Wer den Entwickelungsgang eines Kindes mit Sorgfalt und Auf-
merksamkeit verfolgt und das allmähliche Hervortreten der Leibes- und
Geisteskräfte zu beachten versteht, wird über die große Wichtigkeit des
Spieles für diese Entwickelung nicht im Zweifel sein. Im Spiel schafft
sich das Kind seine eigene Welt! Bei seiner lebhaften Einbildungskraft
wandeln sich ihm auch ernste Beschäftigungen, wenn es anders mit Herz
und Seele dabei ist, leicht in ein heiteres Spiel. Es hat deshalb auch
mehr als ein berühmter Erzieher den Ernst des Unterrichts dem Sinne
der Jugend dadurch zu vermitteln gesucht, daß er ihn in das Gewand
des Spieles hüllte.
Leider hat nun der Mißbrauch, den bisweilen das Ungeschick
sich mit einer unrichtigen Vermischung von Spiel und Unterricht
hat zu Schulden kommen lassen, von manchen Seiten einen ent-
schiedenen Widerspruch gegen eine besondere Berücksichtigung des
Spieles überhaupt wachgerufen. Es ist richtig, daß das sogenannte
spielende Lernen über den Scherz leicht des nötigen Ernstes vergißt.
Umgekehrt aber wird ein Lehrer, der sich nur an seine nächste Aufgabe
hält und sich darauf beschränkt, unter Anwendung der Zuchtrute der
Jugend das vorgeschriebene Maß Wissen einzuprägen, seine Pflicht viel-
leicht nicht weniger schlimm vernachlässigen. Das Wort, daß der Mensch
nur da ganz Mensch ist, wo er spielt, gilt im vollsten Maße vom
Kindesalter. Die Gelegenheit, die das Spiel uns bietet, uns voll und
ganz auszuleben, hat das Kind am nötigsten, damit in ihm die viel-
seitigen Anlagen von Leib und Seele zur Entfaltung kommen können.
Denn die Freude beim Spiele bringt die verschiedensten Kräfte in rege
Thätigkeit. Wird dem Kinde diese Lebensbedingung nicht hinreichend
geboten, so ist zu fürchten, daß es körperlich und geistig in der Entwicke-
lung zurückbleibt und zu einer Mißgestalt, zum Krüppel heranwächst,
wie die junge Pflanze, der es an Licht und Luft fehlt.
Es ist hier streng zu scheiden zwischen wirklichem Spiel und eitler
Spielerei. Dieser ist es nur darum zu thun, die Stunden mühelos aber
auch nutzlos auszufüllen. Das echte Spiel dagegen will nicht minder
mit Anspannung aller Kräfte betrieben werden, als die Arbeit, nur daß
dabei die Freiheit gewahrt bleibt. Das ist das untrügliche Kennzeichen
eines guten Spieles, daß dabei alle freiwillig ihr Bestes thun und keine
Anstrengung scheuen. Der Erzieher, der, weil es einmal bei der Er-
ziehung nicht ohne Zwang abgeht, in der Ausübung dieses Zwanges
seine Hauptaufgabe sieht, versäumt darüber die schönste und höchste
Pflicht seines Berufes. Nur den schlechten Eigenschaften der Jugend
gegenüber ist der Zwang berechtigt. Der einsichtsvolle Erzieher wird
sich vielmehr an das Gute in ihr halten, dies zu entwickeln und zu
fördern suchen, ihm Raum und Gelegenheit schaffen, daß es hervortreten
und sich geltend machen könne. Und das ist nur zu erreichen auf dem
Boden der Freiheit. Auch für den Unterricht sind die köstlichsten Er-
folge nur dann erreichbar, wenn er im Schüler selbst die freie Luft an
der Arbeit zu erwecken weiß. So erwirbt sich Jeder körperliche Tüchtig-
keit von frühester Jugend auf am besten im freien Spiele. Zunächst
übt das Einzelspiel seine Kraft und Geschicklichkeit, dann reizt beim
Spielen mit Geschwistern oder den nächststehenden Altersgenossen der
Wetteifer zu stärkern Leistungen, endlich umfängt ihn die Gemeinschaft
der Schule und treibt ihn an, vor einem weitern Kreise in den Schul-
spielen sein Bestes zu versuchen.
Die Schulspiele dürfen nicht als bloße Leibesübungen angesehen
werden, sondern sie sollen die Schuljugend zu einem Jugendgemeinwesen
im Sinne Fichtes vereinigen. Näher als in der Schule bringt der ge-
sellige Verkehr auf dem Spielplatze die Knaben zusammen, lehrt sie, Ver-
träglichkeit und Selbstbeherrschung im Verkehre mit den andern zu
üben, daneben auch sich in ihrer Mitte geltend zu machen. Indem
der einzelne im freien Spiele selbst seine Rechte zu wahren, die der
andern anzuerkennen lernt, entfaltet sich in ihm der Rechtssinn. Indem
er mit seinen Genossen in die Wette um den Sieg ringt, den mutigen
Gewinner gekrönt, den trägen Schwächling verspottet sieht, erwacht in
ihm die Thatkraft, die Luft, zu wagen und seine Kräfte voll einzusetzen.
Schließlich ist es der schönste Erfolg des Spiellebens, wenn in dem
einzelnen durch die Erkenntnis des gemeinsamen Zweckes das Gefühl für
die Zugehörigkeit zu dem großen Ganzen wachgerufen wird, und er selbst
unter Verzichtleistung auf eigene Auszeichnung im Kreise seiner Ge-
nossen für das Gute und Rechte kräftig einzustehen sich entschließt. Ein
solch edler Gemeingeist möge jede freie Spielgemeinde beseelen!
Die Klage über die Vergnügungssucht der heutigen Gesellschaft ist
nicht selten. Jedenfalls
ist es sehr schlimm, wenn die Jugend zu man-
cherlei Genüssen vor der Zeit offen oder
verstohlen sich herandrängt oder
gar von thörichten Eltern herangeführt wird. Das kräftige
Spiel im
Freien bietet ihr eine reine Freude, deren Folgen nicht schädlich, sondern
heilsam sind. Im Sommer wird sie dabei trotz der Sonnenglut sich mit
Luft und Freude
herumtummeln und ebenso im Winter der Unbill der
Witterung sich auszusetzen nicht scheuen. Wenn
sie rechtzeitig durch
frühe und unausgesetzte Gewöhnung für solche Freuden Empfänglichkeit
gewonnen hat, wird sie viel weniger in Versuchung kommen, sich jene
bedenklichen und
verderblichen Genüsse zu verschaffen. Ja, bei richtiger
Leitung der Spiele und des ganzen
turnerischen Lebens und Treibens
soll die Jugend nicht bloß Kraft, Ausdauer und Abhärtung
gewinnen,
sondern auch Entbehrungen zu ertragen und Entsagung zu üben an-
geleitet werden,
damit das herrlichste Ergebnis der Leibesübungen er-
reicht wird, daß der Geist nicht bloß über
Sehnen und Muskeln des
Leibes vollkommen Herr werde, sondern auch über dessen
Begehrlichkeiten
und Leidenschaften, daß die Jugend mit einem Worte die Selbstzucht
üben
lerne, die im spätern Leben dem Manne not thut. In diesem
Sinne ergeht unsere Aufforderung an
alle Eltern und Erzieher, die
Jugend von früh auf hinauszuführen zum kräftigen Spiel in
freier Luft.