſſiſches Billet
an den General Romanzow, der damals in
Colberg befehligte, und das er mir zur treuen
Abgabe bei meiner Ankunft anempfahl. Als
ich mich endlich wieder entfernen wollte, ließ
er mir das Boot von ſeinem Vorrath an
Hirſe, Mehl und Gruͤtze dergeſtalt voll laden,
daß ich im Ernſt zu ſinken fuͤrchtete und, da
kein Weigern und Verbitten etwas fruchten
wollte, zuletzt nur uͤber Hals und Kopf auf
meine Abfahrt denken mußte. So erreichte
ich denn wieder mein Schiff, welches derweile
in einiger Entfernung Anker geworfen hatte.
Ein paar Tage ſpaͤter langte ich in Col-
berg an, wo ich nicht ſaͤumte, mich dem
General Romanzow vorzuſtellen und mein
Billet zu uͤberreichen. Es war kein Urias-
Brief geweſen: denn der edle Mann hatte
es kaum geleſen, als er mir unter herzlichem
Haͤndedruck dankte, daß ich ſeinem Monarchen
Schiff und Ladung erhalten haͤtte. Er wollte
wiſſen, wie er mir wieder dienen koͤnne, und
nahm, auf das erſte leiſe Wort, nicht nur
meinem Vater die damals uͤber alle Maaſ-
ſen druͤckende Einquartierung ab, ſondern er-
theilte mir auch die, nicht minder bedeutende
Verguͤnſtigung, bei der Maykuhle und Bleiche
anlegen und dort meine Ladung loͤſchen zu
duͤrfen. Da in jenem Zeitpunkt der Hafen
gepfropft von Schiffen voll lag, ſo, daß von
der Seemuͤndung an, bis hinauf zu dem Ein-
fluſſe des Holzgrabens in die Perſante, Bord
an Bord ſich draͤngte und die in der Mitte
des Stromes nicht an’s Bollwerk kommen
konnten, um ihre Fracht zu loͤſchen: ſo muß-
ten Manche wohl etliche Wochen warten, ehe
ſie dazu gelangten. Jch hingegen ward, ver-
moͤge jener beſondern Erlaubniß, binnen zwei
Tagen ledig.
Auſſer der erforderlichen Portion Ballaſt,
die ich hier einnahm, beſtand meine Ruͤck-
fracht nach Koͤnigsberg in etwa 60 Paſſagie-
ren — den Frauen, Jungen, Maͤdchen und
kleinen Kindern eines preuſſiſchen Bataillons,
das, nach der Einnahme von Colberg, nach
Preuſſen abgefuͤhrt worden war, und wohin
nun Dieſe ſich begaben, um ihre Gatten und
Vaͤter wieder aufzuſuchen. Eine bunte, aber
eben nicht angenehme Ladung!
Als ich mich in ſegelfertigem Stande be-
fand, gab es einen Sturm aus Weſtſuͤdwe-
ſten, der mich auf meinem Wege trefflich ge-
foͤrdert und den ich darum auf hoher See
gar nicht geſcheuet haben wuͤrde: nur galt es
die Kunſt, mit demſelben zum Hafen hinaus
zu kommen. Der Lootſe, den ich aufforderte,
mich in See zu bringen, erklaͤrte dies fuͤr
geradehin unmoͤglich, falls ich nicht mein
Schiff ſtark beſchaͤdigen, oder rechts am Ha-
fendamme gar ſitzen bleiben und in Truͤmmern
gehen wolle. Der Mann hatte Recht; ich
aber verließ mich auf mein gutes und feſtes
Schiff, das, wie ein Fiſch, wohl auch unter
der hoͤchſten und wildeſten Brandung durch-
ſchluͤpfen wuͤrde. Dieſe Verſicherungen, mein
erklaͤrter Vorſatz, das Abentheuer allenfalls
auch ohne ihn, auf meine eigene Gefahr, zu
wagen, und vornehmlich wohl fuͤnf Silber-
Rubel, die ich ihm entgegenſpielen ließ, er-
muthigten ihn endlich, ſich meinem Verlangen
zu fuͤgen.
Kaum hatt’ ich ihn vom weſtlichen Ha-
fendamme an Bord genommen und er das
Steuer ergriffen, waͤhrend ich die Segel auf-
zog, ſo warf uns auch in der naͤchſten Mi-
nute, trotz unſern vereinten Bemuͤhungen,
die erſte hohe Woge, die uns traf, mit wil-
dem Ungeſtuͤm auf die entgegengeſetzte Seite,
an das oͤſtliche Bollwerk. Zwar hob die naͤchſte
Welle das Schiff von neuem: aber beim Hinun-
terſteigen faßten die hervorragenden Pfahl-
Koͤpfe unter die, gleichfalls am Steuerbord
vor-
ſtehenden Barkhoͤlzer, daß die Truͤmmer davon
hoch in die Luft flogen; und da zugleich auch
der Sturm uns jagte, ſo ſchoß mein Fahr-
zeug laͤngs dem Damme hin, ſchnitt ſich an
der aͤußerſten Spitze deſſelben haarſcharf gegen
die Brandung ab und kroch ſolchergeſtalt, mit
fliegender Fahrt, unter zwei oder drei hochge-
thuͤrmten Sturzwellen durch, daß die Ver-
decke ſchwammen und mir ſelbſt die Haare zu
Berge ſtanden.
Nun war ich denn freilich in See: allein
noch hatt’ ich in dem Getuͤmmel nicht Zeit
und Gedanken finden koͤnnen, meinen erlitte-
nen Schaden zu beurtheilen. Die Verwuͤſtung
war indeß jaͤmmerlich genug. Mehr, als
15 Fuß lang, fand ich die Barkhoͤlzer am
Steuerborde rein abgeſtoßen, ſo daß die Jnn-
hoͤlzer bloß lagen, und ich kopfſchuͤttelnd zu
mir ſagen mußte: Ei, ei, Nettelbeck! Das
war wohl eben ſo ein dummer Streich, als
letzthin, wo du dich durch die ſchwediſche Flot-
tille ſchlichſt! — Jch will’s aber auch nicht
laͤugnen, daß ich dergleichen unuͤberlegte Stuͤck-
chen, vor und nach dieſer Zeit, wohl meh-
rere auf dem Kerbholz habe. Gelingen ſie,
ſo heißt man gleichwohl ein geſcheuter Kerl,
ob man gleich einen ganz andern Titel ver-
dient haͤtte.
Hier war nun aber noch immer guter
Rath bei mir theuer: denn jenem Schaden
1. Bändchen. (10)
mußte ſogleich auf irgend eine Weiſe abge-
holfen werden. Nach kurzem Beſinnen er-
griff ich jedoch eine Breſſening, Jſt ein getheertes Segeltuch, welches man ge-
braucht, um die Luken gegen das Seewaſſer
dicht zu halten. und nach-
dem ich ſie in lange ſchmale Streifen zer-
ſchnitten und mich mit einem guten Vorrath
von kleinen Pumpnaͤgeln (woran es mir zum
Gluͤck nicht fehlte) verſehen hatte, haͤngte ich
mich in einige Taue uͤber Bord hinaus und
befeſtigte jene doppelt gelegten Lappen, laͤngs
dem erlittenen Schaden, ſo dicht, daß Nagel
an Nagel traf. Unter der Zeit gieng auch
der Lootſe mit ſeinem Boote, wiewohl nicht
ohne ſichtbare Lebensgefahr, in den Strand:
denn gegen den Sturm an, und durch die
furchtbar empoͤrte Brandung, waͤre es ver-
geblich geweſen, den Hafen wieder erreichen
zu wollen.
Jetzt erſt, da ich wieder zu etwas Ruhe
und Beſinnung gekommen war, und indem
ich mit vollen Segeln oſtwaͤrts anſteuerte,
traf ein verwirrtes Getoͤſe, das wie Heulen
und Schreien klang und unten aus dem Schiffs-
raume zu kommen ſchien, in meine Ohren.
Jch ließ die Luken aufreiſſen, um zu ſehen,
was es da gaͤbe? — und da fand ſich denn,
daß dies entſetzliche Concert von all den Wei-
bern und Kindern herruͤhrte, die da drunten
zuſammen geſchichtet lagen. Und wohl hatten
ſie genugſamen Grund zum Lamentiren! Denn
bevor ich meinen Schaden, wie eben gedacht,
ausbeſſern koͤnnen, war eine Menge Waſſers
in den Raum gelaufen; und da das Schiff
bei der hohen See unaufhoͤrlich auf und nie-
der ſtieg, ſo ſpuͤlte der, mit dem Waſſer ver-
miſchte Ballaſt-Sand laͤngs dem Raume und
von Einer Seite zur Andern, ſo daß die
Menſchen knietief, ja bis uͤber den halben Leib
darinn verſanken. Taumelnd und wehklagend,
die Haͤnde emporhaltend und durcheinander
ſich uͤberſchreiend, gab es eine Gruppe, welche
ein lebendiges Bild von der allgemeinen Auf-
erſtehung darſtellte, aber bei allem verdien-
ten Mitleid zugleich auch den Lachreiz unwi-
derſtehlich weckte, wenn der Blick daneben
auf die Spinnraͤder, Haſpel, Bettgeſtelle und
uͤbrigen Siebenſachen dieſer armen Leute traf,
welche, in bunter Verwirrung, zwiſchen ihnen
umhergekollert oder in dem aufgeloͤſten Sande
begraben waren.
Hier mußte denn freilich ſchnelle Huͤlfe
geſchehen! Ausgepumpt konnte das Waſſer
nicht werden, da die Waſſergaͤnge nach den
Pumpen durch den Ballaſt verſtopft worden.
Es blieb alſo nur uͤbrig, daſſelbe moͤglichſt
mit Faͤſſern auszuſchoͤpfen und hinten und
vorne in die Hoͤhe zu bringen; wodurch denn
wieder Ordnung und Friede hergeſtellt wurde.
Unſre Fahrt gieng indeß ſo pfeilſchnell vor-
waͤrts, daß ich nicht nur am andern Tage,
Nachmittags um 2 Uhr, und alſo binnen
28 Stunden, Pillau erreichte, ſondern auch
noch des nemlichen Abends, um 9 oder 10 Uhr,
in Koͤnigsberg beim hollaͤndiſchen Baume an-
legen konnte.
Sobald ich hier mein Schiff reparirt
hatte, ſaͤumte ich nicht, mich nach neuer
Fracht umzuſehen. Es traf dies in den
Zeitpunkt, wo die ruſſiſchen Truppen, welche
das Land ſeit mehreren Jahren beſetzt gehal-
ten, ernſtliche Anſtalten trafen, Preuſſen wieder
zu raͤumen, und wo eine ungeheure Menge
von Kriegs-Effecten nach Rußland heimge-
ſchafft werden ſollten. Zur See fand dieſer
Transport ein großes Hinderniß in dem
Mangel an Schiffen, da die Fahrzeuge frem-
der Nationen dazu nicht gezwungen werden
konnten, und auch die preuſſiſchen Schiffer
dem wiederhergeſtellten Frieden, bei der kuͤrz-
lichſt ſtattgefundenen Regierungs-Veraͤnderung
nicht voͤllig trauten.
Weniger bedenklich, als Andre, war ich
unter dieſen Umſtaͤnden der Erſte, der ſich
dazu entſchloß, eine Fracht nach Riga anzu-
nehmen: denn mir wurden — was nie zuvor
erhoͤrt! — 42 Silber-Rubel fuͤr die Laſt ge-
boten, nebſt voͤlliger Befreiung von Licent
und allen Unkoſten, nicht nur in Koͤnigsberg
und Pillau, ſondern auch in Riga, bis wieder
in offne See; und ſelbſt freier Ballaſt ſollte
mir, wenn ich’s verlangte, im letztern Hafen
geliefert werden. Die Certeparthie daruͤber
ward geſchloſſen und ſowohl von einem ruſſi-
ſchen General, mit dem ich es zu thun hatte,
als von mir unterzeichnet.
Noch am nemlichen Abend kam ich, ohn-
weit des Licents, in das Weinhaus der Wittwe
Otten, wo damals gewoͤhnlich der groͤßte
Zuſammenfluß von Schiffern aller Nationen
war, und ließ im Geſpraͤch Dies und Jenes
von meiner ſo eben uͤbernommenen Fracht
verlauten. Niemand konnte oder wollte meinen
Worten glauben, bis ich meine Certeparthie
vorzeigte. Dann aber erhob ſich ein ſpoͤtti-
ſches Gelaͤchter auf meine Unkoſten. Jch
wurde gefragt: wie ich doch wohl nur glau-
ben koͤnnte, daß man mir meinen Accord in
Riga erfuͤllen werde? Man prophezeihte mir
einſtimmig, man werde mir dort gerade nur
ſoviel, als man Luſt habe, oder auch wohl
gar nichts, geben; und ſollte inzwiſchen (wie
es ganz darnach ausſaͤhe) der Krieg zwiſchen
Rußland und Preuſſen wieder ausbrechen, ſo
koͤnnte mich’s obendrein noch mein Schiff koſten.
Dieſe Warnungen, denen ich ihren guten
Grund’ nicht abſprechen konnte, giengen mir
gewaltig im Kopfe herum. Allein ich war
ſchon zuweit gegangen, um jetzt noch zuruͤck-
zuziehen; und gegen die rohe Gewalt, die ich
zu fuͤrchten hatte, und deren Opfer ich ſchon
fruͤher geweſen war, ließ ſich einzig nur durch
eine, hier wohlerlaubte Liſt aufkommen. Mit
dieſem Entſchluß begab ich mich, gleich am
fruͤhen Morgen zu dem gedachten ruſſiſchen
General und machte ihm glaublich, daß ich
auf mein Schiff ſchuldig ſey und meine Cre-
ditoren mich nicht von der Stelle fahren
laſſen wollten, bis ich ihre Forderungen be-
friedigt haͤtte. So bliebe mir denn nichts
uͤbrig, als um baare Vorausbezahlung meiner
Fracht zu bitten, oder die Fracht nach Riga,
wiewohl ungerne, aufzugeben.
Der Mann hoͤrte mich geduldig an; und
wie ſehr ihn auch mein Anſinnen zu befrem-
den ſchien, und ſeine Einwendungen, daß der-
gleichen gar nicht zu bewilligen ſtaͤnde und
ich mir an den ſchon bedungenen Vortheilen
genuͤgen laſſen koͤnne, das Recht auf ihrer
Seite hatten, ſo legte ich mich doch nur um
ſo gefliſſentlicher auf’s Bitten, bis ich end-
lich mit dem Kernſchuß hervorruͤckte, von
dem ich mir das Beſte verſprach. „Nun
denn,‟ rief ich — „Meine Certeparthie iſt
zwar auf 42 Rubel pro Laſt gezeichnet: aber
laſſen ſie mir baar Geld zahlen, und ich bin
mit 40 zufrieden, waͤhrend ich fuͤr den vollen
Empfang quittire.‟
Es wirkte, wie ich gehofft hatte. Er
ſtutzte, ſtand lange in Gedanken, und beſtellte
mich zum naͤchſten Morgen wieder zu ſich,
damit er ſehen koͤnne, was ſich thun lieſſe.
Jch verfehlte nicht, mich auf die Minute ein-
zuſtellen. Da ſtanden aber bereits meine
Frachtgelder mit 2,000 Rubeln aufgeſtapelt
auf einem Tiſche vor mir; und ich hatte
keine weitere Muͤhe, als den Empfang von
2,100 Rubeln zu beſcheinigen und mein
klingendes Silber einzuſtreichen. — Hat
man je dergleichen gehoͤrt? Es iſt aber gewiſſe
Wahrheit!
Gleich noch an dem nemlichen Tage gieng
das Einladen vor ſich. Und worinn beſtand
meine Fracht? Jn lauter Kommiß-Stiefeln,
je Paarweiſe zuſammen genaͤht. Wohl ein
ganzes Regiment Soldaten kam damit, hoch-
bepackt, aus einem benachbarten Speicher
anmarſchirt, und jeder Einzelne warf ſeine
Ladung durch die Schiffsluke in den Raum,
wie Kraut und Ruͤben durch einander, bis
endlich dieſe Stiefeln ſich zu einem hohen
Berge aufthuͤrmten. Als ich nun dem Officier,
welcher dabei die Aufſicht fuͤhrte, Vorſtellung
that, daß hinten und vorne Alles ledig bleibe
und die Laſt durch den ganzen Raum gleich-
maͤßig vertheilt werden muͤſſe, ſo ſchickte er
endlich einige Mannſchaft hinunter, die ſich
die Stiefeln wacker um die Ohren ſchmiß,
bis es hieß: Das Schiff iſt voll, und es kann
keine Maus mehr hinein!
Da ich ſah, daß ich, trotz dieſer wunder-
lichen Ladung, immer noch nicht Ballaſttief
mit meinem Schiffe lag, ſo hielt ich bei dem
General an, daß er mir noch eine Anzahl
Bomben oder Kugeln in den hintern oder
vordern Raum geben moͤchte, weil ich ſonſt
die See nicht wuͤrde halten koͤnnen. Allein
ſeine Antwort lautete: Damit koͤnne mir
jetzt nicht geholfen werden; auch bekaͤme ich
noch einen Officier, 2 Sergeanten und 20
Gemeine auf’s Schiff, fuͤr deren Perſonen
und Sachen gleichfalls noch Raum uͤbrig blei-
ben muͤſſe. Der Beſcheid war nicht ſehr
erbaulich: ich mußte mich jedoch damit be-
helfen; und ſo lag ich nun am Licent zum
Auslaufen fertig.
Des naͤchſten Tages ſuchte mich ein ruſſi-
ſcher Officier — ein Lieflaͤnder, Namens Raſch,
der vollkommen gut Deutſch ſprach — in
meinem Hauſe auf, um mir anzuzeigen, daß
er zum Commandeur auf meinem Schiffe be-
ſtellt ſey, die Fahrt nach Riga mit mir machen
und ſich mit ſeinem Commando gegen Abend
an Bord einſtellen werde. Der Mann war
dabei ſo ungemein hoͤflich, daß ich ſofort
merkte, er muͤſſe etwas auf dem Herzen haben.
Und ſo war es denn auch wirklich: denn er
habe auch eine Frau, hieß es, von der er ſich
unmoͤglich trennen koͤnne, und die mir gleich-
wohl in der Kajuͤte vielleicht Ungelegenheit
machen koͤnnte. — Nun, was konnt’ ich,
wenn ich in der Hoͤflichkeit gegen ihn nicht
gar zu arg abſtechen wollte, weniger thun,
als von Vergnuͤgen, oder wohl gar von
Ehre und Schuldigkeit ſprechen und
meine guten Dienſte gegen einen halben deut-
ſchen Landsmann erbieten? Dagegen verſtand
ſich’s, daß kein ſcharmanterer Herzensmann
unter der Sonne lebe, als Kapitain Nettelbeck.
„Aber noch eins!‟ unterbrach ſich der
Lieflaͤnder in ſeinen Verſicherungen — Meine
Frau iſt in dieſem Augenblicke verreiſt, um
von einer guten Freundinn auf dem Lande
Abſchied zu nehmen, und wird vor Nacht
ſchwerlich wieder eintreffen. Da Sie nun
Morgen mit dem fruͤheſten die Anker zu lich-
ten gedenken, waͤre es ja wohl das bequemſte,
wenn ſie gleich am Bord uͤbernachtete?‟
Ei, warum nicht! Und wollen Sie mich
jetzt gleich dahin begleiten, ſo kann ich ſogleich
die vorlaͤufigen Anſtalten zu ihrer Aufnahme
treffen und Jhnen die kleinen Bequemlich-
keiten zeigen, auf welche die Frau Gemahlinn
zu rechnen haben wird;‟ war meine Gegen-
rede. Wirklich auch war er mit der Ein-
richtung der Kajuͤte, der ihr einzuraͤumenden
Schlafſtaͤte u. ſ. w. ungemein zufrieden;
waͤhrend ich den Steuermann anwies, die
Dame, ſobald ſie ſich zeigen wuͤrde, gebuͤh-
rend zu empfangen und ihr mit Kaffee, oder
was ſie ſonſt fordern moͤchte, fein hoͤflich an
die Hand zu gehen. So ſchieden wir, und
ich ging meines Weges ruhig nach Hauſe.
Gleich nach Mitternacht aber erlitt dieſe
Ruhe einen gewaltigen Stoß, da ſich ploͤtz-
lich auf der Gaſſe ein Laͤrm, wie von einer
Menge zuſammengelaufener Menſchen, erhob,
die an meine Hausthuͤre und Fenſterladen
pochten und laut und wiederholt meinen Namen
riefen. Schnell fuhr ich aus dem Bette
empor; aber nicht gemeynt, in einer ſo be-
denklichen Zeit, als wir damals erlebten,
mein Haus dem Erſten dem Beſten zu oͤffnen,
wollt’ ich zuvor, daß die Polterer ſich namen-
kuͤndig geben ſollten. So meldete ſich denn
der Licent-Buchhalter, den ich an der Stimme
kannte, mit der raͤthſelhaften Nachricht, daß
es auf meinem Schiffe unklar ſey und ich
hurtig zum Rechten ſehen moͤchte.
Jch erſchrack von Herzen. „Mein Gott!‟
dacht’ ich — „Jſt mein Schiff geſunken?
oder ſteht es im Brande?‟ — Jch weiß nicht,
wie ich in die Kleider und auf die Gaſſe kam.
Hier endlich eroͤffnete mir der Buchhalter
das Verſtaͤndniß. „Sie haben die Madam
W. Der Rame ſoll hier nur mit dem erſten Buch-
ſtaben angedeutet werden, da es leicht moͤg- am Borde;‟ ſagte er — „und nach
der ſind wir aus, um ſie wiederzuhaben.
Was ſie da ſehen, ſind die beiden Kinder und
ein heller Haufen von Knechten und Maͤg-
den aus dem W ** ſchen Hauſe.‟
Nun fielen mir auf Einmal die Schup-
pen von den Augen! Die angebliche Officier-
Dame hatte ſich in eine liederliche, ihrem
Manne entlaufene Madam verwandelt! War
mir’s jedoch wenig recht, daß ich mit dem
ſchmutzigen Handel bemengt werden ſollte,
ſo mußt’ ich gleichwohl uͤberlegen, daß ich’s
in meinem jetzigen Verhaͤltniß, auch mit dem
Lieflaͤnder nicht geradezu verderben durfte,
und daß ich am beſten thaͤte, den Knoten
durch einen Andern loͤſen oder durchhauen zu
laſſen. Jndem ich alſo die Parthie ergriff,
fuhr ich unwillig auf den allzudienſtfertigen
Buchhalter ein: „Herr, ſcheeren Sie ſich zum
Geier! Was ſtoͤren Sie zu dieſer Zeit ehr-
liche Leute in Schlaf und Ruhe!‟ — und
zugleich warf ich die Hausthuͤre wieder hinter
mir zu, und ließ ſie ferner ſchreien und
klopfen, ſoviel ihnen ſelbſt beliebte. Gleich-
wohl jammerten mich die beiden Kinderchen
— ein Maͤdchen von 9, und ein Knabe von
7 Jahren — in der innerſten Seele. Sie
riefen unaufhoͤrlich: „Ach Gott! ach Gott!
meine Mutter!‟ bis ſie es endlich muͤde wur-
lich waͤre, daß von der ſonſt achtbaren Familie
ſich noch Einige am Leben befaͤnden.
den und meine Thuͤre verlieſſen, oder viel-
mehr der Vater ſie heim holen ließ.
Noch vor Tages-Anbruch, am 1. Sep-
tember, ſah ich nach Wind und Wetter aus;
und da beide guͤnſtig waren, ſo eilte ich be-
reits um 6 Uhr, an Bord zu kommen. Schon
ſtand es aber auf dem Licent-Platz und neben
dem Schiffe gedraͤngt voll Menſchen, die
mir entgegenriefen: „Sie ſollen uns die
Madam W. herausgeben!‟ Dagegen fand
ich am Borde, neben der Treppe, zwei Schild-
wachen, und neben der Kajuͤten-Thuͤre zwei
dergleichen, aufgepflanzt; und kaum war ich
durch die Letztere eingetreten, ſo kam mir
durch die Vorhaͤnge meiner Schlafſtelle ein
Geſicht zum Vorſchein, das ich um ſo weni-
ger verkennen konnte, da ich ſonſt zum oͤftern
in Schiffs-Angelegenheiten auf Herrn W ** s
Comptoir zu thun gehabt hatte.
Dies Geſicht nun rief mir, ganz frei und
und unbefangen, einen „Guten Morgen!‟
entgegen, den ich mit einer derben und ge-
ſalzenen Epiſtel erwiederte, worinn ich ihr
ihre loſe Auffuͤhrung zu Gemuͤthe fuͤhrte und
ſie ermahnte, zu ihrem braven Manne ſte-
henden Fußes zuruͤckzukehren, bevor Schimpf
und Schande fuͤr ſie noch groͤßer wuͤrde.
Sie dagegen hub eine lange Schutzrede an,
worinn der Mann uͤbel genug wegkam, und
ward endlich nur von dem Officier, den ich
gar noch nicht in der Kajuͤte bemerkt hatte,
unterbrochen. Dieſer ſprang ungeduldig auf
und rief: „Unnuͤtzes Geplauder und kein
Ende! Jetzt hurtig auf und davon! Das
Kommandiren iſt von nun an an mir.‟
Da dem nicht zu widerſprechen war, ſo
mußt’ ich ihm uͤberlaſſen, zu handeln, wie
er’s verantworten konnte, gieng hinaus, ließ
die Segel aufziehen und ſchickte zwei Matro-
ſen an Land, um die Taue hinten und vorne
abzuloͤſen, womit das Schiff am Bollwerk
befeſtigt lag. Aber das zuſammengelaufene
Volk war nicht willens, den Handel ſo kurz
vor dem Knie abzubrechen. Meine Leute
wurden umringt und an der Ausrichtung
ihres Geſchaͤfts gehindert; ſo daß ich, um
nicht noch aͤrgern Laͤrm zu veranlaſſen, es
fuͤrs beſte hielt, ſie an Bord zuruͤckzurufen.
Dagegen nahm ich einem ruſſiſchen Soldaten
den Saͤbel von der Seite und kappte die
Taue an beiden Enden, und jetzt kam das
Schiff zu Gange, obwohl Alles, was am
Lande war und Arme hatte, es feſtzuhalten
bemuͤht war. Der Laͤrm und das Getuͤmmel
hierbei ſind nicht zu beſchreiben.
Noch aber gab ſich der Haufe nicht zu-
frieden: ſondern da das Schiff nothwendig
weiter unten am hollaͤndiſchen Baume anle-
gen mußte, damit der Baumſchreiber meinen
Paß viſirte, ſo ſtuͤrzte Groß und Klein im
vollen Lauf dahin, und war ſchon lange vor
mir zur Stelle. Waͤhrend ich aber hier mei-
nes Geſchaͤftes wahrnahm, gieng auch der
Lieflaͤnder an Land und nach dem hier poſtir-
ten ruſſiſchen Wachthauſe. Die Verſtaͤndi-
gung mit dem commandirenden Officier war
die Sache eines Augenblicks; und ſo wie die
Wache das Gewehr aufnahm und einige Kol-
benſtoͤße links und rechts austheilte, war auch
der helle Haufe auseinander geſprengt und der
Paß wieder eroͤffnet. Eine halbe Stunde
ſpaͤter lag uns Koͤnigsberg bereits in weiter
Ferne im Ruͤcken.
Nun fing aber auch Madam W. an, auf
ihre Weiſe zu wirthſchaften. Es war zum
Erſtaunen, was ſie in der kurzen Zeit an
Bord zu ſchaffen gewußt hatte, und wie ſie
davon kochen und braten ließ, als ob auf dem
Schiffe Hochzeit waͤre. Wir langten in aller
Luſt und Herrlichkeit noch deſſelben Tages bei
Pillau an; worauf wir am naͤchſten Morgen
fruͤh, bei ſtillem Wetter, in See giengen.
Ehe wir noch aus dem Fahrwaſſer kamen,
ſegelte dicht hinter uns eine ruſſiſche Fre-
gatte zugleich mit uns aus; und das Wetter
war ſo ſtill, daß man die Schiffe faſt nicht aus-
einander halten konnte, ohne daß es gleich-
wohl Gefahr dabei gehabt haͤtte.
Mein Lieflaͤnder wurde durch all dieſen
ſchoͤnen Anſchein zum Uebermuth verleitet.
Er wollte Preuſſen zu Ehren noch einige Va-
let- und Freudenſchuͤſſe thun, und knallte auch
wirklich mit ſeiner Flinte 3 oder 4 mal in
die Luft, ohne daß ich, mit der Leitung des
Schiffs beſchaͤftigt, mich ſonderlich um ſein
Beginnen kuͤmmerte. Jnzwiſchen bemerkte
ich doch bald nachher auf der Fregatte eine
lebhaftere Bewegung; eine Schaluppe von
dort her legte bei mir an Bord, und aus
derſelben ſprang ein Officier wuͤthend auf
mein Verdeck und verlangte, den Schiffer zu
ſprechen. Als ich herantrat, zeigte er mir
in einem Papier mehrere Koͤrner Haſenſchroot,
die auf der Fregatte aufgeſammlet worden,
nachdem ſie ein großes Loch in’s Segel ge-
riſſen. Jch ſollte nun Rede und Antwvrt
geben, wer der Thaͤter geweſen?
Der Thaͤter aber, der geahndet haben
mochte, was paſſiren wuͤrde, war binnen der
Zeit in die Kajuͤte gegangen, in der Geſchwin-
digkeit in ſeine Uniform gefahren, und trat
ſo eben wieder hervor, um uͤber den Ankoͤmm-
ling mit gezogenem Degen herzufallen. Es
entſtand zwiſchen Beiden ein Handgemenge,
welches endlich zu Gunſten des Fregatten-
Officiers dadurch entſchieden wurde, daß die
Matroſen aus der Schaluppe herzuſprangen,
meinen Lieutenant von hinten packten, ban-
den und uͤber Hals und Kopf in das Boot
warfen, ohne daß, zu meiner großen Ver-
wunderung, nur irgend Einer von unſrer
Schiffsbeſatzung Miene machte, ſich in den
Streit zu miſchen, oder ſeinem Anfuͤhrer
Beiſtand zu leiſten.
Da mir nun der Lieflaͤnder einmal als
Commandant zugetheilt worden war, ſo glaubte
ich, nicht ohne ihn davonfahren zu duͤrfen.
Allein damit ich auch nicht ohne Noth auf-
gehalten wuͤrde und deſto balder ihn oder
einen Andern wieder an Bord bekaͤme, ſchien
es mir am gerathenſten, ihn auch nach der
Fregatte, wohin man im Begriffe war, ihn
abzufuͤhren, zu begleiten. Dies Verlangen
ward mir ohne Anſtand bewilligt. Doch bald
ergab ſich’s, daß es nicht dahin gieng, woher
die Schaluppe gekommen war, ſondern nach
dem ruſſiſchen Admiral-Schiffe, welches, nebſt
noch fuͤnf Kriegsſchiffen, drauſſen auf der
Rheede ankerte. Hier kam es auch ſogleich
zu einem Verhoͤr und protokollariſcher Auf-
nahme; der Unfugſtifter ward bedeutet, daß
ihn ſeine Strafe in Riga erwarten werde und
daß er fuͤr dieſen Augenblick ſeine Reiſe
fortſetzen moͤge, damit der kaiſerliche Dienſt
nicht leide. Mit dieſem Beſcheide kehrten
wir nunmehr wieder an unſern Bord zuruͤck.
Hier wollte nun der Narr, indem er ſei-
nem verhaltenen Grimme Luft machte, Alles
hauen und ſtechen, und haderte mit ſeinen
Leuten,
Leuten, daß ſie ihn ſo feigherzig im Stiche
gelaſſen. Wiewohl er ſich nun endlich be-
ruhigte, ſo nahm doch am naͤchſten Morgen
an ſeinem Beiſpiel auch Madame den Muth,
mit dem Soldaten, der ihr zur Aufwar-
tung gegeben war, unſaͤuberlich zu verfah-
ren. Bald hatt’ er das Bette nicht gut ge-
macht, bald die Teller nicht gehoͤrig geſcheuert,
bald etwas noch Schlimmeres verſehen, und
endlich lief auch ihr die Galle dermaaſſen
uͤber, daß ſie dem armen ungeſchickten Kerl
mit eigner hoher Hand eine gewichtige Maul-
ſchelle zutheilte. Allein dieſe Keckheit bekam
ihr uͤbler, als ſie wohl gedacht hatte. Der
ganze Trupp fuͤhlte ſich durch dieſe Miß-
handlung eines Kameraden von unberufenen
Faͤuſten an ſeiner militairiſchen Ehre gekraͤnkt;
Alles ſpie Feuer und Flamme, drang auf
den Lieutenant ein, und beſtand auf der buͤn-
digſten Genugthuung. Um den furchtbaren
Laͤrm zu ſtillen und noch derbere Ausbruͤche
einer rohen Gewalt zu verhuͤten, blieb dem
edlen Ritter zuletzt nichts uͤbrig, als die Schoͤne
unter ſeine eigene Fuchtel zu nehmen; und
das that er denn, ſeiner Zaͤrtlichkeit unbe-
ſchadet, auch ſo herzhaft und nachdruͤcklich,
daß endlich die lauteſten Schreier ſelbſt ſich
fuͤr befriedigt erklaͤrten. Nur Madame W.
ſchien von dieſer fuͤhlbaren Liebesprobe ſchlecht
erbaut zu ſeyn und legte ſo wenig ihrer
1. Bändchen. (11)
Zunge ein Gebiß an, als ihre Gift ſpruͤhen-
den Blicke ſich ſogleich wieder in ſanfte Tau-
benaugen verwandeln wollten.
Ein paar Tage darauf kamen wir in’s
Geſicht von Duͤnamuͤnde; und da der Wind
nach Oſten umgieng, legten wir uns auf der
Rheede vor Anker. Das ſtand indeß meinem
Schiffs-Commandanten nicht an, der augen-
blicklich in den Hafen gebracht ſeyn wollte,
und, da ich ihm die Unmoͤglichkeit vorſtellte,
aller fruͤhern Hoͤflichkeit vergaß und mich
fuͤr einen Pfuſcher in meinem Handwerk er-
klaͤrte. Eine ſchnoͤde Antwort blieb nicht
aus, und die endliche Folge war der Verſuch
zu einer thaͤtlichen Mißhandlung, der ich fuͤr
den Augenblick ein ruhiges Schweigen entge-
genſetzte. Aber zu gleicher Zeit ſteckte ich
auch eine Nothflagge auf, deren Bedeutung
mein Widerſacher nicht ahndete. Nicht lange,
ſo kam der Lootſen-Commandeur mit ſeinen
Leuten mir auf die Seite. Anſtatt jedoch
ſeine verwunderten Fragen zu beantworten,
ſprang ich zu ihm in’s Boot und verlangte,
zu dem Militair-Commandanten in Buller-
Aa gefuͤhrt zu werden, wo ich demnaͤchſt
meine Klage gegen die Behandlung des Lief-
laͤnders anbrachte und bat, entweder Dieſen
vom Schiffe zu entfernen, oder einen andern
Schiffer an Bord deſſelben zu ſetzen, der es
nach Riga fuͤhrte. Erſteres ward auch ohne
Anſtand bewilligt und der unruhige Gaſt
auf der Stelle durch einen andern Officier
erſetzt und an Land gefuͤhrt.
Niemand war mit dieſem Wechſel unzu-
frieden, als Madame W., die jetzt ein zun-
genfertiges Geſchnatter anhub und mir eine
Reihe von Ehrentiteln gab, welche ich hier
nachzuſchreiben nicht Luſt habe. Jch bat ſie,
ſich zu menagiren, wenn ſie nicht etwa wolle,
daß ich ſie durch meine Leute beim Kopfe krie-
gen, in’s Boot werfen, am naͤchſten Strande
ausſetzen und in die dickſte Wildniß laufen
lieſſe. Dieſe unbehaͤgliche Ausſicht, an deren
augenblicklicher Erfuͤllung mein Ernſt nicht
zweifeln ließ, brach ihren kindiſchen Trotz.
Sie griff nunmehr nach einem Geſangbuche,
daß ſie ſchwerlich mit Abſicht eingepackt hatte;
begann Bußlieder zu ſingen, und badete ihr
Antlitz in Thraͤnen. Da ihr das nun nicht
ſchaden konnte, ſo ließ ich ſie gewaͤhren.
Des andern Tages, um Mittag, kam ich
die Duͤna hinauf nach Riga; meldete mich
beim Commandanten und bat um baldigſten
Befehl zur Ablieferung der geladenen Effec-
ten; mit abermaliger Vorwendung der, unter
meinen Umſtaͤnden wohl verzeihlichen Noth-
luͤge, daß mein Schiff leck und ich in Gefahr
ſey, hier noch am| Bollwerk zu ſinken. Man hatte
keinen Grund, meine Ausſage zu bezweifeln;
mochte ſogar wohl fuͤr die Ladung fuͤrchten;
— und ſo erſchien denn bereits in der naͤchnaͤchſten
Stunde ein unzaͤhlbarer Schwarm abge-
ſchickter Soldaten, die, nach der ſchon be-
ſchriebenen ruſſiſchen Manier, auch wieder
bei mir aufraͤumten. Jhr Gedraͤnge um die
Schiffsluken her, geſtattete ihnen kaum Zeit
und Raum, ſich ihre zehn Paar Stiefeln und
druͤber uͤber die Schultern zu ſchlagen, und
damit fort, wie die Ameiſen! Abends um
7 Uhr war mein Schiff ledig, wie mit Be-
ſemen gefegt.
Da mir, kaum 15 oder 20 Schritte ent-
fernt, am Bollwerk ein Berg Ballaſt vor der
Naſe lag, ſo legte ich nun augenblicklich
mein Schiff hart daran; dung 8 ruſſiſche
Soldaten zu einem halben Rubel, mir dieſen
Sand uͤber Bord hineinzuſchaufeln, und nach-
dem ich an den Vor- und Hinter-Steven mit
Kreide bezeichnet hatte, wie tief geladen wer-
den ſollte, ließ ich ſie, unter Aufſicht meiner
Leute, tapfer fortarbeiten, waͤhrend ich ſelbſt
mich ruhig auf’s Ohr legte. Am Morgen
war Alles gethan, und ich haͤtte in dem nem-
lichen Augenblick wieder abſegeln koͤnnen,
wenn nur meine Papiere ſchon wieder in
Ordnung geweſen waͤren. Zu dieſer Beſor-
gung hatt’ ich mir noch keine Zeit gelaſſen.
Jetzt aber gieng ich zu den Herren Zietze
und Colbert, an welche ich mich, fuͤr jede
moͤgliche Faͤlle, von Koͤnigsberg aus hatte
adreſſiren laſſen; beſorgte Vormittags meine
Ein- und Nachmittags meine Ausklarirung,
und konnte nunmehr gehen, wohin ich wollte.
Jndem ich nun die Anſtalten zur Abreiſe
eifrigſt beſorgte, weil ich immer noch den
ruſſiſchen Behoͤrden nicht recht traute und
darum gerne je eher je lieber auſſer ihrem
Bereich geweſen ware, — trat ich auch von
ohngefaͤhr in die Kajuͤte. Siehe da! Die
Koͤnigsberger Schoͤne ſaß da, und rang die
Haͤnde und wollte vergehen in Angſt und
Wehmuth: denn ihr Vielgetreuer war noch
nicht wieder zum Vorſchein gekommen! Jch
that ihr den wohlmeinenden Vorſchlag, ſie
ſollte mit mir in ihre Heimath zuruͤckkehren
und es auf ihres ſchwer beleidigten Mannes
Edelmuth ankommen laſſen, ob er ihr ver-
zeihen und ſie wieder auf- und annehmen
wolle, wo denn leicht ein Schleier uͤber ihre
leichtſinnige That zu werfen ſeyn werde.
Doch dies war keine Muſik auf ihr Ohr.
Lieber, verſicherte ſie, wolle ſie’s auf das Aeuſſer-
ſte ankommen laſſen, und hinter irgend einem
Zaune ſterben und begraben werden. (Schwer-
lich dachte das ungluͤckliche Geſchoͤpf, daß in
dieſem Augenblick ein prophetiſcher Geiſt aus
ihr ſpraͤche, wie die Folgezeit erwieſen hat.)
So blieb ihr denn nur uͤbrig, ihr Buͤn-
del zu ſchnuͤren. Meine Leute griffen zu, und
halfen, die Bagage aus dem Schiffe an’s
Bollwerk bringen, wo ſie ſich troſtlos und
verlaſſen oben drauf ſetzte. Die Segel wur-
den angezogen, die Taue geloͤſt, und ſo gieng
es von dannen! Waͤhrend ich ihr noch meinen
Abſchied nachrief, begann ſich bereits ein
Kreis von Menſchen um ſie her zu verſammlen.
Statt Jhrer hatt’ ich einen herrenloſen
Schiffer aus Pillau, der aber in dieſen Ge-
waͤſſern wohl bekannt war, als Paſſagier an
Bord genommen; und da mir noch immer die
Stelle unter den Fuͤßen brannte, ſo ließ ich
mir ſeinen Vorſchlag gefallen, ohne irgend
einen weitern Aufhalt die offene See zu ſuchen,
wobei er ſelbſt mir als Lootſe dienen wollte.
Das geſchah, und gerieth gluͤcklicher, als
meine Keckheit es verdiente. Denn Niemand
hielt mich an; und des dritten Tages nach-
her warf ich bereits wieder in Pillau den
Anker. Weil jedoch mein Schiff in der
Bordings-Zunft zu Koͤnigsberg eingeſchrieben
war, ſo blieb ich hier noch liegen, um eine
Bordings-Fracht den Pregel hinauf zu er-
warten.
Zwei Tage darauf erſchien Schiffer Kum-
merow mit jenem nemlichen Schiffe, worauf
im vorigen Jahre der gute Chriſtian verun-
gluͤckte, auf der Rheede und ſteuerte, trotz
einem fliegenden Sturme, muthig in den Ha-
fen. Sobald er im Keſſel vor Anker gekom-
men, ward ich mit meinen braven Landsleu-
ten, den Schiffern Paul Todt und Johann
Henke, im luſtigen Muth des Sinnes, zu dem
Neuangekommenen, der gleichfalls ein ehrlicher
Colberger war, an Bord zu fahren. Beim
Eintritt in ſeine Kajuͤte ſahen wir, daß ihm
die Brandung beim Einlaufen hinten die Fen-
ſter und Porten in Stuͤcken geſchlagen hatte,
und daß drinnen Alles voll Waſſer ſtand.
Er hatte nun zum Schaden auch noch den
Spott, indem wir ihn redlich auslachten.
Jch erinnerte mich dabei, daß ich mit die-
ſem nemlichen Schiffe und in einem aͤhn-
lichen Sturmwetter hier in den Hafen geſe-
gelt, aber die Beſonnenheit gehabt, die Hin-
ter-Porten zuvor fallen zu laſſen.
Bei der fortgeſetzten Neckerei hub end-
lich unſer Wirth im halben Unwillen an:
„Baſta, Jhr Herren! Jhr ſollt am laͤngſten
geſpottet haben. — Heda, Junge! Den Koch
herbei! — Koch, auf dem Platze an Land
gefahren, und holt mir den Tiſchler, ſo und
ſo genannt. Er ſoll ſich mit Handwerkszeug
verſehn, um hier die Einſchieb-Rahmen los-
zumachen, damit ſie zum Glaſer in die Kur
gebracht werden koͤnnen.‟ — Waͤhrend nun
ſein Wille ausgerichtet wurde, der Tiſchler
aber, ohne daß wir uns weiter daran kehr-
ten, ſeine Arbeit begann, ſaßen wir daneben
bei einem Glaſe Wein, wobei wir vergnuͤgt
und wohlgemuth alte und neue Geſchichten,
nach Seemanns Weiſe, auf die Bahn brachten.
Ganz von ohngefaͤhr fielen hierbei meine
Blicke auf den emſig beſchaͤftigten Tiſchler
und nahmen mit Verwunderung wahr, wie
Dieſer hinter der Verkleidung, wo die Fen-
ſterrahmen eingeſchoben geweſen waren, aller-
lei Sachen hervorlangte und mit dem krum-
men Stiele ſeines Schnitzers immer noch
nach Mehreren angelte. Das Blut ſchoß
mir auf’s Herz und ins Geſicht. Jch fiel,
wie aus den Wolken: denn ich erkannte au-
genblicklich, Stuͤck fuͤr Stuͤck, das verſchwun-
dene Eigenthum des verſtorbenen Schiffers
Karl Chriſtian. Da war ſeine Uhr, ſeine
Garnitur ſilberner Schnallen, ein Beutel
mit einigen hundert Thalern Daͤniſch Courant,
ein Schaͤchtelchen mit Pretioſen an goldenen
Ringen und Ohrgehaͤngen, desgleichen ſil-
berne Schloͤſſer zu großen Buͤgeltaſchen nach
damaliger Mode, und was ſonſt noch mehr,
das der gute Mann vormals in Amſterdam
eingehandelt und unterweges, aus Furcht
vor Kaperei, hier in Sicherheit gebracht
hatte. — Hier hatt’ es kein Menſch geſucht
und auch wir es eher in jedem andern Ver-
ſteckwinkel geahndet!
Guter Gott! Und ich hatte mich muͤſſen
drum gleichwohl einen Dieb heiſſen laſſen!
Aber der Himmel iſt gerecht und barmherzig.
Er fuͤgte es, daß die Wahrheit noch nach
Jahr und Tag wunderlich an’s Licht kam;
daß es ſogar in meiner Gegenwart und vor
vieler Zeugen ſichtlichen Augen geſchehen
mußte! Waͤren wir nicht Alle zugegen ge-
weſen — wer weiß, wie weit die Ehrlich-
keit des Finders Stich gehalten, ob je Hund
oder Hahn darnach gekraͤht und ich nicht
Zeit meines Lebens Dieb geheiſſen haͤtte! —
Ja, allemal wenn ich an dieſe Geſchichte
denke, ſchlage ich meine Haͤnde in die Hoͤhe
und danke Gott. Der Name des Herrn ſey
gelobet!
Nun raffte ich in der Beſtuͤrzung Alles
zuſammen, und damit an Land zu der Witt-
we meines ehemaligen Schiffers. „Hier,
meine liebe Frau!‟ rief ich auſſer Athem —
„Hier bring’ ich Jhnen den Schatz von
Jhrem ſeligen Herrn, und wofuͤr ich ſo lange
habe Dieb heiſſen muͤſſen. So und ſo iſt das,
durch Gottes Leitung, wieder aufgefunden
worden; und nun danken auch ſie Gott
und ſeyn froͤhlich. Nun iſt Jhnen und Jhren
armen Wuͤrmerchen auch beſſer geholfen.‟
So gab es alſo Freude von allen Seiten.
Bald auch wurde die Geſchichte in Koͤnigs-
berg und in der ganzen Umgegend ruchtbar.
Jeder hielt es fuͤr ein halbes Wunderwerk;
Jeder wollte daruͤber von mir ſelbſt noch
naͤheren Bericht erfahren; und war ich
vorher hie und da wohl zweideutig und uͤber
die Achſel angeſehen worden, ſo wurde ich
ſeitdem, Gott weiß es! von Bekannten und
Unbekannten mit unverdienter Guͤte und
Liebe behandelt.
Mein gutes Gluͤck, das ich in dieſem
Jahre mit meinem kleinen Schiffe gehabt
hatte, machte mich, wenn auch nicht uͤber-
muͤthig, doch zuverſichtlich. Jch war ein
junger Menſch und wollte mich noch beſſer
in der Welt verſuchen, um es deſto gewiſſer
in der Welt zu etwas zu bringen. Meinem
Abſehen nach mußt’ ich ein neues und groͤße-
res Schiff haben, womit ich mich in die
Nordſee und uͤber den Kanal hinaus wagen
duͤrfte, anſtatt bloß in der Oſtſee, wie in
einer Entenpfuͤtze, umher zu leyern. Neben-
her verließ ich mich auch wohl auf mein Ge-
ſchick, womit ich mir das Gluͤck, auch wenn
es mir den Ruͤcken kehren wollte, wohl zu
erzwingen gedachte. Leider hatte oder ach-
tete ich damals die Erfahrung noch nicht,
daß zum Laufen kein Schnellſeyn hilft, und
ſollt’ es erſt noch mit einem Schaden lernen.
Ueberhaupt hab’ ich es erſt ſpaͤt begrif-
fen, daß lediglich Alles vom Gluͤck abhaͤngt
und Dieſes durch Fleiß und Geſchick allein
ſich nicht erzwingen laſſen will. Wohl aber
haͤtt’ ich es an meinen eigenen dummen
Streichen (woran ich es leider! nie habe
ſehlen |laſſen) abnehmen koͤnnen, daß dieſe
den Dummbart oft dem Gluͤcke weiter in den
Schooß fuͤhren, als ein Andrer mit ſeinen
weiſeſten Ueberlegungen auszureichen vermag.
Doch will ich damit nicht geſagt haben, daß
man den Letztern mit Vorbedacht aus dem
Wege gehen ſolle. Muß man in der Aus-
fuͤhrung ja doch immer noch dem lieben Gott
die groͤßere Halbſchied uͤberlaſſen. —
Kurz, ich verkaufte meinen kleinen und
gluͤcklichen Poſtreiter; ſetzte mir’s in den
Kopf, ein funkelnagelneues Schiff von etwa
80 Laſten auf den Koͤnigsberger Stapel zu
ſetzen, und war den groͤßten Theil des Jah-
res 1763 mit dem Ausbau deſſelben beſchaͤf-
tigt, ohne den Ort zu verlaſſen. Jn das
nemliche Jahr traf auch der ungluͤckliche
große Brand in Koͤnigsberg, wobei der Loͤ-
benicht, Sackheim und ein Theil vom Roß-
garten in Feuer aufgiengen. Als der erſtge-
nannte Stadttheil ſo ploͤtzlich und an allen
Orten zugleich in Flammen ſtand, befand ich
mich, mit wohl noch tauſend andern Men-
ſchen, auf der Holzwieſe, dicht am Pregel,
dem Loͤbenich gegenuͤber. Hier bemerkten wir
auf der Ladebruͤcke, hinter dem Hoſpital,
arme gebrechliche Bewohner deſſelben, welche
darauf ihre letzte kuͤmmerliche Zuflucht geſucht
hatten. Denn hinter ihnen ſtanden ihre Zel-
len, ſammt der Hoſpital-Kirche, in lichtem
Brande; zur Einen Seite nicht minder der
Moͤnchhof, und zur Andern, neben der
Bruͤcke, ein großer Stapel Brennholz; ſo
daß den Ungluͤcklichen nur uͤbrig blieb, ſich
in den Pregel zu ſtuͤrzen, oder ihr Schickſal
auf jener Ladebruͤcke abzuwarten.
Schon aber ſchien die Flamme ſie auch
in dieſem letzten Bergewinkel ereilen zu
wollen! Wir ſahen deutlich von jener Seite,
wie bereits Einigen Lahmen und Kruͤppeln
die Kleider auf dem Leibe angeglommen wa-
ren; waͤhrend Andre, die noch etwas beruͤh-
riger waren, Waſſer ſchoͤpften und damit
ihre Ungluͤcksgefaͤhrten wiederholt uͤbergoſſen,
um ſie vor dem Verbrennen zu retten. Sie
konnten dies auch um ſo fuͤglicher, da zu-
gleich ein ſtarker Orkan aus Norden wuͤthete,
(der eben den Brand ſo unaufhaltſam ver-
breitet hatte) und wodurch auch das Strom-
waſſer ſo aufgeſtauet wurde, daß es faſt
die Hoͤhe der Bruͤcken erreichte.
Hier ſollte und mußte nun, in ſo drin-
gender Gefahr, den armen Leuten unverzuͤg-
lich geholfen werden! Fahrzeuge waren in
der ganzen Gegend nirgends abzuſehen. Jch
lief indeß uͤber die Kuttelbruͤcke nach dem
Hunde-Gat; ſprang in ein Boot, das zu
einem dort liegenden Schiffe gehoͤrte; und da
zum Gluͤck ein Ruder drinne lag, ſo war
ich, mit Huͤlfe des ſtarken Windes, binnen
5 bis 10 Minuten wieder an der Ladebruͤcke.
Man denkt ſich’s leicht, wie ich hier von
den armen Menſchen beſtuͤrmt wurde. Jm-
mer wollte Einer vor dem Andern aufge-
nommen ſeyn; und mir blieb endlich nichts
uͤbrig, als eilig mit dem Boote und den
zuerſt Eingeſprungenen abzuſtoßen, wenn
nicht Alles auf der Stelle mit und unter
mir verſinken ſollte. Jch brachte indeß meine
Ladung nach der Holzwieſe in Sicherheit;
und ſo gelang es mir in dreimaligem Hin-
und Herfahren, ſie Alle gluͤcklich aus der
Klemme zu ſchaffen.
Als ich jedoch mich der Bruͤcke nochmals
naͤherte und den Platz wohlbedaͤchtig mit
meinen Blicken muſterte, waͤhrend bereits
die Laufbretter hie und da die Flammen
durchzuͤngeln lieſſen, nahm ich, 15 oder
20 Schritte von mir entfernt, etwas wahr,
daß ſich brennend auf dem Boden bewegte
und Anfangs von mir fuͤr ein glimmendes
Bette gehalten wurde, das der Sturmwind
vor ſich her waͤlzte. Als ich aber die Bruͤcke
beſtiegen hatte und es in der Naͤhe unter-
ſuchte, fand ich, daß es eine alte Frau
war, die, wie ich ſpaͤterhin erfuhr, an
Einer Seite des Leibes voͤllig vom Schlage
geruͤhrt worden. Jch hob ſie auf, um ſie
nach meinem Fahrzeuge zu tragen: allein
der Qualm und Geſtank der ſchweelenden
Kleider ſtieg mir ſo unertraͤglich zu Kopf
und Bruſt, daß ich von meinem Vorneh-
men abſtehen mußte. Doch ergriff ich die
Ungluͤckliche an Hand und Fuß; zerrte ſie
ſo — wenn gleich einwenig unſanft, nach
dem Boote, und brachte ſie hinuͤber, wo
ſie mir von den vielen umſtehenden Menſchen
abgenommen wurde.
Gleich darauf ſtieß ich wieder ab, um,
wo moͤglich, irgend einem Bedraͤngten in die-
ſer Noth retten zu helfen, und kam an das
Loͤbenichtſche Schlachthaus, das gleichfalls in
hellem Feuer ſtand, und wo noch, wie ich
durch die niedergebrannten Planken wahrneh-
men konnte, eine Menge ausgeſchlachteten
Viehes umherhieng. „Mein Gott! dachte
ich — wie vielen hundert Menſchen koͤnnte
das noch zur Erquickung dienen, denen das
Ungluͤck heute nichts, als das liebe Leben, ge-
laſſen hat!‟ Ein großer fetter Ochſe, der
der Treppe nach dem Waſſer am naͤchſten
hieng, fiel mir beſonders in die Augen. Jch
ſchnitt ihn ab, waͤlzte ihn hinunter und
ſchleppte ihn hinter meinem Fahrzeuge her
an’s jenſeitige Ufer, wo ihn mir ein Reuter
abnahm und vollends auf’s Trockne brachte.
Wo er weiter geblieben und wem er zu
gute gekommen iſt, weiß ich nicht.
Jndem ich mich nun auf’s neue nach der
Loͤbenichtſchen Seite hinuͤber machte, ſtieß ich
dort auf eine korpulente Frau, die ihre
Haͤnde nach mir aufhob und rief: „O
Schifferchen, erbarme Er ſich|! Helf Er!
Rett Er! — Das da iſt mein Haus, was
mit den Andern im Brande ſteht; und mein
Mann iſt ausgereiſt auf den Viehhandel. All
meine Leute haben mich verlaſſen; und was
Er hier um mich liegen ſieht, hab’ ich mit
meinen eignen Haͤnden aus dem Feuer ge-
riſſen.‟ — Dabei wies ſie auf einen Berg
von Betten, Kleidungsſtuͤcken und dergleichen.
Jch ließ mich nicht Zweimal bitten; wir
warfen Beide Hals uͤber Kopf von den Sachen
bunt durch einander in das Boot, ſoviel es
nur faſſen konnte, und nun ſchlug ich ihr
vor, dieſe Ladung an’s jenſeitige Ufer hin-
uͤber zu ſchaffen, dann aber wiederzukommen
und ſie ſelbſt mit dem Reſt in Sicherheit
zu bringen. Das war aber keine gute Dis-
poſition, wie ich ſogleich inne ward, als ich
die Holzwieſe erreichte: denn hier gab es zwar
hundert geſchaͤftige Haͤnde, die mir die ge-
retteten Sachen abnahmen; als ich mich aber
darnach umſah, ob ſie auch in gute Verwah-
rung kaͤmen, lief der Eine hiehin, der Andere
dorthin; dieſer zog mit einem Bette ab, Je-
ner mit einem Laken oder einem Armvoll
Kleider; und als ich das letzte Stuͤck aus
den Haͤnden gab, hatte ſich bereits die ganze
Ladung verkruͤmelt.
„Frauchen!‟ ſagte ich bei meiner Wie-
derkehr — „Das ſieht betruͤbt mit Jhrem
Eigenthum aus! — Jch fuͤrchte, Sie kriegt in
Jhrem Leben keine Faſer wieder davon zu ſehen.
So und ſo iſt mir’s damit gegangen.‟ —
Die Ungluͤckliche weinte und ſeufzte. Jndeß
ſchleppten wir noch einen ſchweren Kleider-
kaſten an und in’s Boot, und was ſie noch
von Geraͤthſchaften geborgen hatte. Sie ſelbſt
trug ich, trotz ihrer Wohlbeleibtheit, indem
ich bis an den halben Leib durch’s Waſſer
watete, gut oder uͤbel ebenfalls hinein, und
fuhr ab. Unterweges gewann ſie wieder
etwas Muth und Redſeligkeit. Sie nannte
mir ihres Mannes Namen, (den ich aber
wieder vergeſſen habe) und daß er ein Brannt-
weinbrenner geweſen, ſammt ihren andern
haͤuslichen Umſtaͤnden. Die ganze Brandge-
ſchichte, vom erſten Feuerlaͤrm an, und ihren
Schreck, und was ſie und ihre Nachbarn ge-
dacht und geſagt und vermuthet — Das
Alles bekam ich anzuhoͤren, und wahrſchein-
lich noch ſehr Vieles mehr, wenn wir nicht
ſchon fruͤher bei der Holzwieſe angelangt
geweſen waͤren.
Hier ward das unordentliche Getuͤmmel
der raͤuberiſchen Dienſtfertigkeit um die arme
Frau faſt noch aͤrger, als bei meiner erſten
Landung. Endlich draͤngte man mich ganz
von ihr ab, und ich ſah ſie nur noch aus
der
der Ferne auf ihrem Kaſten ſitzen, um wenig-
ſtens dieſen zu behaupten. Wieviel ihr
von dem Uebrigen geblieben oder wiederge-
bracht worden, weiß Gott: denn meine Augen
haben ſie nachdem in dem weitlaͤuftigen Orte
niemals wiedergeſehen.
Fuͤr diesmal wollt’ ich nun ſehen, was
in einer andern Gegend, auf der Sackheim-
ſchen Seite, paſſirte. Nicht lange, ſo traf
ich abermals mit einer alten Frau zuſammen,
die am Waſſer ſtand und mir entgegenſchrie:
„Ach Herzens Schifferchen, goldnes! Hier-
her, zu mir hin! Jch will Jhm auch gerne
einen Sechſer geben.‟ — Jch mußte lachen,
ſo wenig mir’s bei der allgemeinen grauſa-
men Noth auch laͤcherlich um’s Herz war. —
„Nun, und wo ſoll ich hier denn angreifen?‟
— „Ach du mein Gottchen! Dieſen Kaſten
hier, wenn Er mir den doch nach der Holz-
wieſe ſchaffen wollte. Mein ganzes armes
Haab’ und Gut ſteckt zuſammen drinnen! Jch
bin eine geſchlagne Frau, wenn ich den miſ-
ſen ſoll!‟
Nun freilich, da mußte ſchon Hand zum
Herzen gethan werden! Sie uͤbergab mir
eine lange ſchmale Kiſte, die mir nun zwar
bei dem fluͤchtigen Blick, den ich mir darauf zu
werfen abmuͤßigte, keine ſonderlichen Schaͤtze
zu bergen ſchien, aber doch, unter gemein-
ſchaftlicher Daranſtreckung unſrer Kraͤfte,
1. Bändchen. (12)
gluͤcklich in’s Boot geſchoben und, weil ſie
darinn der Laͤnge lang keinen Platz fand,
mit Muͤhe queruͤber in’s Gleichgewicht ge-
ruͤckt wurde; wiewohl das Fahrzeug, da ſie
hochſtand, heftig damit ſchwankte. Auch
gieng es mit der Fahrt noch immer gut ge-
nug, bis wir, auf Stromes-Mitte, auch in
den Bereich des Sturmwindes geriethen, wel-
cher uns dergeſtalt packte, daß ſich das Boot
ganz auf die Seite legte und Waſſer ſchoͤpfte.
Was ich immer thun mochte, dem Uebel ab-
zuhelfen, blieb vergeblich, und unſre Gefahr
zu ſinken ward mit jedem Augenblick dringen-
der. „Aber, liebe Frau, was hat ſie denn
in dem unbeholfenen verwetterten Kaſten?‟
fragte ich endlich mit einiger Ungeduld. —
„Ach, mein Ein und Alles! Meine Huͤhner
und Enten, womit ich handle, und die mir
Eier legen.‟ — „Ei, ſo hole denn der Henker
lieber den ganzen Kram!‟ ſchrie ich giftig, —
„als daß wir hier unſre Haut darum zu
Markte tragen!‟ — und damit ſchob ich den
Kaſten fein ſaͤuberlich uͤber Bord und ließ
ihn treiben, wohin er wollte. Nun aber er-
hub ſich uͤber mich ein Sturmwetter von ganz
andrer Art, und ich kriegte Ehrentitel zu
hoͤren, wie ich ſie mir nimmer vermuthend
war. Aber wie ſollt’ ich es anders machen?
Das Boot ſtand am Umkippen und war
ſchon hoch voll Waſſer gelaufen.
Wir waren daruͤber beinahe bis an den Sack-
heimſchen Baum getrieben. Jch machte mich
alſo eilig von meiner laͤſtigen Begleiterinn
los, ſtieg an Land, befeſtigte das Fahrzeug
und half anderweitig bei dem Feuer bergen
und retten, wo und wie ich immer vermochte.
Daruͤber blieb ich nun von meiner eignen
Schwelle entfernt vom Sonntag Abends, da
das Feuer angieng, bis Dienſtags Nachmittags,
wo endlich ſeine zerſtoͤrende Wuth ſich legte.
Waͤhrend dieſer entſetzlichen Friſt kam ich
verſchiedentlich mit Bekannten aus unſerm
Stadt-Ende, am Licent und der Gegend um-
her, zuſammen. Da ward denn immer die
erſte angelegentliche Frage, wie es in der
Nachbarſchaft ſtehe, freudig beantwortet:
„Gottlob! Wir haben bis jetzt keine Noth vom
Feuer: wohl aber vom Sturm hohes Waſſer
in Straßen und Haͤuſern, daß man uͤberall
darinn mit Kaͤhnen umherfahren kann.‟ —
Ein aͤhnlicher Orkan ſtieg einige Zeit
nach jenem unvergeßlichen Ungluͤck ſo gewal-
tig auf, daß alle Schiffe mit denen der Pre-
gel, vom gruͤnen Baume an, bedeckt war, ſich
theils einzeln von ihren Befeſtigungen am
Bollwerk losriſſen, theils unter einander ab-
draͤngten, und ſelbſt die mitten im Strome
geworfenen Anker dagegen nicht aushielten.
Die Verwirrung und das Gedraͤnge ward
mit jedem Augenblick groͤßer. Endlich packte
ſich Alles an der gruͤnen Bruͤcke in eine dichte
wuͤſte Maſſe zuſammen; die Maſten ſtuͤrzten
uͤber Bord, und die Bogſpriete knickten, wie
Rohrſtengel. Der Schade war unermeßlich;
und als man endlich wieder zur Beſinnung
kam, hatte man ſich billig zu verwundern,
daß nicht Alles und Jedes zu Grunde ge-
gangen.
Gleichwohl betraf dieſes Schickſal unter
Andern auch einen ledigen Bording von 50
Laſten, der zwiſchen den andern Schiffen ſo
eingeklemmt ward, daß er endlich, als die ge-
ringere Maſſe, von ihnen niedergedruͤckt und
dergeſtalt voͤllig in den Grund verſenkt wer-
den mußte, daß keine Spur von ihm zu er-
blicken war. Dies Gefaͤß gehoͤrte einer Wittwe
Roloff, meiner guten Freundinn und Ge-
vatterinn, zu, die in ihrer Noth und mit
weinenden Augen auch zu mir kam, ob ich
ihr in ihrem Ungluͤck nicht helfen koͤnne. Jch
verſprach mein Moͤglichſtes; und ſobald nur
der Sturm ſich abgeſtillt hatte, und die
Schiffe ſich wieder auseinandergewirrt, traf
ich Anſtalten, den Bording mit Winden und
Tauen aus dem Grunde wieder emporzuhe-
ben, was mir denn auch mit vieler Muͤhe
und Arbeit gelang; ſo daß das Fahrzeug
auf eine ſichre Stelle gebracht und der erlit-
tene Schade ausgebeſſert werden konnte.
Einige Zeit nachher, waͤhrend ich noch an
meinem Schiffe baute, kam eines Tages das
Geſchrei zu mir auf die Bauſtelle: Auf dem
Pregel am gruͤnen Krahn ſtehe ein Hollaͤndi-
ſches Schiff, mit 120 Laſten Hanf geladen,
in lichtem Brande. Sofort machte ich mich,
ſammt all meinen Schiffszimmerleuten, deren
Jeder mit ſeiner Axt verſehen war, auf den
Platz, und ſah, wie das Feuer klafterlang,
gleich einem Pferdeſchweif, hinten durch die
Kajuͤt-Porten emporflackerte. Alle Menſchen,
ſoviel ſich deren bereits herbeigemacht hatten,
waren damit beſchaͤftigt, Loͤcher in das Ver-
deck zu hauen und von oben hinab Waſſer in
den brennenden Raum zu gieſſen. Offenbar
aber gewann dadurch der Brand unterm
Deck nur um ſo groͤßern Zug und war auf
dieſe Weiſe mit nichten zu daͤmpfen.
Ein ſo widerſinniges Verfahren konnt’
ich nicht lange gelaſſen mit anblicken; und das
nur um ſo weniger, da mir das ſchnelle und
ſichre Mittel beifiel, dem weitern Ungluͤck auf
der Stelle zu ſteuern; wenn nemlich das
Schiff, ohne langes Saͤumen, zum Unterſinken
gebracht werden konnte. So packte ich denn
flugs den Schiffer am Arm, und ſchrie ihm
zu: „Jhr arbeitet Euch ja damit zum Un-
gluͤck, daß Jhr dem Feuer noch mehr Luft
macht. Verſenken muͤßt Jhr das Schiff! Hoͤrt
Jhr? Verſenken! Was da lange Beſinnens!‟
Es lief aber Alles verwirrt durch einan-
der, und kein Menſch konnte oder wollte in
dem Tumult auf mich hoͤren. Da griff ich
Einen von meinen Schiffszimmerleuten auf;
ſprang mit ihm in das Boot, welches zum
brennenden Schiffe gehoͤrte und demſelben zur
Seite lag, und zeigte ihm eine Planke, dicht
an und uͤber dem Waſſer, wo er in Gottes
Namen ein Loch durch’s Schiff hauen ſollte.
„Das laſſ’ ich wohl bleiben!‟ war ſeine Ant-
wort — „Jch koͤnnte ſchlimmen Lohn dafuͤr
haben!‟
Dieſer Widerſtand erhitzte mich noch mehr.
Jch riß ihm die Axt aus den Haͤnden, und
bedachte mich keinen Augenblick, ein ganz huͤb-
ſches Loch hart uͤberm Waſſerſpiegel durch-
zukappen. Als ich den guten Erfolg ſah,
legte ich mich auf den Bauch und hieb immer
tiefer einwaͤrts, bis endlich das Waſſer ſtrom-
weiſe da durch und in den Schiffsraum drang.
Das eben hatte ich gewollt; und nun eilte
ich ſpornſtreichs aus dem Boote auf das
Verdeck, wo ſich hundert und mehr Men-
ſchen draͤngten, und ſchrie: „Herunter vom
Schiff, was nicht verfaufen will! Jn der
Minute wird’s ſinken!‟
Anfangs hoͤrte man mich nich nicht; da
ich es aber immer und immer wiederholte,
und zugleich auch das Schiff begann, ſich
ſtark auf jene Seite zu neigen, ſo kam auf
Einmal der Schrecken unter die Leute;
Alles lief nach dem Lande, in banger Erwar-
tung, was weiter geſchehen wuͤrde. Jn der
That legte ſich das Schiff ſo gewaltig ſeit-
waͤrts, als ob es umfallen wollte; aber im
Sinken ſelbſt richtete es ſich ploͤtzlich wieder
empor, und fuhr ſo, geraden Standes, ploͤtz-
lich bis an die Gaffel-Klaue in die Tiefe, die
hier zur Stelle wohl 36 bis 40 Fuß be-
tragen mochte.
Das Feuer war gedaͤmpft. Eine ſtille
dumme Verwunderung folgte. Aber ploͤtz-
lich auch ward jedes Gaffers Mund wieder
rege und laut, und Jeder fragte in die Wette:
„Wer hat das gethan? Wer hat das Schiff
in den Grund gehauen?‟ Jeder hatte aber auch
gleich die durch einander geſchrieene Antwort
bei der Hand: „Nettelbeck! Ei, das iſt ein
Stuͤckchen von Nettelbeck!‟ — Nettelbeck
aber kehrte ſich an nichts, gieng ruhig nach
Hauſe, und war in ſeinem Herzen uͤberzeugt,
daß er recht gethan habe.
Gleich des andern Tages, Vormittags
neun Uhr, trat, in voller Angſt, mein Schwie-
gervater zu mir in’s Haus, und fuhr auf
mich ein: „Nun haben wir’s! Ein ſchoͤnes
Ungluͤck habt Jhr angerichtet mit dem in
Grund gehauenen Schiffe! Da ſind eben drei
Kaufleute und der hollaͤndiſche Schiffer,
ſammt einem Advokaten, auf der Admira-
litaͤt, und klagen wider Euch auf vollen
Erſatz alles Schadens. Nun ſitzt Jhr in
der Bruͤhe!‟ — Und noch hatt er ſeine
Hiobs-Poſt kaum geendet, ſo war auch ſchon
der Admiralitaͤts-Diener zur Stelle, der mich
auf den Lizent, gleich in dieſer nemlichen
Stunde, vor das Admiralitaͤts-Collegium be-
ſchied. „Die ſind raſch darhinter her!‟
dacht’ ich bei mir ſelbſt; und mir ward doch
nicht ganz wohl dabei zu Muthe.
Als ich ankam, fand ich es ganz ſo, wie
mie’s mein Schwiegervater verkuͤndigt hatte.
Mir ward ein ſchon fertiges Protokoll vor-
geleſen, des Jnhalts, daß ich es ſey, der
unberufener Weiſe das Schiff zum Sinken
gebracht und dadurch einen Schaden von ſo
und ſo viel Tauſenden angerichtet habe. Jch
ſollte jetzt die Wahrheit dieſer Angaben an-
erkennen, von der Urſache Rede und Ant-
wort geben und allenfalls anfuͤhren, was ich
zu meiner Vertheidigung vorzubringen wuͤßte.
Hm! das ſtand ja ſogar verzweifelt noch
nicht, wenn mir noch Einrede und Verthei-
digung zugeſtanden wurde! — „Tauſend
Augen‟ — ſagte ich — „haben es mit an-
geſehen, wie das Schiff hinten hinaus in
hellem Feuer ſtand; und je mehr Luftloͤcher
die Leute in’s Verdeck hieben, deſto mehr
Nahrung gaben ſie dem inwendigen Brande.
Haͤtte das nur noch eine halbe Viertelſtunde
ſo fortgedauert, ſo nahm die Flamme derge-
ſtalt uͤberhand, daß es kein Menſch auf dem
Schiffe mehr aushalten konnte, und dieſes,
mit ſammt der Ladung, preisgegeben werden
mußte. Allein wenn und waͤhrend es nun
in voller Gluth ſtand — Wie ſollt’ es da
fehlen, daß nicht auch die Taue mit ver-
brannten, an denen es am Bollwerk befeſtigt
lag; daß die flammende Maſſe ſtromabwaͤrts
und unter die vielen andern dort liegenden
Schiffe trieb und dieſe mit in’s Verderben
zog? — Ja, was leiſtete uns Buͤrgſchaft,
daß dieſer Schiffsbrand nicht ebenſowohl auch
die dicht am Bollwerk befindlichen Speicher
und die unzaͤhligen, vor denſelben aufgefah-
renen Hanfwagen ergriff? und daß daruͤber
nicht ganz Koͤnigsberg in Rauch und Aſche
aufgieng? — Jetzt iſt großes und gewiſſes
Ungluͤck mit um ſo geringerm Schaden ab-
gewandt, als Schiff und Ladung wohl noch
meiſt wieder zu bergen ſeyn werden. Jch
bin daher auch des guten Glaubens, daß
ich in keiner Weiſe ſtrafbar gehandelt, ſon-
dern nur meine Buͤrgerpflicht geleiſtet habe.‟
Der Director, Hr. Schnell, dictirte dieſe
meine Verantwortung ſelbſt zu Protokoll;
und der Advokat ermangelte nicht, dagegen
allerlei Einrede zu thun. Darnach ward
ich abermals befragt, ob ich weiter noch
etwas zu meinen Gunſten vorzubringen habe?
— „Nicht ein Wort!‟ erwiederte ich —
„Meine Sache muß fuͤr ſich ſelber ſprechen.‟
Die Verhandlung ward zu Papier gebracht,
und dies mußten alle Parten unterzeichnen.
Dann wurden wir bedeutet, einſtweilen un-
ſern Abtritt zu nehmen, weil unſer Handel
klar genug ſey, um noch in dieſer nemlichen
Sitzung zum Spruche zu kommen.
„Deſto beſſer!‟ dachte ich — „Wenn nur
die geſtrengen Herren drinnen auch Vernunft
annehmen wollen!‟ und uͤber dieſem „Wenn‟
kam es denn doch bei mir zu einem Herz-
pochen, das mir dieſe halbe Stunde Ver-
weilens zu einer ſehr baͤnglichen machte. Wer
weiß, ob es meinen Gegenparten viel beſſer
ergieng? — Endlich hieß es, daß wir wieder
vortreten moͤchten; und nun gab man uns
ſogleich auch die gefaͤllte Sentenz zu ver-
nehmen, deren Jnhalt, der Hauptſache nach,
etwa dahin lautete:
„Die Admiralitaͤt erkenne, daß der Schiffer
Nettelbeck vollkommen recht und loͤblich ge-
handelt, indem er durch ſchnelle Verſenkung
des, in Rede ſtehenden, brennenden Schiffes
groͤßeres Ungluͤck von dem Handelsſtande
und der Stadt abgewandt. Naͤchſtdem aber
behalte ſich das Collegium vor, ihm deſſen
Zufriedenheit und Dankbarkeit durch feier-
lichen Handſchlag zu bezeugen. Falls auch
der Gegenpart mit dieſem Erkenntniß zufrie-
den ſey, ſolle derſelbe gleichmaͤßig mit dar-
gebotener Hand ſich bei beregtem Nettelbeck
bedanken, daß er Schiff und Ladung vor noch
groͤßerm Schaden bewahrt habe.‟
Nach geſchehener Vorleſung ſtand der
Director, Hr. Schnell, von ſeinem Sitze auf,
ſchuͤttelte mir treuherzig die Hand, und ſag-
te: „Jch thue das, als Erkenntlichkeits-Be-
zeugung, im Namen aller Schiffer, die auf
dem Pregel liegen, und im Namen der Stadt,
die durch Jhren Muth und Beſonnenheit ei-
nem großen Ungluͤck entgangen iſt. Sie ſind
ein wackerer Mann!‟
Kaufleute, Schiffer und Advokat ſahen
einander an, und gaben etwas verlegene Zu-
ſchauer bei dieſer Scene ab. Endlich traten
ſie, Einer nach dem Andern, zu mir und ga-
ben mir ihre dankbare Hand. Die Vernuͤnf-
tigern unter ihnen gaben zu gleicher Zeit zu
verſtehen, ſie waͤren nur darum zur Klage
wider mich geſchritten, um ſich bei ihren Aſ-
ſuͤradeurs, Rheedern und Correſpondenten
wegen des Vorgangs mit dem Schiffe hin-
laͤnglich zu decken.
Schon waren wir im Begriff, aus der
Gerichtsſtube wieder abzutreten, als der Di-
rector mich zuruͤckrief, und anhub: „Schif-
fer Nettelbeck! Wie iſt’s? Haben ſie nicht
in vorigem Jahre der Wittwe Roloff ihren
im Pregel verſunkenen Bording gluͤcklich wie-
der in die Hoͤhe gebracht? — Jch daͤchte,
Sie waͤren ebenſowohl der Mann dazu, Jhr
Kunſtſtuͤck auch an dieſem Schiffe hier zu
wiederholen? — „Meine Herren!‟ ſich zu
den Kaufleuten wendend — „Sie ſollten
ſich dieſen Vorſchlag uͤberlegen! Was mey-
nen Sie?‟
Alſobald legten mir die Gefragten die
Sache andringlich vor. „Je nun,‟ erwie-
derte ich — „Vieles in der Welt laͤßt ſich
machen, wenn es mit Vernunft und Geſchick
angegriffen wird. Wir Beide, der Schiffs-
herr und ich, wollen hingehen, unterſuchen
und das Ding an Ort und Stelle reiflicher
uͤberlegen. Laͤßt ſich was beginnen, ſo wol-
len wir in Gottes Namen Hand an’s Werk
ſchlagen.‟ — Sogleich auch machten wir
uns auf den Platz: aber alsbald auch ward
mir’s klar, daß der Schiffer eine Schlafmuͤtze
war, von dem ich keinen erklecklichen Beiſtand
erwarten durfte. Lieber alſo ließ ich ihn
ganz aus dem Spiele; gieng zu meinem gu-
ten ehrlichen Freunde, dem Schiffszimmer-
meiſter Backer, und bat ihn, daß er mir bei
meinem Vornehmen helfen moͤchte. Der war
auch zu Allem bereit und willig; und ſo
ſchritt ich denn getroſt an die Ausfuͤhrung.
Nach dem Plane, den wir entworfen hat-
ten, erbat ich mir von ein paar guten Freun-
den zwei Fahrzeuge zu meiner Verfuͤgung;
wobei denn natuͤrlich alle Gefahr und der Er-
ſatz des etwa zugefuͤgten Schadens auf meine
Rechnung gieng, fuͤr den Gebrauch derſelben
aber eine billige Verguͤtung bedungen wurde.
Jndem ich nun dieſe Bordinge zu beiden
Seiten des verſenkten Schiffs poſtirte, und
meine Winden und Hebezeuge darauf an-
brachte und in Bewegung ſetzte, gieng die
Arbeit raſch und gluͤcklich von ſtatten. Wir
hoben die ungeheure Laſt unter dem Waſſer
aus dem tiefen Grunde ſo weit in die Hoͤhe,
daß man bereits auf das Verdeck, etwas
mehr, als Knie tief, treten konnte und ich
binnen kurzem den Augenblick erwartete, wo
daſſelbe vollends emportauchen wuͤrde.
Jetzt aber ploͤtzlich ſtockten alle meine
Maſchinen; und keine Kraft derſelben war
ſtark genug, das Schiff auch nur um einen
einzigen Zoll hoͤher zu bringen. Jch hatte
die beiden Bordinge durch die Winden der-
geſtalt anſtrengen laſſen, daß ſie vorne mit
dem Bord-Rande dicht auf dem Waſſer la-
gen, waͤhrend die Hintertheile ſich bis zum
Kiel in die Hoͤhe kehrten. Brach jetzt irgend
etwas an den Tauen, die unter dem Schiffe
durchgezogen waren, ſo waren Ungluͤck und
Schaden, die dann entſtehen mußten, gar
nicht zu berechnen. Jn dieſer peinlichen Lage
mußten demnach vor allen Dingen noch ein
paar Ankertaue unter den Schiffskiel gebracht
werden, in denen es nunmehr mit vollerer
Sicherheit hieng; und nun galt es um ein
Mittel, es noch um ſoviel zu erleichtern, da-
mit nur die großen Luken auf dem |Verdeck
nicht mehr vom Strome uͤberfloſſen wuͤrden
und die anzubringenden Pumpen dann freies
Spiel gewaͤnnen.
Da ſich jedoch der Schiffs-Koͤrper um
keine Linie mehr ruͤcken laſſen wollte, ſo fiel
ich darauf, ich muͤßte jene Lucken um ſoviel
erhoͤhen, daß ſie uͤber dem Waſſerſpiegel em-
porragten. Das war zu bewerkſtelligen,
wenn ich ebenſoviel Kaſten oder Verſchlaͤge,
von wenigſtens zwei Fuß Hoͤhe, und gleichem
Umfang mit den Lucken dergeſtalt waſſerdicht
auf denſelben und dem Verdeck befeſtigte,
daß ſie gleichſam einen Brunnenrand vor-
ſtellten. Was nun aus dieſen Kaſten ge-
ſchoͤpft wurde, war dann eben ſo gut, als
ſey es aus dem Raume geſchoͤpft, in wel-
chem auf dieſe Weiſe das Waſſer endlich doch
nothwendig abnehmen mußte. Dann aber
hob ſich das Schiff von ſelbſt, ohne daß es
ferner meiner Maſchinen bedurfte.
Kaum war dieſer Gedanke zur Welt ge-
bohren, ſo ließ ich mir einen Zollſtock geben,
um unter dem Waſſer das genaue Maaß der
Lucken in Laͤnge und Breite zu nehmen; rief
meine Leute zu mir nach der Bauſtelle und
gab ihnen an, was zu thun ſey. Jn Zeit
einer Stunde, (waͤhrend welcher Alles in
hoͤchſter Erwartung deſſen ſtand, was werden
ſollte) kam ich mit den fertigen Kaſten und
meinen Arbeitsleuten zuruͤck, und hatte die
Freude, zu ſehen, daß jene vollkommen wohl
anſchloſſen. Um mich jedoch deſſen noch voͤl-
liger zu verſichern, riß ich mit dem Zirkel
die Biegung der Schiffsdecke unterm Waſſer
an dem Rande der Kaſten ſorgfaͤltig vor;
ließ ſoviel, als darnach noͤthig war, heraus-
hauen, und konnte nunmehr mein Werk, da
kaum noch einiges Waſſer durchſickerte, fuͤr
gelungen halten.
Hunderte von muͤßigem Poͤbel ſtanden,
als Zuſchauer, am Bollwerk. Jch wandte
mich zu ihnen und rief: „Heran mit Eimer
und Geraͤth, wer Luſt hat, mit Waſſerſchoͤpfen
jede Stunde einen halben Gulden zu verdie-
nen!‟ — Ho, das war, als haͤtt’ ich ſie
zur Hochzeit gebeten! Es ſtuͤrzten gleich ſo-
viel Arbeiter herbei auf das naſſe Verdeck,
daß ſie um die Kaſtenraͤnder nicht Alle Raum
zum Handthieren hatten. Jch ließ ſie ihr
Weſen treiben und ſtieg derweilen in’s Boot,
um mit dem Bootshaken das Loch unter Waſ-
ſer aufzuſuchen, welches meine Haͤnde hinein-
gehauen hatten. Dann aber ſah ich mich
nach einem Sacke um, (oder war es ein
Stuͤck altes Segeltuch; ich weiß es nicht!)
um jenes Loch zu ſtopfen und dadurch neuen
Zufluß zu hindern.
Bei jedem Schopf, den ſo viele Eimer
zugleich thaten, wurden vielleicht funfzig und
mehr Kubik-Fuß Waſſer — erſt aus den
Kaſten, dann tiefer aus dem Schiffsraume
hervorgefoͤrdert; ſo daß baͤld die Arme der
Arbeiter es nicht fuͤglich erreichen konnten.
Jn eben dem Maaße nun, als durch dieſe
Erleichterung das Schiff wieder an eigner
Hebekraft gewann, erlangten auch die beiden
Fahrzeuge, zwiſchen denen es in der Schwebe
hieng, ihre verlorne Wirkſamkeit wieder.
Sie hoben ſich vorne wieder; und ſo, mit
Einem Ruck, brachten ſie nun das Schiff
gluͤcklich in die Hoͤhe, daß es durch ſich ſel-
ber flott wurde und das Verdeck uͤber Waſ-
ſer zu ſtehen kam.
Jetzt konnten auch die Hanfgebinde an
den Laſtbaͤndern aus dem Raume hervorge-
langt werden. Mit der erleichterten Ladung
aber trat auch immer mehr und mehr Bord
hervor, bis endlich auch mein gehauenes Loch
uͤber dem Waſſer zum Vorſchein gelangte und
ſonach mein Werk fuͤr abgethan gelten konnte.
Jch ſchlug alſo ein Kreuz daruͤber und gieng,
weil ich mich trefflich abgemattet fuͤhlte, in
des Herrn Namen nach Hauſe; waͤhrend
mein Freund Backer und der Schiffer das
Uebrige beſorgen mochten.
Ei-
Einige Tage darauf ward ich abermals
vor die Admiralitaͤt gefordert. Jch fand
dort die Herren Kaufleute, die mir fuͤrerſt
ihren Dank fuͤr mein gluͤcklich geloͤstes Ver-
ſprechen bezeugten, dann aber auch ſich fuͤr
meine angewandte Bemuͤhung mit mir abzu-
finden wuͤnſchten. Auf meiner Rechnung, die
ich ihnen deß Endes einreichte, ſtanden bloß
die beiden Bordinge, die ich gebraucht hatte,
jeder mit 20 Thalern angeſetzt, ſammt einer
Kleinigkeit fuͤr Abnutz an Tauen, Winden und
andern Geraͤthſchaften; die denn auch ſogleich
und ohne allen Anſtand bewilligt wurden.
Da ich indeß, was mich ſelbſt betraf, keine
Forderung machen wollte, ſo boten ſie mir
ein Douceur von hundert Gulden Preuß.,
ſammt 10 Pfund Kaffe und 20 Pfund
Zucker. Jch nahm, was mir gegeben wurde,
und ſchenkte davon 25 Gulden fuͤr die Ar-
men, um ihnen auch einmal einen guten
Tag zu machen.
Zu Oſtern 1764 war ich endlich auch,
nach vieler Muͤhe und Sorge, mit deren
einzelner Aufzaͤhlung ich den Leſer nicht be-
laͤſtigen will, mit meinem Schiffbau im Rei-
nen. Das Gebaͤude und Alles, was dazu
gehoͤrte, war nun wohl ganz nach meinem
Sinn gerathen: aber Luſt und Freude konnt’
ich dennoch nur wenig daran haben: denn
wie ſo ganz anders waren die Zeiten gewor-
1. Bändchen. (13)
den, ſeit ich in vorigem Jahre den Kiel dazu
legte, und jetzt, wo es, glatt wie ein Aal,
vom Stapel lief! Mit den guten Zeiten fuͤr
die Rheederei hatt’ es ein ploͤtzliches und
betruͤbtes Ende genommen. Jch will nicht
ſagen, daß ich auf lauter ſolche Frachten,
wie jene nach Riga, zu 40 Rubel die Laſt,
gerechnet haͤtte: denn dann waͤr’ ich ein baa-
rer Thor geweſen: allein noch im Jahre zu-
vor ſtanden die Frachten auf Amſterdam zu
45 hollaͤndiſchen Gulden, und jetzt, wo, beim
Frieden, in alles Verkehr eine Todtenſtille
eintrat, galt es Muͤhe, eine Fracht dahin
um 11 Gulden zu finden. Erſt im October
ward mir’s ſogut, auf den genannten Platz
fuͤr 16 Gulden abzuſchlieſſen.
Waͤhrend nun mein Schiff in der Ladung
begriffen war, kam ich eines Tages von der
Boͤrſe, um am Borde mit eignen Augen nach-
zuſehen. Das Schiff hatte ſich etwas vom
Bollwerk abgezogen: dennoch dachte ich den
Sprung wohl hinuͤber zu thun, traf es aber
ſo ungluͤcklich, daß ich uͤber ein Ankertau,
welches laͤngs dem Verdecke lag, ſtolperte und
mir den rechten Fuß unten aus dem Gelenke
fiel. Da lag ich nun, und mußte nach Hauſe
getragen werden! Das Bein ſchwoll an; ich
konnte bald kein Glied mehr ruͤhren, und
waͤhrend daran gezogen, geſalbt und gepflaſtert
wurde, hatt’ ich die grauſamſten Schmerzen
auszuſtehen. An ein Mitgehen mit meinem
Schiffe, wie ich es willens geweſen, war nun
gar nicht zu denken. Aber wen nunmehr
in meine Stelle ſetzen?
Zum Steuermanne unter mir hatte ich
einen gewiſſen Martin Steinkraus angenom-
men, der zwar bereits ſelbſt ein Schiff ge-
fuͤhrt, aber dabei eben keine Ehre eingelegt
hatte. Er war, gleich mir, ein gebohrner
Colberger und mir von meinen uͤbrigen Lands-
leuten, halb wider meinen Willen, angebettelt
worden. Jetzt, da ich im Bette lag, ward
ich abermals mit guten Worten und einge-
legten Fuͤrbitten von allen Seiten dermaaſſen
beſtuͤrmt, daß ich mich endlich, in einer un-
gluͤcklichen Stunde, bethoͤren ließ, dieſem
Menſchen mein Fahrzeug auf die vorhabende
Reiſe, als Schiffer anzuvertrauen. An guten
Ermahnungen und Jnſtructionen, wie er ſich
in vorkommenden Faͤllen verhalten, wie er
ſich helfen und wirthſchaften ſollte, ließ ich
es auf keine Weiſe ermangeln. Auch gab
ich ihm ſofort 200 Gulden baar in die
Haͤnde, um ſich damit in Pillau frei in See
zu bringen.
Deſto verwunderlicher daͤuchtete mir’s,
daß, als er kaum von Koͤnigsberg abgegan-
gen und drei Tage vor Pillau gelegen, das
Comptoir von Seif et Co. daſelbſt mir eine
Anweiſung von 200 Gulden praͤſentiren ließ,
welche mein Schiffer baar auf meine Rech-
nung bezogen hatte. Gleich darauf war er
in der Mitte Novembers, in See gegangen.
Spaͤterhin kamen noch verſchiedene aͤhnliche
Aſſignationen, zuſammen im Belauf von etwa
300 Gulden, zum Vorſchein, die er zum
Theil baar aufgenommen, zum Theil auf
allerlei Schiffsbeduͤrfniſſe verwandt hatte,
als ob er ganz mit lediger Taſche von mir
gegangen waͤre.
Alles dieſes geſtattete mir kaum noch ei-
nigen Zweifel, daß dieſer Menſch es auf
Betrug und Hinterliſt mit mir abgeſehen
habe. Haͤtte ich noch daran zweifeln moͤ-
gen, ſo mußten mir vollends die Augen auf-
gehen, als ich, nachdem er Anfangs Decem-
bers den Sund paſſirt war, durch das Haus
von Dorß eine neue Aſſignation, lautend auf
85 Thaler Daͤn., empfieng, die doch nur
fuͤr Sundzoll und aufgelaufene Koſten ver-
ausgabt ſeyn konnten, ohngeachtet ich aus
Erfahrung wußte, daß ein Schiff von der
Tracht, wie das meinige, dort nur 12 bis
15 Thaler Daͤn. zu zahlen haben koͤnne.
Jm Januar 1765 liefen Briefe aus Go-
thenburg an mich ein, mit der Hiobs-Poſt:
Schiffer Steinkraus ſey dort eingelaufen,
habe die Einleitung zu einer Haverey ge-
macht und, zu dem Ende, gleich anfaͤnglich
2,000 Gulden aufgenommen. Jm Februar
wiederum Briefe aus Gothenburg: Schiffer
Steinkraus habe ſich genoͤthigt geſehen, die
zur Ausbeſſerung noͤthigen Gelder bis auf
6000 Gulden zu vermehren und ſich aus-
zahlen zu laſſen!
Jetzt ward mir der unſaubre Handel
denn doch zu arg und zu bunt! Wollt’ ich
nicht, mit dem Stabe in der Hand mein
Eigenthum mit dem Ruͤcken anſehen, ſo mußt’
ich eilen, dem unverſchaͤmten Raͤuber durch
meine perſoͤnliche Gegenwart einen Zuͤgel an-
zulegen. Jn dieſer Abſicht gieng ich, im
Merz, mit Schiffer Martin Blank, als Paſſa-
gier nach Amſterdam ab, wo ich meinen Urian
entweder ſchon zu treffen, oder doch zu er-
warten gedachte. Er hatte aber gar nicht
die Eile gehabt, die ich bei ihm vorausſetzte:
ſondern erſt in den letzten Tagen des Aprils,
nachdem ich ſchon mehrere Wochen nach ihm
ausgeſehen, ließ mir Schiffer Johann Henke
von Koͤnigsberg, der eben auch im Hafen lag,
ſagen: Steinkraus ſey ſo eben angekommen
und habe mit dem Schiffe vor der Laage ge-
ankert. Jetzt verlor ich keinen Augenblick,
mich nach der Waſſerſeite zu begeben. Je
uͤblere Dinge ich ahndete, um ſo ſorgfaͤltiger
hatte ich auch bereits im Voraus meine Maaß-
regeln uͤberlegt und mit meinen dortigen
Correſpondenten, den Herren Kock und van
Goens, die erforderlichen Abreden genommen.
Jn der Ferne ſah ich mein Schiff liegen,
das mir durch die argliſtige Bosheit eines
Taugenichts ſo theuer zu ſtehen kommen ſollte.
Jch ließ mich durch einen Schuytenfahrer
an den Bord deſſelben uͤberſetzen; fand aber
beim Hinaufſteigen, auf dem Verdeck keine
lebendige Seele. Voll Sinnens gieng ich auf
demſelben einige Minuten lang umher; und
indem ich mir Maſten, Taue, Segel, Anker
— Alles die alten wohlbekannten Gegenſtaͤnde!
— genauer darauf anſah, konnt’ ich, mit
ſteigender Verwunderung, immer weniger
begreifen, was denn mit den aufgenommenen
ungeheuern Summen daran veraͤndert oder
gebeſſert worden?
Endlich kam der Schiffsjunge aus dem
Kabel-Gat zum Vorſchein und machte treff-
lich große Augen, als er ſeinen Herrn und
Meiſter ſo unverhofft erblickte. Jch ſaͤumte
nicht, den Burſchen in ein naͤheres Verhoͤr
zu nehmen; und nun erzaͤhlte er mir denn,
halb aus Treuherzigkeit, halb aus Furcht,
mehr als mir lieb war und ich zu wiſſen
verlangte. Sein Schiffer, ſammt den uͤbri-
gen Leuten, hatte ſich, ſogleich nach der An-
kunft; im hellen Haufen an’s Land begeben.
Der neue Steuermann (denn der, von Koͤnigs-
berg mitgegangenen, war — Ein Ungluͤck mehr
fuͤr mich! — in Gothenburg geſtorben) be-
fand ſich nur noch allein an Bord und ver-
zehrte in der Kajuͤte ſein Mittagsmahl.
Dort ſuchte ich ihn mir auf; gab mich als
ſeinen Rheeder zu erkennen und wechſelte
einige gleichguͤltige Worte mit ihm, bevor ich
nach dem Lande zuruͤckfuhr. Er war auf
keine Weiſe der Mann dazu, mir die naͤhere
Aufklaͤrung, die ich brauchte, zu geben.
Da es nun aber Einmal auf eine Ueber-
raſchung abgeſehen ſeyn ſollte, ſo poſtirte ich
mich, dem Schiffe gegenuͤber, am Bollwerk,
und beſchloß, hier geduldig zu warten bis
mein guter Freund, der dort nothwendig paſſi-
ren mußte, in eigner werther Perſon zum
Vorſchein kommen wuͤrde. Nach etwa zwei
Stunden Harrens, die mir lang und ſauer
genug wurden, erſchien auch ein Trupp ganz
wilder und beſoffener Matroſen, in denen ich
unſchwer mein Volk erkannte, und hinter
ihnen her taumelte, in keinem beſſern Zuſtande,
der Schiffer Steinkraus — Beide, ohne auf
mich zu achten — an mir voruͤber. Mein
ſchmerzliches Erſtaunen brauche ich nicht zu
beſchreiben: denn dies luſtige Leben ſchien
ihrer Aller gewoͤhnliche Tages-Arbeit zu ſeyn.
Wie mußten die mit meinem anvertrauten
Gute gewirthſchaftet haben!
Jch folgte ihnen und wartete bis zu dem
Augenblick, wo ſie ſaͤmmtlich in die Schaluppe
ſteigen wollten, um nach dem Schiffe uͤber-
zuſetzen. Hier klopfte ich dem Schiffer un-
verſehens auf die Schulter, und rief: „Will-
kommen in Amſterdam!‟ — Er blickte hinter
ſich; ward ſtarr wie eine Bildſaͤule, und auch
ſo blaß, als er mich endlich erkannte. Jch
aͤnderte indeß nichts in meiner hoͤflichen Ge-
laſſenheit, wie bitter mir’s auch ankam, mei-
nen gerechten Groll zu verbeiſſen: denn ehe
ich gegen ihn losfuhr, wie er’s verdient hatte,
mußte ich mir erſt ſeine Gothenburger Ha-
verey-Rechnung haben vorlegen laſſen, um
zu wiſſen, ob und wie dieſe gegen meine
Aſſecuradeurs zu rechtfertigen waͤre, die in
Amſterdam zur Stelle waren und auf mein
Schiff 8,000 Gulden Holl. gezeichnet hatten.
Jene Haverey aber betrug, ſoviel mir vor-
laͤufig bewußt war, noch etwas mehr ſogar,
als dieſe Summe.
Jch ſetzte mich nun, als ein ſchwerlich
ſehr willkommner Gaſt, mit in das Boot und
begleitete ihn an Bord. Unmittelbar darauf
holten wir das Schiff in die Lage zu den
uͤbrigen vor Anker, wo es, nach meinem
Wunſche, neben dem vorbenannten Henke zu
liegen kam. Dies gab mir die Bequemlich-
keit, mich entweder an meinem eignen Borde,
oder bei dieſem meinem Freunde, in der Naͤhe
zu verweilen und gute Aufſicht zu halten;
waͤhrend die Ladung geloͤſcht und das Schiff
bis auf den unterſten Grund leer wurde.
Hier vermißte ich denn nun zunaͤchſt 80
Stuͤck eichene Planken, die ich in Koͤnigsberg
zum Garniren des Schiffsbodens mitgegeben
hatte. Wo konnten die geblieben ſeyn? Jch
erhielt die Auskunft vom Schiffer, daß ſie
in Gothenburg, zugleich mit der uͤbrigen ge-
loͤſchten Ladung, an’s Land gekommen und
dort, ohne ſein Wiſſen und Willen, vom
Schiffsvolk von Zeit zu Zeit uͤber Seite ge-
bracht und heimlich verkauft worden. Das
Volk hinwiederum waͤlzte alle Schuld von
ſich ab, und behauptete, der Schiffer ſelbſt
habe die Planken verkauft.
Nicht beſſer ſtand es um einen Schiffs-
Anker von 800 Pfund, der mir auf meinem
vorigem Schiffe, und bei einer fruͤhern Reiſe
am Bollwerk zu Pillau in einem Sturme
zerbrochen worden. Da die beiden Stuͤcken
in Koͤnigsberg nicht wieder zuſammengeſchmie-
det werden konnten, ſo hatt’ ich ſie dem
Steinkraus mitgegeben, um dies in Amſter-
dam bewerkſtelligen zu laſſen. Aber auch
dieſer Anker war abhanden gekommen; und
bei naͤherer Unterſuchung ergab ſich’s, daß
mein getreuer Stellvertreter das groͤßere
Stuͤck deſſelben, und die Matroſen das klei-
nere, an Mann zu bringen gewußt und das
Geld unter ſich getheilt hatten.
Nunmehr kam auch die Reihe an die
Durchſicht der Gothenburger Papiere, die
Haverey betreffend; nnd da ſtanden mir
denn warlich die Haare zu Berge! Alles
befand ſich in der greulichſten Unordnung,
als ob es mit rechtem Vorbedacht verwirrt
worden ſey, um jede klare Einſicht unmoͤg-
lich zu machen. Jch wußte nimmermehr,
wie ich meinen Aſſecuradeurs dieſe Rechnun-
gen vorlegen ſollte, ohne daß ſie dieſelbe
von Anfang bis zu Ende fuͤr nichtig erklaͤrten.
Selbſt meinen Schuft, wie er’s verdient
hatte, beim Kopfe nehmen zu laſſen, war
nicht rathſam, wenn ich jene Verſicherer nicht
ſelbſt in Allarm ſetzen wollte, uͤber geſpielten
Betrug bei der Haverey zu ſchreien und
mich fuͤr meine eigne Perſon in das boͤſe
Spiel zu verwickeln.
Allein deſto ſorgfaͤltiger mußte ich auch
zu verhindern ſuchen, daß der Bube, der all
ſeine boͤſen Schliche ſich immer mehr ent-
decken ſah, nicht heimlich das Weite ſuchte.
Jch hatte ihn alſo bei Tag und Nacht, als
meinen Augapfel zu huͤten, und durfte ihn
gleichwohl mein Mißtrauen nicht merken
laſſen. Nichts deſto weniger mußte ſich’s
fuͤgen, daß, als ich, zwei Tage ſpaͤter, mit
ihm die Boͤrſe beſuchte, wo es, wie bekannt-
lich, immer ein dichtes Gewimmel giebt, er
mir unter den Haͤnden entſchluͤpfte. Die
Boͤrſenzeit gieng zu Ende: aber kein Stein-
kraus war zu ſehen! Meine ſchwache Hoff-
nung, daß er ſich an Bord begeben haben
koͤnnte, ſpornte mich, ihm dahin nach: aber
ſie ſchlug fehl, wie mir geahndet hatte. Er
war und blieb fuͤr mich verſchwunden!
War meine Lage vorhin ſchon kritiſch
geweſen, ſo ſchien ſie nunmehr durch dies
Entlaufen vollends rettungslos fuͤr mich zu
werden. Jch hatte meinen Aſſecuradeurs des
Schiffers Haverey-Rechnung nothwendig vor-
legen muͤſſen, bei welcher ſie, auch wenn Alles
in beſter Ordnung war, dennoch nur zu guten
Grund hatten, den Kopf zu ſchuͤtteln und
ſich zu beſinnen, ob ſie zur Zahlung einer ſo
enormen Summe verpflichtet waͤren. Jetzt
da Jener ſich unſichtbar gemacht hatte, wie-
ſen ſie jede Anforderung auf das beſtimm-
teſte zuruͤck, und verlangten, daß ich ihnen,
vor allen Dingen, den Schiffer, der die Ha-
verey gemacht haͤtte, zur Stelle ſchaffte,
damit er ſelbſt Rede und Antwort gaͤbe;
denn mit ihm, und nicht mit mir, haͤtten
ſie es zunaͤchſt zu thun. „Mein Gott!‟ ent-
gegnete ich — „Wenn er nun aber in’s
Waſſer gefallen und ertrunken waͤre?‟ —
„Das koͤnnte nur ein Kind glauben;‟ war
ihre hoͤhniſche Antwort — „und es ſchiene
nun nicht, daß ſie noͤthig haben wuͤrden, um
dieſer 8,000 Gulden willen den Beutel zu
ziehen.‟
Dagegen war nun dieſe Summe auf
das Schiff wirklich verbodmet, und die ge-
ſetzliche Zeit bereits verfloſſen. Der Bod-
merey-Geber verlangt ſein vorgeſchoſſenes
Geld, welches die Verſicherer mit hinlaͤngli-
chem Fug ſich zu zahlen weigerten. Jch be-
fand mich im entſetzlichſten Gedraͤnge: denn
was blieb mir uͤbrig, als den Verkauf mei-
nes Schiffes geſchehen zu laſſen, damit die
Bodmerey gedeckt werden koͤnne? — Es
ſchien unmoͤglich, daß noch irgend etwas mich
armen geſchlagenen Mann aus dieſem Ungluͤck
herausriſſe!
So ſaß ich nun eines Tages, im groͤßten
Herzenskummer, in einem Weinhauſe, wo vor
mir auf dem Tiſche ein hollaͤndiſches Zeitungs-
blatt lag. Jm truͤben Sinnen nahm ich es,
gleichſam unwillkuͤhrlich, zur Hand: aber ich
wußte ſelbſt nicht, was ich las, bis meine
Augen auf eine Anzeige fielen, des Jnhalts:
„Es ſey zu Schlinger-Want (ohngefehr eine
Meile von Amſterdam, jenſeits des Y) ein
ertrunkener Mann gefunden worden‟, deſſen
Kleidung und uͤbrige Kennzeichen zugleich naͤ-
her angegeben wurden. Der Prediger des
Orts, von welchem er dort begraben worden,
forderte hier die etwannigen Angehoͤrigen
dieſes Verungluͤckten auf, der Kirche die
wenigen verurſachten Begraͤbnißkoſten zu ent-
richten.
„Himmel!‟ dacht’ ich bei mir ſelbſt —
„Wenn dieſer Ertrunkene vielleicht dein Stein-
kraus ſeyn ſollte!‟ — Tag und Zeit und
manche von den angegebenen Merkmalen tra-
fen mit dieſer Vermuthung gut genug zu-
ſammen. Zwar konnt’ ich an ſeinem boͤſen
Willen, mir zu entlaufen, nicht zweifeln:
allein wie? wenn ihn nun ſein erwachtes
Gewiſſen zu einer raſchen That der Verzweif-
lung getrieben? oder wenn Gottes raͤchende
Hand ihn ſchnell ereilt — wenn er, in der
Haſt, ſich den Blicken aller Bekannten zu
entziehen, ſich unvorſichtiger Weiſe auf’s
Waſſer gewagt und ſich ſeinen Untergang
ſelbſt geholt haͤtte? — Jmmer ſchien mir
ſein Tod, unter dieſen Umſtaͤnden, ein Gluͤcks-
fall: und wie gerne glaubt man, was man
wuͤnſcht? — Es koſtete mir alſo auch wenig
Muͤhe, mich zu uͤberzeugen, daß hier von
Niemand anders, als von meinem entwiche-
nen Schiffer, die Rede ſey; und dieſes Glau-
bens bin ich auch noch bis zur heutigen
Stunde, da ich nie wieder in meinem gan-
zen Leben auch nur die entfernteſte Spur
ſeines Daſeyns aufgefunden habe.
Ließ ſich nun auf dieſe Art erweiſen,
daß der Mann, mit welchem meine Aſſecu-
radeurs einzig und allein ihren ſtreitigen Han-
del ausmachen konnten und auch wollten,
nicht mehr unter den Lebendigen war, ſo
mußten ſie auch ſeine Rechnungen annehmen,
wie ſie da lagen und ſtanden, oder den kla-
ren Beweis uͤber die Betruͤglichkeit derſelben
fuͤhren; was ihnen ſchwer, wo nicht unmoͤg-
lich, fallen durfte. Jch, als Rheeder hinge-
gegen, war nun befugt, mich buchſtaͤblich an
meine Police zu halten und auf volle Ent-
ſchaͤdigung zu dringen. Jn der Form war
dann das Recht auf meiner Seite: nur ob
auch dem Weſen nach — daruͤber hatt’ ich
bei mir ſelbſt einige Bedenklichkeiten, die ich
nicht ſofort loswerden konnte. Daß der
Steinkraus bei der Haverey mit Lug und
Trug umgegangen ſeyn muͤſſe, ſchien, wenn
auch nicht klar erweislich doch nur zu glaub-
lich. Meine eigene Hand und Gewiſſen war
gleichwohl rein und frei von jeder, auch nur
der entfernteſten Theilnahme an jeglichem,
hier ſtattgefundenen Unrecht. Hatt’ ich ſeiner
Ehrlichkeit nicht ſelbſt mein Gut und Vermoͤ-
gen — vielleicht nur zu treuherzig! — an-
vertraut? War ich nicht ſelbſt von ihm
ſchaͤndlich betrogen, hintergangen und uͤber-
vortheilt worden? Konnte ich ausmitteln,
wie groß oder klein der Betrug ſeyn moͤchte,
den er in Gothenburg geſpielt? Und wem
konnt’ und ſollt’ es dennoch zukommen, den
Schaden deſſelben zu tragen?
Es mag vielleicht Moraliſten geben, die
im Stande ſind, Haare zu ſpalten und Recht
und Unrecht auf der Goldwaage abzuwaͤgen.
Jch geſtehe, daß ich dies in meiner Einfalt
nicht vermag und auch damals nicht ver-
mochte; — ja, damals vielleicht noch weni-
ger, da Gluͤck und Fortkommen in der Welt
an meinem Entſchluſſe hiengen und mein
Gemuͤth ungeſtuͤm bewegt war. Doch wollt’
ich keinen Schritt in dieſer Sache thun, ohne
mich mit meinem wackern und verſtaͤndigen
Freunde, dem Schiffer Johann Henke, be-
rathen zu haben. Auch er ſchuͤttelte dabei
Anfangs den Kopf und aͤußerte mancherlei
Bedenken, bis ich ihm meine Gruͤnde und
meinen Glauben naͤher auseinanderſetzte, wo
er mir denn endlich beifiel und ſeinen treuen
Beiſtand verhieß. Das Urtheil eines ſo
rechtlichen Mannes war bei mir von entſchei-
dendem Gewichte.
Wir entſchloſſen uns demnach, ſofort in
meinem Boote nach Schlinger-Want hinuͤber
zu fahren und den Ortsprediger aufzuſuchen.
Jndem ich Dieſem nun das Zeitungsblatt,
welches ich fruͤher zu mir geſteckt hatte, vor-
zeigte, machte ich ihm meine Anzeige, daß
jener ertrunkene Mann, nach den angegebenen
und von mir noch naͤher beſtimmten Kenn-
zeichen, mein Schiffer geweſen, und wie ich
in der Abſicht kaͤme, ihm die aufgewandten
Begraͤbnißkoſten dankbarlich zu verguͤtigen.
Dieſe letzteren nun, welche 21 Gulden be-
trugen, wurden ſofort entrichtet und freund-
lich angenommen; wogegen ich eine Quitung,
in Form eines Todtenſcheins, erhielt, und
nunmehr getroſt meines Weges gieng.
Gleich am andern Tage nun wandte ich
mich auf der Boͤrſe an meinen Schiffs-Maͤkler,
Hrn. Schwartwant, durch deſſen Vermitte-
lung mein Geſchaͤft mit den Aſſecuradeurs
bisher war betrieben worden. „Nun ſehen
Sie, wie richtig meine Vermuthung einge-
troffen iſt,‟ ſagte ich, indem ich ihm meinen
Schein vorzeigte. — „Der Steinkraus hat
wirklich ſeinen Tod im Waſſer gefunden.
Seyn Sie nun von der Geneigtheit, den
Herren davon Eroͤffnung zu thun und anzu-
fragen, was ſie nunmehr in der Sache thun
oder laſſen wollen?‟ — Das ganze Geſicht
des Mannes nahm ſofort eine froͤhliche Miene
an. „Jch gratulire Jhnen, lieber Kapitain
Nettelbeck,‟ rief er mit einem Haͤndedruck. —
„So mißlich Jhr Spiel bisher ſtand, ſo
halt ich es doch von jetzt an gewonnen.‟
Nun gieng er ſtehenden Fußes, um die
beiden Herren Verſicherer im Boͤrſen-Gewuͤhl
aufzuſuchen, waͤhrend ich ihm von ferne
folgte. Bald auch ſtieß er auf Einen von
ihnen, dem er mein Document mittheilte, in-
dem er es mit einem angelegentlichem Vor-
trage begleitete. An der ganzen Phyſiogno-
mie und Gebehrdung des Andern nahm ich
wahr, wie ihn dieſe Nachricht uͤberraſchte,
aber auch, daß er wohl geneigt ſeyn moͤchte,
ge-
gelindere Saiten aufzuziehen. Dies beſtaͤtigte
mir der Maͤkler bei ſeiner Zuruͤckkunft, indem
er mir den Vorſchlag brachte, morgen auf
der alten Stadt-Herberge einer anzuſtellen-
den Conferenz beizuwohnen, wozu ich mir
dann einen Aſſiſtenten mitbringen moͤchte.
Zu dieſem Beiſtande konnt’ ich wohl
keinen erfahrnern und geachtetern Manne er-
kieſen, als meinen alten Patron, den Kapi-
tain Joachim Blank, mit welchem ich vor-
mals wiederholte Reiſen nach Surinam ge-
macht und der ſich hier jetzt zur Ruhe ge-
ſetzt hatte. Er fuͤgte ſich auch freundlich
meiner Bitte; und ſo erſchienen wir zur
beſtimmten Zeit am bemeldeten Orte; waͤh-
rend auch meine Gegenparten beiderſeits,
ſammt einem andern Schiffs-Kapitain und
einem Advokaten zugegen waren. Nach eini-
gem Hin- und Wiederreden und Streiten,
kam es denn auch endlich zu einem Vergleich,
deſſen Billigkeit wir ſammt und ſonders an-
erkannten und guthieſſen. Jch ließ nemlich
die Haͤlfte meiner Forderung nach und zeich-
nete 4,000 Gulden Bodmerey auf mein
Schiff; wogegen meine Herren Aſſecuradeurs
die andere Haͤlfte mit gleicher Summe an
die Bodmerey-Geber in Gothenburg abzu-
zahlen uͤber ſich nahmen.
So kam ich bei dieſem ſchlimmen Han-
del noch gluͤcklich genug mit einem blauen
1. Bändchen. (14)
Auge davon; behielt mein Schiff, als freies
Eigenthum, unter den Fuͤßen und konnte
damit fahren nach Luſt und Belieben, um
meine Scharte wieder auszuwetzen. Letzteres
beſchloß ich denn auch auf der Stelle, indem
ich mir vornahm, mit Ballaſt nach Noir-
moutiers abzugehen, dort eine Ladung Salz
fuͤr eigne Rechnung einzunehmen und hier-
naͤchſt in Koͤnigsberg loszuſchlagen. Zum
Ankauf jener Waare wollten mir meine Am-
ſterdammer, Correſpondenten, die ſchon ge-
nannten Herren Kock und van Goens, gegen
Bodmerey auf Schiff und Ladung, die Gelder
in Frankreich formiren.
Ehe ich jedoch zum Werk ſchreiten konnte,
hatte ich zuvor noch reine Rechnung mit
meinem Schiffsvolk zu machen, welches, auſſer
dem neuhinzugekommenen Steuermann und
einem Jungen, aus ſechs Matroſen beſtand.
Dies verwilderte Gezuͤcht hatte nicht minder
gottlos gelebt und hausgehalten, als der
nichtsnutzige Schiffer ſelbſt; und weil auch
er in keinen reinen Schuhen ſteckte, hatt’
er’s ihnen nicht abſchlagen duͤrfen, waͤhrend
der Reiſe Vorſchuß uͤber Vorſchuß an ſie zu
zahlen. Dabei waren auch hierinn ſeine Pa-
piere ſo confuſe, daß ich darnach den eigent-
lichen Betrag ihrer aufgenommenen Gelder
auf keine Weiſe ausmitteln konnte. Auf
jeden Fall aber waren ſie ſo betraͤchtlich, daß
ſie dieſelben in Jahren und Tagen nicht wie-
der abverdienen konnten.
Hier blieb mir nun nichts uͤbrig, als
bald den Einen bald den Andern, beſonders
vorzunehmen; ſie durch gute Worte treuherzig
und cordat zu machen, und dann wieder auch
durch unverſehene Zwiſchenfragen in die
Klemme zu nehmen; ſo daß ſtets Ein Spitz-
bube den Andern verrieth. Allein eben ſo
wenig, als ſie gegen mich reinen Mund ge-
halten, konnt’ es unter ihnen ſelbſt auf die
Laͤnge ein Geheimniß bleiben, wie ich es dar-
auf anlegte, ihnen hinter die Schliche zu
kommen. Sie hielten es demnach, nach einer
gemeinſchaftlichen Beredung, fuͤr das Gera-
thenſte, mir alleſammt auf Einmal zu entlau-
fen, und dieſen Vorſatz fuͤhrten ſie auch des
andern Tages richtig aus; doch nicht, ohne
daß ich es ſogleich erfahren und auch den Ort
am Lande entdeckt haͤtte, wo ſie ſich aufhielten.
Dieſer Nachricht zufolge verfuͤgte ich mich
augenblicklich mit den zu mir genommenen
Gerichtsdienern dahin, und traf auch gluͤcklich
das ganze Neſt beiſammen; wo ſie denn mit
Gewalt aufgehoben und an Bord meines
Schiffes begleitet wurden. Am beſten haͤtt’
ich freilich gethan, ſie laufen zu laſſen: allein
ſo wenig ſie auch uͤbrigens taugten, ſo waren
ſie doch erfahren und tuͤchtige Kerle zur Arbeit,
die hier in der Geſchwindigkeit nicht wohl
durch Andre zu erſetzen waren. Zudem hoffte
ich, daß wenn ich mich Jhrer nur bis zur
wirklichen Abfahrt verſichern koͤnnte, ich ſie
wohl wieder zu Zucht und Ordnung herum-
bringen wollte.
Mit dieſem Plane beſchaͤftigt, nahm ich
alſo einige Matroſen von den neben mir lie-
genden Schiffen fuͤr Tagelohn zu Huͤlfe, um
ſofort die Anker zu lichten und von Amſter-
dam nach der Bucht bei Dirkerdam abzuſe-
geln, die etwa eine Meile von dort entfernt
liegt. Hier warf ich auf’s neue Anker, ent-
ließ meine gemietheten Matroſen, und hoffte,
daß ich’s nunmehr den meinigen ſchwer genug
machen wollte, von Bord zu kommen, um
Jhretwegen auch in meiner Abweſenheit wohl
ſicher zu ſeyn. Denn ich konnt’ es nicht ver-
meiden, fuͤr meine Perſon des naͤchſten Tages
noch einmal nach dem verlaſſenen Hafen zu-
ruͤckzukehren, um, neben meiner Ausklarirung
noch eine Menge anderweitiger Geſchaͤfte zu
beſorgen und einen Lootſen mitzubringen.
Vor der Abfahrt nahm ich mit meinem
Steuermanne die noͤthige Abrede und uͤber-
gab ihm mein verdaͤchtiges Volk in beſondre
ſorgfaͤltige Aufſicht. Das Boot ließ ich auf’s
Deck ſetzen und anſchlieſſen, damit ſich deſſen
Niemand bedienen koͤnnte; und mein Stell-
vertreter ſollte nicht vom Deck weichen und
die Nacht kein Auge ſchlieſſen, um uͤberall
gleich bei der Hand zu ſeyn, bis ich mit
dem fruͤhen Morgen mich wieder an Bord
zeigen wuͤrde. Dann verſammlete ich die
Ausreiſſer und ſtellte ihnen Himmel und Hoͤlle
vor, und wie ſchaͤndlich ſie handeln wuͤrden,
Vater und Mutter und Freunde auf Nim-
merwiederſehen im Stiche, und ſich zu Hauſe
nie wieder duͤrfen blicken zu laſſen. Zugleich
verſicherte ich Jhnen, daß Meinerſeits alles
Vorgegangene vergeben und vergeſſen ſeyn
und ſelbſt ihre, vom vorigen Schiffer em-
pfangene Vorſchuͤſſe in den Schornſtein ge-
ſchrieben ſeyn ſollten. Das Alles ſchienen
ſie auch zu Herzen zu nehmen, und verſpra-
chen mir mit Hand und Mund eine gebuͤhr-
liche Auffuͤhrung.
Nunmehr rief ich eine vorbeifahrende
Schuyte an, die nach Amſterdam gieng, und
ließ mich von derſelben an Bord nehmen. Es
war Nachmittags um 3 Uhr, und des naͤch-
ſten Morgens um 8 Uhr befand ich mich, nach
beendigten Verrichtungen, bereits wieder auf
dem Ruͤckwege und im Angeſicht meines Schif-
fes. Es nahm mich ſofort Wunder, daß
ich kein Boot auf demſelben erblickte. Eben
ſo wenig ſah ich eine menſchliche Seele auf
dem Verdeck. Jch ſprang endlich ſelbſt hin-
auf; und mit ſteigender Beſtuͤrzung fand ich
die Thuͤre der Kajuͤte von auſſen mit einem
Brecheiſen geſperrt. Auf mein Rufen keine
Antwort! Nun riß ich die Thuͤre mit Ge-
walt auf; und da lag denn mein Steuer-
mann, mehr todt, als lebendig, auf dem
Boden laͤngs ausgeſtreckt!
Stoͤhnend erzaͤhlte mir Dieſer, was waͤh-
rend der Zeit meiner Abweſenheit vorgegan-
gen. Gleich nach meinem Abgang hatt’ er
an dem Zuſammenſtecken der Koͤpfe und dem
heimlichen Fluͤſtern unter den Leuten deutlich
wahrgenommen, daß ſie etwas im Schilde
fuͤhrten. Endlich waren ſie zu ihm heran-
getreten, um ihm zu erklaͤren, daß ſie mit
dem Boote an Land zu gehen verlangten;
wollt’ er ſich’s beikommen laſſen, bei den
Voruͤberfahrenden, durch Geſchrei um Huͤlfe,
Laͤrm zu machen, ſo gedaͤchten ſie, ihn uͤber
Bord zu werfen und wie einen Hund zu er-
ſaͤufen. Gleichwohl hatt’ er, mit Abmahnen,
Drohen und endlich mit lautem Rufen uͤber
zugefuͤgte Gewalt, gethan, was ſeine Pflicht
von ihm forderte; war aber auch augenblicklich
von den Boͤſewichten ergriffen, geknebelt, ge-
ſtoßen, geſchlagen und, mit verſtopftem Munde,
trotz allem Straͤuben in die Kajuͤte geſperrt
worden; worauf ſie ſich des Bootes bemaͤch-
tigt und ſich damit in alle Welt davon ge-
macht hatten.
Jn dieſer ganzen Zeit nun hatte der
arme zerſchlagene Mann vor Schmerz und
Ermattung ſich kaum zu regen vermocht;
und auch jetzt hielt er nur mit Muͤhe den
Kopf nach oben. Wie mir ſelbſt dabei zu
Muthe war, mag man ſich leichtlich vorſtel-
len. Das Schiff hier auf offner Rheede
vor Anker, und genoͤthigt, ſich mit jeder
Fluth und Ebbe um denſelben zu ſchwingen;
kein Volk an Bord; der Steuermann krank
und keines Gliedes maͤchtig; meines Bootes
beraubt und das Schiff von den Fluͤchtlin-
gen, nebſt ihren eigenen Sachen, von ver-
ſchiedenem kleineren Geraͤth, ja ſogar von
Keſſel und Pfannen, rein ausgepluͤndert! Es
gehoͤrte eine ſtandhafte Faſſung dazu, ſich ſo-
gleich in dies neue Ungluͤck zu finden!
Was war gleichwohl zu thun? Jch mußte
mich entſchlieſſen, das Schiff unter der un-
zulaͤnglichen Aufſicht eines einzigen kranken
Mannes zu laſſen, und ſowohl ihm ſelbſt
aͤrztliche Huͤlfe, als mir eine neue Mann-
ſchaft zu verſchaffen. Alſo gieng mein Weg
zur Stelle nochmals nach Amſterdam, wo ich
andre ſechs Matroſen und einen Jungen,
wie ſie mir zuerſt in den Wurf kamen, heu-
erte, dann einen Lootſen nahm uad einen
Wundarzt aufkriegte, der mir den Steuer-
mann verbinden und bepflaſtern und den Aus-
ſpruch thun ſollte, ob Dieſer die Reiſe, ohne
Lebensgefahr, werde mitmachen koͤnnen? Nach-
dem ihm jedoch der Doctor die Glieder
etwas zurechtgeſetzt und ihn mit Medica-
menten reichlich verſehen hatte, war derſelbe
der Meinung, es ſolle weiter keine Gefahr
haben, wenn er ſich nur ſchonen wolle; und
und ſo nahm Jener ſeinen Abzug.
Jch machte mich darauf mit meinem
neuen Schiffsvolk an die Ankerwinde, um
unter Segel zu gehen. Da ſah ich denn
nun klaͤrlich, was fuͤr ſchlechten Kauf ich ge-
macht hatte. Nur zwei darunter waren be-
fahrne Matroſen; waͤhrend die Uebrigen
kaum wußten, was auf dem Schiffe hinten
oder vorne war. Warlich, mir graute in-
nerlich, die Reiſe anzutreten. Mein beſtes
Vertrauen mußte ich in mich ſelbſt und in
die guͤnſtige Jahrszeit ſetzen: denn es war
jetzt zu Anfang Mai’s, da ich aus dem Texel
lief. Jn der Mitte des Monats kam ich
vor Noirmoutiers gluͤcklich vor Anker.
Hier fand ich drei Schiffe vor, deren
Kapitaine ſaͤmmtlich zu meinen guten Freunden
und Bekannten gehoͤrten; nemlich Neſte, mit
einem Dreimaſter aus Danzig, und Fries
und Jantzen, Beide Koͤnigsberger. Alsbald
auch kamen ſie ſaͤmmtlich zu mir an Bord:
allein ſo willkommen ſie mir ſelbſt waren, ſo
unerwuͤnſcht war mir die mitgebrachte Zei-
tung, daß ſchon ſie drei Fruͤhergekommene
hier ihre Ladung an Salz nicht voͤllig aufzu-
bringen vermoͤchten, und gleichwohl das Muid
mit 85 Livres aufwiegen ſollten. Nach laͤn-
gerer Berathſchlagung fanden wir es fuͤr
das dienlichſte, uns nach den naͤchſtgelegenen
Salzhaͤfen Croiſic, Bernif und Olonne zu
vertheilen, um anderswo, wenn moͤglich,
beſſern Markt zu finden; wobei das Loos
entſcheiden ſollte, wer hier zu bleiben, und
wohin ein Jeder in ſeinem Boote, zu gehen
und vorlaͤufig ſeinen Handel fuͤr Alle abzu-
ſchlieſſen haͤtte; Letzteres jedoch nur muͤndlich,
damit Jeder Gelegenheit behielte, an dem
wohlfeilſten Preiſe Theil zu nehmen.
Als nun die Looſe gezogen wurden, traf
mich die Fahrt nach Croiſic, welche nicht nur die
weiteſte, (da die Entfernung von Noirmou-
tiers 10 bis 12 Meilen betraͤgt) ſondern
auch die gefaͤhrlichſte war: denn ſie geht
durch den offnen Ocean, ohne durch Vorge-
buͤrge oder Jnſeln geſchuͤtzt zu ſeyn. Mein
im Texel neu angeſchafftes Boot ſtand
auf Deck und ward nun ſofort uͤber Bord ge-
ſetzt: allein ſo wie es das Waſſer beruͤhrte,
drang dieſes auch zu allen, durch die lang
ausgeſtandene Hitze aufgetrockneten Naͤthen
hinein. Es ſchien unmoͤglich, mich in dieſem
Zuſtande hinein zu wagen! Aber ſchon ſah
ich meine Freunde Neſte und Fries in ihren
Fahrzeugen abſtoßen, um ſich auf ihre, ihnen
zugefallenen Poſten zu begeben. Jch zitterte
vor Ehrbegierde, ihnen in Puͤnktlichkeit nicht
nachzuſtehen!
Nun hatt’ ich, auſſer jenem Boote, noch
eine kleine fichtene, ſogenannte Berger Joͤlle.
Flugs ſah ich ſie mir drauf an, ob ſie mich,
in dieſem Fall der Noth, nicht ebenſowohl
nach Croiſic ſollte tragen koͤnnen? — Wozu
laͤngeres Bedenken? Es mußte gewagt ſeyn!
— Jch ließ Maſt und Segel auf derſelben
einrichten, und beſtieg ſie mit zwei Mann.
Um mir jedoch nicht offenbar ein Tollmanns-
ſtuͤckchen zu Schulden kommen zu laſſen,
wollt’ ich es zuvor auf eine kleine Probe
anlegen; ſegelte vom Schiffe abwaͤrts, legte
bei, machte dieſe und jene Wendungen, und
beſtaͤrkte mich ſolchergeſtalt in meiner Zu-
verſicht, daß ich nichts Unmoͤgliches wagte.
Eiligſt verſah ich mich nun noch an Bord
mit einem durchgeſchnittenen halben Oxhoft,
welches ich zum ſichern Reiſebehaͤlter fuͤr
einen Kompaß, Brodt, Fleiſch, einige Flaſchen
Wein und Brandtwein und andre kleine Be-
duͤrfniſſe beſtimmte. Noch nahm ich ein
Bootsanker, ein Tau und drei Regenroͤcke fuͤr
uns ein; und ſo verſehen, trieb ich meine
beiden Gefaͤhrten zum Einſteigen; rief ein
herzhaftes: „Nun, mit Gott!‟ — und ſtieß
ab. — Zwar ward mir’s, ehe wir noch
funfzig Klaftern geſeegelt waren, hell und
klar, daß ich meine Joͤlle mit all den Sie-
benſachen zur Ungebuͤhrniß uͤberladen, und
daß ich den duͤmmſten Streich in meinem
ganzen Leben begangen hatte, drei Menſchen-
leben in die augenſcheinliche Gefahr des
Verderbens zu ſetzen: aber ſollt’ ich mir die
Schande anthun, noch einmal umzukehren? —
Lieber waͤr’ ich dem Tode in den offnen
Rachen geſegelt!
Bis ich um die kleine Jnſel Piquonnier
herumkam, gieng auch Alles gut. Hier aber
rollte mir die ſpanniſche See, von der Seite
her, in langen und hohen Wogen maͤchtig
entgegen! der ſteife Wind ſtand von dort
her gerade auf’s Land, und es ſahe ganz dar-
nach aus, daß wir hier mit Gemaͤchlichkeit
erſaufen koͤnnten. Gleichwohl haͤtte man Alles
von mir fordern koͤnnen; nur nicht, daß ich
hier noch umſatteln ſollte. „Du willſt der
Gefahr Stand halten!‟ ſagt’ ich zu mir
ſelbſt, und faßte mein Steuer nur noch feſter
in die Fauſt.
Nach 4 oder 5 Stunden begann indeß
der Einbruch der Nacht; und mit der Dun-
kelheit ſchien auch der Wind mehr Staͤrke zu
gewinnen. Keiner von uns ſprach ein Wort:
aber meine Matroſen draͤngten ſich immer
naͤher an mich, der ich am Ruder ſaß und
die Schote des Segels zugleich in der Hand
gefaßt hielt. Allmahlig fingen die beiden
rohen Kerle, ergriffen vom Gefuͤhl ihrer Lage
bitterlich an zu weinen. Jhre Todesangſt
ließ mich nicht ohne Mitgefuͤhl: denn wie
konnt’ ich die Schuld von mir abwaͤlzen,
ihnen, ſammt mir, durch meinen unzeitigen
Ehrgeiz dies naſſe Grab gegraben zu haben?
— Jch ſagte ihnen zu ihrer Beruhigung, ich
wolle vom Winde abhalten und, da wir an
der Muͤndung der Loire ſchon voruͤber waͤren,
in die ich uns ſonſt gefluͤchtet haben wuͤrde,
geradezu auf das Land ſteuern. Dort wuͤrde
es freilich eine hohe Brandung geben; daher
ſie, ſobald wir in dieſe hineingeriethen, ſo-
gleich zu beiden Seiten der Joͤlle in’s Waſſer
ſpringen, ſich an ihren Bord haͤngen und,
ſobald ſie Grund unter den Fuͤßen fuͤhlten,
daß Fahrzeug mit der Spitze ſcharf gegen
den Strand halten muͤßten, damit es nicht
in die Queere unter die See kaͤme. Wenn
dann die letzten Sturzwellen vom Ufer zu-
ruͤckrollten und den Boden trocken laſſen
wollten, haͤtten ſie ſich mit aller Macht ent-
gegenzuſtemmen, damit nicht auch das leichte
Boot mit zuruͤckgeſpuͤlt wuͤrde. Alles das
und noch Mehreres band ich ihnen feſt auf
die Seele; und ſie gelobten auch, es treu zu
beobachten. Es kam aber anders.
Um ihnen nun Wort zu halten, ſteuerte
ich gerade auf die Kuͤſte. Die Joͤlle ſchoß,
wie ein Pfeil, durch die Wogen, und nach
einer guten halben Stunde drang uns auch
ſchon das ſchreckliche Gebruͤll der Brandung
in die Ohren. Nun ſahen wir angeſtrengt
vor uns hin nach dem weiſſen Schaume der-
ſelben: allein die Nacht ward ſo finſter und
unſer Fahrzeug flog ſo ſchnellen Laufs, daß
wir uns ploͤtzlich mitten darinn befanden.
Ehe wir uns auch nur beſinnen konnten, er-
blickten wir kurz hinter uns den beſchaͤumten
Kamm einer Woge, die ſich bis zur Hoͤhe unſers
Maſtes aufbaͤumte, dann brauſend uͤber uns
niederſchoß und uns zu unterſt zu oberſt in
ihren Abgrund mit ſich fortriß.
Nun trat die See fuͤr ein paar Augen-
blicke zuruͤck; ich bekam den Kopf in die Hoͤhe
und meine Fuͤße ſpuͤrten Grund. Ehe die naͤchſte
brandende Welle wiederkehrte, hatt’ ich meine
Sinne gluͤcklich geſammlet; ich hielt Stand,
und da ſie mir diesmal nur bis unter die
Arme reichte, ſo eilte ich guter Dinge dem
Strande zu, wo ich mich in weniger, als
einer Minute, in voller Sicherheit befand.
Meine beiden Gefaͤhrten hatten eben ſo gutes
Gluͤck. Wir fanden uns bald wieder zuſam-
men; nur unſre Joͤlle war wieder mit in die
See geriſſen worden, bis ſie endlich mit dem
Kiel nach oben, dennoch an Land trieb. Aber
Alles, was drinne geweſen war, gieng uns
verloren, ohne daß wir in der Dunkelheit
etwas davon aufzufiſchen vermochten. Wir
mußten uns alſo begnuͤgen, unſer Fahrzeug
am Strande ſo hoch hinauf zu ziehen, daß
es geſichert war, von den Wellen nicht mehr
erreicht zu werden.
Hierauf giengen wir landeinwaͤrts, um
zu Menſchen zu kommen; ſahen auch aus der
Ferne ein Licht ſchimmern, auf welches wir
freudig zutrabten und wo wir dann bei einem
Bauer uͤbernachteten und uns trockneten.
Allein Morgens begaben wir uns, ſammt
unſerm Wirthe, nochmals zum Strande zu-
ruͤck, um nach unſerer Joͤlle und dem ver-
lornen Gepaͤck zu ſehen. Jene fanden wir
noch auf ihrer alten Stelle; nur aber auf
Dieſes mußten wir, zu unſerm Verdruſſe,
voͤllig verzichten. Zwar auch mit unſerm
Fahrzeuge geriethen wir in Verlegenheit, da
die See noch nicht wieder fahrbar geworden;
bis unſer Bauer, dem ich mich durch Einen
meiner Matroſen verſtaͤndlich machen konnte,
uns aus der Verlegenheit half. Wir
hatten bereits erfahren, daß wir uns hier
anderthalb Meilen von Pollien (ebenfalls ein
Salzhafen, wie das, noch zwei Meilen weiter
entfernte Croiſic) befaͤnden; und dahin erbot
er ſich, gegen gute Bezahlung, unſer Puppen-
Fahrzeug uͤber Land zu transportiren, indem
es zwiſchen zwei von ſeinen Eſeln hienge.
Wirklich auch hielten er und ſeine Eſel
redlich Wort! Jn dem luſtigſten und nie
geſehenen Aufzuge zogen wir zu Pollien
ein, und die ganze Stadt lief uͤber dem ſelt-
ſamen Schauſpiel zuſammen. Meine erſte
Erkundigung war ſofort nach dem angeſe-
henſten Salzhaͤndler des Orts. Man nannte
mir einen Kaufmann, Namen Charault, und
waͤhrend ich zu ihm hineingieng, ward die
Joͤlle vor ſeiner Thuͤre niedergelaſſen. Meine
Aufnahme war freundlich; auch brachte ich
ſogleich eine Unterhandlung wegen des ge-
ſuchten Salzes in Gang, wobei es zu dem
Ausſchlage kam, daß ich volle Ladung fuͤr
alle vier Schiffe, das Muid zu 54 Livres
accordirte; und zwar dortigen Gemaͤaͤſſes,
welches noch um 5 Procent groͤßer iſt, als
auf Noirmoutiers. Jch durfte mir alſo
ſchmeicheln, einen vortheilhaften Handel ab-
geſchloſſen zu haben.
Nun gieng meine naͤchſte Sorge dahin,
mein Boot wieder zuzutakeln und meine Ruͤck-
fahrt damit anzutreten. „Wie? Jn der
Nußſchaale?‟ fragte Herr Charault, indem
er es von allen Seiten verwundert anſah. —
„Laſſen Sie das Dingelchen hier in Gottes
Namen ſtehen, bis Sie mit Jhrem Schiffe
kommen, es abzuholen. Jch gebe Jhnen meine
Barke, die Sie mir dann ja wieder mitbrin-
gen koͤnnen.‟ — Der Vorſchlag war aller
Ehren werth: allein dann waͤre ich dem
Manne feſter verbunden geweſen, als ich
wuͤnſchte, falls meine Freunde anderwaͤrts
vielleicht noch beſſer gemarktet haben ſollten.
Alſo ſchlug ich dieſe Guͤte dankbar aus, und
ſetzte mich, zwei Tage ſpaͤter, mit meinen
Leuten guten Muthes wieder in die Nuß-
ſchaale, wie er’s genannt hatte. Dadurch
gab ich nun zwar den Muͤſſiggaͤngern im
Orte ein neues Schauſpiel, indem ſie ſich
zu Hunderten auf den Sundduͤnen ſammle-
ten, um uns abfahren zu ſehen: allein das
Wetter war ſchoͤn, der Wind guͤnſtig, und Noir-
moutiers, nach einer ruhigen Fahrt von 12
bis 14 Stunden, gluͤcklich wieder erreicht.
Hier waren die beiden andern Abgeſchick-
ten ſchon vor mir angelangt; und Alles hatte
uns ſogut als verloren gegeben. Daher
miſchten ſich in ihren herzlichen Willkommen
zugleich auch heftige Vorwuͤrfe uͤber meine
Tollkuͤhnheit, die ſie ſehr richtig dem wahren
Grunde zuſchrieben, und worauf ich freilich
nur wenig zu erwiedern hatte, da ich voll-
kommen fuͤhlte, wie ſehr verdient ſie waren.
Bei alledem hatt’ ich doch, wie ſich’s nun-
mehr ergab, das vortheilhafteſte Geſchaͤft ge-
macht; nur waren die beiden Koͤnigsberger
da ſie auf mich nicht mehr rechneten, kurz
zuvor in Noirmoutiers eine neue Verbind-
lichkeit eingegangen, wodurch ſie dort zuruͤck-
gehalten wurden, wiewohl ſie das Muid mit
80 Livres zu bezahlen genoͤthigt waren. Und
doch ſchlug dieſe Trennung wiederum zum
Gluͤcke fuͤr mich aus: denn als ich nun mit
Ka-
Kapitain Neſte in Pottien anlangte, konnte
Herr Charault kaum uns Beide befriedigen.
Jch zwar, als der Erſte, ward ſchnell genug
befrachtet; dagegen aber mußte Jener noch
die naͤchſte Springfluth und die darauf fol-
gende Salz-Erzeugniß abwarten, um ſeine
volle Ladung zu bekommen.
Unterm 12. Junius ſchrieb ich nunmehr
an meine Correſpondenten, die Herren Kock
und van Goens in Amſterdam, daß ich heute
mit der Ladung meines Schiffes begaͤnne und
ihnen auftruͤge, die Aſſecuranz auf daſſelbe
zu 8000 hollaͤndiſchen Gulden, fuͤr die Salz-
Ladung aber mit 2,000 Gulden, von hier
auf Koͤnigsberg zu beſorgen. Sechs Tage
ſpaͤter wiederholte ich dieſe nemliche Ordre,
mit dem Beifuͤgen, daß ich bereits ſegelfertig
laͤge und nur auf einen guͤnſtigen Wind war-
tete. Zum Ueberfluß aber ließ ich auch noch am
22. Jun. ein drittes Aviſo abgehen, worinn
ich mich auf meine fruͤhern Schreiben bezog
und die geſchehene Verſicherung von Schiff
und Waare, als beſorgt, vorausſetzte, oder
auch neuerdings dringend aufgab; indem ich
in dieſem Augenblick bereits in See ſey, und
bloß zu mehrerer Sicherheit noch an mein
Verlangen erinnern wolle.
Jndeß uͤberfiel mich bereits am 24. Jun.
ein ſo harter Sturm, daß ich nur vor einem
kleinen Sturmſegel unterm Winde liegen konnte.
1. Bändchen. (15)
Eine beſonders ſchwere Sturzwelle, die ſich uͤber
meinem Hintertheil brach, zertruͤmmerte mein
Stenerruder, 8 Fuß uͤber dem untern Ende,
in der Mitte durch; ſo daß, von dieſem Augen-
blick an, alles Steuern damit ein Ende hatte und
auch in offner See an kein Ausbeſſern deſ-
ſelben zu denken war. Um gleichwohl das
Schiff, nach Moͤglichkeit, bei einem regel-
maͤßigen Gange zu erhalten, ſuchte ich es
mit den Vorder- und Hinterſegeln zu zwingen.
Jndem aber der Wind geradezu auf’s Land
ſtand, ward meine Lage dadurch noch weſent-
lich verſchlimmert: denn nun war ich genoͤ-
thigt, Segel uͤber Segel aufzuſetzen, um nur
das Schiff hart an den Wind zu halten und
vom Leger-Strande ferne zu bleiben. Dem-
ungeachtet liefen wir, des Schiffes nur un-
vollkommen maͤchtig, bald in den Wind, bald
wieder fielen wir vor den Wind; und da
wir eine ſolche Menge Segel machen mußten,
ſo bekamen auch Stengen und Maſten ſchier
uͤber ihre Kraͤfte zu tragen.
Wirklich geſchah auch gar bald, was ich
gefuͤrchtet hatte: denn mit einer ſchweren
Buy, (Stoßwinde) die ſich ploͤtzlich erhob,
brach der große Maſt, 8 oder 10 Fuß uͤberm
Deck, gleich einer Ruͤbe, entzwei und ſtuͤrzte,
ſammt der ganzen Takelage, uͤber Bord; und
nicht nur das allein, ſondern dies ganze Ge-
wirre von Rundhoͤlzern — Maſt, Stengen
und Raaen — ſtießen nun auch unaufhoͤrlich
und mit ſolcher Macht gegen die Seiten des
Schiffs, daß wir uns auf dem Verdeck kaum
ſtehend erhalten konnten und jeden Augen-
blick erwarten mußten, Planken und Fuͤtte-
rung zertruͤmmert zu ſehen. Nichts blieb
uͤbrig in dieſer Noth, als ſchnell alles Tau-
werk, das mit dem geſtuͤrzten Maſt noch zu-
ſammenhieng, zu kappen, um ſolchergeſtalt
davon loszukommen.
Eigentlich aber hub unſre wahre Noth
jetzt erſt an, da unſer ſchwer beladenes Schiff,
gleich einem Klotz auf dem Waſſer trieb; ein
Spiel der Wellen, die ſich unaufhoͤrlich druͤ-
ber hin brachen und uns uͤberſpuͤlten. Selbſt
die Kajuͤte ſchwann beſtaͤndig voll Waſſer;
unſre Lebensmittel wurden naß, und unſre
Ladung hatte kaum ein beſſeres Schickſal zu
gewarten, da wir das eindringende Waſſer
mit beiden Pumpen kaum zu uͤberwaͤltigen
vermochten. Ueber dies Alles trieben wir
augenſcheinlich immer naͤher dem Lande zu,
indem wir Nachts um 11 Uhr bereits in
einer Tiefe von 40 Faden Grund fanden.
Ungeſaͤumt ward jedoch der Anker ausgewor-
fen, und ich ließ das Ankertau 100 bis 110
Faden nachſchieſſen. Nun lag das Schiff
bequem gegen die hohe See, wie eine Ente, die
auf ihrem Teiche ſchwimmt; und der Sturm
ward gluͤcklich ausgehalten.
Des andern Tages, ſobald das Wetter
ſich abgeſtillt hatte, hoben wir unſer Bog-
ſpriet aus; befeſtigten es, ſo gut es gehen
wollte, an dem Stumpf des abgebrochenen
Maſtes; takelten dieſen Nothmaſt nach Moͤg-
lichkeit zu, und zogen daran ein paar Se-
gel auf, die wir noch in Vorrath beſaßen.
Der Wind hatte ſich gedreht und blies aus
Oſtſuͤdoſt, laͤngs dem Lande hin; ſo daß wir
hoffen durften, uns von demſelben zu entfer-
nen. Um aber auch das ermangelnde Steuer-
ruder durch irgend etwas zu erſetzen, ließ
ich ein Ankertau, vom Hintertheil hinaus,
etwa 20 Klafter lang an einem großen Klotze
treiben; und indem von vorne gleichfalls an
jeder Seite ein Tau mit dieſem Klotze zu-
ſammenhieng, ließ ſich das Schiff daran zur
Nothdurft links oder rechts umholen; obwohl
freilich nicht daran zu denken war, mittelſt
eines ſo unzulaͤnglichen Behelfs einen ordent-
lichen Kurs zu halten. Vielmehr trieben
wir, bei anhaltendem Oſtwinde, auf Gottes
Gnade, immer weiter in die ſpaniſche See
und auf das atlantiſche Meer hinaus, und
erkannten es fuͤr unſer groͤßtes Gluͤck, daß
wir noch ein dichtes Schiff behalten hatten.
Jn der That kann man ſich unſre Lage
nicht mißlich genug denken. Leben und Seele
war gleichſam aus unſerm Schiffe gewichen.
Jeder Veraͤnderung des Windes preißgege-
ben, trieben wir hiehin und dorthin, auf dem
unermeſſenen Raume des großen Oceans.
An eine Berechnung von unſerm Kurs und
Diſtanzen war gar nicht mehr zu denken.
Zwar gaben mir meine Beobachtungen an
Sonne und Sternen zu Zeiten die Breiten-
Grade an, unter welchen wir uns befanden:
allein uͤber unſre Laͤnge war auch nicht ein-
mal eine ohngefaͤhre Schaͤtzung anzuſtellen,
noch weniger richtige Rechnung zu fuͤhren.
Es war aber ſicher genug, daß wir uns
in weiter Entfernung von allen europaͤiſchen
Kuͤſten befinden mußten, da die Winde meiſt
oͤſtlich und ſuͤdlich waren. Auch erblickten
wir waͤhrend dieſes rathloſen Umhertreibens
nur Zweimal ein fremdes Segel; zuerſt ein
engliſches und demnaͤchſt ein ſchwediſches
Schiff, welche zwar Beide uns beizukommen
ſuchten, aber durch das ſchlechte Wetter daran
verhindert wurden. Sie gereichten uns alſo
zu keiner Huͤlfe, ſondern mußten ſich begnuͤ-
gen uns durch das Sprachrohr zu beklagen
und beſſeres Gluͤck zu wuͤnſchen. Doch ge-
waͤhrte uns dies Zuſammentreffen den Troſt,
daß ſie uns ihre beobachtete Laͤnge mittheil-
ten; ſo daß wir uns doch einigermaaſſen be-
lehrten, auf welchem Punkte des Erdballs
wir uns befaͤnden.
Schon hatten wir, auf dieſe Weiſe, ſechs
Wochen lang, eben ſo nutz- als huͤlflos, auf
dem Weltmeer umher gekreuzt, als uns,
unter der am 2. Auguſt beobachteten noͤrd-
lichen Breite von 58 Grad 33 Minuten,
(So hoch hinauf nach Norden waren wir
verſchlagen!) ein gewaltiger Sturm aus Suͤd-
weſten ereilte. Am 6. Aug. ſprang der Wind
nach Weſten um, und das Wetter ward ſo
furchtbar, als ich es je erlebt habe. Alle unſre
andre Noth und Gefahr aber ward noch
durch die Beſorgniß vermehrt, daß wir bei
Nacht gegen die Lewis-Jnſeln und die dort
zahlreich umherliegenden Klippen geworfen
werden koͤnnten. Dieſe Furcht ſchwand erſt
dann, als wir uns am 9. Aug. mitten zwi-
ſchen den orkadiſchen Jnſeln und im Ange-
ſicht von Fairhill erblickten. Da auch zu-
gleich der Wind nach Nordweſten gieng und
kraͤftig zu blaſen fortfuhr; ſo wuchs uns der
Muth, daß wir unſer Schiff nach Oſtſuͤdoſt
zu treiben zwangen, um die norwegiſche
Kuͤſte zu erreichen und dort Huͤlfe zu finden.
Am 13. trat uns dieſe gewuͤnſchte Kuͤſte
auch wirklich in’s Geſicht; und am folgen-
den Tage Abends kamen wir ihr ſo nahe, daß
wir deutlich die zahlloſen, theils emporra-
genden, theils blinden Klippen vor uns er-
kannten, an welchen die tobende See hoch
in die Luͤfte zerſchaͤumte. Dieſer Anblick
ſchlug unſre Freudigkeit um ein Großes nie-
der; ja dieſe verwandelte ſich gar bald in
eine peinliche Todesangſt, da wir die Un-
moͤglichkeit fuͤhlten, unſer unlenkſames Schiff
davon abzuſteuern. Mußt’ es nicht uns doppelt
ſchmerzlich ſeyn, nach ſo langer ausgeſtande-
ner Noth uns hier, wo wir unſre Rettung
geſucht und gehofft, von einem unvermeid-
lichem Untergange bedroht zu ſehen?
Doch nicht Untergang, ſondern Rettung
hatte der guͤtige Himmel diesmal uͤber uns
beſchloſſen! Mitten zwiſchen den grauſigen
ſteilen Klippenwaͤnden trieb unſer Schiff,
wie von unſichtbaren Haͤnden gelenkt, hin-
durch in eine Bucht, wo ich Ankergrund und
ſtilles Waſſer fand. Es war Abends um
9 Uhr, als ich hier den Anker fallen ließ,
und nun erſt mit voller Beſinnung an die
ſchreckliche Vergangenheit zu denken vermochte,
der wir, in einem Fahrzeuge ohne Maſt und
Ruder, auf einem unermeßlichen Jrrwege,
unter Hunger, Durſt, allem nur erdenklichen
Drangſal und ſtetem Todeskampfe, nach ſieben
ewiglangen Wochen, endlich gluͤcklich entronnen
waren.
Unſer Nothhafen hieß Bommel-Sund,
wie wir noch in der naͤmlichen Nacht von
einigen Leuten erfuhren, die vom Land zu
uns an Bord kamen und mir behuͤlflich wa-
ren, das Schiff noch tiefer in die Scheeren
hinein in Sicherheit zu bringen. Am Mor-
gen fuhr ich ſelbſt an Land, um mir Huͤlfe
zu ſuchen: denn es fehlte mir geradezu an
Allem, um weiter aus der Stelle zu kom-
men. Allein Maſt, Ruder und Takel-
werk, wie ich’s brauchte, war in dieſer gan-
zen Gegend nicht zu erlangen; und ſo mußt’
es mir genuͤgen, daß ich hier Fahrzeuge und
Leute annahm, die mich, zwiſchen den Klippen
entlang, taͤglich eine kleine Strecke weiter
bogſirten. So gelangte ich kuͤmmerlich am
19. Aug. in den Hafen von Fahreſund.
Hier wandte ich mich unverzuͤglich an
das Handelshaus Lund et Comp., welches
auch nicht ermangelte, mir ſchnellen und thaͤ-
tigen Beiſtand zu leiſten, damit ich mein
Schiff wieder in gehoͤrigen Stand ſetzte. Um
nichts zu verſaͤumen, ließ ich vor allen Din-
gen mein Schiffsvolk eine gerichtliche Erklaͤ-
rung uͤber unſre erlittenen Ungluͤcksfaͤlle waͤh-
rend dieſer Reiſe ablegen; verſah mich mit
allen uͤbrigen erforderlichen Zeugniſſen, und
uͤberſandte dies Alles an meine Correſpon-
denten nach Amſterdam, mit dem Auftrage,
mir, in ungezweifelter Vorausſetzung der von
ihnen bewirkten Verſicherung meines Schiffs,
auf den Grund derſelben einen Credit-Brief
von einer Summe, wie ich ſie etwa zur Aus-
beſſerung meines Schiffs erforderlich glaubte,
zu uͤbermachen.
Demnaͤchſt gieng ich nun mit Eifer an
dies Werk ſelbſt, wo es denn allerdings
mehr zu ſchaffen und auszuflicken gab, als
ich ſelbſt vermuthet hatte. Bei dem Ausladen
des Schiffes, welches vorangehen mußte,
fand ſich’s, daß zehn bis zwoͤlf Laſten Salz
verſchmolzen waren. Jch ließ nun den Boden
kielholen, ein neues Steuerruder einhaͤngen,
einen neuen Maſt aufrichten; beſorgte alle
fehlenden Rundhoͤlzer, Segel und Takelwerk;
erſetzte, was gebrochen, verfault oder ſonſt
verdorben war, und ſetzte mich ſo allmaͤhlig
wieder in Stand, die offne See zu halten.
Freilich war dies Alles nicht moͤglich ohne
den bedeutenden Aufwand von 4,400 Thalern
Daͤniſch Courant, und ich konnte mich, um mich
meines Schadens zu erholen, nur an die, auf
mein Schiff gezeichnete Aſſecuranz halten.
Soweit war ich, als ich von den mehr-
benannten Herren Kock und van Goens ein
Schreiben empfing, worinn ſie mir empfah-
len, mich in meinen Ausgaben moͤglichſt zu
menagiren, indem es ihnen nicht moͤglich ge-
weſen waͤre, fuͤr mein Schiff und Ladung
eine Verſicherung zu bewirken. — Als haͤtte
der Donner vor meinen Fuͤßen eingeſchlagen,
ſo uͤberraſchte und erſchuͤtterte mich dieſer
trockne Bericht! Zugleich aber giengen mir
auch ploͤtzlich die Augen auf uͤber das Schelm-
ſtuͤck, das man mir geſpielt hatte. Wie?
Auf drei, nach einander folgende Aviſos, in
der ſicherſten Jahrszeit und auf einem Platze,
wie Amſterdam, ſollte fuͤr keine Praͤmie, hoch
oder niedrig, eine maͤßige Aſſekuranz zu be-
ſchaffen geweſen ſeyn? Oder wenn in Holland
kein Menſch ſein Geld an eine ſo geringe
Gefahr haͤtte ſetzen wollen, ſtand dann meinen
Beauftragten nicht Hamburg, Copenhagen,
oder London, oder jeder andre Handelsort
frei und offen? — Allein es war klar, (und
in dieſem Urtheil hatt’ ich alle Sachverſtaͤn-
digen auf meiner Seite) daß die feinen Her-
ren es fuͤr zutraͤglicher gehalten hatten, die
Aſſekuranz gar nicht auszubieten, ſondern es
immerhin im Vertrauen auf meine Tuͤchtig-
keit und die anderweitigen guͤnſtigen Umſtaͤnde
zu wagen. Lief die Fahrt gluͤcklich ab, wie
zu hoffen war, ſo wuͤrden ſie nicht vergeſſen
haben, mir die Aſſekuranz-Praͤmie gehoͤrig
anzurechnen: nun aber, da ich Havarey hatte,
entſchuldigten ſie ſich als Schurken; wie es
auch die Folge ſattſam erwieſen hat.
Was war nun zu thun? — Jch ſaß
in der Klemme, und mußte abermals auf
Schiff und Ladung Bodmerey zeichnen. Jn-
deß erhielt es mich noch einigermaaſſen bei
gutem Muthe, daß ich der gewiſſen Hoff-
nung lebte, das ſaubre Paar ſeiner Schelme-
rei zu uͤberweiſen, und ſo wieder zu dem
Meinigen zu gelangen. Jch gieng alſo wie-
der in See und langte bald darauf gluͤcklich
in Koͤnigsberg an. Kaum aber hatt’ ich
meine Ladung Salz dort geloͤſcht, ſo trat
auch der Bodmerey-Geber auf und forderte
ſein, auf das Schiff vorgeſtrecktes Geld zu-
ruͤck, welches ſich, mit allen Nebenausgaben
auf die Summe von 7,000 Thalern belief.
Da ich nun auch noch in einigen andern
Schulden ſteckte, ſo kam ich von Tage zu
Tage immer mehr in’s Gedraͤnge: denn an
ein ſchleuniges Ende des Proceſſes, den ich
nun zunaͤchſt gegen Kock und van Goens in
Amſterdam angeſtrengt hatte, war ſobald gar
nicht zu denken.
Vielmehr ward hier nun ein Federfechten
begonnen, das Jahr und Tag dauerte und
immer bunter und verwickelter wurde. End-
lich ward mir der Handel und die Rabuli-
ſterei fuͤr meinen armen ſchlichten Menſchen-
verſtand zu arg. Jch packte meine dicken
Proceß-Acten zuſammen und legte ſie, in
tiefſter Devotion, Sr. Majeſtaͤt, dem Koͤnige
vor, mit inſtaͤndigſter Bitte, Sich Jhres
allergetreueſten Unterthanen anzunehmen und
dieſen Prozeß gegen Kock und van Goens
durch den Preuſſiſchen beglaubigten Miniſter
im Haag ausmachen zu laſſen.
Waͤhrend aber nun meine Sache dieſen
gemaͤchlichen Gang gieng, mußt’ ich, um
meine Glaͤubiger zu befriedigen, die nicht
Luſt hatten, den weitausſehenden Erfolg ab-
zuwarten, zufoͤrderſt meine Ladung, dann aber
auch mein ſchoͤnes liebes Schiff, ſammt Allem,
was ich um und an mir hatte, ſoweit es
langte, losſchlagen. Das unſchuldige Opfer
eines ſchaͤndlichen Betruges, ſtand ich da,
und konnte kaum das Hemde mein nennen,
das ich auf dem Leibe trug! Meine einzige
letzte Hoffnung beruhte auf dem Ausgange
meines in Holland gefuͤhrten Proceſſes; und
ſelbſt auch hier ſchwand mir mein anfaͤng-
licher Muth je mehr und mehr, je tiefere
Blicke ich in das Gewebe rechtlicher Chikane
that, das hier von meinen Gegnern angezet-
telt wurde, um, wo moͤglich, Weiß in Schwarz
zu verdrehen.
Dieſer unſelige Rechtshandel bedrohte
aber nicht bloß mein geringes Vermoͤgen,
ſondern griff zugleich tief in meinen ganzen
Lebensgang ein und legte meinem aufſtre-
benden Geiſte Hemmketten an, die ihm je laͤn-
ger je unertraͤglicher fielen. Nach der Ein-
buße meines eignen Schiffes haͤtt’ ich we-
nigſtens als Schiffer fuͤr fremde Rechnung
fahren und meinen maͤßigen Erwerb ſuchen
koͤnnen: allein all augenblicklich gab es, des
Proceſſes wegen, in Koͤnigsberg gerichtliche
Termine, wo ich zur Stelle ſeyn und Rede
und Antwort geben ſollte. Gleichwohl woll-
ten Frau und Kinder (denn auch der Ehe-
ſeegen hatte ſich nach und nach bei mir ein-
geſtellt) auf eine ehrliche Weiſe ernaͤhrt ſeyn.
Was blieb mir demnach uͤbrig, als daß ich
mich noch einmal unter das alte verhaßte
Joch bequemte, und, als Setzſchiffer, auf
einem Leichter-Fahrzeuge, zwiſchen Koͤnigs-
berg, Pillau und Elbing hin und her tage-
loͤhnerte, um nur mein kuͤmmerliches Brodt
zu verdienen.
Drei muͤhſelige Jahre blieb mein Schick-
ſal in dieſer Schwebe; und Gott weiß, wie
ſauer, ja bitter ſie mir geworden ſind! End-
lich gieng vom Preuſſiſchen Geſandten im
Haag ein großes Schreiben an mich ein,
mit der Verkuͤndigung, mein Proceß ſey in
letzter Jnſtanz gluͤcklich gewonnen. — Gott-
lob! haͤtt’ ich gerne aus tiefer erleichterter
Bruſt gerufen, waͤre nur nicht unmittelbar
die Hiobs-Poſt damit verbunden geweſen:
Kock, der Eine meiner Widerſacher, ſey ge-
ſtorben, nun ſey der Bankerott des Hauſes
ausgebrochen, von den uͤbrigen Glaͤubigern
auf alle Effecten deſſelben Beſchlag gelegt
worden und zu Befriedigung meiner Anforde-
rung leider! nichts uͤbrig geblieben. — So
war ich denn ein ruinirter Mann; hatte
mir die ſchoͤnſten Jahre meines Lebens gleich-
ſam ſtehlen laſſen, mir den Leib unaufhoͤrlich
voll geaͤrgert, und mochte nun in Gottes
Namen anfangen, zu meinem kuͤnftigen Gluͤcke,
wo ich wuͤßte und koͤnnte, wieder den aller-
erſten Grundſtein zu legen!
Da ereignete ſich’s im Jahr 1769, daß
der geheime Finanz Rath Delatre, welchen
Koͤnig Friedrich II. an die Spitze der neuen
Regie aus Frankreich berufen hatte, und der
damals Alles bei ihm galt, nach Koͤnigsberg
kam. Sein neueſtes und weitausſehendes
Project, womit er dem Monarchen große
Summen fremden Geldes in’s Land zu ziehen
verhieß, gieng dahinaus, daß von dem Ueber-
fluß an dem ſchoͤnſten Schiffsbauholz in den
koͤnigl. Forſten in Stettin, fuͤr koͤnigl. Rech-
nung eine Anzahl großer Fregatten erbaut,
armirt und ausgeruͤſtet, und dann zu gutem
Preiſe an auswaͤrtige Maͤchte abgelaſſen wer-
den ſollten. Friedrich war auch auf dieſen
Vorſchlag eingegangen; und ſo lag denn be-
reits ein Schiff von 40 Kanonen bei Stettin
auf dem Stapel.
Jch weiß nicht, auf welche Weiſe ich
dem Franzoſen bekannt und als der Mann
empfohlen worden ſeyn mochte, dem die Aus-
ruͤſtung, Einrichtung und Fuͤhrung dieſes
Schiffs vor Andern anzuvertrauen waͤre. Kurz,
er ließ mich zu ſich rufen, erklaͤrte mir ſeine
Meynung, und bot mir endlich dieſe Kapi-
tains-Stelle, unter ſolchen Bedingungen an,
daß ich, bei hinlaͤnglicher Ueberzeugung, dem
von mir geforderten Dienſte gewachſen zu
ſeyn, auch kein Bedenken fand, mich fuͤr dies
Unternehmen zu verpflichten. Der Kontrakt
wurde von beiden Seiten in beſter Form
abgeſchloſſen; und ich ging unverzuͤglich nach
Stettin ab, um meine Function anzutreten.
Waͤhrend nun hier der koͤnigl. Schiffs-
baumeiſter, Hr. Catin, die Fregatte in ihrem
Bau nach Kraͤften foͤrderte, war ich Meiner-
ſeits nicht minder geſchaͤftig, Maſten, Segel,
Tauwerk und jedes andere Zubehoͤr in fer-
tigen Stand zu ſetzen. Sobald ſie demnach
im May 1770 gluͤcklich vom Stapel gelaufen
war, that ich mein Beſtes, daß ſie ſchon in
den naͤchſten 4 Wochen, zu Anfang des Ju-
nius, fuͤr voͤllig ausgeruͤſtet gelten koͤnnte.
Dem damaligen Gouverneur, Herzog von
Bevern zu Ehren, erhielt ſie den Namen
Duc de Bevre, und war wuͤrklich ein ſchoͤnes
und tuͤchtiges Gebaͤude.
Erfreut uͤber den hurtigen Fortgang,
hatte mir mein Goͤnner Delatre bei Sr.
Koͤnigl. Majeſtaͤt das, in ſeiner Art Erſte,
Patent als Koͤnigl. Preuß. Schiffskapitain,
ſammt der Berechtigung, zu Tragung der
Koͤnigl. Uniform und eines Saͤbels mit dem
Portepee, ausgewirkt, die mir vom Herzoge
mit eigenen Haͤnden uͤberreicht wurden.
Doch war ich nicht der Einzige, der ſich
in dieſem neuen Zweige des Koͤnigl. Militaͤr-
Dienſtes angeſtellt ſah; ſondern die Preuſſi-
ſche Flagge ſollte nun auch einen eignen Ad-
miral aufzuweiſen haben. Dazu ſchlug Hr.
Delatre ſeinen eignen Bruder vor, — einen
jungen, im Seeweſen ganz unerfahrnen Men-
ſchen, der indeß fruͤher als Unter-Lieutenant,
auf einer Franzoͤſiſchen Fregatte gedient hatte,
mit derſelben im letzten Kriege den Englaͤn-
dern in die Haͤnde gefallen und dort (eben)
erſt, durch des zu Gluͤck und Ehren gelang-
ten Bruders Vermittelung, aus dem Schuld-
gefaͤngniſſe hervorgekrochen war. Er kam
nach Stettin, und ich war eben nicht ſonder-
lich erbaut, meinen neuen Herren Admiral
kennen zu lernen, und zugleich zu erfahren,
daß ihm das Commando der naͤchſten zu er-
bauenden Fregatte zugetheilt werden ſollte.
Bis dahin hatt’ er nun freilich wenig oder
gar nichts zu thun; und ſo verfuͤhrte der Muͤſ-
ſigang den luftigen Patron zu einer Menge
albernen Streiche, die ihm wenig zur Ehre
gereichten. Unaufhoͤrlich gab es Neckereien
und blutige Haͤndel mit den Officieren von
der Garniſon: ſo daß er am Ende ſich kaum
mehr durfte blicken laſſen, um nicht der
ſchimpflichen Ahndung eines gerechten Un-
willens anheim zu fallen.
Gegen Ende des Junius gieng ich mit
meinem Schiffe die Oder hinab, und war an-
gewieſen, auf der Rheede von Swinemuͤnde
eine Ladung Balken einzunehmen, die ich nach
Cadix bringen und dort, wo moͤglich, mit
ſammt
ſammt dem Schiffe losſchlagen ſollte. Es
koſtete jedoch nicht wenig Noth und Muͤhe,
bevor ich das große und tiefgehende Gebaͤude
uͤber die Bank am Ausfluſſe des Stroms zu
ſchaffen und mich außen auf der Rheede vor
Anker zu legen vermochte. Jch hatte dabei
einen ſehr unthaͤtigen Zuſchauer an meinem
Admiral, der mir die unverlangte Ehre er-
zeigte, mich bis hierher zu begleiten.
Sobald ich meinen gelegenen Ankerplatz
gefunden, befahl ich, die Stangen und Raaen
niederzulaſſen, wie es Seemannsbrauch iſt,
wenn ein noch unbeladenes Schiff auf der
Rheede liegt, um das uͤbermaͤßige Schwanken
deſſelben zu vermeiden. Dieſer nothwendigen
Anordnung widerſetzte ſich aber der Patron,
zur Befriedigung ſeiner kindiſchen Eitelkeit,
die das Schiff noch laͤnger in Parade ſehen
wollte. Vergeblich bedeutete ich ihn, daß es
hier mehr auf Sicherheit, als auf ſtattliches
Anſehen ankomme, und daß ich wiſſen muͤßte,
was ich zu thun haͤtte. Das Faͤntchen er-
boßte ſich, trotzte und pochte, und wollte durch-
aus, wie ein unzeitiges Kind, ſeinen Willen
haben. Freilich kam es da bei mir eben
an den Unrechten. Jch wich ihm keines
Daumens breit.
Nun war vollends Feuer bei ihm im
Dache! Er parlirte mir, roth um den Kamm,
wie ein Puter, allerlei dummen Schnack vor,
1. Bändchen. (16)
und trat endlich drohend auf mich ein, indem
er die Hand an das Gefaͤß ſeines Degens
ſchlug. „Oho Buͤrſchken‟ ſagte ich, und be-
ſah ihn mir ſchmunzelnd von unten bis oben
— „das wollen wir dir wohl anſtreichen!‟ —
Jch ging in die Kajuͤte, ſchnallte mir meinen
Saͤbel um, und kam wieder auf’s Verdeck,
um ihm das Weiſſe im Auge zu ſehen. Weil
ſich ſeine Galle aber immer noch nicht legen
wollte, ſeine gelaͤufige Zunge wie ein Rohr-
ſperling ſchimpfte, und bei jedem dritten
Worte die Fauſt immer wieder nach dem Degen
fuhr, riß mir endlich auch die Geduld. Jch
legte ebenfalls die Hand, und eben nicht ſanft,
an meinen Saͤbel, und forderte ihn auf, zur
Stelle mit mir an’s Land zu kommen, damit
ich ſaͤhe, was Vater und Mutter aus ihm
gefuttert haͤtten, — wie wir Pommern zu
ſagen pflegen.
Jch ſprang voran in die Schaluppe und
bot ſechs Matroſen auf, die Riemen zur
Hand zu nehmen. Mein Urian kam auf
mein wiederholtes Winken mir nachgeſtiegen.
Jch ſtellte mich an’s Ruder und ſteuerte nach
dem Packwerk; war mit Einem Satze am
Lande, und warf, meines Gegners gewaͤrtig,
mir Hut und Rock vom Leibe, der denn
auch bald hinter mir dreinfackelte. Wir zo-
gen Beide blank, und ſtanden verbittert ein-
ander gegenuͤber. Monſieur machte mir mit
ſeinem Degen allerlei Figureu und Firlefanz
vor der Naſe, bis ich mit einem abgepaßten
Hiebe von unten herauf ihm unterhalb des
Gefaͤßes Eins quer in den Arm zog; und
mit der nemlichen Wendung gab ich ihm ei-
nen Denkzettel hinter’s linke Ohr, ſo daß er,
wenn er nicht an dem Einen, doch an Bei-
den genug haben konnte.
Nun, er verlangte eben auch nicht
mehr; warf flugs den Degen an die Erde,
und ſchuͤttelte die verwundete Hand, mit
einem etwas verſtoͤrten Geſichte. Auch ich
ſchleuderte meinen Sarras uͤber Seite, um
aus ſeinem Rocke, der im Sande lag, ein
Schnupftuch hervorzuſuchen, welches ich, nach-
dem ich ihm das Blut vom Ohre gewiſcht,
fein ſaͤuberlich um die lahme Hand wickelte.
Dann machte ich dem Herrn ein Kompli-
ment, ſo gut ich’s ohne Tanzmeiſter gelernt
hatte, und ließ ihn ſtehen, indem ich wieder
in die Schaluppe ſtieg und nach dem Schiffe
zuruͤckfuhr.
Zwei Tage nach dieſem Abentheuer er-
hielt ich einen ſchriftlichen Befehl des Herrn
Geh. Finanz-Rath Delatre, Angeſichts Die-
ſes in Stettin zu erſcheinen. Jch erwiederte
darauf: „Das Schiff, welches ich comman-
dirte, laͤge in See, und ich waͤre fuͤr deſſen
Sicherheit verantwortlich. Jch wuͤrde mich
einſtellen, ſobald man mir einen Stellvertre-
ter ſchickte, der der Mann dazu waͤre, es in
verſicherte Aufſicht zu nehmen.‟ Dies Nota-
bene hatte denn auch die Wirkung, daß bald
nachher ein gewiſſer Schiffer Stoͤphaſe, einer
unſrer beſten Preuſſiſchen Seemaͤnner, zu mir
an Bord kam und ſich durch ſchriftliche Or-
dres als meinen Nachfolger auswies. Zu-
gleich wurde aber auch der Befehl zu meiner
unverzoͤgerten Geſtellung in Stettin erneuert
und geſchaͤrft; und ich that, was man haben
wollte.
Mein ungnaͤdiger Goͤnner, mit dem ich es
hier zu thun hatte, ließ mich gar hart an,
daß ich ſo groͤblich gegen die Subordination
im Dienſt gehandelt. Jch war aber auch
kurz angebunden, ſchenkte ihm uͤber ſeinen
Herrn Bruder, den Admiral, klaren Wein
ein, und bewies deſſen Ungeſchick in einem
gepfefferten Text ſo kraͤftig, daß eben nicht
ſonderlich viel darauf zu antworten blieb.
Aber es war einmal ſein Bruder, dem er
nicht ganz entſtehen konnte, und ſo ergriff
er um ſo lieber ein leicht von mir hinge-
worfenes Wort, um mir, wenn ich nicht an-
ders wollte, meine Dienſt-Entlaſſung anzu-
kuͤndigen. — „Herzlich gern!‟ war meine
Antwort — „Mit Vorbehalt jedoch, daß
meine Thaͤtigkeit zum Koͤnigl. Dienſt nicht in
Abrede geſtellt werde.‟
„Wer zweifelt daran, Herr? Wenn Sie
ſich nur fuͤgen wollten …‟
„Gehorſamer Diener!‟ erwiederte ich:
„Da mag es wohl liegen! Aber wenn auch
mein Kopf etwas hart iſt, ſo erinnert er ſich
doch an eine Klauſel in meinem Kontrakt,
das mir, falls ich einſt meines Seedienſtes
entbunden wuͤrde und gegen meine Taugſam-
keit nichts einzuwenden waͤre, eben ſowohl
eine Gratification von zweihundert Thalern,
als meine ruͤckſtaͤndige Monats-Gage, zugute
kommen ſolle. — Wohl denn, ich habe bis-
her meine Schuldigkeit gethan: jetzt erwarte
ich ein Gleiches von der Regierung.‟ —
Die Zahlung geſchah auf der Stelle; und ſo
kriegte denn mein Koͤnigl. See-Kommando
ein baldiges und betruͤbtes Ende.
Mein Vornehmen war jetzt, nach Koͤnigs-
berg zu meiner Familie zuruͤckzugehen und
eine Gelegenheit zu ſuchen, wo mir’s moͤglich
wuͤrde, die Arme einwenig freier zu ruͤhren.
Auf dem Wege dahin ſprach ich indeß bei
meinen Eltern in Colberg ein; und ſey es
nun, daß es hauptſaͤchlich ihr dringendes Zu-
reden vermochte, oder daß die alte Vorliebe
fuͤr meine Vaterſtadt wieder lebendig in mir
erwachte, waͤhrend ich gegen Koͤnigsberg, wo
mir ſo Vieles den Krebsgang genommen
hatte, einen heimlichen Widerwillen ſpuͤrte:
— genug, ich glaubte wohl daran zu thun,
wenn ich meinen dortigen Wohnſitz aufgaͤbe,
um mich fortan hier unter den Meinigen
haͤuslich niederzulaſſen. Anſtatt alſo meine
Reiſe fortzuſetzen, ließ ich vielmehr Weib
und Kind zu mir heruͤber kommen, und be-
gann, mich hier haͤuslich einzurichten.
Aber Colberg war doch der Ort nicht,
wo Meinesgleichen auf die Laͤnge ſeine Rech-
nung finden konnte. Der Seehandel hatte
damals hier eben auch nicht viel zu bedeu-
ten, und die Colberger Schiffer waren gar
zahme Leute, die ſich eben nicht weit in die
Welt hinaus verthaten. Es gab daher auch
wenig Anſchein, daß ich hier ſobald ein bra-
ves Schiff unter die Fuͤße wuͤrde bekommen
koͤnnen; und wurden mir gleich binnen Jahr
und Tag zu wiederholten Malen kleine Jach-
ten zur Fuͤhrung angeboten, um damit die
Oſtſee-Haͤfen zu beſuchen, ſo war dies doch
ein zu enger Spielraum fuͤr mich, als daß
ich mich darauf haͤtte einlaſſen moͤgen. Lieber
errichtete ich eine kleine Navigations-Schule,
worinn ich junge Seefahrer fuͤr ihr Fach
tuͤchtig auszubilden ſuchte; und noch jetzt,
in meinem hohen Alter, habe ich das Ver-
gnuͤgen, einige brave Schiffer am Leben zu
wiſſen, die ich als meine Schuͤler betrachten
darf.
Man wird ſich jedoch leicht denken, daß
all dies Thun und Treibeu nur ein Noth-
werk blieb, deſſen ich gern entuͤbrigt geweſen
waͤre, und daß ich mich in meiner Lage mit
jedem Tage mißmuͤthiger und unzufriedner
fuͤhlte. Auf die Laͤnge konnte das ſo nicht
bleiben. Was aber dem Faſſe vollends den
Boden ausſchlug, war ein Schimpf, der mir
von einem Manne widerfuhr, um den ich
wohl ein Beſſeres verdient gehabt hatte.
Dieſer Kaufmann K. nemlich, fuͤr den ich
vormals, als eigner Schiffsrheeder Guͤter und
Frachten mit Ehren uͤber See gefahren hatte,
glaubte ein Werk der Barmherzigkeit an mir zu
thun, wenn er mir das Gluͤck widerfahren lieſſe,
unter ſeinem unwiſſenden Bauer-Schiffer als
Steuermann zu dienen. Meine ganze Seele
fuͤhlte ſich uͤber dieſen erniedrigenden Vor-
ſchlag entruͤſtet. Es war, als ob jeder Bube
in Colberg mit Fingern auf mich wieſe; und
ſo ließ mir’s auch laͤnger keine Ruhe, als bis
ich mich im Jahr 1771, als Paſſagier, nach
Holland auf den Weg machte; in voller und
gewiſſer Zuverſicht, daß dies Land mir fuͤr
mein beſſeres Fortkommen in allen Faͤllen
die gewuͤnſchte Genuͤge leiſten werde.
Mein eigentlicher Plan bei dieſem raſch
gefaßten und ausgefuͤhrten Entſchluſſe war
auf die Kuͤſte von Guinea gerichtet, wo die
Art des Handelsverkehrs mir bei meiner erſten
Ausflucht bereits bekannt geworden war; und
da ich mich der damals erlernten Landes-
ſprache noch immer maͤchtig fuͤhlte, im Na-
vigations-Weſen es mit Manchem aufnahm
und mir auch ſonſt zutrauen durfte, Herz und
Verſtand am rechten Flecke zu haben, ſo war
ich darauf aus, mich auf irgend einem dort-
hin beſtimmten Schiffe als Ober-Steuermann
anzubringen. Jn Amſterdam zwar gab es
hiezu, fuͤr dieſen Augenblick, keine Gelegen-
heit: als ich mich aber, durch Freunde und
Bekannte, in gleicher Angelegenheit, an das
Haus Rochus et Copſtadt in Rotterdam
empfehlen ließ, erhielt ich auch ſofort einen
Ruf dahin, und ward mit den Rheedern
einig, auf einem ganz neuen Schiffe, Na-
mens Chriſtina, unter Kapitain Jan Harmel,
als Ober-Steuermann die Fahrt auf die
Kuͤſte von Guinea anzutreten.
Jm November des nemlichen Jahres
giengen wir von Goree unter Segel. Unſre
Ladung beſtand in ſolchen Artikeln, wie die
Afrikaner ſie gegen Sklaven, Goldſtaub und
Elephanten-Zaͤhne am liebſten einzutauſchen
pflegen. Die Schiffsmannſchaft betrug 106
Koͤpfe, und das Schiff fuͤhrte 24 Sechspfuͤn-
der, weil Holland damals mit dem Kaiſer
von Marocco in Mißhelligkeiten gerathen war;
weswegen allen Schiffen, die des Weges
fuhren, aufgegeben worden, ſich gegen jeden
etwannigen Anfall der Korſaren gehoͤrig aus-
zuruͤſten. Aus dem nemlichen Grunde ver-
ſaͤumten wir auch nicht, ſobald wir in den
Ocean gekommen waren, unſer Schiffsvolk
taͤglich in der Bedienung des Geſchuͤtzes und
in andern kriegeriſchen Handgriffen zu uͤben,
damit wir’s mit den Maroccanern um ſo
beſſer aufzunehmen vermoͤchten und, falls es
zum Schlagen kaͤme, Jeder am Borde wuͤßte,
wohin er gehoͤre und wie er es anzugreifen
habe. Und daß es hiermit nicht etwa von
unſerm Kapitain nur fuͤr die Langeweile ge-
meynt war, kann ich ſofort durch ein Bei-
ſpiel belegen.
Um mich aber hieruͤber noch mit einigen
Worten weitlaͤuftiger auszulaſſen, ſey mir
zufoͤrderſt erlaubt, zu bemerken, daß ein Kapi-
tain auf dieſer Art von Schiffen ſich ſeinen
Dienſt inſofern bequem genug macht, als er
ſich (dringende Nothfaͤlle ausgenommen) die
Nacht hindurch, in der Regel, an nichts,
was am Borde zu thun iſt, kehrt, ſondern
Abends um 8 Uhr ruhig zu Bette geht und
vor 6 Uhr Morgens nicht wieder zum Vor-
ſchein koͤmmt. Er verlaͤßt ſich lediglich auf
ſeine vier Steuerleute, deren je zweie zu-
ſammen in ihren vierſtuͤndigen Wachen ab-
wechſeln; und begnuͤgt ſich, Morgens beim
Aufſtehen den Rapport uͤber Alles, was naͤcht-
lich vorgefallen iſt, anzunehmen, und Mittags
um 12 Uhr bei der Beobachtung der Son-
nenhoͤhe zugegen zu ſeyn, um den Stand
des Schiffs nach Laͤnge und Breite in das
Schiffstagebuch einzutragen.
Solchergeſtalt kam ich (nachdem Kapitain
Harmelin mir ſchon fruͤher aufgegeben hatte,
von unſerm Konſtabler ein Faß halbgefuͤllter
Kartuſchen anfertigen zu laſſen) einſt in
dieſer Zeit des Morgens zu ihm in die Ka-
juͤte, um meinen naͤchtlichen Rapport abzu-
ſtatten, und verwunderte mich nicht wenig,
als ich ihn am Tiſche, den Kopf auf beiden
Haͤnden liegend, wie im tiefen Traume ſitzen
ſah; — uͤbrigens nackt und bloß, bis auf ein
paar linnene Hoſen und das Hemde, das an
beiden Armen bis hoch an die Achſeln hin-
auf aufgeſtreift und mit rothen Tuͤchern feſt-
gebunden war. Das gelockte Haar hieng
ihm rings um den Kopf auf den Tiſch hinab,
und vor ihm auf demſelben lag ein blanker
Schiffshauer.
Wie wild und furchtbar er mir in die-
ſem Aufzuge auch erſchien, ſo fing ich doch
an zu lachen; und eben wollt’ ich fragen,
was dieſe Maskerade zu bedeuten habe, als
er mich martialiſch anblickte, den Saͤbel er-
griff, aufſprang, an mir vorbei eilte und,
indem er auf’s Verdeck ſtuͤrzte, aus vollem
Halſe ſchrie: „Ho, da der Feind! Ho, da
der Feind! „— Feuer! Vom Steuerbord
Feuer!‟ — Jn der erſten Ueberraſchung
meynte ich wirklich, er ſey toll geworden;
ſobald ich jedoch ſeine wahre Meynung ahn-
dete, den Muth und die Geiſtesgegenwart
ſeiner Schiffsmannſchaft auf die Probe zu
ſetzen, ſo ſchrie ich tapfer mit: „Feuer!
Steuerbord Feuer!‟ und es gab einen Laͤrm
am Borde, der hinten und vorn und aus
allen Winkeln graͤßlich zuſammendroͤhnte.
Da nun auch ſchon ſeit einiger Zeit unſre
Kanonen, mit Kugeln geladen, bereit ſtanden,
ſo waͤhrte es auch keine drei Minuten, daß
die ganze volle Lage gegen den eingebildeten
Korſaren abgefeuert wurde. Sofort hieß es:
„Schiff gewendet!‟ und als dies im Nu
geſchehen war: „Feuer! Vom Backbord Feuer!
Am Steuerbord geladen! — Wieder wenden!
Vom Steuerbord Feuer! Am Backbord ge-
laden!‟ — und ſo luſtig fort, bis der Kon-
ſtabler zu mir herantrat, um zu melden, daß
das Oxhoft voll Kartuſchen gluͤcklich in die Juft
verplatzt ſey. Jch brachte die Meldung an den
Kapitain, und „Gut!‟ ſagte dieſer — „Nun
laß die Maroccaner nur kommen!‟
„Aber‟ — unterbrach er ſich ploͤtzlich —
„Entern — entern wollen die Hunde! Die
ſollen ſich bei uns die Naſen verbrennen!
Halloh! Allmañ auf ſeinen Poſten!‟ — Flugs
traten, angewieſener Maaſſen, 40 Mann auf
dem halben Deck zuſammen; Jeder ergriff
ſein geladenes Gewehr aus der dort in Be-
reitſchaft ſtehenden Kiſte. Hier war das Kom-
mandiren an mir: „Feuer uͤber Steuerbord!‟
waͤhrend Andre, die in Reſerve ſtanden, ih-
nen die friſch geladenen Buͤchſen zureichten
und die abgeſchoſſenen empfingen. So folgte
Lage auf Lage; und die Kerle hielten ſich ſo
wacker dazu, daß wir unſre Luſt und Freude
daran hatten.
Dabei begab ſich’s nun, daß ein Matroſe
ſeinem Nebenmann zur Rechten beim Abfeuern
das Gewehr zu nahe an ſein langes ſtruppi-
ges Haar hielt, welches vom Zuͤndpulver er-
griffen ward und augenblicklich in lichten
Flammen ſtand. Zur Strafe ſolcher Unge-
buͤhr ward der Schmidt, der in ſolchen Faͤl-
len den Sergeanten vorſtellt, hervorgerufen,
um den Unvorſichtigen als Arreſtanten ab-
zufuͤhren; waͤhrend noch das Manoeuvre mit
dem Handgewehr ſolange fortgeſetzt wurde,
bis der Tambour (der ſolange aus Kraͤften
fortgewirbelt hatte) Befehl erhielt Appell zu
ſchlagen und vom geſchlagenen Feinde nichts
mehr zu ſehen war.
Nun ſollte der Arreſtant in’s Verhoͤr:
aber der hatte ſeine Zeit ſo gut abgepaßt,
daß derweile, da ſeine Waͤchter dem Spec-
takel zugafften, er ſich gluͤcklich uͤber Seite
machte; doch nur ſolange bis er in ſeinem
Verſteck erwiſcht worden und nun ſeinen
nachlaͤßigen Waͤchtern vorne in der Back Ge-
ſellſchaft leiſtete, bis ihm ſeine Strafe dictirt
worden. Er ſollte auf dem halben Deck durch
60 Mann 24 mal Gaſſen laufen, wo, ſtatt
der Ruthen, Reifzeiſinge Dies ſind Flechten, 7 Fuß lang, in der Mitte
12 Garne dick und nach beiden Enden ſpitz zu-
laufend. Sie dienen anderweitig zum Auf-
bringen der Ankertaue; zu dem hier erwaͤhn-
ten Behuf aber werden ſie in der Mitte an-
gefaßt und mit beiden Enden zugehauen. als Stellvertre-
rer dienten: doch kam der arme Schelm mit
6 Malen ab und mochte ſich, ſo wie ſeine,
mit derben Fuchteln beſtraften Waͤchter, an
der reichlichen Portion Brandtwein troͤſten,
die ihnen gegeben wurde, ſich ihren wunden
Buckel zu waſchen.
Dies Proͤbchen von ſtrenger Subordi-
nation mag zugleich beweiſen, mit welchem
Ernſt und Regelmaͤßigkeit der Dienſt auf
den hollaͤndiſchen Schiffen damals verſehen
wurde, daher ich auch ſtets auf denſelben
die beſte Ordnung gefunden habe. Nicht ſo
bei den Englaͤndern, wo man dergleichen
als Kleinigkeiten anſieht, die mit Fußtritten,
Fauſtſchlaͤgen und Ribbenſtoͤßen abgemacht
werden; und von ſolcher barbariſchen Will-
kuͤhr bin ich ſtets ein abgeſagter Feind ge-
weſen.
Wenige Tage ſpaͤter, etwa in der Mitte
Octobers, da wir uns unter dem 41ſten
Grade noͤrdlicher Breite und ohngefehr 90
Meilen von der portugieſiſchen Kuͤſte ent-
fernt befanden, erblickten wir in den Vor-
mittags-Stunden ein Schiff vor uns uͤber
dem Winde, das uns, da wir den Kopf im-
mer voll von Seeraͤubern hatten, verdaͤchtig
vorkam. So wie ſchon fruͤher, theils aus
Vorſicht, theils um unſre Mannſchaft zu
uͤben, geſchehen war, ſo oft ein Segel in
unſrer Naͤhe auftauchte, ſo ward auch jetzt
im Augenblick an unſerm Borde Alles zum
Gefechte bereit gemacht. Allein indem un-
ſre Blicke aufmerkſam auf jenes Schiff ge-
richtet blieben, wurden wir mit Verwun-
derung gewahr, daß es gar keinen geraden
Kurs hielt, ſondern bald noͤrdlich, bald oͤſt-
lich am Winde lag. Alle Segel waren feſt
gemacht, bis auf das Vorder-Mars-Segel,
das frei im Winde flog, waͤhrend dieſer,
aus Suͤdweſten her, ſich faſt zum Sturm
verſtaͤrkte, ſo daß wir ſelbſt unſre Mars-
Segel hart eingerefft fuͤhren mußten.
Jndem es nun ſolchergeſtalt vor uns
voruͤber taumelte, ſo daß wir ihm bald uͤber
den Wind kamen, wußten wir immer we-
niger, was wir aus dieſer Erſcheinung
ſchlieſſen ſollten; und da es wenigſtens noch
anderthalb Meilen von uns entfernt lag, ſo
konnten wir auch nicht entdecken, was es ei-
gentlich im Schilde fuͤhrte. Nichts deſto-
weniger ſchien es uns wohlgethan, dies in
der Naͤhe etwas genauer zu unterſuchen, um
unſrer Schanze deſto beſſer wahrzunehmen.
Jndem wir alſo unſre Flagge hinten, ſo
wie vorne die Giſſe und einen Wimpel an
der Spitze des großen Maſtes aufſetzten,
um unſre Bravour zu zeigen und uns den
Anſchein eines Kriegsſchiffes zu geben, (wie
denn auch unſer Schiff aus der Ferne wirk-
lich ein ganz ſtattliches Anſehen hatte) ſo
richteten wir unſern Lauf gegen den wun-
derlichen Unbekannten; doch ſo, daß wir ihm
oberhalb Windes blieben.
Als wir demſelben auf die Haͤlfte naͤher
gekommen waren, thaten wir einen blinden
Schuß gegen ihn, als Aufforderung, unſre
Flagge zu reſpectiren und uns die ſeinige
zu zeigen. Dieſe kam gleichwohl nicht zum
Vorſchein; ſelbſt dann nicht, da wir, im
Abſtande von einer halben Meile, jenes Sig-
nal wiederholten. Ja, ſogar der dritte
Gruß dieſer Art, im ſteten Naͤherruͤcken, ver-
fehlte die gehoffte Wirkung: denn keine
Flagge ließ ſich blicken. Unter der Zeit war
das fremde Schiff in den Bereich unſers
Geſchuͤtzes gekommen; und wir bedachten
uns nun nicht laͤnger, ihm auf gut Gluͤck
eine ſcharfe Kugel zuzuſchicken. Dieſe ſchlug
auch hart vor ihm nieder: aber ſeine
Flagge verzog noch immer, ſich uns zu zeigen.
„Er ſoll und muß es!‟ rief unſer
Kapitain. — „Konſtabler, ſchießt ihm eine
Koppelkugel in den Rumpf, und ſeht wohl
zu, daß Jhr trefft!‟ — Geſagt, gethan!
Wir waren ihm jetzt ſo nahe, daß ſich un-
moͤglich fehlen ließ; und die Kugel fuhr ihm
in den Bug, daß wir die Holzſplitter um-
her fliegen ſahen. Dennoch keine Flagge! —
So etwas gieng uͤber all unſern Begriff.
Allein nun wurden auch wir immer hitzi-
ger und beſchloſſen, ihm oberhalb Windes ſo
dicht, als immer moͤglich, auf den Leib zu
ruͤcken.
Dies geſchah auch, indem wir, kaum im
Abſtande eines Flintenſchuſſes, an ihm vor-
uͤber liefen und zugleich ihn mit dem Sprach-
rohr anriefen. Auf unſer drei- bis vier-
maliges Holla! keine Antwort! Eben ſo
wenig erblickten wir eine Menſchenſeele am
Borde. Nur ein großer ſchwarzer Hund
richtete ſich uͤber die Borte empor, uns hei-
ſer anzubellen. Jndeß trieb uns der ſtarke
Wind nach wenig Augenblicken voruͤber;
doch vermochten wir im Vorbeiſegeln zu er-
kennen, daß die Finkennetze und Schanzgitter
laͤngs der ganzen Seite mit Weißkohl-Koͤpfen
vollgepackt waren, und daß auch einige
Stuͤcken friſches Fleiſch unter der großen
Mars in der Luft aufbewahrt hiengen. Ja,
Einige
Einige von unſern Matroſen, die ſich oben
im Maſtkorbe befanden, wollten zu gleicher
Zeit bemerkt haben, daß auf dem Verdeck
des fremden Schiffes menſchliche Leichname
ausgeſtreckt umher gelegen.
Dieſe vermeyntliche Entdeckung war gleich-
wohl zu unſtatthaft, um bei uns Uebrigen
Glauben zu finden. Was ſollte dieſen Un-
gluͤcklichen den Tod gebracht haben? Das
Schiff ſchien unverſehrt und gut; kein Feind
hatte mit Feuer und Schwerdt darauf ge-
hauſet. An anſteckende Seuchen, an Ver-
hungern und Verduͤrſten war eben ſo wenig
zu denken: denn die friſchen Lebensmittel,
die wir wahrgenommen, bewieſen genuͤg-
lich, daß das Schiff erſt ganz vor kur-
zem einen europaͤiſchen Hafen verlaſſen ha-
ben muͤſſe. Genug indeß, daß uns hier
ein Raͤthſel aufgegeben war, deſſen Loͤſung
uns eben ſo eifrig, als fruchtlos beſchaͤf-
tigte!
Jnzwiſchen legten wir um und hielten
diesmal unſern Strich noch naͤher an das
veroͤdete Schiff, ohne es an unſerm wieder-
hohlten und durchdringenden Holla! Holla!
fehlen zu laſſen. Jmmer noch ſahen wir
kein lebendiges Weſen, und hoͤrten keine
Stimme, als das Bellen des Hundes, der
1. Bändchen. (17)
nach uns heruͤber winſelte. Es ſchien nun
wohl entſchieden, daß das Schiff leer und
verlaſſen von Menſchen ſeyn muͤſſe: aber
eben dies weckte in mir und Andern mehr
die Luſt, die Schaluppe auszuſetzen und zu
einer genaueren Unterſuchung dieſes wun-
derbaren Vorfalls hinuͤber zu fahren: denn
ſo, wie ſich die Sache anließ, kam es hier
vielleicht bloß darauf an, ein herrenloſes
Eigenthum als gute Priſe in Beſitz zu
nehmen.
Meine hierauf gerichteten Vorſchlaͤge fie-
len jedoch bei dem Kapitain in taube Oh-
ren. Er meynte, der Wind blieſe zu friſch
und die See gienge zu hoch, als daß er
Boot und Menſchen einem ſolchen Wagniß
preiß geben koͤnnte; und auch im beſten
Falle werde es um den Ruͤckweg, gegen den
Sturmwind an, noch mißlicher ſtehen. Er-
picht, wie ich auf den Handel war, ſtellte
ich ihm vor, wie es fuͤglich ſo einzurichten
waͤre, daß die Schaluppe mit Wind und
Wellen geradezu auf das fremde Schiff los-
ſteuerte, und das unſrige, nach erfolgter
Beſichtigung, ſich jenſeits unter den Wind
legte, um uns, mittelſt dieſes Manoeuvre’s
gemaͤchlich wieder an Bord zu nehmen.
„Nettelbeck!‟ rief er — „Das wird der
Teufel nicht mit Euch wagen!‟
„Das kaͤme noch drauf an!‟ meynte
ich — „Laß einmal hoͤren! — Jungens,‟
rief ich, indem ich auf das halbe Deck vor-
trat, unſern Leuten zu — „Wer von euch
hat die Courage, mit mir in unſrer Scha-
luppe nach jenem Schiffe hinuͤber zu fahren?
Wenn wir das vielleicht als gute Priſe in
Beſitz nehmen koͤnnten!‟
„Jch — ich — ich!‟ ſchallte mirs von
allen Seiten entgegen. — „Und was ſagt
Jhr nun, Kapitain?‟ wandte ich mich an
unſern Befehlshaber.
„Fahrt meinetwegen, wenn Jhr Luſt
habt, zu erſaufen!‟ gab er mir verdruͤßlich
zur Antwort; und ich hielt ihn ſogleich, we-
nigſtens wegen des Erſtern, beim Worte.
Die Schaluppe ward mit dem groͤßten Feuer
angegriffen, in die Takel gehaͤngt und uͤber
Bord geſetzt. Noch hatte ſie ihr naſſes
Element nicht erreicht, als ich mich bereits
hinein ſtuͤrzte. Alles ſtuͤrzte mir nach, und
wollte mich begleiten; ſo daß ich genug zu
ſteuern und abzukehren hatte, um nicht
mehr, als die beſchloſſene Zahl von 12 Mann
hinuͤber zu laſſen, die ich namentlich aufrief
und als tuͤchtige zuverlaͤſſige Kerle kannte.
Da auch, von dem neulichen Scheingefecht
her, die offne Gewehrkiſte noch auf dem
Verdeck vorhanden war, ſo wurden uns Pi-
ſtolen und Hauer in ſolchem Ueberfluſſe zu-
gelangt, ja ſogar in die Schaluppe gewor-
fen, daß ich genug mit Haͤnden und Fuͤßen
abzuwehren hatte.
So giengen wir nun mit unſerm Fahr-
zeuge, vor See und Wind, gerade auf das
Schiff zu, welches auch kaum in der Weite
eines Piſtolenſchuſſes vor uns auf den Wel-
len trieb. Leichter und gluͤcklicher, als ich
ſelbſt gehofft hatte, legten wir uns ihm an
Bord; und gehoͤrig bewaffnet ſtieg ich ſo-
fort mit 11 Mann auf daſſelbe hinuͤber,
waͤhrend der Zwoͤlfte im Boote zuruͤck blieb
und dieſes mit einem Schlepptau hinten an-
gehaͤngt wurde. Auf dem Verdeck fanden
wir, wie zu vermuthen war, Niemand, als
jenen Hund, der uns freundlich zuwedelte
und die Haͤnde leckte, und einen Behaͤlter
mit lebendigen Huͤhnern und Enten, die noch
Gerſte und friſches Waſſer im Troge hatten.
Ueberall lagen Kleidungsſtuͤcke zerſtreut um-
her. Die Schaluppe ſtand, wie ſich’s ge-
hoͤrt, im Boot; Alles ordentlich befeſtigt;
kein Takel hieng uͤber Bord, woraus man
haͤtte ſchlieſſen moͤgen, daß etwa ein Fahr-
zeug, zur Flucht der Mannſchaft, in’s Waſ-
ſer gelaſſen worden, weil das Schiff viel-
leicht leck geworden und man das Sinken
befuͤrchtet.
Dies zu ergruͤnden, ſtellte ich ſofort
meine Leute an beide Pumpen; und mittler-
weile, daß ſie dieſe in Bewegung ſetzten,
gieng ich auf dem Schiffe von hinten nach
vorne und nach allen Seiten; beſah mir’s
oben und unten, und nahm endlich wahr,
daß die Thuͤr zur Kajuͤte niedergehauen
war. Sogar das Beil, womit dies geſche-
hen ſeyn mochte, lag noch daneben. Jch
erſchrak nicht wenig uͤber dieſen unvermuthe-
ten Anblick: denn nun ſchoß mir’s auf’s
Herz, daß hier gottloſe Buben gehauſt ha-
ben muͤßten, die den Kapitain oder ſonſti-
gen Befehlshaber ermordet haben muͤßten
und ſich in dieſem Augenblick vielleicht ab-
ſichtlich im untern Raume verſteckt hielten.
Voll von dieſer Vorſtellung, hielt ich es
auch nicht fuͤr rathſam, mich dahinunter zu
wagen.
Unterdeß hatten meine Begleiter wacker
an den Pumpen gearbeitet, und erklaͤrten
nach etwa 12 oder 15 Minuten: das Schiff
ſey rein, und die Pumpen zoͤgen kein Waſ-
ſer mehr. „So kommt denn Alle!‟ rief
ich — „Nehmt eure Wehren zur Hand,
ſpannt den Hahn und folgt mir, dicht zu-
ſammengeſchloſſen, nach.‟ — Jn ſolcher
Ordnung nun ſtiegen wir zufoͤrderſt in die
Kajuͤte hinab, wo der zertruͤmmerte Ein-
gang uns nichts, als einen vollen Greuel
der Verwuͤſtung, erwarten ließ. Dem war
jedoch keinesweges alſo; ſondern uͤberall das
Geraͤthe in beſter Ordnung, als ob gar
nichts vorgefallen. Jch hob den Deckel von
einer Seitenbank empor, und fand den Sitz
angefuͤllt mit Weinflaſchen, die ſorgſam in
Stroh gepackt waren. Zu naͤherer Unter-
ſuchung zog ich Eine daraus hervor, hielt
ſie gegen das Licht und fand ſie mit ro-
them Clairet gefuͤllt. Eine Schieblade im
Tiſche, die ich hervor zog, enthielt allerlei
Tafelgeraͤth, Meſſer, Gabeln u. ſ. w. Jch
nahm ein Meſſer, ſchlug jener Bouteille
den Hals ab, und wir machten Ein Schluͤck-
chen nach dem Andern, bis uns der Boden
entgegen leuchtete. Nun machten meine Ge-
faͤhrten nicht uͤbel Miene, auch dem Reſte
auf gleiche Weiſe zuzuſprechen: allein, bange
vor den moͤglichen Folgen, rief ich mein
„Halt! Keinen Tropfen mehr!‟ dazwiſchen,
und ſchritt ſofort zu einer weitern Unter-
ſuchung.
Jn einer andern Schieblade, die ich oͤff-
nete, fiel mir ein ſtarkes Pack Briefe in
die Haͤnde, deren Aufſchriften ſaͤmmtlich
nach Port au Prince, Martinique, Gua-
deloupe und andern frvnzoͤſiſchen Jnſeln lau-
teten. Jch griff Einige auf gut Gluͤck dar-
aus hervor und ſteckte ſie zu mir, um ſie
demnaͤchſt, bei beſſerer Muße, genauer zu
unterſuchen. Fuͤr den Augenblick aber ward
meine volle Aufmerkſamkeit von einer Luke
angezogen, die ſich in der Mitte des Fußbo-
dens der Kajuͤte vorfand und angelweit of-
fen ſtand. „Hier wird es doch der Muͤhe
werth ſeyn, hinunter zu ſteigen,‟ ſagte ich
zu meinen Leuten; — „waͤr’ es auch nur,
um zu erfahren, womit das Schiff geladen
ſeyn mag.‟ — Zu gleicher Zeit ließ ich
mich an den Haͤnden hinab, ohne jedoch
mit den Fuͤßen Grund zu erreichen. „Nun,
es wird ja ſo tief nicht mehr ſeyn!‟ dacht’
ich bei mir ſelbſt, ließ oben fahren und pur-
zelte auf einen Haufen, den ich alsbald fuͤr
Steinkohlen erkannte.
Jndem ich uͤber dies unbequeme Lager
hinuͤber kroch, gerieth ich, bald hier, bald
dort im Dunkeln umher tappend, an Faͤſſer,
Ballen und Packen in Baſtmatten gehuͤllt,
die mich auf eine vermiſchte Ladung ſchlieſſen
lieſſen. Unwillkuͤhrlich aber ſtieg mir bei
dieſer irren Beſchaͤftigung auch die Befuͤrch-
tung zu Kopf, daß in dieſem Chaos auch
woht Menſchen ſtecken und mir auf den
Dienſt lauern koͤnnten. Schon war mir’s,
als ob ſie mir uͤberall auf dem Nacken ſaͤ-
ßen; als wuͤrde bei jedem naͤchſten Tritt
eine grimmige Fauſt mich anpacken. Ver-
geblich ſtraͤubte ſich mein Muth und ſuchte
dieſen feigherzigen Gedanken abzuſchuͤtteln.
Mich ergriff ein Zittern, das mich mit einer
Gaͤnſehaut uͤberlief, und wohl oder uͤbel
wieder nach dem Tageslichte hin zuruͤck-
draͤngte. Erſt dann ward mir wieder wohl,
als ich oben an der Luke ein Paar von mei-
nen Gefaͤhrten erblickte, die auf den Knieen
lagen und in den Raum hinab ſahen. An
ihren dargereichten Haͤnden ward ich wieder
emporgezogen.
Jnzwiſchen war auch mein Kapitain bei
ſeinem Manoeuvriren dem Schiffe wieder
nahe genug gekommen, um mir durch’s
Sprachrohr zuzurufen: Wie es an meinem
Borde zuſtaͤnde? — Da ich ein aͤhnliches
Werkzeug auf dem Verdeck an ſeiner ge-
wohnten Stelle vorfand, ſo antwortete ich
ihm: Das Schiff ſey feſt und dicht, und
Alles darauf in guter Ordnung, aber nicht
Mann noch Maus darauf zu ſpuͤren. Er
befahl mir darauf, ihm die Schaluppe mit
8 Mann hinuͤber zu ſchicken, weil er ſelbſt
willens waͤre, den Fund in Augenſchein zu
nehmen. Das Erſtere geſchah; als er je-
doch auf dem Herwege noch etwa 80 Klaf-
tern von meinem Borde entfernt war, erhob
ſich ploͤtzlich ein ſo heftiger Windwirbel, daß
man ſich auf unſerm eigenen Schiffe genoͤ-
thigt ſah, die Segel eiligſt einzuziehen.
Dieſer Zufall benahm meinem Kapitain den
Muth. „Kommt! kommt! Zu mir her-
uͤber!‟ rief er mir aus dem Fahrzeuge zu;
und indem er an meine Seite legte, hoͤrte
er nicht auf mit: „Her zu mir, in die
Schaluppe! Fort! fort!‟ — bis ich ihm
den Willen that, mit dem Reſt meiner Leute
zu ihm einſtieg, und ſolchergeſtalt mit ihm
nach unſerm Schiffe zuruͤck ruderte. Als
wir dort ankamen, ward die Schaluppe un-
ter die Takel gebracht, empor gehoben und
wieder an ihrem Platze befeſtigt.
Sobald wir nun wieder in Ordnung
und zu Beſinnung gekommen waren, galt
es die Frage: Was mit dem herrenloſen
Schiffe zu thun oder zu laſſen ſey? — Jch
und Mehrere mit mir ſtellten dem Kapitain
auf das triftigſte vor, daß es doch Suͤnde
und Schande ſeyn wuͤrde, wenn wir dieſen
Fund ſo um nichts und wieder nichts auf-
geben wollten. Allein wie dringend wir
ihm auch anlagen, ſo ſchien doch ſein Wi-
derwille gegen jedes weitere Vornehmen zu
dieſem Zwecke ſo gut, als unbezwinglich;
und, wohlerwogen, war es ihm eigentlich
auch nicht zu verdenken, wenn er uͤble Luſt
bezeugte, ſich mit einem Handel dieſer Art
zu ſchaffen zu machen. Die Sache hieng
aber ſo zuſammen.
Auf ſeiner vorigen Fahrt nach der Kuͤſte
von Guinea hatte Kapitain Harmel von ei-
nem engliſchen Sklaven-Schiffe Beſitz ge-
nommen, das, in Folge einer unter den
Schwarzen ausgebrochenen Meuterei, von
Dieſen uͤberwaͤltigt worden war. Sie hat-
ten, beinahe hundert Koͤpfe ſtark, die ganze
Schiffsmannſchaft, bis auf einen Steuer-
mann und zwei Matroſen, ermordet, welche
unter dem Beding verſchont worden wa-
ren, daß ſie die Negern in deren Heimath
zuruͤck fuͤhren ſollten. Auf dieſem Zuge
nun fielen ſie meinem Kapitain in die Haͤnde;
und es munkelte nicht nur, daß er mit ih-
nen, wie mit der Schiffsladung, nicht zum
beſten gewirthſchaftet, ſondern daß auch
das Schiff ſelbſt von feinen darauf geſetz-
ten Leuten verwahrlost und bei St. Georg
de la Mina geſtrandet ſey. Hieruͤber hat-
ten die Rheeder deſſelben in England ge-
gen Harmel ein gerichtliches Verfahren ein-
geleitet und wollten ihn fuͤr nichts beſſers,
als einen Seeraͤuber erklaͤrt wiſſen. Dieſer
Proceß ſchwebte auch noch in dem nemlichen
Augenblick vor den hollaͤndiſchen Gerich-
ten; und je zweifelhafter es war, wie das
End-Urtel ausfallen koͤnnte, um ſo weniger
mocht’ er allerdings Neigung in ſich ſpuͤ-
ren, etwas Friſches auf ſein Kerbholz zu
bringen.
Wir jedoch, die wir die Sache mit
ganz andern Augen anſahen, drangen ſo
ungeſtuͤm und unablaͤſſig in ihn, das Schiff
zu beſetzen, daß er endlich einwilligte, die
große Schiffsglocke laͤuten zu laſſen und
einen allgemeinen Schiffsrath zu halten,
deſſen Gutachten nicht zweiſelhaft ausfallen
konnte, indem hier Alle und Jede ihre Mey-
nung von ſich geben ſollten. Es ward be-
ſchloſſen, das Zwoͤlf von den Unſern das
Schiff zur Nothdurft bemannen und ich die
Ehre haben ſollte, es nach einem hollaͤndi-
ſchen Hafen in Sicherheit zu bringen.
„Gut gemeynt, aber ſchlecht berathen!‟
war meine Einrede — „und ſo muß ich
mich der zugedachten Ehre hoͤflichſt bedan-
ken. Wer moͤchte wohl eine ſolche Com-
miſſion ſo loſen Fußes auf ſich nehmen?
Denn wie? wenn nun auf dem Wege nach
Europa irgend ein engliſches, franzoͤſiſches
oder anderweitiges Kriegsſchiff auf mich
ſtieſſe und nach meinen Schiffspapieren
fragte? Moͤcht ich zehnmal verſichern und
ſchwoͤren, daß es mit dem Funde ehrlich
und chriſtlich zugegangen: wer wuͤrde mir’s
glauben, und mich nicht vielmehr fuͤr ei-
nen argen Freubeiter erklaͤren und mir und
all meinen Gefaͤhrten die hanfene Schleife
zuerkennen? — Und ſteckt nicht noch dort
die Kugel im Schiffsrumpfe in dem ge-
ſplitterten Barkholz, die wir vorhin abge-
ſchoſſen haben, und Zeugniß von gebrauch-
ter Gewalt- gegen uns ablegen wuͤrde? —
Jm beſten Falle wuͤrden wir in ein finſtres
Loch geſteckt und koͤnnten ſchwitzen, bis wir
ſchwarz wuͤrden, bevor die Mannſchaft der
Chriſtina, die unterdeß in den afrikaniſchen
Gewaͤſſern umherſchweifte, vernommen wer-
den koͤnnte und uns wieder aus der Patſche
huͤlfe.‟
Meinem Bedenken war nicht fuͤglich zu
widerſprechen: doch fand und ergriff man
endlich den Ausweg, daß, zu meiner beſſern
Beglaubigung, ein ſchriftliches Zeugniß uͤber
den ganzen Hergang, mit all ſeinen beſon-
dern Umſtaͤnden, ausgefertigt und von der
geſammten Harmelſchen Schiffsmannſchaft
eigenhaͤndig unterzeichnet werden ſollte. Da
es nun in Holland herkoͤmmliche Einrichtung
iſt, daß vor dem Auslaufen eines jeden
Schiffes die geſammte Beſatzung ihre Na-
menszuͤge bei der Admiralitaͤt in die Schiffs-
Regiſter eintragen muß, um vorkommenden
Falles dadurch bewahrheitet zu werden, ſo
konnte die Aechtheit dieſer Urkunde in Rot-
terdam unfehlbar ausgemittelt werden und
dieſem Beweiſe unſrer Ehrlichkeit nichts zur
Guͤltigkeit abgehen. Auch ich erklaͤrte mich
nun mit einem ſolchen Paſſe zufrieden.
Jnzwiſchen nahte der Abend bereits
heran; und bei dem ſtuͤrmiſchen Wetter
ſchien es am rathſamſten, jene Ausfertigung
bis zum naͤchſten Morgen zu verſchieben;
damit jedoch dem fremden Schiffe bis da-
hin, falls es laͤnger ſich ſelbſt uͤberlaſſen
bliebe, kein Zufall zuſtieße, ſollte der Unter-
ſteuermann Peters daſſelbe mit 10 Matro-
ſen vorlaͤufig ſogleich in Obhut nehmen.
Seine Jnſtruction lautete dahin, ſich mit
dem Schiffe ſo nahe, als moͤglich, an dem
unſrigen zu halten, und es wurden die
Signale verabredet, woran beide ſich waͤh-
rend der Nacht erkennen wollten. Zwar
kannten wir ihn als einen nicht ſonderlich
gewiegten Seemann: doch ſchien der Dienſt,
wozu er beordert worden, um ſo weniger
bedenklich, da ich ihn binnen 12 oder 15
Stunden abzuloͤſen gedachte, um ſodann das
Schiff nach Holland heimzufuͤhren.
So fuhr denn Peters mit ſeiner be-
ſtimmten Mannſchaft in unſrer Schaluppe
an Bord hinuͤber; die Segel wurden dort
den unſrigen gleichgeſtellt, und das Schiff
gewann wieder einen feſten und regelmaͤßi-
gen Gang, bei welchem es, etwa in der
Entfernung eines Kanonenſchuſſes, uns zur
Seite blieb. Mit Einbruch der Nacht ſteck-
ten wir unſre Laterne aus, und dort ge-
ſchah ein Gleiches. Jch verſah die erſte
Wache von 8 bis 12 Uhr, und nahm mit
meinen Leuten wahr, daß ſich das jenſeitige
Licht je mehr und mehr entfernte und end-
lich zwiſchen 10 und 11 Uhr gar erloſch.
Augenblicklich ward dies dem Kapitain ge-
meldet und hierauf beſchloſſen, einen Stuͤck-
ſchuß abzufeuern, um unſerm Gefaͤhrten un-
ſre Richtung anzugeben.
Der Erfolg war keinesweges befriedigend.
Wir wiederholten nun dieſe Signal-Schuͤſſe
von Zeit zu Zeit die ganze Nacht hindurch;
ja ſteckten endlich ſelbſt ſcharfe Patronen auf,
um den Knall zu verſtaͤrken und in deſto wei-
tere Ferne gehoͤrt zu werden. Unter ſtei-
gender Unruhe graute endlich der Morgen
heran; Alles eilte an den Maſten hinauf, um
ſich rings umher umzuſehen. Umſonſt! Freund
Peters, ſammt unſrer Priſe, war und blieb
verſchwunden!
Unſre Beſtuͤrzung war nicht geringe. Wie
war dies zugegangen? Was war geſchehen?
Was konnte geſchehen ſeyn? — Ein uner-
meßliches Feld eroͤffnete ſich unſern Muth-
maaſſungen und Zweifeln. Manche waren
der Meynung, unſre Leute waͤren, zuſammt
dem Schiffe, geſunken; ſo wie es auch zuvor
ſchon von ſeiner eigentlichen Beſatzung um
irgend eines, nicht mehr zu ſtopfenden Lecks
willen, verlaſſen worden ſeyn moͤchte. Dem
mußte ich aber, mit Fug entgegnen, daß ich,
ſammt Allen, die mit mir am Bord gewe-
ſen, das Schiff dicht und gut befunden;
daß wir das wenige Waſſer, das ſich am
Kiele geſammlet, mit leichter Muͤhe ausge-
pumpt, und daß ich ja auch ſelbſt in den
Raum hinabgeſtiegen geweſen, ohne etwas von
eingedrungenem Waſſer zu ſpuͤren. Billig
alſo ward dieſe Vorausſetzung verworfen.
Moͤglicher aber ſchien es uns, und ſtieg
bald zur aͤngſtlichen Beſorgniß, daß aller-
dings doch Leute im Schiff verſteckt gewe-
ſen, die bei Nacht unverſehens hervorgebro-
chen, die Unſrigen uͤberwaͤltigt und ermordet
und ſich, unter Beguͤnſtigung der Finſterniß,
davongemacht haͤtten. Gewaltthaͤtigkeit und
Meuterei ſchien, wie die zerſplitterte Kajuͤten-
Thuͤre bewies, allerdings, vor dem Begeg-
niß mit uns, auf dem Schiffe ſtattgefunden
zu haben. Wußten ſich nun die Empoͤrer
ſchuldig, ſo war es wohl natuͤrlich, daß ſie,
als ſie uns unter Flagge und Wimpel auf ſich
zukommen und ſie mit Kanonenſchuͤſſen begruͤ-
ßen ſahen, in der Unmoͤglichkeit, uns zu ent-
kommen, ſich lieber in die geheimſten Winkel
verkrochen hatten und es auf den Zufall an-
kommen laſſen, ob wir ſie entdecken, oder ob
ſie vielleicht den Mantel der Nacht gewinnen
wuͤrden, um mit dem Schiffe wieder durch-
zugehen. Wir hatten alſo wohl nur zuviel
Urſache, das Schickſal unſrer armen zwoͤlf
Gefaͤhrten zu bedauern.
Allein ſelbſt wenn wir ihnen auch das
beſſere Loos wuͤnſchen wollten, daß ſie — Sey
es durch Zufall, Ungeſchicklichkeit, oder gar
durch vorſaͤtzlichen boͤſen Willen, — in der
Nacht von uns abgekommen, ſo waren ſie dar-
um noch wenig beſſer berathen; und nicht nur
ſahen ſie ſich all den Gefahren ausgeſetzt, die ich
geſcheut und zu vermeiden geſucht hatte:
ſondern es ſtand auch uͤberhaupt gar ſehr
dahin, ob ſie jemals Holland oder irgend
eine andre Kuͤſte wohlbehalten erreichen moͤch-
ten. Der Steuermann war, wie ſchon ge-
ſagt, ein Dummbart, welcher der Fuͤhrung
eines Schiffes auf einen ſo weiten Weg kei-
nesweges gewachſen war. Doch haͤtt’ es auch
beſſer um ſein Wiſſen geſtanden, ſo fehlte es
ihm
ihm auch zu einem ſolchen, nimmer von ihm
zu erwartenden Wageſtuͤck ganz an einem ſeſten
Punkte, welchen er bei ſeiner Schiffsrechnung
haͤtte zum Grunde legen koͤnnen: denn in
der Eile, womit ſeine Abſendung betrieben
wurde, war entweder nicht daran gedacht,
oder uͤberhaupt fuͤr die kurze Zeit ſeines Dien-
ſtes nicht fuͤr noͤthig gehalten worden, ihm
unſre zuletzt beobachtete Laͤnge und Breite
mitzugeben. Eben ſo wenig fand er dort
Jnſtrumente nach hollaͤndiſcher Art, (wie er
ſie allein gewohnt war) um die Sonnenhoͤhe
zu nehmen; und fielen ihm auch die dort
gefuͤhrten Schiffs-Journale und Seekarten in
die Haͤnde, ſo |blieben ſie ihm doch eben ſo
unnuͤtz zum Gebrauche, da ſie in franzoͤſiſcher
Sprache verzeichnet waren. Jmmer alſo ga-
ben wir, nicht ohne Kummer, ihn und die
Seinen verloren!
Erſt einige Tage nachher klaͤrte ſich we-
nigſtens Einiges, was uns an dieſem Schiffe
raͤthſelhaft war, um etwas heller auf: aber
den voͤlligen Zuſammenhang der Dinge, ſo
wie das weitere Schickſal deſſelben, ſollte uns
erſt in ſpaͤterer Zeit und auf verſchiedenen
Wegen zu einer befriedigenden Kenntniß kom-
men. Jene erſten Entdeckungen ergaben ſich
uns, als ich zufaͤllig den Schanzloper wieder
1. Bändchen. (18)
auf den Leib zog, welchen ich zu jenem Male,
da ich auf dem fremden Schiffe geweſen,
getragen. Jndem ich nemlich zufaͤllig in die
Taſche griff, kamen mir die Briefe wieder
in die Haͤnde, welche ich damals zu mir ge-
ſteckt hatte, ohne mich Jhrer bis jetzt wieder
zu erinnern. Jch eilte mit meinem Fund
zu dem Kapitain in die Kajuͤte, und es gab
kein Bedenken, die Briefe zu oͤffnen, damit
wir einſt, im entſtehenden Falle, um ſo leich-
ter von unſerm beſtandenen Abendtheuer Rede
und Antwort zu geben vermoͤchten.
Zwar waren dieſe Papiere, wie wir nun-
mehr erſahen, franzoͤſiſch abgefaßt, und alſo
uns Beiden unverſtaͤndlich: allein wir hatten
einen franzoͤſiſchen Matroſen, Namens Joſephe,
an Bord, welcher recht huͤbſche Kenntniſſe
beſaß undſofort gerufen wurde, um uns als
Dollmetſcher zu dienen. So beſtaͤtigte ſich
denn unſre fruͤhere Vermuthung, daß das
verlaſſene Schiff ein franzoͤſiſches gewe-
ſen. Es war von Havre de Grace ausgegan-
gen, und zwar nur vier Tage fruͤher, als
wir von Goree in See gelaufen. Martinique
hatte ſein Beſtimmungsort ſeyn ſollen.
Name des Schiffs, ſo wie des Kapitains,
ſind mir wieder entfallen; auf die Sache
ſelbſt aber werde ich noch weiterhin wieder
zuruͤck kommen.
Jnzwiſchen befoͤrderten wir unſre Reiſe
nach Moͤglichkeit; kamen ins Geſicht von
Madera und Teneriffa, paſſirten die Cap-
verdiſchen Jnſeln und erblickten am 24ſten
December die Kuͤſte von Guinea unter 4
Grad 10 Minuten Noͤrdlicher Breite, liefen
anfangs nach der Sierra Leona hinauf, und
warfen endlich am 4ten Januar 1772 vor
Cap Meſurado den Anker.
Ende des Erſten Theils.