1) Schreiben des Herrn Jules Gérard, Lieutenant bei den
Spahis, an Herrn Al. von Humboldt.
Paris, den 8. Mai 1854.
... Sie haben mir die Ehre erzeigt, mich zu befragen, welches die
größte Kälte ſein möchte, die der Löwe ertragen könnte. Die Aurès-Ge-
birge, die höchſten in Algerien, ſind immer von einigen Löwen bewohnt.
Jm Sommer halten ſie ſich nicht fern von den Rücken der Gebirge auf, wo
es immer luftig und kühl iſt; im Winter ziehen ſie ſich tiefer hinab, in das
Hügelland, welches an das Meer grenzt, das aber auch während zweier Mo-
nate etwa mit Schnee bedeckt wird, und zuweilen noch länger. Die größte
Kälte in dieſen Gegenden ſinkt nie unter 10° unter Null; in den Monaten
December, Januar und Februar hält die Kälte 2 bis 6 Grade unter dem Ge-
frierpunkt an. Sie iſt alſo ſchärfer, als in Südfrankreich. Jm ganzen übri-
gen Jahre ſind die Löwen nie lebendiger und friſcher, als bei größerer Kälte;
dann ſind ſie für die Araber viel verderblicher, als in der ganzen übrigen
Jahreszeit.
Wenn die Löwen jene größten Höhen oder halbe Höhen der Hochrücken
der Gebirge verlaſſen, ſo geſchieht dies weniger der Kälte, als des hohen
Schnees wegen, welcher alle Wege überdeckt. Der Löwe iſt das reinlichſte
aller Thiere und übertrifft darin ſelbſt den Menſchen; den geringſten Schmutz,
den kleinſten Fleck leidet er nicht. Muß er über feuchten, oder moraſtigen
Boden gehen, ſo wählt er immer den trockenſten Pfad und er biegt lieber aus
dem ſchmutzigen Wege in den Wald ein, um dann wieder auf den trocken
gewordenen Pfad zurückzukehren. Muß er durch den Schnee gehen, ſo bleibt
er von Zeit zu Zeit ſtill ſtehen und ſchüttelt den Schnee von den Tatzen und
dem Körper ab, an den ſich derſelbe gehängt hat. Dann iſt der Löwe nach mei-
nen Beobachtungen viel weniger träge, wie in der Sommerzeit, wo er ſich
mehr keuchend und angegriffen zeigt.
Aus meinen Beobachtungen ergiebt ſich, daß der Löwe die große Kälte
beſſer erträgt, als die große Hitze, und daß er in weit kälteren Gegenden, als
die von Algerien ſind, wohl leben könnte, wenn er daſelbſt nur hinreichende
Heerden und Waldung fände.
Jch muß es bedauern, daß ich bis jetzt der Einzige bin, der ſich im All-
gemeinen mit der Löwenjagd beſchäftigt hat. Wie würde es mich freuen,
wenn ich aus den verſchiedenſten Nationen Theilnehmer an dieſer Arbeit und
dieſer Jagd fände; ich würde ſie brüderlich aufnehmen. Jch habe beim fran-
Ueber die Winterkälte, welche größere Säugethiere ertragen können.
zöſiſchen Gonvernement den Antrag auf Einrichtung einer Löwenjägerei ge-
macht, das heißt, eine Anzahl Jäger zu inſtalliren, die ſich dieſem Geſchäfte
widmeten; man hat gemeint, daß dieſe nur eine perſönliche, mich betreffende Ein-
richtung ſein und mit meinem Abgange auch wieder in ſich zerfallen würde.
Jch habe ein größeres Vertrauen zu ſolchem Unternehmen, und ſchon verei-
nigt ſich ein niederländiſcher Officier mit mir, freilich nur zu einer erſten Probe;
hoffentlich werden wir noch mehrere andere Theilnehmer finden. Jch werde
meine Aufgabe in dieſer Beziehung, wenn es mir die Umſtände geſtatten, wei-
ter führen, und bereit ſein, über jede weitere Anfrage, die Sie an mich thun
möchten, weitere Auskunft zu geben.
2) Bemerkungen des Herrn Al. von Humboldt.
Nachſchrift. Auch der Tiger im nördlichen Aſien, der von dem ben-
galiſchen gar nicht verſchieden iſt, verträgt eine große Winterkälte, wie Ehren-
berg in den Annales de Scienc. naturelles T. XXI p. 387—412 und ich
in der Asie centrale T. I, p. 339 und T. III, p. 96, von der ſibiriſchen
Expedition zurückkehrend, ausführlich entwickelt haben. Tiger zeigen ſich im
Sommer in Aſien am Obi bis in die Breite von Hamburg, Rennthiere ge-
hen bisweilen gegen Süden (nach Helmerſen) bis in die Gegend von Oren-
burg, Breite 51¾°. Der Corvetten-Capitain Alexis Butakoff, dem wir die
genauere Aufnahme des ganzen Aralſees verdanken, ſchreibt mir von Arals-
koi Krepoſt an der Mündung des Syr Dariah, daß im Winter 1852, wo
vom November bis April das Réaum. Thermometer meiſt 18° unter dem
Nullpunkt zeigte, die Tiger lüſtern im Schilf am öſtlichen Ufer des Aral-
ſees lebten und viele Pferde und zwei Kirghiſen fraßen (Breite von Genf).
Jm ſüdlichen Theil des Altai leben in gewiſſen Jahreszeiten das Elenthier,
der Tiger, das Rennthier und der langhaarige Panther (Jrbit). Die Kno-
chen dieſer Thiere könnten ſich demnach friſch in einer Lagerſtätte in der Jetzt-
welt finden und den Geognoſten in Erſtaunen ſetzen.
A. von Humboldt.