Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt .
Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt .
Herausgegeben
von
J. G. Herder .
Dritte Sammlung .
Riga , 1794 .
bei Johann Friedrich Hartknoch .
27 .
S ie fuͤrchten , daß man dem Wort Humani-
taͤt einen Fleck anhaͤngen werde S. das Ende des vorigen Briefes .
A. d. H. ; koͤnnten
wir nicht das Wort aͤndern ? Menſchheit ,
Menſchlichkeit , Menſchenrechte ,
Menſchenpflichten , Menſchenwuͤr -
de , Menſchenliebe ?
Menſchen ſind wir alleſammt , und
tragen ſofern die Menſchheit an uns ,
oder wir gehoͤren zur Menſchheit . Lei-
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der aber hat man in unſerer Sprache dem
Wort Menſch , und noch mehr dem barm-
herzigen Wort Menſchlichkeit ſo oft
eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit ,
Schwaͤche und falſchem Mitleid angehaͤngt ,
daß man jenes nur mit einem Blick der
Verachtung , dies mit einem Achſelzucken zu
begleiten gewohnt iſt . „ Der Menſch ! “ Adelung hat ſogar dem verbannenswuͤrdi-
gen Ausdruck „ das Menſch “ einen langen
Artikel einraͤumen muͤſſen . A. d. H .
ſagen wir jammernd oder verachtend und
glauben einen guten Mann aufs lindeſte
mit dem Ausdruck zu entſchuldigen : „ es
habe ihn die Menſchlichkeit uͤbereilet . “
Kein Vernuͤnftiger billigt es , daß man den
Charakter des Geſchlechts , zu dem wir ge-
hoͤren , ſo barbariſch hinabgeſetzt hat ; man
hat hiemit unweiſer gehandelt , als wenn
man den Namen ſeiner Stadt oder Lands-
mannſchaft zum Eckelnamen machte . Wir
alſo wollen uns huͤten , daß wir zu Befoͤr-
derung ſolcher Menſchlichkeit keine
Briefe ſchreiben .
Der Name Menſchenrechte kann
ohne Menſchenpflichten nicht genannt
werden ; beide beziehen ſich auf einander ,
und fuͤr beide ſuchen wir Ein Wort .
So auch Menſchenwuͤrde und Men -
ſchenliebe . Das Menſchengeſchlecht , wie
es jetzt iſt und wahrſcheinlich lange noch
ſeyn wird , hat ſeinem groͤßeſten Theil nach
keine Wuͤrde ; man darf es eher bemitlei-
den , als verehren . Es ſoll aber zum
Charakter ſeines Geſchlechts , mit-
hin auch zu deſſen Werth und Wuͤrde
gebildet werden . Das ſchoͤne Wort Men -
ſchenliebe iſt ſo trivial worden , daß man
meiſtens die Menſchen liebt , um keinen
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unter den Menſchen wirkſam zu lieben .
Alle dieſe Worte enthalten Theilbegriffe
unſeres Zwecks , den wir gern mit Einem
Ausdruck bezeichnen moͤchten .
Alſo wollen wir bei dem Wort Hu -
manitaͤt bleiben , an welches unter Al-
ten und Neuern die beſten Schriftſteller
ſo wuͤrdige Begriffe geknuͤpft haben . Hu-
manitaͤt iſt der Charakter unſres Ge -
ſchlechts ; er iſt uns aber nur in Anla-
gen angebohren , und muß uns eigentlich
angebildet werden . Wir bringen ihn nicht
fertig auf die Welt mit ; auf der Welt
aber ſoll er das Ziel unſres Beſtrebens ,
die Summe unſrer Uebungen , unſer Werth
ſeyn : denn eine Angelitaͤt im Menſchen
kennen wir nicht , und wenn der Daͤmon ,
der uns regiert , kein humaner Daͤmon iſt ,
werden wir Plagegeiſter der Menſchen .
Das Goͤttliche in unſerm Geſchlecht iſt
alſo Bildung zur Humanitaͤt ; alle
großen und guten Menſchen , Geſetzgeber ,
Erfinder , Philoſophen , Dichter , Kuͤnſtler ,
jeder edle Menſch in ſeinem Stande , bei
der Erziehung ſeiner Kinder , bei der Be-
obachtung ſeiner Pflichten , durch Beiſpiel ,
Werk , Inſtitut und Lehre hat dazu mitge-
holfen . Humanitaͤt iſt der Schatz und die
Ausbeute aller menſchlichen Bemuͤhungen ,
gleichſam die Kunſt unſres Geſchlech -
tes . Die Bildung zu ihr iſt ein Werk ,
das unablaͤßig fortgeſetzt werden muß ; oder
wir ſinken , hoͤhere und niedere Staͤnde ,
zur rohen Thierheit , zur Brutalitaͤt
zuruͤck .
Sollte das Wort Humanitaͤt alſo un-
ſre Sprache verunzieren ? Alle gebildete
Nationen haben es in ihre Mundart auf-
genommen ; und wenn unſre Briefe einem
Fremden in die Hand kaͤmen , muͤßten ſie
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ihm wenigſtens unverfaͤnglich ſcheinen :
denn Briefe zu Befoͤrderung der
Brutalitaͤt wird doch kein Ehrliebender
Menſch wollen geſchrieben haben .
28.
G ern nehme ich mit Ihnen das Wort
Humanitaͤt in unſre Sprache , wenig-
ſtens im Kreiſe unſrer Geſellſchaft auf ;
der Begriff , den es ausdruͤckt , noch mehr
aber deſſen Geſchichte ſcheint ihm das
Buͤrgerrecht zu geben .
So lange der Menſch , dies wunderbare
Raͤthſel der Schoͤpfung , ſich ſeinem ſichtba-
ren Zuſtande nach betrachtete , und ſich da-
bei mit dem was in ihm lag , mit ſeinen
Anlagen und Willenskraͤften oder gar mit
aͤußern Gegenſtaͤnden der daurenden Na-
tur verglich , ſo ward er auf das Gefuͤhl
der Hinfaͤlligkeit , der Schwaͤche und
Krankheit zuruͤckgeſtoßen ; daher in meh-
reren morgenlaͤndiſchen Schriften dieſer
Begriff dem Namen unſres Geſchlechts
urſpruͤnglich beigeſellet iſt . Der Menſch
iſt von Erde , eine zerbrechliche , von
einem fluͤchtigen Othem durchhauchte Leim -
huͤtte ; ſein Leben iſt ein Schatte , ſein
Loos iſt Muͤhe auf Erden .
Schon dieſer Begriff fuͤhrte zur
Menſchlichkeit , d. i. zum erbarmenden
Mitgefuͤhl des Leidens ſeiner Nebenmen-
ſchen , zur Theilnahme an den Unvollkom-
menheiten ihrer Natur , mit dem Beſtre-
ben , dieſen zuvorzukommen oder ihnen ab-
zuhelfen . Die Morgenlaͤnder ſind ſo reich
an Sittenſpruͤchen und Einkleidungen , die
dies Menſchengefuͤhl als Pflicht einſchaͤr-
fen oder als eine unſerm Geſchlecht unent-
behrliche Tugend empfehlen , daß es ſehr
ungerecht waͤre , ihnen Humanitaͤt abzu-
ſprechen , weil ſie dies Wort nicht be-
ſaßen .
Die Griechen hatten fuͤr den Menſchen
einen edleren Namen : ανϑϱωπος ein Auf -
waͤrtsblickender , der ſein Antlitz und
Auge aufrecht empor traͤgt , oder wie Plato
es noch kuͤnſtlicher deutet , Einer , der , in-
dem er ſieht , auch uͤberzaͤhlt und rechnet .
Sie konnten indeſſen eben ſo wenig um-
hin , in dieſem aufrechtblickenden , Vernunft-
artigen Geſchlecht alle die Maͤngel zu be-
merken , die zum bedaurenden Mitgefuͤhl ,
alſo zur Humanitaͤt und zur Geſellung
fuͤhren . In Homer und allen ihren Dich-
tern kommen die zaͤrtlichſten Klagen uͤber
das Loos der Menſchheit vor . Erinnern
Sie ſich der Worte Apolls , wenn er die
armen Sterblichen beſchreibt ,
— Wie ſie , gleich den Blaͤttern des Baums ,
jetzt gruͤnen und friſch ſind ,
Von den Fruͤchten der Erde ſich naͤhrend ; dann
aber in Kurzem
Welken und fallen entſeelet dahin —
Oder wenn Jupiter ſelbſt die unſterb-
lichen Roſſe Achills bedauret , die um ih-
ren Gebieter trauren :
— Er ſprach im Innern der Seele :
Arme , warum doch gaben wir euch dem Koͤnige
Peleus ,
Einem Sterblichen , Euch , die niemals altern
und ſterben ?
Wars , mit den ungluͤckſeligen Menſchen euch
leiden zu ſehen ?
Denn elender iſt nirgend ein Weſen , als es
der Menſch iſt ;
Keines von allen , die uͤber der Erde ſich regen
und athmen . —
In demſelben Ton ſingen ihre lyriſche
Dichter .
Naͤchſt der Selbſterhaltung ward es al-
ſo die erſte Pflicht der Menſchheit , den
Schwaͤchen unſerer Nebengeſchoͤpfe beizu-
ſpringen und ſie gegen die Uebel der Na-
tur oder die rohen Leidenſchaften ihres eig-
nen Geſchlechts in Schutz zu nehmen .
Dahin ging die Sorge ihrer Geſetzgeber
und Weiſen , daß ſie in Worten und Ge-
braͤuchen den Menſchen dieſe unentbehrli-
chen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmen-
ſchen anempfahlen , und dadurch das aͤlteſte
Menſchen - und Voͤlkerrecht gruͤnde-
ten . Religion wars , vom Morde ſich zu
enthalten , dem Schwachen beizuſpringen ,
dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen ,
des Verwundeten zu pflegen , den Todten
zu begraben . In Religion wurden die
Pflichten des Ehebundes , der Eltern gegen
die Kinder , der Kinder gegen die Eltern ,
des Einheimiſchen gegen die Fremden ein-
gehuͤllet , und allmaͤlig dies Erbarmen auch
auf Feinde verbreitet Heyne hat dieſen Zweck alter griechiſcher
Inſtitute in mehreren ſeiner opuſcul . aca-
demic . vortreflich gezeiget . A. d. H. . Was Poeſie , und
Geſetzgebende Weisheit begonnen hatten ,
entwickelte die Philoſophie endlich ; und
wir haben es inſonderheit der Sokratiſchen
Schule zu danken , daß in Form ſo man-
nichfaltiger Lehrgebaͤude die Kenntniß
der Natur des Menſchen , ſeiner
weſentlichen Beziehungen und
Pflichten das Studium der erleſenſten
Geiſter ward . Was Sokrates bei den
Griechen that , brachten bei andern Voͤl-
kern Andre zu Stande ; Confucius z. B.
iſt der Sokrates der Sineſer , Menu der
Indier worden ; denn uͤberhaupt ſind die
Geſetze der Menſchenpflicht keinem Volk
der
der Erde unbekannt geblieben . In jeder
Staatsverfaſſung aber hat ſie nach Lage
und Zeit das ſogenannte Beduͤrfniß
des Staats Theils befoͤrdert , Theils
aufgehalten und verderbet .
Unter den Roͤmern alſo , denen das
Wort Humanitaͤt eigentlich gehoͤrt , fand
der Begriff Anlaß gnug , ſich beſtimmter
auszubilden . Rom hatte harte Geſetze ge-
gen Knechte , Kinder , Fremde , Feinde ; die
obern Staͤnde hatten Rechte gegen das
Volk , u. f. Wer dieſe Rechte mit groͤße-
ſter Strenge verfolgte , konnte gerecht
ſeyn , er war aber dabei nicht menſch -
lich . Der Edle , der von dieſen Rechten ,
wo ſie unbillig waren , von ſelbſt nachließ ,
der gegen Kinder , Sklaven , Niedre , Frem-
de , Feinde nicht als Roͤmiſcher Buͤrger oder
Patricier , ſondern als Menſch handelte , der
war humanus , humaniſſimus , nicht etwa in
Dritte Samml. B
Geſpraͤchen nur und in der Geſellſchaft ,
ſondern auch in Geſchaͤften , in haͤuslichen
Sitten , in der ganzen Handlungsweiſe .
Und da hiezu das Studium und die Liebe
der griechiſchen Weltweisheit viel that , daß
ſie den rauhen , ſtrengen Roͤmer nachgebend ,
ſanft , gefaͤllig , billigdenkend machte , konnte
den bildenden Wiſſenſchaften ein ſchoͤnerer
Name gegeben werden , als daß man ſie
menſchliche Wiſſenſchaften nannte ?
Gewiß war von ihnen die Philoſophie nicht
ausgeſchloſſen Erneſti Rede de humanitatis diſciplina iſt hieruͤber bekannt . A. d. H. ; vielmehr war ſie dieſer
bildenden Wiſſenſchaften Erzieherinn und
Geſellinn , bald ihre Mutter , bald ihre
Tochter geweſen .
Da bei den Roͤmern alſo die Huma -
nitaͤt zuerſt als eine Bezaͤhmerinn harter
buͤrgerlicher Geſetze und Rechte , als die ei-
gentliche Tochter der Philoſophie und bil-
denden Wiſſenſchaften einen Namen ge-
wonnen hat , der ſich mit dieſen nachher
weiter vererbte : ſo laſſen Sie uns ja Na-
men und Sache ehren . Auch in den aber-
glaͤubigſten , dunkelſten Zeiten erinnerte der
Name humaniora an den ernſten und ſchoͤ-
nen Zweck , den die Wiſſenſchaften befoͤr-
dern ſollten ; dieſen wollen wir , da wir
menſchliche Wiſſenſchaften doch nicht
wohl ſagen koͤnnen , mit und ohne dem
Wort Humanitaͤt , nie vergeſſen , nie auf-
geben . Wir beduͤrfen deſſen eben ſo wohl
als die Roͤmer .
Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die
Geſchichte ; es kam eine Zeit , da das Wort
Menſch ( homo ) einen ganz andern Sinn
bekam , es hieß ein Pflichttraͤger , ein
Unterthan , ein Vaſall , ein Die -
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ner Daher noch der Ausdruck : er iſt ein homo !
Du homo ! „ u. f. “ A. d. H. . Wer dies nicht war , der genoß
keines Rechts , der war ſeines Lebens nicht
ſicher ; und die , denen jene dienende Men-
ſchen zugehoͤrten , waren Uebermen -
ſchen . Der Eid , den man ihnen ablegte ,
hieß Menſchenpflicht ( homagium ) und
wer ein freier Mann ſeyn wollte , mußte
durch den Mann - Rechtsbrief bewei-
ſen , daß er kein homo , kein Menſch ſei .
Wundern Sie ſich nun , daß dem Wort
Menſch in unſrer Sprache ein ſo niedriger
Begriff anklebt ? ſeiner Abſtammung ſelbſt
heißt es ja nichts anders als ein verachte-
ter Mann , Menniſk' , ein Maͤnnlein Weder Wachter noch Adelung haben
dieſen Urſprung der Endung im Wort Men-
niſk bemerkt ; er ſcheint aber der wahre :
denn wenn man das Wort Menſch nach .
Auch Leute , Leutlein wurden nur als
Anhaͤngſel des Landes betrachtet , das ſie
bebauen mußten , auf welchem ſie ſtarben .
Der Fuͤrſt , der Edle war Herr und Eigen-
thuͤmer uͤber Land und Leute ; und ſeine
Seckeltraͤger , Canzliſten , Capellane , Vaſal-
len und Clienten waren homines , Men -
ſchen oder Menſchlein , mit mancher-
lei Nebenbeſtimmungen , die ihnen blos das
Verhaͤltniß gab , nach welchem ſie Ihm
angehoͤrten S. hieruͤber Du Fresne Gloſſar. artic.
Homo : Homines denariales , chartularii ,
fiſcales , eccleſiaſtici , de corpore , pertinen-
tes , commendati , caſati , feudales , exerci-
tales , ligii , de manu mortua , de ſuis ma-
nibus , de manupaſtu etc . . Laſſen Sie uns ja zum
Niederſaͤchſiſcher , d. i. der alten und aͤchten
Art ausſpricht , ſo heißt es Menſ -ch ( Mensk )
d. i. ein elender unbewehrter Mann , ein
Maͤnnlein . A. d. H .
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Begriff der Humanitaͤt bei Griechen und
Roͤmern uͤbergehen : denn bei dieſem bar-
bariſchen Menſchenrecht wird uns angſt
und bange .
29 .
D as Hauptgut wollen wir ja nicht ver-
geſſen , das uns die tiefere Betrachtung
der Menſchennatur fuͤr alle Zeiten erwor-
ben hat ; es iſt die Erkenntniß unſrer
Kraͤfte und Anlagen , unſres Be -
rufes und unſrer Pflicht . Eben in
dem , wodurch der Menſch von Thieren ſich
unterſcheidet , liegt ſein Charakter , ſein
Adel , ſeine Beſtimmung ; er kann ſich da-
von ſo wenig als von der Menſchheit
ſelbſt losſagen . Dies iſt das wahre ſtudi-
um humanitatis , in welchem uns Griechen
und Roͤmer vortreflich vorgegangen ſind ;
Schande , wenn wir ihnen nachbleiben
wollten !
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Der Menſch hat einen Willen , er iſt
des Geſetzes faͤhig : ſeine Vernunft iſt ihm
Geſetz . Ein heiliges , unverbruͤchliches Ge-
ſetz , dem er ſich nie entziehen darf , dem
er ſich nie entziehen ſoll . Er iſt nicht etwa
nur ein mechaniſches Glied der Naturkette ;
ſondern der Geiſt , der die Natur beherrſcht ,
iſt Theilweiſe in ihm . Jener ſoll er fol-
gen ; die Dinge um ihn her , inſonderheit
ſeine eigne Handlungen ſoll er dem allge-
meinen Principium der Welt gemaͤß anord-
nen . Hierinn iſt er keinem Zwange unter-
worfen , ja er iſt keines Zwanges faͤhig .
Er conſtituiret ſich ſelbſt ; er conſtituirt mit
andern ihm Gleichgeſinnten nach heiligen ,
unverbruͤchlichen Geſetzen eine Geſellſchaft .
Nach ſolchen iſt er Freund , Buͤrger , Ehe-
mann , Vater ; Mitbuͤrger endlich der gro-
ßen Stadt Gottes auf Erden , die nur
Ein Geſetz , Ein Daͤmon , der Geiſt einer
allgemeinen Vernunft und Huma -
nitaͤt beherrſchet , ordnet , lenket .
Doch warum ſpreche ich ? und laſſe nicht
lieber den menſchenfreundlichen Kaiſer ſpre-
chen , der in ſeinen Betrachtungen
uͤber ſich ſelbſt mehr als in ſeiner Sta-
tue vor dem Capitol als Geſetzgeber der
Welt dem Menſchengeſchlecht ſanftmuͤthig-
groß gebietet .
Mark-Antonin uͤber ſich ſelbſt .
„ Von Apollonius habe ich gelernt , frei
zu ſeyn , und ohne Wankelmuth unbeweglich ;
auf nichts anders , auch mit dem kleinſten
Seitenblick hinzuſehen , als auf die Ver-
nunft ; immer Derſelbe zu ſeyn , unter den
heftigſten Schmerzen , beym Verluſt eines
Kindes , in langwierigen Krankheiten . Wie
in einem lebendigen Muſter habe ich an
ihm deutlich erſehen , wie Derſelbe Mann
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ſehr ſtrenge und doch auch nachgebend ſeyn
koͤnne . Ich habe von ihm gelernt , wie
man von Freunden ſogenannte Gefaͤlligkei-
ten annehmen koͤnne , daß man ihnen we-
der verhaftet werde , noch ſolche Gefuͤhllos
zuruͤckweiſen duͤrfe . “
„ Vom Sextus lernte ich Wohlwollen ;
ich empfing das Muſter einer vaͤterlichen
Hausverwaltung , und den Sinn , nach der
Natur zu leben . Ich lernte , ernſt ſeyn
ohne Steifheit , mich in Freunde ſchicken
ohne Laune , Unwiſſende und vom Wahn Ge-
leitete dulden . An ihm ſah ich , was Ge-
faͤlligkeit gegen Jedermann ſey : denn ſein
Umgang war angenehmer als alle Schmei-
chelei , und doch blieb er zu eben der Zeit
bei allen in Achtung . “
„ Von meinem Bruder Severus lernte
ich Verwandte , Recht und Wahrheit lie-
ben . Durch ihn lernte ich einen Thraſea ,
Helvidius , Cato , Dion und Bru -
tus kennen : ich empfing die Idee eines
Staats , der nach gleichen Geſetzen und
Rechten verwaltet wird , einer Regierung ,
die der Freiheit ihrer Unterthanen die hoͤch-
ſte Achtung erweiſet . Von ihm lernte ich
ſtandhaft und ohne Scheu die Philoſophie
hochſchaͤtzen , gutthaͤtig ſeyn auf die beſte
reichſte Weiſe , jederzeit das Beſte hoffen ,
und auf die Liebe der Freunde trauen ; es
ihnen geſtehen , worinn man mit ihnen un-
zufrieden ſei ; was man wolle oder nicht
wolle , ſie nicht errathen laſſen , ſondern es
ihnen klar ſagen . “
„ Haben wir den Verſtand mit einan-
der gemein , ſo iſt uns auch die Vernunft
gemein , durch die wir vernuͤnftig ſind .
Iſt dieſes : ſo iſt uns auch die Vernunft
gemein , die vorſchreibt , was wir zu thun
und nicht zu thun haben . Iſt dies , ſo
haben wir auch ein gemeinſchaftliches Ge-
ſetz . Iſt das , ſo ſind wir Buͤrger und
nehmen an Einem gemeinſchaftlichen Staate
Theil . Dieſer Staat iſt die Welt : denn
was fuͤr einen andern Staat koͤnnte je-
mand nennen , an dem das ganze Menſchen-
geſchlecht Theil nehme ? Aus dieſem ge-
meinſchaftlichen Staat alſo haben wir alle
denſelben Verſtand , dieſelbe Vernunft , die-
ſelbe Geſetzgebende Vernunft : denn woher
haͤtten wir ſie ſonſt ? Wie das Irrdiſche
an mir , das Feuchte , das Luftige , das
Feurige jedes aus der Quelle ſeines Ele-
ments kommt , und dahin gehoͤret : ſo muß
auch der Verſtand irgend woher ſeyn und
dazu gehoͤren . “
„ Was Dir fuͤglich iſt , o Weltall , iſt
auch mir bequem . Nichts kommt mir zu
fruͤhe , nichts zu ſpaͤt , was dir recht iſt .
Alles iſt mir Frucht , o Natur , was Deine
Horen mir bringen . Aus dir kommt alles ,
in dir iſt alles , in dich kehrt alles zuruͤck .
Wenn jener ſagte : o du geliebte Ce -
crops - Stadt , ſollte ich nicht ſagen : o
du geliebte Gottes - Stadt ! “
„ Der Geiſt des Weltalls iſt ein Ge-
meinheit-Stifter . Das Schlechtere hat er
des Beſſern wegen hervorgebracht , das Beſ-
ſere harmoniſch zu einander geordnet . Du
ſieheſt , wie er unter- wie er zuſammenord-
nete , wie er jedem Dinge nach Wuͤrde das
ſeinige zutheilte , und die edelſten Weſen
zum einſtimmigen Wohlwollen , zum
Gleichſinn gegen einander verknuͤpft
hat . “
„ Steheſt du des Morgens ungern auf ,
ſo ermuntere dich mit dem Gedanken : ich
erwache zum Werk des Menſchen !
Sollte ich mit Unwillen dran gehen , Das
zu thun , deßhalb ich gebohren , dazu ich in
die Welt kommen bin ? „ Die Ruhe iſt aber
angenehm . “ Biſt du zum Genießen geboh-
ren ? oder nicht vielmehr zum Thun , zum
Wirken ? Sieheſt du nicht , wie Gewaͤchſe ,
Voͤgel , Ameiſen , Spinnen , Bienen die Welt
auf ihrem Platze mitzieren ? und du , ein
Menſch , wollteſt deinen Menſchenberuf nicht
erfuͤllen ? Du eilſt nicht zu dem , was deine
Natur von dir fodert ? Du liebſt dich alſo
nicht ſelbſt , da du deine Natur , und ihr Ge-
ſetz nicht liebeſt . Andre , die ihre Kunſt lie-
ben , zehren ſich in Ausuͤbung derſelben ab ,
ſie vergeſſen Speiſe und Trank ; du aber
ſchaͤtzeſt deine Menſchennatur geringer , als
der Drechsler die Drehekunſt , der Taͤnzer die
Tanzkunſt , der Geizige das Geld , der Ehr-
ſuͤchtige ein wenig Ehre. Scheinen Dir Ar-
beiten zum gemeinen Wohlſeyn zu ge-
ringe , als daß ſie gleichen Fleißes beduͤrf-
ten ? “
„ Siehe zu , daß du nicht verkaiſert
werdeſt : nimm die Tinctur nicht an . Denn
das geſchieht leicht ! Erhalte dich einfach ,
gut , unverfaͤlſcht , ernſthaft , Prachtlos ,
Rechtliebend , Gottverehrend , ſanftmuͤthig ,
liebend die Deinigen , tapfer zu jedem wohl-
anſtaͤndigen Werk . Kaͤmpfe , daß du Der
bleibeſt , zu dem dich die Philoſophie machen
wollte . Verehre die Goͤtter , erhalte die Men-
ſchen . Kurz iſt das Leben ; und es giebt nur
Eine Frucht des irrdiſchen Lebens : ein heili-
ges Gemuͤth und zum Wohl der Geſellſchaft
dienende Werke . “
„ Glaube nicht , daß wenn dir etwas
ſchwer duͤnkt , es dem Menſchen unmoͤg-
lich ſey ; und was dem Menſchen je moͤglich
war , das halte auch dir moͤglich . “
„ Gegen unvernuͤnftige Thiere , uͤberhaupt
auch bei allen vorkommenden Vernunftloſen
Dingen und Geſchaͤften betrage dich als ei-
ner , der Vernunft hat , großmuͤthig und frei .
Gegen Menſchen aber , als gegen vernuͤnf-
tige Weſen , betrage dich mit gemeinſchaftli-
cher , geſelliger Vernunft . “
„ Die Menſchen ſind um einander willen
da . Belehre ſie alſo , oder ertrage ſie . “
„ Fange endlich einmal an ein Menſch zu
ſeyn ; huͤte dich aber eben ſo wohl , den Men-
ſchen zu ſchmeicheln , als uͤber ſie zu zuͤrnen .
Beides iſt wider die Pflicht der Geſellſchaft ;
beides iſt ſchaͤdlich . “
„ Welche Macht und Wuͤrde hat der
Menſch ! Nichts zu thun , als was die Gott-
heit ſelbſt billigen wuͤrde ; und alles aufzu-
nehmen , was ihm Gott anweiſet . “
„ Menſch ! Du wareſt in dieſem großen
Staate Gottes ein Mitbuͤrger ; was kuͤm-
mert es dich , daß du es nur fuͤnf Jahre lang
wareſt ? Was nach Geſetzen geſchieht , thut
Niemandem unrecht . Was iſt denn Schreck-
liches
liches darinn , daß dich nicht ein Tyrann ,
noch ein ungerechter Richter ſondern die Na-
tur wegruft , die dich in dieſen Staat ein-
fuͤhrte ? eben wie den Schauſpieler , den der
Praͤtor dung , der Praͤtor auch von der
Schaubuͤhne entlaͤßt . — „ Aber die fuͤnf
Acte des Stuͤcks ſind von mir noch nicht
geendet ; ſondern nur drei . „ Wohl ! Im
Leben ſind drei Acte auch ein Stuͤck . Was
ein Ganzes ſeyn ſoll , beſtimmet der , der einſt
Compoſiteur , jetzt Aufloͤſer des Spiels iſt .
Du biſt keins von beiden . Geh' alſo zufrie-
den fort ; auch Er entlaͤßt dich zufrieden . “
— So ſpricht Mark-Antonin auf allen
Blaͤttern . Wir wollen nicht ſagen : „ Hei-
liger bitte fuͤr uns ; ſondern : menſchlicher
Kaiſer , ſei uns ein Muſter . “
Dritte Samml. C
30 .
W er vermag die Wuͤrde von ſolchen Dingen ,
dem Geiſte
Ihrer Erfindung gemaͤß , ein Lied zu dichten ?
Und wer hat
Kraft im Buſen , und Worte der Zunge , zu
ſtroͤmen ein Loblied
Jenem vortreflichen Mann , der ſolche Schaͤtze
der Wahrheit ,
Die ſich ſein Herz erworben , uns zum Ge-
ſchenke gelaßen ?
Moͤcht' es auch einer wagen , von ſterblichem
Blute gebohren ?
Wenn der Dinge Gewicht , die ſein hoher
Geiſt uns entdeckt hat ,
Ihren vortreflichen Werth wir bedenken , ſo
war er ein Gott uns ,
Ja ein Gott wars , ruhmvoller Memmius !
welcher zuerſt uns
Jenen erhabenen Weg des Lebens gezeiget ,
den jetzt wir
Weisheit nennen ; und der , durch ihre
Huͤlfe , das Leben
Aus dem Dunkel der Nacht , aus wogenden
Fluthen gerettet ,
Und in den friedlichen Port , in klares Licht es
geſtellt hat .
Nimm die Erfindungen andrer , die man fuͤr
goͤttlich erkannt hat ;
Ceres pflanzte die Aehren ; es lehrte die Sterb-
lichen Bacchus
Den gekelterten Moſt aus der Rebe druͤcken ;
da dennoch
Ohne Gebrauch von dieſen Dingen das Leben
beſtehn mag ,
Wie mans an Voͤlkern erſieht , die jetzt noch
ihrer entbehren .
Iſt die Bruſt dir nicht rein , ſo ſuchſt du ver-
gebens ein Gluͤck dir ,
C 2
Denkeſt umſonſt an Lebensgenuß . Drum
ſcheint er ein Gott uns ,
Und mit mehrerem Recht als jene , von dem
in die Herzen
Aller Voͤlker ſo ſuͤßer Troſt fuͤr das Leben
gefloſſen .
Sollte dir aber duͤnken , es gingen des
Herkules Thaten
Dieſen weit noch voran , ſo wuͤrdeſt du groͤ-
ber dich irren :
Denn was hat des Nemaͤiſchen Loͤwen gefuͤrch-
teter Rachen
Schreckbares jetzt fuͤr uns ? und der Zahn des
arkadiſchen Keilers ?
Was aus Kreta der Stier ? was des lernaͤi-
ſchen Sumpfes
Giftige Peſt , die Hydra , mit ziſchenden Nat-
tern umguͤrtet ?
Was kann die Rieſenbruſt des dreifachen
Geryon , was die
Roſſe , die Flammen ſchnauben , die uͤber Thra-
ciens Felder
Auf die Biſtoniſchen Fluren und auf die Frucht-
reichen Saaten ,
Wo ſich Ismarus hebt , Tod brachten und wil-
des Verderben ?
Wodurch moͤchten der Stymphaliden gebogene
Krallen
Uns noch fuͤrchterlich werden ? wodurch der
heſperiſche Drache ,
Der um den Baum gewunden in ungeheuren
Kreiſen ,
Tod aus den Augen blitzend , die goldenen Aep-
fel bewachet ?
Was moͤcht' dieſer uns ſchaden an ſeiner at-
lantiſchen Kuͤſte ,
An dem unwirthbaren Ufer , wo keiner von
uns den Fuß hin-
Setzet , das der Barbar ſelbſt zu betreten ſich
ſcheuet .
Alſo verhaͤlt es ſich auch mit den uͤbrigen
Abentheuern .
Haͤtte ſie keiner beſtanden , wer moͤchte ſie jetzt
noch beſtehen ?
C 3
Niemand , wie ich glaube . Was ſollten ſie
Schaden uns bringen ?
Noch iſt voll die Welt von Ungeheuern , es
herrſchet
Noch in den Thaͤlern , den Waͤldern , den tiefen
Kluͤften der Berge
Raubbegierige Wut ; allein was gehet ſie uns
an ?
Aber welche Gefahr , und welche toͤdtende
Zwietracht
Schleicht ſich in eine Bruſt , die von Leiden-
ſchaften nicht rein iſt !
Wie zerfleiſchen das Herz die aͤngſtlichen ,
ſcharfen Begierden !
Wie zernaget die Sorge den Menſchen ! wie
quaͤlet die Furcht ihn !
Welche Verwuͤſtungen richtet der Stolz nicht
an , und die Geilheit ,
Und der Uebermuth , das Praſſen , die niedrige
Faulheit !
Alles dieſes hat Er , mit Waffen nicht ,
aber mit Worten ,
Tief aus dem Herzen hinweggeraͤumet und ſel-
ber gebaͤndigt ;
Und ihm gebuͤhrete nicht der Dank , der Goͤt-
tern gebuͤhret ?
Ihm , dem Manne , der ſelbſt mit Goͤtterzunge
von ihnen
Oft geſprochen und ganz der Dinge Natur
uns enthuͤllt hat .
Auf die Spuren von ſeinem Pfade tret'
ich —
So pries ein Roͤmiſcher Dichter , Lu -
krez , Einen ſeiner Lieblinge der Vorwelt ,
und er hat mehrere derſelben als Genien
unſres Geſchlechts , als Goͤtter und Sterne
an den Himmel geſetzt , weil ſie Lebens -
weisheit und Humanitaͤt unter den
Menſchen gegruͤndet oder befoͤrdert haben .
Keiner ſeiner edeln Mitbuͤrger iſt ihm hie-
bei in Wort und That nachgeblieben .
C 4
Viele Oden des Horaz , noch mehr aber
ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind
feine Bearbeitungen der Menſch -
heit ; ſie haben alle , wenigſtens mittelbar ,
zum Zweck , einen Umriß in das rohe Ge-
bilde des Lebens zu bringen , die Ideen und
Sitten jener Perſon , dieſer Staͤnde nach
dem Richtmaas des Wahren und Guten ,
des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen .
Perſius , Juvenal , Lucan und andre wir-
ken dahin , jeder nach ſeiner Weiſe ; vor
allen aber bezeichnet Virgil , wo er kann ,
ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der
Menſchenliebe . Unmoͤglich iſts , daß ein
Mann oder Juͤngling , dem das Innere
dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird ,
ſein Inneres nicht durchdrungen und zu
einer Form gebildet fuͤhlte , die ihm vielleicht
wenige neuere Schriften gewaͤhren . Es iſt ,
als ob jenen großen Autoren die Menſchheit
reiner vorſtand , oder als ob ſie mehr Kraft
gehabt haͤtten , auch unter allen Unarten
der Zeit , ihre wahre Geſtalt lebhafter an-
zuerkennen , ſtaͤrker und reiner zu ſchildern ;
wozu denn , nebſt vielem andern , auch ihre
Sprache und der Begriff beitrug , den ſie
ſich von Poeſie machten .
Doch nicht bei Poeſie allein blieb dieſe
Bildung ſtehen ; Trotz alles Harten und
Druͤckenden zeigt ſie ſich auch in der Roͤ -
miſchen Geſchichte . Man leſe im Cor -
nelius des Atticus , in Salluſt Catili-
na's , in Tacitus Agrikola's Leben , vor
allen aber den letzten , den wegen ſeiner
dunkeln Haͤrte ſo beruͤchtigten Tacitus ;
und man muͤßte ein entſchiedner Barbar
ſeyn , wenn man in ihnen die tiefen Zuͤge
aͤchter Humanitaͤt nicht bemerkte . Tacitus
beſchreibt die Graͤuelvollſten Zeiten , die
laſterhaftſten Charaktere ; er deckt einen
C 5
Abgrund von Sitten und einer Regierungs-
form auf , vor dem man ſchaudert ; zeige
man in ihm aber ein einziges Gemaͤhlde
ſolcher Unthaten und verderbten Seelen ,
das er nicht in das Licht geſtellt haͤtte ,
dahin es gehoͤret ! Livia , Tiber , Sejan ,
Caligula , Claudius , und wie die Unmen-
ſchen weiter heiſſen ; gegentheils jede unter-
druͤckte Sproſſe des Guten , die ſich auf
dieſem abſcheulichen Boden zeigte , alle ſind
von ihm , wenn auch nur mit Einem Wort ,
in Einem Zuge , dem unpartheiiſchen Mit-
oder Gegengefuͤhl nahe gebracht ; ſie ſtehen
auf ewig in der Claſſe menſchlicher ,
halb - und unmenſchlicher Weſen ,
wo ſie ſtehen ſollten . Wer uns keine Um-
ſchreibung , ſondern eine Ueberſetzung die-
ſes Geſchichtſchreibers ganz in ſeinen Um-
riſſen , in ſeiner Phyſiognomie gaͤbe , koͤnnte
nicht anders , als den Sinn der Menſch -
heit auch fuͤr unſre Zeit tauſendfach er-
wecken und bilden .
Laſſen Sie uns alſo glauben , daß Jung
und Alt in beiden Geſchlechtern , wenn es
die Schriften der Alten in ihrem Geiſt lie-
ſet , nicht anders als zur Humanitaͤt bear-
beitet werden koͤnne . Die barbariſche Rin-
de des Herkommens , die uns von auſſen
angeſetzt iſt , muß einigermaaßen gebrochen
werden , wenn wir andre Menſchen zu ei-
ner andern aͤußerſt verderbten Zeit maͤnn-
licher denken , wuͤrdiger ſprechen hoͤren .
Wir werden , aus unſerm Todesſchlafe ge-
weckt , und lernen in ſtrengern Umriſſen
kennen :
Quid ſumus , aut quidnam victuri gignimur ,
ordo
quis datus , aut metae quam mollis flexus ,
et unde ,
quis modus argento , quid fas optare , quid
aſper
utile nummus habet , patriae carisque pro-
pinquis
quantum elargiri deceat , quem te Deus eſſe
iuſſit et humana qua parte locatus es in re —
Diſcite , o miſeri , et cauſſas cognoſcite re-
rum .
31 .
D ie Griechen hatten das Wort Humani-
taͤt nicht ; ſeit aber Orpheus ſie durch den
Klang ſeiner Leyer aus Thieren zu Men-
ſchen gemacht hatte , war der Begrif die-
ſes Worts die Kunſt ihrer Muſen .
Ich bin weit entfernt , die Griechiſchen
Sitten und Verfaſſungen zu jeder Zeit und
allenthalben als Muſter zu preiſen ; das
kann indeſſen nicht gelaͤugnet werden , daß
das
emollit mores nec ſinit eſſe feros
mittelbar oder unmittelbar der Endzweck
geweſen , auf den ihre edelſten Dichter ,
Geſetzgeber und Weiſe wirkten . Von Ho-
mer bis auf Plutarch und Longin iſt ihren be-
ſten Schriften bei einer großen Beſtimmtheit
der Begriffe eine ſo reizende Cultur der
Seele eingepraͤget , daß , wie ſich an ihnen
die Roͤmer bildeten , ſie auch uns kaum
ungebildet laſſen moͤgen .
Einzelne Blaͤtter , die mir uͤber die
Humanitaͤt einiger Griechiſchen
Dichter und Philoſophen in die
Haͤnde gekommen ſind , ſollen Ihnen zu
einer andern Zeit zukommen ; jetzt bemerke
ich nur , daß wenn in ſpaͤtern Zeiten bei
irgend einem Schriftſteller , er ſei Geſchaͤfts-
mann , Arzt , Theolog oder Rechtslehrer ,
eine feinere , ich moͤchte ſagen , claſſiſche
Bildung ſich aͤußerte , dieſe meiſtens auch
auf claſſiſchem Boden , in der Schule der
Griechen und Roͤmer erworben , der Sproͤß-
ling ihres Geiſtes geweſen . Wie die Grie-
chiſche Kunſt unuͤbertroffen , und in Abſicht
der Reinheit ihrer Umriſſe , des Großen ,
Schoͤnen und Edlen ihrer Geſtalten , allen
Zeiten das Muſter geblieben : faſt alſo iſts
auch , Weniges ausgenommen , mit den
Vorſtellungsarten des menſchlichen Geiſtes .
Was wir kraus ſagen und verwickelt den-
ken , gaben ſie hell und rein an den Tag ;
ein kleiner Satz , eine ſchlichtvorgetragene
Erfahrung enthaͤlt bei ihnen , wenn mans zu
finden weiß , oft mehr als unſre verworrenſte
Deductionen , die Probleme neuere Staats-
kunſt verwickelt vortraͤgt , ſind in der Grie-
chiſchen Geſchichte hell und klar auseinan-
dergeſetzt , und durch die Erfahrung laͤngſt
entſchieden . Die Kritik des Geſchmacks
endlich , ja die reinſte Philoſophie des Le-
bens , woher ſtammen ſie als von den Grie
chen ? In den ſchoͤnſten Seelen dieſer Na-
tion bildeten ſie ſich ; hie und da hat ſich
ihr Geiſt ſchweſterlichen Seelen mitgetheilet .
So lange uns alſo die Griechen nicht ge-
raubt , und da ſie bisher dem Sturz der
Zeiten , der Vertilgung wilder Barbaren
und Schwaͤrmer entronnen ſind , wird wahre
Humanitaͤt nie von der Erde vertilgt
werden .
Immer wird mir wohl , wenn ich auch in
unſern Zeiten einen reinen Nachklang der
Weisheit Griechiſcher und Roͤmiſcher Mu-
ſen hoͤre . Eine Ausgabe , eine Ueberſetzung ,
eine wahre Erlaͤuterung dieſes oder jenes
Dichters , Philoſophen und Geſchichtſchrei-
bers halte ich fuͤr ein Bruchſtuͤck des gro-
ßen Gebaͤudes der Bildung unſres Ge-
ſchlechts fuͤr unſre und die zukuͤnftige Zei-
ten . Eine verſtaͤndige Stimme , die uͤber
unſre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung
ſpricht , iſt mir mehr , als ob ein Barde
weiſſagte .
32 .
A us Ihren Briefen , meine Freunde , ziehe
ich mir folgendes :
1. Das weiche Mitgefuͤhl mit den
Schwaͤchen unſres Geſchlechts , das wir
gewoͤhnlicher Weiſe Menſchlichkeit nen-
nen , macht die ganze Humanitaͤt nicht aus .
Zu rechter Zeit , am rechten Ort ziert es
den Menſchen allerdings ; da Sympathie
in reinem Verſtande , d. i. eine lebhafte ,
ſchnelle Verſetzung in den Zuſtand des
Fehlenden , Irrenden , Leidenden , Gequaͤl-
ten , der zarteſte Kitt der Vereinigung aͤhn-
licher Geſchoͤpfe , und unter Menſchen das
lindeſte Band ihrer Verbindung iſt . Nichts
Dritte Samml. D
ſtoͤßt mehr zuruͤck , als Gefuͤhlloſe , ſtolze
Haͤrte . Ein Betragen , als ob man hoͤhe-
ren Stammes und ganz andrer , oder gar
eigner Art ſei , erbittert Jeden , und ziehet
dem Uebermenſchen das unvermeidliche Ue-
bel zu , daß ſein Herz ungebrochen , leer ,
und ungebildet bleibt , daß Jedermann zu-
letzt ihn haſſet oder verachtet .
So nothwendig indeſſen eine menſchli-
che Lindigkeit und Milde gegen die
Fehler und Leiden unſrer Nebengeſchoͤpfe
bleibt : ſo muß ſie doch , wenn ſie zu weich
und ausſchließend wird , den Charakter er-
ſchlaffen , und kann eben dadurch die haͤr-
teſte Grauſamkeit werden . Ohne Gerech-
tigkeit beſtehet Billigkeit nicht ; eine Nach -
ſicht ohne Einſicht der Schwaͤchen und
Fehler iſt eine Verzaͤrtelung , die eiternde
Wunden mit Roſen bedeckt , und eben da-
durch Schmerzen und Gefahr mehrt .
2. Auch iſt Humanitaͤt Ihnen nicht
bloß jene leichte Geſelligkeit , ein ſanftes
Zuvorkommen im Umgange , ſo viel
Reize dies auch dem taͤglichen Leben ge-
waͤhret . Vielmehr iſt ſie , ſubjectiv be-
trachtet ,
3. Ein Gefuͤhl der menſchlichen
Natur in ihrer Staͤrke und Schwaͤ -
che , in Maͤngeln und Vollkommen -
heiten , nicht ohne Thaͤtigkeit , nicht
ohne Einſicht . Was zum Charakter un-
ſres Geſchlechts gehoͤrt , jede moͤgliche Aus-
bildung und Vervollkommung deſſelben , dies
iſt das Objekt , das der humane Mann vor
ſich hat , wornach er ſtrebet , wozu er wir-
ket . Da unſer Geſchlecht ſelbſt aus ſich
machen muß , was aus ihm werden kann
und ſoll : ſo darf keiner , der zu ihm gehoͤrt ,
dabei muͤſſig bleiben . Er muß am Wohl
und Weh des Ganzen Theil nehmen , und
D 2
ſeinen Theil Vernunft , ſein Penſum Thaͤ-
tigkeit mit gutem Willen dem Genius ſei-
nes Geſchlechts opfern .
4. Zum Beſten der geſammten Menſch-
heit kann niemand beitragen , der nicht aus
ſich ſelbſt macht , was aus ihm wer -
den kann und ſoll ; jeder alſo muß den
Garten der Humanitaͤt zuerſt auf dem Beet ,
wo er als Baum gruͤnet , oder als Blume
bluͤhet , pflegen und warten . Wir tragen
alle ein Ideal in und mit uns , was Wir
ſeyn ſollten , und nicht ſind ; die Schlacken ,
die wir ablegen , die Form , die wir erlan-
gen ſollen , kennen wir alle . Und da , was
wir werden ſollen , wir nicht anders als
durch uns und andre , von ihnen erlangend ,
auf ſie wirkend , werden koͤnnen : ſo wird
nothwendig unſre Humanitaͤt mit der Hu-
manitaͤt andrer Eins , und unſer ganzes
Leben eine Schule , ein Uebungsplatz der-
ſelben . Was wahrhaftig , was ehrbar ,
was gerecht , was keuſch , was lieblich
iſt , was wohllautet , iſt etwa eine Tu-
gend , iſt etwa ein Lob , deſſen beflei-
ßigt euch , ſagt ſelbſt ein Apoſtel .
5. Alle Einrichtungen der Menſchen ,
alle Wiſſenſchaften und Kuͤnſte koͤnnen ,
wenn ſie rechter Art ſind , keinen andern
Zweck haben , als uns zu humaniſiren ,
d. i. den Unmenſchen oder Halbmenſchen
zum Menſchen zu machen , und unſerm Ge-
ſchlecht zuerſt in kleinen Theilen die Form
zu geben , die die Vernunft billigt , die
Pflicht fodert , nach der unſer Beduͤrfniß
ſtrebet . Daß die Wiſſenſchaften , die man
humaniora nennt , zum leeren Zeitvertreib
oder zu eitelm Putz ausgeartet ſind , iſt ein
Mißbrauch , den ſchon ihr Name ſtrafet .
Urſpruͤnglich war dies nicht alſo . Vollends
D 3
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften , die den ange-
bohrnen Stolz , die freche Anmaaßung , das
blinde Vorurtheil , die Unvernunft und Un-
ſittlichkeit ſtaͤrken , verſchleiern , ſchmuͤcken ,
beſchoͤnen , ſollte man brutaliſirende
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften nennen , werth
von Sklaven getrieben zu werden , damit
auf ihnen die menſchliche Thierheit ruhe .
Es freuet mich , daß Sie den Dichter ,
der den unmenſchlichen Achill beſang , aus
der Reihe humaniſirender Weiſen
nicht ausſchließen wollen ; das Theater der
Alten und ihre Geſetzgebung wird davon
gewiß auch nicht ausgeſchloſſen ſeyn . Das
Gemuͤth laͤutert , hebet und ſtaͤrkt ſich durch
die Betrachtung : „ wir ſind Menſchen .
Nichts mehr , aber auch nichts minderes ,
als dieſer Name ſaget . “
Nachſchrift .
Fragment eines Geſpraͤches des Lords
Shaftesburi .
T heokles . Kann eine Freundſchaft ſo
heroiſch ſeyn , als die gegen das menſch-
liche Geſchlecht ? Halten Sie die Liebe ge-
gen Freunde uͤberhaupt und gegen unſer
Vaterland fuͤr nichts ? Oder glauben Sie ,
daß die beſondre Freundſchaft ohne ſol-
che erweiterte Neigung und ohne das Ge-
D 4
fuͤhl der Verbindlichkeit gegen die Geſell-
ſchaft beſtehen koͤnne ?
Philokles . Daß man Verbindlich-
keiten gegen das menſchliche Geſchlecht
habe , wird niemand leugnen , der auf den
Namen eines Freundes Anſpruch macht .
Schwerlich wuͤrde ich dem nur den Na-
men Menſch zugeſtehen , der nie Jeman-
den Freund genannt oder nie ſelbſt Freund
geheißen hat . Aber wer ſich als ein wah-
rer Freund bewaͤhrt , der iſt Menſch ge-
nug und wird es der Geſellſchaft an ſich
nicht fehlen laſſen . Fuͤr meine Perſon ſehe
ich ſo wenig Großes und Liebenswuͤrdiges
an dem menſchlichen Geſchlecht , und habe
eine ſo gleichguͤltige Meinung von dem
großen Haufen der Geſellſchaft , daß ich
mir ſehr wenig Vergnuͤgen von der Liebe
zu beiden verſprechen kann .
Th. Rechnen Sie denn Guͤte und
Dankbarkeit unter die Handlungen der
Freundſchaft und des Wohlwollens ?
Ph . Ohne Zweifel ; ſie ſind ja die vor-
nehmſten .
Th. Geſetzt alſo der Verpflichtete ent-
deckte Fehler an ſeinem Wohlthaͤter , wuͤrde
dies jenen von ſeiner Dankbarkeit los-
ſprechen ?
Ph . Nicht im geringſten .
Th . Oder macht es die Ausuͤbung der
Dankbarkeit weniger angenehm ?
Ph . Mich duͤnkt vielmehr das Gegen-
theil . Denn wenn mirs an allen andern
Mitteln der Vergeltung fehlte , ſo wuͤrde
ich mich freuen , wenigſtens dadurch
meine Dankbarkeit gegen meinen Wohl-
thaͤter ſicher zeigen zu koͤnnen , daß ich
ſeine Fehler als ein Freund ertruͤge .
D 5
Th . Und was die Guͤte betrift , ſagen
Sie mir , mein Freund , ſollen wir denn
blos denen Gutes thun , die es verdienen ?
Etwa bloß einem guten Nachbar oder
Verwandten , einem guten Vater , Kinde
oder Bruder ? Oder lehrt Natur , Ver-
nunft und Menſchlichkeit uns nicht viel-
mehr , einem Vater bloß weil er Vater ,
einem Kinde bloß weil es Kind iſt , Gutes
zu thun ? Und ſo in jedem Verhaͤltniß des
menſchlichen Lebens .
Ph . Ich glaube , das letzte iſt das
richtigſte .
Th. O Philokles ! Bedenken Sie alſo ,
was Sie ſagten , da Sie die Liebe gegen
das menſchliche Geſchlecht der menſchlichen
Gebrechen wegen verwarfen , und den gro-
ßen Haufen ſeines elenden Zuſtandes we-
gen verachteten . Sehen Sie nun , ob dieſe
Geſinnung mit der Menſchlichkeit beſtehen
kann , die Sie ſonſt ſo hoch ſchaͤtzen und
ausuͤben . Wo kann Edelmuth ſtatt finden ,
wenn nicht hier ? Wo koͤnnen wir je
Freundſchaft beweiſen , wenn nicht an die-
ſem Hauptgegenſtande derſelben ? Gegen
wen werden wir treu und dankbar ſeyn ,
wenn nicht gegen das menſchliche Geſchlecht
und gegen die Geſellſchaft , welcher wir ſo
ſtark verpflichtet ſind ? Welche Gebrechen
oder Fehler koͤnnen eine ſolche Unterlaſſung
entſchuldigen , oder in einem dankbaren
Herzen je das Vergnuͤgen vermindern , wel-
ches aus liebevoller Erwiederung empfan-
gener Wohlthaten entſpringt ? Koͤnnen
Sie , bloß aus guter Lebensart , aus ei-
nem natuͤrlichguten Temperament Vergnuͤ-
gen daran finden , Hoͤflichkeit , Gefaͤlligkeit ,
Dienſtfertigkeit zu beweiſen , Gegenſtaͤnde
des Mitleidens ſelbſt aufſuchen und wo es
in Ihrer Macht ſteht , ſelbſt Unbekannten
dienen ; kann es auch in fremden Laͤndern
oder , wenns Auswaͤrtige betrifft , auch hier
Sie entzuͤcken , allen die es beduͤrfen , auf
die leutſeligſte , freundſchaftlichſte Art zu
helfen , zu rathen , beizuſtehen ; und ſollte
Ihr Vaterland oder was noch mehr iſt ,
Ihr ganzes Geſchlecht weniger Wohlwollen
von Ihnen fodern koͤnnen , weniger Ach-
tung von Ihnen verdienen , als Einer von
jenen Gegenſtaͤnden , die Ihnen von unge-
faͤhr in den Wurf kommen ? —
Ph . Ich befuͤrchte , daß ich auf dieſe
Art nie ein Freund oder Liebhaber werde .
Eine Liebe gegen eine einzelne Perſon kann
ich ſo ziemlich faſſen ; aber dieſe zuſammen-
geſetzte , allgemeine Art von Liebe , ( ich ge-
ſtehe es , Theokles , ) iſt mir zu hoch . Ich
kann das Individuum , aber nicht die ganze
Gattung , ich kann nichts lieben , wovon
ich nicht irgend ein ſinnliches Bild habe .
Th . Wie , Philokles ? Sie koͤnnten
nie anders lieben , als auf dieſe Art ?
War Palaͤmons Charakter Ihnen gleich-
guͤltig , da er Sie zu dem langen Brief-
wechſel vermochte , der Ihrer neuerlichen
perſoͤnlichen Bekanntſchaft voranging ?
Ph . Ich kann dies nicht laͤugnen ; und
jetzt , duͤnkt mich , verſtehe ich Ihr Geheim-
niß , und begreife wie ich mich dazu vor-
bereiten muß . Denn eben wie ich damals
als ich Palaͤmon zu lieben anfing , mich ge-
noͤthigt ſah , mir eine Art von materiellem
Gegenſtande zu bilden und immer ein ſol-
ches Bild im Kopf hatte , ſo oft ich an ihn
dachte : eben ſo muß ichs in dieſem Falle
zu machen ſuchen —
Th . Mich duͤnkt , Sie koͤnnten immer
ſo viel Gefaͤlligkeit gegen das menſchliche
Geſchlecht haben , als gegen die alten Roͤ-
mer , in welche Sie , aller ihrer Fehler un-
geachtet , doch immer verliebt geweſen ſind ,
beſonders unter der Vorſtellung eines
ſchoͤnen Juͤnglings , der Genius des
Volks genannt .
Ph. Waͤre mirs moͤglich , meiner Seele
ein ſolches Bild einzudruͤcken , es moͤchte
nun das menſchliche Geſchlecht oder
die Natur bedeuten , ſo wuͤrde das ver-
muthlich auf mich wirken , und mich zum
Liebhaber nach Ihrer Art machen . Noch
beſſer aber , wenn Sie es ſo veranſtalten
koͤnnten , daß die Liebe zwiſchen uns wech-
ſelſeitig wuͤrde ; wenn Sie mich uͤberreden
koͤnnten , zu glauben , dieſer Genius ſei
nicht gleichguͤltig gegen meine Liebe und
faͤhig ſie zu erwiedern —
Th . Gut ! ich nehme die Bedingung
an . Morgen , wenn die oͤſtliche Sonne ,
wie die Dichter ſagen , mit ihren erſten
Stralen den Gipfel jenes Huͤgels vergol-
det , dann wollen wir , wenns Ihnen be-
liebt , mit Huͤlfe der Nymphen des Hains
dieſer unſrer Liebe nachſpuͤren , erſt den
Genius des Orts anrufen , und dann ver-
ſuchen , ob wir nicht wenigſtens eines
ſchwachen , fernen Anblicks des hoͤchſten
Genius und der erſten Urſchoͤnheit
gewuͤrdigt werden . Sollte es Ihnen gluͤcken ,
nur Einmal dieſe zu ſehen : ſo ſtehe ich da-
fuͤr , alle jene widrige Zuͤge und Haͤßlich-
keiten ſowohl der Natur als des menſchlichen
Geſchlechts werden Augenblicks verſchwin-
den . Ihr Herz wird ganz mit der Liebe
erfuͤllt werden , die ich Ihnen wuͤnſche .
So weit dies Geſpraͤch . Wie Theo-
kles ſeinen Zweck bewirkt habe , moͤgen Sie
in der vortreflichen Rhapſodie : die Mo -
raliſten beim edeln Shaftesburi ſelbſt
leſen Meiner Geſinnung nach iſt es Eines der
ſchoͤnſten Verdienſte Spaldings , daß Er ,
zu jener Zeit 1745 . in ſeiner Lage uns
Shaftesburi's Moraliſten bekannt
machte . Mehr als dreißig Jahre nachher iſt
zuerſt die Ueberſetzung des ganzen Shaftes-
buri gefolget . Shaftesburi philoſo -
phiſche Werke , Leipzig . 1776-79 .
A. d. H. .
33 .
M it Recht nennen Sie Shaftesburi
einen edeln Schriftſteller ; ob ihn gleich hie
und da , ſein Stand , ich moͤchte ſagen ,
ſeine Lordſchaft uͤbereilte . Sein zuwei-
len Zwangvoller Styl , manche Spaͤſſe , die
er ſich uͤber die Geiſtlichkeit erlaubte , ſein
Einfall , „ Witz und Humor zum Pruͤfſtein
aller , auch der ernſteſten Wahrheit zu ma-
chen , “ haben Tadler und Widerleger gnug
gefunden ; uͤber ſeinen Kunſt-Geſchmack
waͤre auch Manches zu ſagen . Die beſſere
philoſophiſche Seele aber , die in ihm
wohnte , ſein honeſtum und decorum in der
Moral , hundert feine Bemerkungen uͤber
Dritte Samml. E
Grundſaͤtze , Sitten , Compoſition und Le-
bensweiſe ſind nach allem Tadel unwider-
legt geblieben . Ich kann mir nicht vor-
ſtellen , daß ein unbefangener honetter
Mann dieſen Schriftſteller ohne innige Ach-
tung aus der Hand legen ſollte ; und fuͤr
Juͤnglinge wuͤnſchte ich in unſrer Sprache
zum uͤberſetzten Shaftesburi eine Zugabe ,
„ wie Shaftesburi zu leſen und
was in ihm zu berichtigen ſeyn
moͤchte . “ Wie Leibnitz , ſo hielten Di -
derot , Leßing , Mendelsſohn , von
dieſem Virtuoſo der Humanitaͤt viel ; auf
die beſten Koͤpfe unſres Jahrhunderts , auf
Maͤnner , die ſich fuͤrs Wahre , Schoͤne und
Gute mit entſchiedner Redlichkeit bemuͤh-
ten , hat er auszeichnend gewirket .
Und doch , m. F. duͤnkt mir ſein Syſtem
der Moral unzureichend , ſofern es ſich bloß
auf das decorum et honeſtum als auf ein
Gefuͤhl gruͤndet . Es kommen ſtarke Stel-
len daruͤber , auch als Pflicht , als Geſetz
betrachtet , in ihm vor ; im Ganzen aber ,
ſcheint mirs , hat er , um ſeine Moral lie-
benswuͤrdig zu machen , mit der menſchli-
chen Natur etwas zu ſehr getaͤndelt . Hier
muß man hinter allem doch endlich mit der
Stoiſchen Philoſophie zum alten Wort
Gottes zuruͤckgehen : „ Du ſollt ! du
ſollt nicht ! “ ſofern uns dies nicht Con-
venienz , Geſchmack und Vergnuͤgen , ſon-
dern Pflicht und Vernunft vorhaͤlt .
Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu
Handen , wo mir zuerſt folgende Stelle in
die Augen fiel :
Sei liebreich mit Vernunft ; nur weiſe Huld
iſt aͤcht ,
Giebt Jedem was ſie ſoll und kraͤnket keines
Recht .
E 2
Kein Schimmer aͤußrer Macht , kein Geld , das
Sklaven ruͤhret ,
Haͤlt den Gerechten ab , zu thun was ihm
gebuͤhret .
Gleich feurig zu dem Schutz des Edlen als
des Knechts ,
Iſt er der treue Freund des menſchlichen
Geſchlechts .
Unfaͤhig zu der Kunſt , die den Vertrag ver-
drehet ,
Haͤlt er dem Fuͤrſten Wort , wie dem der
nackend gehet ;
Bei ihm iſt was du haſt ſo ſicher als bei dir ,
Das ihm geliehne Gut zieht er dem eignen fuͤr ;
Im kleinſten Werk getreu , verſchwiegen bis zur
Baare ,
Und zu des Freundes Dienſt bereit bis zum
Altare .
Hoͤrt , Buͤrger der Natur , den Inhalt aller
Pflicht :
Lernt die Gerechtigkeit ! vergeßet
Gottes nicht !
Gereitzt durch dieſe Stelle , ſchlug ich wei-
ter zuruͤck und fand die Geſchichte der
Humanitaͤt ſo vorgetragen :
Vernunft , der Gottheit Stral , der rohen Voͤl-
kern ſchien ,
Hieß aus des Waldes Nacht ſie in die Staͤdte
ziehn ;
Gab Ordnung und Geſetz , ſchuf Menſchen
aus Barbaren ,
Gebot den Wilden ſelbſt , Vertraͤge zu bewah-
ren .
Dies hob der Weiſen Ruhm in Griechenland
empor ,
Und rief aus Scythien den Anacharſis vor .
So war der Menſchheit Recht der Leitſtern
alter Weiſen ;
Doch keiner wagte ſich es andern anzuprei-
ſen — —
Die Welt verdankt Dirs nie , unſterblicher
Sokrat !
Dein Fuß betrat zuerſt den ungebahnten Pfad .
E 3
Der alte Philoſoph , vertieft in Zahl und
Sternen ,
Erhielt von dir die Kunſt , ſich ſelbſt be -
ſchaun zu lernen .
Es ſah der Menſch das Licht , das laͤngſt in
ihm gebrannt ,
Und das , vom Wahn umwoͤlkt , nur Traͤgheit
nicht erkannt .
Da fuͤhlte ſich Athen , und lernte Platons
Lehren ,
Des Weiſen von Stagyr , des Epiktets vereh-
ren ,
Da trateſt du auch auf , erhabner Epikur ,
Der Tugend aͤchter Freund und Kenner der
Natur . —
Verehrungswuͤrdges Rom ! groß durch er-
fochtne Kronen ,
Noch groͤßer durch den Geiſt geprieſ'ner Cice-
ronen ,
O Rom , Europa ſelbſt , von deiner Herrſchaft
Joch
Vorlaͤngſt entlediget , ehrt dein Geſetze noch .
Aus Quellen der Natur ſind deines Rechtes
Lehren
Urſpruͤnglich hergefuͤhrt ; ſie muͤſſen ewig waͤh-
ren !
Die Nacht der Barbarei verfinſterte dies
Licht ,
Die Welt verwilderte und ſah die Tugend
nicht .
Ein ſchwarzes Wunderthier , der Ketzereifer ,
ſiegte ,
Der Dummheit Tugend hieß und mit der
Wahrheit kriegte ;
Bis ihr verſtaͤrkter Glanz der Welt mehr Ein-
ſicht gab ;
Da fielen der Vernunft die ſchweren Feſſeln
ab .
Der Dichter nennt Baco , Grotius ,
Puffendorf u. a. mit verdientem Ruhm :
er gehet die Pflichten durch , gegen Seele
und Leib , gegen Gott und andre . Ueber
Irrthum und Unwiſſenheit , Klugheit und
E 4
Thorheit , uͤber die Verbindlichkeit zur Wiſ-
ſenſchaft und zu allgemeinen Begriffen ,
uͤber Erfahrung , Vernunft , Geſchichte ,
Fabel , Selbſterkenntniß , als Mittel zu
Beſſerung des Verſtandes und Willens ,
enthaͤlt ſein Gedicht ſchoͤne Stellen . Deß-
gleichen uͤber einzelne Pflichten , die Maͤ-
ßigkeit , Sittſamkeit , Gnuͤgſamkeit , Ver-
bindlichkeit zur Arbeit , uͤber Pflichten in
Gluͤck und Ungluͤck , uͤber die Dankbarkeit
gegen Gott , das Vertrauen auf die Vor-
ſehung , uͤber geſellige Huͤlfe , Sanftmuth ,
Großmuth , Wahrheitliebe , Freigebigkeit
u. f. ; wobei ſowohl die entgegenſtehenden
Laſter , als die Grenzen der Tugend be-
merkt oder geſchildert werden . Es ſind
Lehren in ihm , die der Jugend Gedaͤcht-
nißſpruͤche werden ſollten , indem ſie die
Grundveſten aller moraliſchen Wahrheit
enthalten : z. B.
Es ward ein gleicher Trieb in aller Herz
gelegt ,
Und allen Sterblichen die Regel eingepraͤgt :
Du ſollt das Gute thun , du ſollt das
Boͤſe laſſen ;
In dieſen Goͤtterſpruch laͤßt das Geſetz ſich
faſſen ,
Das die Natur uns ſchrieb . Er haͤlt ein
Recht in ſich :
Beginne , denke , flieh , begehre ,
ſchweige , ſprich .
Nicht Erz , das Roſt verzehrt , nicht Blaͤt-
ter , die veralten ,
Kein Stein hat dies Geſetz der Menſchen auf-
behalten !
Der Allmacht Tochter grub mit ewigheller
Schrift ,
Es in die Seelen ein , die nie Verweſung trift .
Ein ewiges Gebot , darinn ich wandeln muͤßte ,
Wenn , welches ferne ſei ! ich auch von Gott
nichts wuͤßte ! —
E 5
Zu wuͤnſchen waͤre es , daß der Verfaſſer
ſich durchaus auf dieſem ſtrengen Pfade
gehalten haͤtte . Da er aber das ſogenannte
Syſtem der Vollkommenheiten als
Grund der Moral annimmt : ſo wird ſein
Gebaͤude hie und da ſchwankend . Aller-
dings vervollkommt uns die Ausuͤbung
der Pflicht ; nicht aber muͤſſen wir ſie thun ,
um uͤber Gewinn an Vollkommenheiten zu
markten . Das Gebot heißt : Du ſollt !
nicht : Du wirſt ! welches bloß eine hoͤfli-
che Bettelei waͤre .
Sie halten vielleicht dies ſchoͤne Lehr-
gedicht fuͤr ein Manuſcript ; leider iſts ſeit
ſeiner Bekanntmachung im Jahr 1758 .
fuͤr Viele ein Manuſcript geblieben . Es
heißt „ Lichtwehrs Recht der Ver -
nunft , “ und ſcheint unſrer poetiſchen
Welt ſo veraltet , wie Hallers , Hage -
dorns , Kaͤſtners , Uz , Witthofs ,
ja uͤberhaupt die Lehrgedichte . Unſer
Publikum iſt jung ; es liebt Taͤndeleien der
Jugend .
34 .
D ie Blaͤtter uͤber die Humanitaͤt Ho -
mers , die Sie zu ſehen wuͤnſchen , nehme
ich aus einer unvollendeten , groͤßern
Schrift , die ihr Verfaſſer Jonien ge-
nannt hat , deren weitern Inhalt ich aber
hier nicht zu verrathen habe .
Ueber die Humanitaͤt Homers in ſeiner
Iliade .
Wir kommen allmaͤlich wieder in die
Zeiten zuruͤck , da man von Homers Roh-
heit nicht gnug reden konnte . In Frank-
reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geſchmack vor ; in Deutſchland ſcheint
es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden , in
den Sitten ſeiner Helden , mithin wohl
gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung ,
an moraliſchem Geſchmack zu finden
und dies unſterbliche Gedicht endlich nur
als die „ hiſtoriſche Tradition wil -
der Zeiten “ zu behandeln , die , wie man
ſich ausdruͤckt , Homers gluͤhende Einbil-
dungskraft aufnahm und veſtſtellte . So
viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag , ſo zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre , und ſein Weniges
gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe . Dazu
gehoͤrt keine Kunſt , hie und da Ueberein-
ſtimmung der Zeiten , die er beſang , mit
Voͤlkern , die auf einer , wie uns duͤnkt ,
niedrigern Stuffe der Cultur leben , zu fin-
den , dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber-
treiben , und dabei das Auge vor allem
ſittlichen Gefuͤhl , inſonderheit aber vor der
Kunſt und Weisheit zuzuſchließen , die Ho-
mer unſtreitig auf die Compoſition ſeines
Gedichts gewandt hat .
Bei jeder Kunſtcompoſition fragt man :
wozu hat ſie der Kuͤnſtler componiret ?
was war dabei ſeine Idee ? und wie ſetzte
er die Theile ſeines Werks zuſammen ?
Sind Homers Rhapſodieen die rohe Stim-
me eines griechiſchen Barden , der einem
rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten
vorſingt , um dieſe mit ihren Unfoͤrmlichkei-
ten ja nicht untergehen zu laſſen ; warum
wandte man Jahrtauſende hindurch auf
ihn ſo viele Muͤhe ? Waren die Griechen ,
die Roͤmer , und unter andern Nationen
die feinſten Denker , waren unter den Grie-
chen Geſetzgeber , Kuͤnſtler , Weiſe , Dichter
nicht aberglaͤubig und bloͤdſinnig , daß ſie
aus einer Tradition vergangener Unmenſch-
lichkeiten ſo viel Weſens machten , und ei-
nen unreinen Schlam in ſo viel Baͤche
ableiteten ? Das hieße ja die Unmenſch-
heit oder Halbmenſchheit um ſo gefaͤhrli-
cher veſthalten , weil ſie mit Homers Far-
ben geſchmuͤckt war .
Fragt man bei jeder Geſchichte , bei je-
dem Drama : „ wer ſpricht dies ? wenn ?
„wozu ſpricht er 's in welchem Charakter
„handelt er ? wozu ſtellte ihn der Geſchicht-
„ſchreiber oder Dichter auf ? “ wie ? und
bei der groͤßeſten Compoſition der Welt
wollte man nicht alſo fragen ?
Was beſingt Homer ? nicht den Tro-
janiſchen Krieg , nicht eine Geſchichte alter
Zeiten als ſolche ; auch nicht Achilles Ge-
ſchichte ; ſondern
Den Zorn , des Peleiden Achilles
Schaͤdlichen Zorn , der tauſend Jammer den
Griechen gebracht hat ,
Und viel tapfere Seelen der Helden zum Or-
kus hinabſtieß ,
Ihre Leiber den Hunden und allem Gevoͤgel
zum Raube
Gab —
wahrlich , das heißt doch den Unmuth
Achills , er moͤge gerecht oder ungerecht
ſeyn , nicht unbedingt preiſen . Sogleich
bezeichnet ihn der Dichter , als eine ver -
derbliche Plage der Goͤtter , die um
ſo bedaurenswuͤrdiger war , weil ſie bloß
aus einem unſeligen Zwiſt entſtand ,
den ſein Held mit dem Koͤnige Agamem-
non hatte —
Und wer iſt Schuld an dieſem Zwiſte ?
Homer eroͤfnet ſein Gedicht mit einer Er-
zaͤhlung , die keinen Leſer oder Zuhoͤrer im
Zweifel laſſen kann . Ein Vater , ein Prieſter
Apolls,
Apolls , ein Schonenswuͤrdiger , unantaſtba-
rer Greis kommt unter dem Schutz ſeines
Gottes , um ſeine geraubte Tochter zu bit-
ten . Er ſpricht weder Mitleid noch Er-
barmen an ; er will ſie nur , und zwar uͤber-
reichlich loskaufen . Seine kurze Bitte iſt
ſo geziemend , ſo artig ; und welche harte ,
ungeziemende Antwort giebt der Koͤnig
der Griechen dem flehenden Alten .
Alter ! Daß ich dich nie bei den holen Schif-
fen erblicke !
Treff' ich ferner dich an ; es ſei , du weileſt noch
jetzo ,
Oder du kehreſt ein andermal wieder : ſo moͤchte
der Goldſtab
Mit dem Kranze des Gotts dich nicht mehr
ſchuͤtzen . Die Tochter
Geb' ich nicht los , bis einſt in unſrer Woh-
nung in Argos
Dritte Samml. F
Sie , von ihrem Geburtsland fern , bei Spin-
del und Webſtuhl
Und mein Lager bedienend , veraltet . Du aber
entfliehe !
Reize mich nicht zum Zorn , wenn noch dein
Leben dir lieb iſt .
Nicht den Vater , den Fremden , den Bit-
tenden , den Greis beleidigt dieſe Antwort
allein ; ſie beleidigt den Gott in ſeinem
Prieſter und iſt wirklich die Rede eines
uͤbermuͤthigen Atriden .
Nun ſteigt der Gott vom Olymp ; die
Pfeile fliegen , die Menſchen ſterben , die
Holzſtoͤße flammen ; Achill , den die Noth
des Heers jammert , ruft die Verſammlung
zuſammen , um die Urſache auszukunden ,
warum ein Gott auf ſie alle jetzt alſo er-
grimmt ſei ? Kann Achill edler auf den
Schauplatz gebracht werden , als alſo ?
Der Hirte der Voͤlker war durch ſeinen
Trotz ihr Verderben worden ; ſein koͤnigli-
ches Herz machte ſich keinen Vorwurf , ob
Er vielleicht an ihrem Untergange Schuld
ſey , noch ſuchte er Mittel dagegen ; den
großherzigen Achill allein kuͤmmert die Sa-
che des Ganzen .
Als ſolcher erſcheint er ſofort in ſeinen
Reden , unbefangen , wie es die Großher-
zigkeit iſt , und gerade . Da der weiſeſte
Seher ſich nicht erkuͤhnt zu ſprechen , weil
er ſich vor dem Unwillen des Maͤchtigſten ,
deſſen Gemuͤthsart ihm bekannt iſt , fuͤrchtet ,
nimmt ihn Achill fuͤr das gemeine Beſte in
Schutz ; worauf denn der Uebermuth des
Koͤnigs zuerſt auf den Seher , ſogleich nach
einer ſehr billigen Rede des Achilles auf
dieſen herfaͤllt . Und da Achill nicht ge-
ſchaffen war , ſich vor der Verſammlung
oder ſonſt ſchmaͤhen , beleidigen , das Seine
ſich rauben zu laſſen , am wenigſten aber
F 2
vom ſtolzen Duͤnkel eines uͤbermuͤthigen
Atriden ; ſo entbrennet der Zwiſt , ſo folgt
die Erbitterung , bei der , ( ich wage es zu
ſagen ) Achill auch im wildeſten Feuer ge-
recht bleibet . Pallas erſcheint ihm zu rech-
ter Zeit , ihn bei der blonden Haarlocke zu
ergreifen ; und als der unbeſonnene Fuͤrſt ,
auch nachdem er Zeit zu beſſerer Ueberle-
gung gehabt hatte , ſein unbefugtes Macht-
wort vollfuͤhret , und ihm ſein Eigenthum ,
ſeine geliebte Briſeis raubet , betraͤgt ſich
Achill gegen die Herolde mit einer hohen
Maͤßigung . Ungern wie Briſeis dahingeht ,
ſehn wir ſie hingehn , und ſetzen uns mit
dem Gekraͤnkten weinend ans Ufer . Da
hoͤren wir ihn der Mutter klagen , und
theilen mit ihr den Jammer um einen ſo
herrlichen Sohn , den bei einem kurzen Le-
ben , ohne ſeine Schuld , dieſe oͤffentliche
Beleidigung , dieſer Gram , dieſer Unmuth
treffen muͤßte . Mit Freuden ſehen wir den
Vater der Goͤtter den großen Wink thun ,
und den Gekraͤnkten in Schutz nehmen .
Wenn nun , ganze Geſaͤnge der Iliade
hindurch , unſchuldige , tapfre , edle Maͤnner ,
wenn liebe Soͤhne , junge Gatten , bluͤhende
Juͤnglinge fallen ; wer iſt an ihrem Tode ,
wer an der Trauer , den Thraͤnen , dem
Verluſt ihrer Eltern und Gatten und Braͤute
Schuld ? Achilles nicht ; er ſtreitet bloß
nicht mit , und kann und darf als ein oͤf-
fentlich und ungerecht Gekraͤnkter , nicht
mitſtreiten . Unmuthig ſitzt er in ſeinem
Zelt , und ſeine Myrmidonen murren zuletzt
um ihn her , daß er ſie nicht zum Streit
fuͤhre . Der uͤbermuͤthige Koͤnig allein iſts ,
der dadurch die Voͤlker ſtuͤrzt , daß er nicht
nur jenen Helden beleidigte , ſondern ſogleich
auch , im Wahn ſeines Ruhms , zu zeigen ,
F 3
daß er Achills nicht beduͤrfe , ſeine geliebten
Voͤlker zur Schlachtbank hinfuͤhrt .
Unglaublich iſts , wenn man es nicht
ſaͤhe , mit welcher moraliſchen Zartheit Ho-
mer dies alles einleitet und beſchreibet .
Eben dieſelbe Mutter des Beleidigten , die
den hoͤchſten Gott anfleht , hatte dem Dich-
ter Raum gemacht , einen falſchen Traum
vom Himmel kommen zu laſſen , der dem
Koͤnige einbilde , Er koͤnne jetzt , dem Achill
zum Trotz , Troja im Hui erobern .
Dagegen erhebt ſich nun freilich der
alte Neſtor
— Und ſagte mit Weisheit :
Haͤtte den Traum von allen Achaͤern ein
andrer erzaͤhlet ,
Wuͤrden wir ſagen : du luͤgſt ! und ihn unwil-
lig verſchmaͤhen
Aber ihn ſah der Koͤnig —
Und ſogleich ſteht der Koͤnig von ſei-
nem Sitz auf , ſtuͤtzet ſich auf ſeinen uͤber
Alles geprieſenen Scepter , hat ſogar eine
herrliche Liſt erdacht , die Anhaͤnglichkeit
der Griechen an Ihn , an ſeinen Bruder
Menelaus , und deſſen Weib , Helena zu
pruͤfen , uͤberzeugt , daß ſie ſich ihm nicht
anders als zum Opfer geben wuͤrden . Die
koͤnigliche Perſvaſion Perſuaſion mißraͤth ; der kluge
Ulyſſes , mit dem noch unveralteten Scep-
ter Agamemnons in der Fauſt kann ſie
kaum wieder zu ihren verlaſſenen Sitzen
bringen ; wo denn Therſites aufſteht , und
Er allein , auf die unſchicklichſte Art der
Sache Achills erwaͤhnet .
So Mancherlei uͤber dieſen haͤßlich-
laͤcherlichen Therſit geſchrieben worden ; ſo
ſieht Jedermann das vor Augen , daß den
Edelſten der Schlechtſte , den Herrlichſten
der Haͤßlichſte allein und aufs Nie -
F 4
drigſte vertheidigt . Jeder goͤnnet dieſem
die Schlaͤge des Ulyſſes ; es iſt aber große
Weisheit des Homers , daß er ſie dem
Therſites zukommen laͤßt , indeß alle Fuͤr-
ſten des Heers , deren keiner Agamemnons
Betragen gegen Achill loben konnte , dazu
ſchwiegen . Allen bekommt dies Schwei-
gen , die ganze Iliade hindurch , ſehr un-
wohl ; ihren Voͤlkern aber noch uͤbler .
Es wird in einem andern Kapitel da-
von die Rede ſeyn , wie Homer , der uͤber-
haupt keinen Groll gegen ein menſchliches
Geſchoͤpf , geſchweige gegen den Koͤnig ſei-
ner Griechen heget , den Agamemnon al-
lenthalben nicht nur geſchont , ſondern , wo
er irgend konnte , koͤniglich und feſtlich aus-
geſchmuͤckt habe . Zum Treffen laͤßt er ihn
ziehen :
Ganz an Augen und Haupt dem Donnerbe-
waffneten Zevs gleich ,
Um den Guͤrtel dem Mars , an Bruſt und
Schultern dem Meergott ;
Wie der fuͤhrende Stier ſich in der verſamm-
leten Heerde
Ausnimmt ; unter den Rindern der Erſt' und
Groͤßte von Anſehn .
Er laͤßet ihn den tapferſten Kriegern , ei-
nem Diomedes ſogar , Verweiſe geben ;
doch das Alles thut nichts zur Sache .
Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der
alte Neſtor mit dem Bekaͤnntniß doch
heraus :
— Ich denke noch heute , ſo wie ich ſchon
vormals
Dachte , zur Zeit , o Koͤnig , als du die junge
Briſeis
Aus des erzuͤrnten Achilles Gezelten gewaltſam
entfuͤhrteſt ,
F 5
Nicht nach unſerm Ermeſſen ; ich rieth
es mit vielen und ſtarken
Gruͤnden dir ab ; doch du , vom hohen Muthe
bemeiſtert ,
Kraͤnkteſt die Ehre des Helden , der ſelbſt von
Goͤttern geehrt war ,
Und noch haſt du bei dir den Siegslohn , den
du ihm raubteſt .
Er ſchlaͤgt zur Ausſoͤhnung Geſchenke
und ſchmeichelnde Worte vor ; Achilles
ſchlaͤgt ſie aus und muß ſie ausſchlagen ;
ja waͤre Agamemnon ſelbſt in ſein Zelt
gekommen , er haͤtte einen boͤſen Weg da-
raus gefunden . Nun hatte dieſer Raum
ſeine Wunder der Tapferkeit und Ober-
herrſchaft zu erweiſen , die aber alle dahin-
ausgingen , daß nach Niederlagen von al-
len Seiten , die Mauer der Griechen er-
ſtuͤrmt ward und Hektor , ans Schiff des
Proteſilaus greifend , ausrief : „ bringt
Feuer ! “ — Hier war das Ziel . Nicht
Agamemnons Geſchenke , noch eines ſchlauen
Ulyſſes Reden ; Achilles eigner Entſchluß ,
mit welchem ſich ſeines Freundes Patro-
klus Thraͤnen verbanden , hemmte die aͤu-
ßerſte Gefahr des Heeres . Jetzt gab
Achill dem Patroklus ſeine Waffen , mit
dem gemeſſenen Befehl , wie weit er gehen
ſollte . Als Patroklus dieſen uͤberſchritten
hatte und den Feinden erlag , als Hektor
in die Waffen Achills zu ſeinem eignen
Verderben gekleidet daſtand , und die Nach-
richt vom Tode des Freundes , endlich auch
ſeine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager
kam : da war aller Groll dahin ; im Him-
mel und auf der Erde war Friede . In
neue Waffen gekleidet , erſcheint er in der
Verſammlung ; und wie klein iſt gegen ihn
Agamemnon , ob er ſich gleich noch jetzt ,
zur Entſchuldigung ſeines Fehlers , in einem
Maͤhrchen von der Ate , dem Jupiter
gleichſtellt . Wie groß dagegen iſt Achilles
und wie zart ! zart in den Klagen um ſei-
nen Freund , in den Klagen an ſeine Mut-
ter ; groß in der Verſoͤhnung mit ſeinem
Feinde , in der Anordnung des Begraͤbniſ-
ſes ſeines Freundes ,
Laßt Patroklus Gebein , des Menoͤtiaden , uns
ſammlen ,
Mit ſorgfaͤltiger Wahl ; es iſt nicht ſchwer zu
erkennen .
Dieſes legen wir bei in goldner Urne , bis ich
auch
Sinke zum Hauſe des Pluto — —
Dann erhoͤhn wir den Huͤgel zum Grabmahl ;
aber ich wuͤnſch' ihn
Nicht von ſtolzer Groͤße , nur maͤßig . Breiter
und hoͤher
Moͤget ihr , Freund' , ihn kuͤnftig erbaun , ſo
viele von euch mich
Ueberleben — —
Groß endlich in den Kampfſpielen , in der
Ueberwindung ſein ſelbſt , da er den Leich-
nam Hektors zuruͤckgiebt , in der Behand-
lung Priamus dabei , groß von Anfange
des Gedichts bis zu Ende . Scherzend
ſpricht er zu Priamus :
Greis , wie ſchlaͤfſt du ſo unbekuͤmmert , kein
Uebel befuͤrchtend ,
Wenn dich allhier Agamemnon entdeckt und
die andern Achaͤer ! —
Dies iſt das letztemal , da Agamemnons in
der Ilias gedacht wird ; wie tief ſteht er
unter Achill , in deſſen Zelte ſein Feind ru-
hig ſchlaͤft .
Ich weiß wohl , daß man die gedrohete
Mißhandlung am Leichnam Hektors dem
Achilles hoch aufnimmt ; aber preiſet ſie
Homer ? und verhindern ſie die Goͤtter
nicht ſelbſt , denen Achilles ſogleich wie ein
Kind gehorchet ? Und was hatte Hektor
mit Patroklus Leiche im Sinn , uͤber die
ein ſo hitziger Kampf war ? —
Man iſt gewohnt , Achill und Hektor
zum Nachtheil des Erſten zu vergleichen ;
nach welchem Maasſtabe ? Nicht nur
waren es verſchiedene Charaktere , und zu
Achills Charakter gehoͤrte , was er war ,
untrennbar ; ſondern Hektor war auch ein
Trojaner . Daß in Troja , dem alten aſia-
tiſchen Koͤnigsſitze , ein groͤßerer Reichthum ,
eine weichere Lebensart herrſchte , als in
den meiſten griechiſchen Staaten ſeyn konn-
te , zeigt ſich in mehreren Stellen der Iliade ;
der Charakter des erſten Trojaners mußte
dieſem Zuſtande gemaͤß ſeyn . Der Spie-
gel Homers , in welchem ſich alle Dinge
der Welt gleich klar und rein darſtellen ,
zeigt alle Geſtalten gleich menſchlich und
milde . Bei voͤlligen Gegenſaͤtzen ſcheint
eine Vergleichung kaum moͤglich ; und doch
wirft Homer auf alle , wo irgend er kann ,
den milden Stral der Menſchheit .
Sein Gedicht endet , ehe Troja erobert
wird , ehe wir alſo die Graͤuelthaten der
Griechen in dieſer eroberten Stadt gewahr
werden . Selbſt ſein Held hatte das gute
Schickſal , die ſchreckliche Folge ſeiner Tap-
ferkeit nicht zu erleben ; er fiel , wie wir
aus andern wiſſen , im Thore von Troja .
Und bei Homer , ſobald Achill mit ſeinen
neuen Waffen dahergeht , geht er zum
Tode . Dies weiſſagt ihm ſeine Mutter ,
ſeine weinenden Roſſe , der ſterbende Hektor ,
und er ſelbſt weiß es . Sein Leben iſt an
Patroklus Leben geknuͤpft ; Ein Huͤgel ſoll
ſie decken , und eine goldne Urne beider
Aſche am Troiſchen Strande vereinen .
Was uͤberhaupt der Glaube an ein
Schickſal , was die Thaten der Goͤtter , ihre
Huͤlfe und Feindſchaft gegen Voͤlker und
Menſchen , in die Compoſition Homers an
Ruhe , Milde und hohe Ergebenheit brin-
gen , iſt unſaͤglich . Man nehme dieſe
goͤttliche Farce , wie manche ſie genannt
haben , (μωϱον ) aus ſeiner Iliade ; und das
Ganze wird widrig oder platt , wie faſt alle
politiſche Geſchichte . Und doch iſt alles
Zuwirken der Goͤtter bei ihm ſo menſch-
lich , ſo natuͤrlich ! Nirgend ein zerſtoͤren-
des Wunder ; allenthalben nur der Gang
des Menſchengemuͤths , der Menſchenkraͤfte ,
ſofern er ans Zufaͤllige , ans Unvorgeſehene ,
ans Unendliche reichet . Was zumal die
Goͤtter uͤber die Sterblichen , und uͤber
Achills Roſſe ſprechen , die einem Sterbli-
chen dienen , iſt Seelezerſchneidend .
Menſchlicher Homer , wie liebe ich dich
in allen deinen Formen und Geſtalten !
Auch Paris , auch die Suͤnderin Helena
haſt
haſt du nicht verſchmaͤhet , und beide in das
ſchoͤnſte Licht geſtellt , in welchem ſie ſtehen
konnten . Nicht vergeſſen ſind ihre Bruͤder
Caſtor und Pollux ; ihr Menelaus , ſamt
Ulyß , ſind mit allen Wuͤrden geſchmuͤckt ,
deren ſie auf der Ebne vor Troja faͤhig
waren . So Ajax , Diomed , Idomeneus ,
Neſtor ; jeder erſcheint an ſeinem Orte , zu
ſeiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes .
Kurz oder lange leuchtet ſein Schein ; aber
er geht nach Verdienſt auf und nieder .
Drei Lehren druͤckſt du ſchweigend vor
allen uns ins Herz :
1. Diſcite juſtitiam , miſeri , et non tem-
nere divos ,
welches ich hier ſo uͤberſetzen moͤchte :
Lernt , ihr Fuͤrſten , gerecht ſeyn und treffliche
Maͤnner verehren .
Dritte Samml. G
Dies lehrt uns mit ſeinem Uebermuth der
praͤchtige Agamemnon in der ganzen Iliade .
Er graͤnzt an alle Ausſchweifungen , die
Ariſtoteles Ethik kannte , an die Hab -
begierde ( Akolaſie ) den Neid , die
Schaamloſigkeit und Beifallge -
bung , die Pralſucht ; doch graͤnzt er
nur daran , denn der weiſe Homer hat ihn
vor jedem Zuge des Veraͤchtlichen bewah-
ret . Er iſt und bleibt bei ihm ein un -
ſtraͤflicher Koͤnig . Achilles dagegen be-
ſitzt den Kern deſſen , was die Griechen
Tugend nannten , Großherzigkeit
(μεγαλοψυχια ) und edlen Stolz , ho -
hes Selbſtgefuͤhl und die aͤußerſte
Wahrheitliebe . Er iſt freigebig
und auf eine anſtaͤndige Art praͤchtig ,
hoͤflich in ſeinem Zelt und bis zur Schaam
beſcheiden ; dabei gebildeter als alle
Griechen : denn er war Chirons Zoͤgling
und ergoͤtzte mitten im Unmuth ſein ſchwer-
beladnes Herz durch Toͤne . Der waͤrmſte
Freund ſeines Freundes , an Staͤrke ,
Tapferkeit , Schoͤnheit und Ruhmliebe uͤber
alle Griechen erhaben . Und an dieſem
Gottgeliebten Sohn einer Goͤttinn und ei-
nes Helden zeigt uns Homer μηνιν
2. die erſchreckliche Plage des har-
ten , obwohl gerechten Unmuths . Achill
konnte ihm nicht entweichen : denn der
Vorfall , der ihn dazu reizte , drang auf ihn ,
ohne daß er ihn ſuchte . Er kann , die
ganze Iliade hindurch , als Achill nicht an-
ders handeln , als er handelt . Das Unan-
genehme aber dieſes Unmuths fuͤr ihn und
fuͤr andre entwickelt der Saͤnger durch
Worte aus des guten Phoͤnix , ja aus
Achills eignem Munde und durch Erfolge
in lauter lebendigen Situationen . Sogar
das herbeieilende letzte Schickſal des Edel-
G 2
zuͤrnenden ſehen wir in dieſe Reihe der
Dinge verflochten , in dieſen ihm unver-
meidlichen Unfall . Konnte ein zarterer
Punct des menſchlichen Herzens und Le-
bens zarter behandelt werden , als es der
Dichter gethan hat ? Gemeine Seelen
wiſſen nichts vom edeln , goͤttlichen Unmuth ;
wie manchem groͤßeren Gemuͤth aber iſt er
die Klippe des Gluͤcks , ſeiner Brauchbar-
keit fuͤrs gemeine Weſen , des haͤuslichen
und taͤglichen Wohlſeyns , ja endlich des
Lebens ſelbſt worden ! Mehr als Ein Ge-
kraͤnkter hat die Klagen angeſtimmt , die
Achill am Ufer des Meers ſeiner Mutter
zuſeufzte ; er konnte aber keinen andern
Troſt hoͤren , als jenem die Goͤttin ſelbſt zu
geben vermochte .
3. Endlich , welch eine boͤſe Sache iſt
der Krieg ! Und wie mißlich iſt jede Re-
gierungsart unter den Menſchen , ſo un-
umgaͤnglich ſie iſt im Kriege und Frieden !
Beides hat uns Homer ſo vorzuͤglich und
hell dargelegt , daß wir auch hier den Mei-
ſter ſehen , der in die roheſten Dinge Weis-
heit und Menſchlichkeit brachte .
G 3
35 .
S ohn ! Dir werden die ſiegende Staͤrke ,
nach ihrem Gefallen ,
Pallas und Juno verleihn ; du aber bezaͤhme
des Herzens
Stolzaufwallenden Muth : denn guͤtige Triebe
ſind edler .
Dieſe Lehre laͤßt Homer den alten Pe-
leus ſeinem Achilles auf den Zug vor Troja
mitgeben und die ganze Iliade iſt eigent-
lich ein Lob der Philophroſyne d. i.
gefaͤlliger , Menſchenfreundlicher Geſinnung :
Unmuth iſt dem Homer eine Plage des Le-
bens , ſelbſt wenn es ein gerechter , goͤttli- goͤtt-
licher Unmuth (μηνις ) waͤre . Er frißt am
Herzen , und naget ab die Bluͤthe des Le-
bens ; bei den menſchlichſten Geſinnungen
wird der Gekraͤnkte wider ſeinen Willen
ein Unmenſch . Die aͤlteſte griechiſche Phi-
loſophie ging dahinaus , das Gemuͤth der
Menſchen vor jedem Aeußerſten zu bewah-
ren ; die aͤlteſte Philoſophie der Griechen
aber war bei den Dichtern . Mit Recht-
ſchaffenheit , Ruhm und Geſundheit ein
heiteres , frohes Leben fuͤhren zu koͤnnen ,
ſtelleten ſie als den hoͤchſten Wunſch der
Sterblichen dar , und warnten vor jedem
Uebermaaße , vor jeder zu hart angeſeſſenen
Neigung . Wie klar muß es in der Seele
Homers geweſen ſeyn , da er , ſein ganzes
Gedicht hindurch , gleichſam die Waage
Jupiters in der Hand haltend , die Nei-
gungen und Charaktere der Menſchen gegen
einander im Streit und in Folgen abwog !
G 4
Der Schild Achilles zeigt bei ihm , wie er
ſich die Welt dachte ; unbefangen ſah er
ihre mancherlei , einander oft nahe entge-
gengeſetzten Scenen ; froͤhliche und traurige ,
ruhige und ſtuͤrmiſche Scenen , und ſchil-
dert ſie , wie dort Vulkan ſie hammerte ,
glaͤnzend und unvergaͤnglich . Wem Homers
Muſe den Nebel vom Auge nimmt , ge-
winnet uͤber die Dinge der Welt gewiß
eine große , weiſe und am Ende froͤliche
Ausſicht .
Wie Achill mit ſeiner Leyer den Un-
muth ſich zu zerſtreuen ſuchte : ſo war es
das Amt der lyriſchen Dichter der
Menſchen Herz zur Maͤßigung in Gluͤck
und Ungluͤck zu ſtimmen und es zur Freu-
de , Freundſchaft und Heiterkeit zu ermun-
tern . Leider ſind die meiſten derſelben un-
tergegangen ; die uͤbriggebliebenen Reſte
aber zeigen dieſe Beſtimmung . Pindar
ſelbſt , ob er gleich laute Siege beſingt , hat
ſo manchen Spruch in ſeinen Geſaͤngen ,
der zur Maͤßigung im Gluͤck , zum behut-
ſamen Gebrauch des Lebens einladet ; ſo
manchen , der dem Unmuthe zuvorzukom-
men ſucht , oder nach Erfahrungen deſ-
ſelben die Seele des Kaͤmpfers edel
erquicket .
Das feine Echo der Griechen , ( wie
Einer unſerer Freunde ihn nannte ) Horaz
thut ein Gleiches . Es waͤre zu wuͤnſchen ,
daß er in ſeiner wohlgefaͤlligen , einſchmei-
chelnden Art auch uns eigen werden koͤnn-
te ; vielleicht iſt dies aber unmoͤglich : denn
die Meiſten ſeiner Oden ſind zu kuͤnſtlich
eingelegte Muſiviſche Arbeit .
Mehrere derſelben , wiſſen Sie , ſind nach
dem Lateiniſchen in Muſik geſetzt ; ich woll-
te , daß auch aus den fuͤr uns nicht ganz
brauchbaren Oden alle rein-menſchliche
G 5
Strophen , alle beruhigende , troͤſtende , auf-
heiternde Spruͤche und Empfindungen la-
tein componirt wuͤrden . Stellen aus Vir-
gil deßgleichen . Ich erinnere mich aus
Luther , daß ihm einige Worte der ſterben-
den Dido in der Muſik einen unvergeßba-
ren Eindruck gemacht hatten ; wem wuͤr-
den nicht jene ewigen Spruͤche der Alten ,
mit welchen ſie im einfachſten , kraͤftigſten
Ausdruck das Menſchengemuͤth ſtaͤrken , ei-
nen nach- und wiedertoͤnenden Eindruck
geben ? Durch Muſik iſt unſer Geſchlecht
humaniſirt worden ; durch Muſik wird es
noch humaniſiret . Was dem Unmuthigen ,
dem Lichtlos-Verſtockten die Rede nicht
ſagen darf : ſagen ihm vielleicht Worte auf
Schwingen lieblicher Toͤne .
Wenn dies von Geſaͤngen der Alten gilt ,
ſollte es nicht vielmehr von Sprachen gel-
ten , deren Genius uns vertraulicher und
naͤher Laute des Troſtes und der Weisheit
zuliſpelt ? Kein Zweifel . In den Dichtern
der Italiener , Spanier , Gallier ſchlummern
Toͤne , die , wenn ſie durch Muſik und Anwen-
dung zur Weisheit des Lebens wuͤrden , Voͤl-
ker und Staͤnde menſchlich machen muͤßten .
Auch in unſern lyriſchen Dichtern ſind
Strophen , die der Sokratiſchen Schule
wuͤrdig ſind ; warum leben ſie ſo wenig
im Ohr der Nation ? warum ſchlafen ſie
mit ihren Erfindern vergeſſen im Staube ?
Die Urſache iſt leicht zu finden : „ weil nur
ein ſo kleiner Theil unſrer Nation cultivirt
iſt , und bei einem andern die ſcheinbare
Cultur zu einem falſchen Schmuck frem-
der Ueppigkeit geworden iſt . “ Wir wollen
es uns nicht bergen ; man ſpricht viel von
Cultur und Aufklaͤrung ; man affectirt und
fuͤrchtet ſie ſo gar , vielleicht weil man an
ſich ſelbſt weiß , daß ſie nicht tief gehet ,
daß ſie ſelten von rechter Art iſt . Denn
wirklich gebildete Gemuͤther , ( in dem
Verſtande , wie Griechen und Roͤmer dies
Wort uns zugebracht haben , ) koͤnnen am
Nutzen der aͤchten Bildung nicht zweifeln .
Doch wo gerathe ich hin ? Laſſen Sie uns
ſchnell zu unſrer Materie , zu dem unver-
faͤnglichen Wunſch nach Compoſitionen
ſchoͤner Stellen aus lateiniſchen
Dichtern zuruͤckkehren . Oft , gar oft
wenn ich geiſtliche Muſiken uͤber lateiniſche
Moͤnchsworte hoͤrte , regte ſich das Ver-
langen in mir , auch altroͤmiſche Stellen
mit ſolcher Muſik begleitet zu hoͤren ; und
als in Reichardts Todtenfeier auf Frie-
derich nach Luccheſini 's Worten alt Roͤ-
miſche Tugenden , Eine nach der Andern ,
auf des Unſterblichen Grab auch in Toͤnen
ſich zudraͤngten , ward der Wunſch aufs
neue in mir lebendig . Strophen aus
Horaz , ( z. B. B. 1. Ode 7. V. 21-32.
B. 2. Ode 10. V. 13-24 . ) oder ganze
Stuͤcke mit Zweckmaͤßiger Abwechſelung ,
( wie vielleicht B. 1. Ode 9. 24. 26. B. 2.
Ode 3. 11. 14. 16. 19. 20. B. 3. Ode 2.
9. 21. B. 4. Ode 7. Epode 7. ) wuͤrden
der Muſik nothwendig den eigenthuͤmlichen
Schwung geben , der ihr bei unſern ver-
brauchten Sylbenmaaßen zu finden oft
ſchwer wird . Der Hoͤrer wuͤrde dadurch
gewiſſermaaßen in die Roͤmiſche Welt , oder
wenigſtens in Zeiten ſeiner Jugend ver-
ſetzt , in welchen er Horaz zuerſt lieben
lernte .
Wie gluͤcklich war uͤberhaupt dieſer
Dichter ! Nicht nur im Leben , ſondern
auch in der Reihe von Wirkungen , die
ihm nach ſeinem Tode das Schickſal an-
wies . Die lyriſchen Dichter der Griechen
ſind untergegangen ; Er faſt allein hat uns
mehrere Formen ihrer Gedanken , ihrer Em-
pfindungen , ihres Ausdrucks , ihrer Syl-
benmaaße in ſeinen Nachbildungen geret-
tet ; und was damit fuͤr ein Schatz geret-
tet ſei , hat die Zeitfolge erwieſen . Die
Pindariſche Form , die Form der griechi-
ſchen Scholien und Choͤre war und blieb
den Sprachen Europa's unanwendbar ; in
der Horaziſchen Form erhob ſich die Ode ,
ſelbſt zu einer Zeit , da die Nationalſpra-
chen der Europaͤiſchen Voͤlker ungebildet
dalagen . In allen Laͤndern ſchloſſen ſich
die Geiſter des Geſanges dem Venuſini-
ſchen Schwan an , und druͤckten zuerſt in
der geliehenen lateiniſchen Sprache Geſin-
nungen aus , die ſie in ihrer Landesſprache
noch nicht auszudruͤcken vermochten . Wie
niedrig iſts , was Balde u. a. Deutſch ſan-
gen ; wie edler , wo ſie das von Horaz
geheiligte Werkzeug der Sprache anwen-
den konnten ! Ohne ihn haͤtten wir keinen
Sarbievius , deſſen Oden , von Goͤtz u. a.
wiederum in unſre Sprache uͤbertragen ,
immer noch den Roͤmiſch-Griechiſchen Geiſt
athmen . Gehen Sie in dieſem Geſichts-
punkt die Sammlungen durch , die Gru -
ter u. a. von den lateiniſchen Dichtern
der Italiaͤner , Gallier , Belgen ,
Deutſchen , Daͤnen , Schotten , Eng -
laͤnder u. f. gegeben haben ; unter vielem
Wortgeklingel werden Sie unſtreitig wahre
delicias finden . Jeder edlere Dichter ver-
gaß gleichſam den Lauf der Dinge um ihn
her ; uͤber die Vorurtheile ſeines Landes ,
ſeiner Secte , ſeines Ordens hinausgeſetzt ,
mußte er gleichſam mit dem Roͤmiſchen
Dichter auch Roͤmiſch denken . Was ſpaͤ-
terhin in unſrer Sprache eben auch durch
die Horaziſche Form geweckt und in ihr
vorgetragen ſei , darf ich Ihnen aus Klop -
ſtock , Goͤtz , Uz , Ramler u. a. nicht
anfuͤhren . Horaz iſt Saͤnger der Hu -
manitaͤt gleichſam Vorzugsweiſe , die
Form ſeiner Gedanken iſt das erwaͤhlte
Lieblingsmaaß der lyriſchen Muſe worden .
O daß wir alſo ſchon Stellen , wie ſolche :
Vitae ſumma breuis — nil deſperandum —
Tu ne quaeſieris — felices ter et amplius —
quod ſi Threicio — linquenda tellus — ae-
quam memento — rebus anguſtis — eheu
fugaces — tecum vivere amem , tecum obeam
libens — in lateiniſcher Sprache componirt
hoͤrten !
Hier Eine von Sarbievs unſchaͤtzba-
ren Oden auch in der Form des Roͤmers :
An die Weisheit . Die du , hoͤchſte Vernunft , weiſe die Schik-
kung lenkſt !
Wie zuweilen der Ernſt deiner Verfuͤ-
gungen
Uns ergetzet , ergetzen
So die menſchliche Spiele Dich ?
Mit
Mit freigebiger Hand ſtreueſt du Guͤter
aus .
Und wir raffen ſie auf , wenn ſie ge-
fallen ſind ,
Wie die Jugend die Nuͤſſe
Mit kurzweiligem Zanke rafft .
Wer jetzt Kronen erhaſcht , bricht ſie ; wer
Zepter kriegt ,
Sieht ſie wieder entfuͤhrt , eh er ſie
tragen kann .
Welt ! ſo ſchwankſt du , zerriſſen
Von den Haͤnden der Maͤchtigen .
Was das geizige Gluͤck unter die Voͤlker
theilt ,
Iſt ein Puͤnktchen . O laß , Weisheit ,
ich flehe Dir !
Mich , indeß ſie ſo zanken ,
Mit dir lachen und froͤhlich ſeyn .
Dritte Samml. H
36 .
E in zweites Fragment aus der Handſchrift
Ionien handelt
Von der Humanitaͤt Homers
in Anſehung des Krieges und der
Kriegfuͤhrenden ſeiner Iliade .
Laſſen Sie es jetzt ſtatt meines Briefes
gelten .
Selbſt in dem Heldengedicht , das groͤß-
tentheils Thaten der Krieger beſingt , dachte
Homer uͤber Krieg und Frieden menſch -
lich . Nicht nur , daß er jenen ſo oft den
Thraͤnenreichen , Maͤnnerfreſſen -
den , verderblichen , harten , boͤſen
Krieg nennet ; er laͤßt keine Gelegenheit
vorbei , ihn ſeiner Natur nach , mit allen
begleitenden Uebeln , durch Thatſachen zu
ſchildern .
I. Die Iliade beginnt mit einem Greiſe ,
der um ſeine geraubte , liebe Tochter
vergebens flehet ; und bald wird es nicht
verſchwiegen , daß die Griechen alle benach-
barte Kuͤſten und Inſeln gepluͤndert , daß
ſie die neun Jahre her großentheils vom
Raube gelebt haben . Schon faulet das
Holz an ihren Schiffen , die Seile vermo-
dern ;
Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder
Schmachten , ſie wiederzuſehn —
daher denn , als Agamemnon ihnen den
Vorſchlag that , nach neun Jahren vergeb-
licher Arbeit wieder die Schiffe zu beſtei-
gen und
H 2
— zu fliehn zum werthen Geburtsland ;
ſo hatte er kaum das Wort geſprochen ,
als die Verſammlung es in freudigem
Ernſt befolgte :
— Der Staub ſtieg unter den Fuͤßen der
Maͤnner
Wallend empor , und einer ermahnte den an-
dern zur Eile ,
Daß ſie die Schiff ' erreichten und bald ins
Waſſer ſie zoͤgen .
Nur durch vieles Zureden und durch den
gebietenden Stab des Koͤnigs konnte die
Kriegsſatte Schaar wieder in die Verſamm-
lung , durch neue dringende Vorſtellungen
von Schande , Ruhm und Hoffnung wie-
der ins Feld gebracht werden .
2. Denn es hatte ſich zur Laſt des Krie-
ges auch die Plage der Peſt gefunden ;
eben ſie unterlaͤßt Homer nicht im Anfange
der Iliade ſchreckhaft zu zeichnen .
— Die Voͤlker aus Argos
Fielen bei Haufen dahin ; die ſcharfen Pfeile
des Gottes
Flogen toͤdtend umher im ganzen achaͤiſchen
Kriegsheer ,
Daß man taͤglich die Leichen , gethuͤrmt in
Haufen verbrannte .
Denn wem iſt unbekannt , daß anſtecken-
de Krankheiten , das gewoͤhnliche Gefolge
aller Kriegsheere ſind , und elender metzeln ,
als das Schwert des Feindes ?
3. Als die Goͤttinn endlich im Buſen der
Griechen die Streitluſt wieder erweckt ,
Daß ſie nach unablaͤſſigem Kampf und Schlach-
ten ſich ſehnen ,
und ihnen der Krieg wiederum viel ſuͤßer
duͤnkt ,
— als vormals
Ihnen die Ruͤckfahrt ſchien zum werthen
Lande der Heimath ,
H 3
will der Dichter dem blutigen Gefechte noch
durch eine billige Auskunft zuvor-
kommen . Menelaus und Paris , de-
ren Sache es eigentlich allein iſt , um de-
ren willen Menſchen hingeopfert werden ,
ſollen durch einen Zweikampf den Zwiſt
entſcheiden .
— Ihn hoͤrten mit Freude die Griechen und
Trojer
Hoffend , das Ende zu ſehn des Elendbringen-
den Krieges .
4. Da dies Mittel aber nicht gelang ,
und die Heere gegen einander ziehen muͤſ-
ſen , von wem laͤßt ſie der Dichter empoͤ-
ren ? Die Trojer von Mars , den ſein
Vater , Jupiter , ſelbſt ſpaͤterhin alſo an-
redet :
Wiſſe , dich haß' ich am meiſten von allen Be-
wohnern des Himmels :
Denn du findeſt nur Luſt an Zank und Krie-
gen und Schlachten .
Aehnlich biſt du der Mutter am unertraͤgli-
chen Starrſinn ,
Der nie weichet und kaum von mir durch
Worte gezaͤhmt wird .
Die Griechen regt Pallas auf , und mit
beiden Aufregern ſind
— Das Schrecken , die Furcht , die
raſtloswuͤtende Zwietracht ,
Schweſter des Menſchenverderbenden Mars
und ſeine Gehuͤlfinn ,
Die erſt klein ſich immer erhebt , bis endlich
ihr Haupt ſich
Hoch in Wolken verbirgt , indem ſie die Erde
bewandelt ;
H 4
Dieſe durcheilte die Heer ' und ſaͤ' te zu beider
Verderben
Streitgier unter ſie aus , und mehrte der Krie-
ger Getuͤmmel .
Sind dieſe Namen hier allegoriſche Kunſt-
werke ? Geſpenſter ſinds , die Homer
eben deßwegen ſchreckhaft einfuͤhret , weil
durch Perſonen , die in beſtimmten Umriſ-
ſen erſcheinen , die Wirkung nicht hervor-
zubringen war , die er hervorbringen wollte .
So ſcheint er zu andrer Zeit den Zorn ,
die Schadenfreude , das ſchrecklicher-
greifende Todesverhaͤngniß zu perſo-
nificiren ; zu gleichem Endzweck , unſere
Begriffe naͤmlich zu verwirren durch dieſe
unumſchriebene Wortlarven . Der Zorn
iſt ihm wie ein Rauch , und die Zwie -
tracht erhebt ſich gleicher Geſtalt zwiſchen
Himmel und Erde . — Von allen Kuͤnſt-
ler-Ideen weggeſehen , wie wahr und wie
graͤßlich ! Aus einem Nichts entſpringet
die Zwietracht und wird in kurzem uner-
meßlich . Nie umſchrieben in ihrem Weſen
kommt ſie vielleicht aus Einer Kammer
hervor und durcheilt Staaten , durcheilt
Heere , ſaͤet Verderben und Streitgier um-
her , immer das Haupt in hohen , unabſeh-
lichen Wolken verborgen . Selten wiſſen
die Menſchen , weßhalb ſie ſtreiten ; je laͤn-
ger aber , deſto hartnaͤckiger hadern ſie :
denn von Schritt zu Schritt waͤchſt die
unerſaͤttliche Eris .
5. Jetzo trafen ſie nah' auf Einem Raume
zuſammen ,
Schild und Lanzen begegneten ſich und Kraͤfte
der ſtarken
Eiſengepanzerten Maͤnner . Es ſtieſſen die
baͤuchigen Schilde
Wechſelnd gegen einander , und ward ein ſchreck-
lich Getoͤſe .
H 5
Laut ertoͤnte zugleich das Jammern und Jauch-
zen der Krieger ,
Schlagender und Erſchlagner ; es ſtroͤmte von
Blute die Erde .
Da ſich Homers Iliade einem großen
Theil nach mit dieſem Gemetzel beſchaͤf-
tigt : ſo wird das Menſchengemuͤth des
Dichters hier vorzuͤglich fuͤhlbar . Seine
Todte laͤßt er nie als Thiere fallen ; er be-
zeichnet , ſo viel er kann , in einigen Ver-
ſen als Menſchenfreund ihr trauriges
Schickſal . Dieſer wird nie mehr zu ſei-
nen geliebten Eltern , zu ſeinen Bruͤdern ,
ſeiner Gattinn , ſeinen Kindern wiederkeh-
ren ; jener hat Reichthum , Wohlſtand ,
eine gluͤckliche Ruhe verlaſſen , die er nie
mehr genießen wird . Einen andern
zeichnet er als Kuͤnſtler , als einen geſchick-
ten , ſchoͤnen , Gottbegabten Mann ; ſeine
Kunſt iſt dahin , ſeine Schoͤnheit verwelket ,
der Goͤtter Gaben werden mit der Aſche
begraben . Jenen hat falſche Hoffnung ,
eine truͤgliche Weiſſagung ins Feld gelockt ;
der Tod ergreift ihn , ſchwarze Nacht um-
huͤllet ſein Auge . Und ferner . Mehrere
dieſer Erinnerungen ſind ſo zart , daß ſie
Inſchriften zu den Grabmaͤlern
der Erſchlagenen ſeyn koͤnnten , wenn
arme Kriegserſchlagene Grabmal und Urne
erhielten .
6. Merkwuͤrdig iſt hiebei , daß Homer
dieſes zaͤrtliche Andenken am meiſten den
Trojanern ſchenket . Er ein Grieche , der
den Ruhm griechiſcher Helden verewigen
wollte , war zugleich ein Aſiat , ein Jonier ,
ein Menſch , und ich moͤchte ſagen ein Be-
daurer des Trojaniſchen Schickſals . Weit
entfernt von der barbariſchen Kleinmuth ,
ſeine Feinde verunglimpfend zu beluͤgen ,
zeichnet er ihr zarteres Gemuͤth , die groͤ-
ßere Weichlichkeit ihres Klima , ihre Fami-
lienneigungen , ihre Kuͤnſte , ihr Wohlbeha-
gen zu Friedenszeiten , in Zuͤgen , an denen
ſich offenbar das Auge des Dichters ſelbſt
ergoͤtzte . Die armen Trojaner ſind ihm
eine Heerde Schaafe , die von Woͤlfen an-
gefallen wird ; unter ihnen ſind viele frem-
de Bundsgenoſſen , die am Schickſal der
bedraͤngten Koͤnigsſtadt nur aus nachbar-
lichem Mitleid Theil nehmen . Uns den
inneren Wohlſtand Troja's zu zeigen , un-
ſer Herz fuͤr die Bedraͤngten mitfuͤhlend zu
machen , fuͤhrt er ſeinen edlen Hektor im
Anfange des Treffens in die Stadt zuruͤck .
Er zeigt uns Priamus und ſeiner Soͤhne
Wohnungen , zeigt uns die Helena ſelbſt in
einer zwar erniedrigten , aber nicht unwuͤr-
digen Geſtalt ; ſo die Aelteſten der Stadt ,
ſo endlich Andromache und ihr Kind . Ruͤh-
render iſt wohl kein Abſchied geſchildert
worden , als den Hektor von ihnen beiden
nahm ; und es iſt eine Ueberkritik der
Grammatiker , daß in der Andromache
Rede einige Verſe zu allgemein und zu
viel ſeyn ſollen . Bei dem Dichter ſpricht
ſie im Namen aller Trojaniſchen Frauen ,
fuͤr ſie und ihre verwaiſeten , gefangenen
Kinder . Auch hat ſich Homer wohl gehuͤ-
tet , uns die Unthaten ſelbſt zu erzaͤhlen ,
die dieſer traurige Abſchied nur vorahnet ,
ob ſich gleich der Grund ſeiner ganzen
Odyſſee , die ungluͤckliche Ruͤckfahrt der
Griechen , großen Theils auf ſie bezog .
Weder mit der Graͤuelthat des Ajax vor
dem Bilde der Pallas , noch mit des Pria-
mus , der Polyxena und Andrer unwuͤrdi-
gem Morde hat ſeine Muſe ſich befleckt ;
die Kuͤnſtler und tragiſchen Dichter nah-
men ihre Vorſtellung dieſer Scenen aus
andern ſogenannten cykliſchen Dichtern .
Hektors letzter Gang nach Troja iſt bei
Homer in jedem Schritte groß und heilig .
Der Edle will die zornige Goͤttinn verſoͤh-
nen und ſeine geliebte Vaterſtadt entſuͤn-
digen ; daher er auch den Miſſethaͤter Pa-
ris ins Feld fodert , bis am Skaͤiſchen
Thore endlich , an dieſem Ungluͤcksorte , der
traurige Abſchied die Scene endet — —
Homer war keiner von denen , die ih-
rem Lieblingshelden die ganze Welt auf-
opfern . Seinen Achilles kleidet er in
Gottaͤhnliche Groͤße ; Hektor dagegen in
alle Wuͤrde und Zierde des Vertheidigers
ſeiner Geburtsſtadt . Beide Helden konn-
ten in dem Menſchenverderblichen Kriege
nicht auf Einmal glaͤnzen ; indeß Jener
alſo einige Tage ruhet , laͤßet er dieſen
ſein Gluͤck aufs hoͤchſte treiben ; bis er
durch Anlegung der Waffen Achills die
Nemeſis reizet , und dem Tode ein Opfer
daſteht . So uͤbertrieb Patroklus ſeine Be-
ſtimmung und ſank ; nicht von Hektor ,
ſondern zuerſt von Apollo ſelbſt Ruͤckwaͤrts
getroffen , daß Achills Waffen von ihm
fielen . So ſollte , hinter Homers Iliade ,
Achilles , da ſein Ziel erreicht war , auch
ſinken . Das Schickſal aller Dreien , der
edelſten Maͤnner , iſt in einander verwebt ,
und der Tod Eines ein Verkuͤndiger vom
Tode des Andern . Im Leben und Tode
ehrt Jupiter den Hektor . Da er vom
Zorn der Juno ihn nicht erretten kann ,
opfert er ſeinen eignen geliebten Sohn
Sarpedon mit ihm zugleich auf , und ſei-
nen Leichnam entzieht er der Rache Achills
auf die edelſte Weiſe .
Und wie den Hektor , ſo hat Homer
den alten Priamus und alle ſeine Kin-
der geehret . Deiphobus iſt vom Apoll
begeiſtert , wie keiner im griechiſchen Heere ;
ſelbſt Paris Vorzuͤge werden bei al-
lem Tadel , der ihm gebuͤhrt , nicht ver-
ſchwiegen .
7. Warum unterſagt Priamus bei dem
Begraͤbniß der Erſchlagenen ſeinem Heer
die weinende Trauerklage ? Offenbar lag
dies Verbot in der Situation der Troja-
ner . Sie , eine Verſammlung Aſiatiſcher ,
weicherer Voͤlker , an die laut-weinende
Trauerklage mehr noch als die Griechen
gewoͤhnet , ſie , die in der Naͤhe ihrer Ver-
wandten , Kinder und Weiber , vor Troja's
Mauern ihre naͤchſten Freunde und Lands-
leute beſtatten , und in ihrem Tode ihr eignes
Schickſal vorausſahen , ſie hatten ein ſolches
Verbot noͤthiger als die haͤrteren Griechen ,
die der angreifende Theil waren , und fern
von den Ihrigen nur ihre Mitſtreiter be-
gruben . Um Patroklus Leiche weinen die
Griechen , inſonderheit die Myrmidonen ,
am
am heftigſten Achilles ; auch Briſeis weint
und die uͤbrigen Weiber , letztere aber
Um Patroklus zum Schein , im Grund' um
eigenes Elend .
8. Noch mehr zeigt die Menſchlichkeit
Homers ſich in der Weisheit , mit der er
uͤber das Schickſal des Krieges
dachte . Alles Kriegsungluͤck laͤßt er durch
Fehler entſtehen , durch Fehler und Lei-
denſchaften der Goͤtter und Menſchen . Das
alte Troja wird vom Jupiter dem Eigen-
ſinn eines unverſoͤhnlichen Weibes aufge-
opfert , die eine Reihe ihrer Lieblingsſtaͤdte
hingeben will , wenn Jupiter hier nur ih-
ren Willen erfuͤllet . Die keuſcheſte , ſtolzeſte
Goͤttinn erroͤthet nicht , ihre Umarmung zum
Netz des Betruges zu machen , aus tiefem
Groll lieblos Liebe zu heucheln , mit ge-
borgtem Schmuck an offnem Tage aus der
Dritte Samml. I
Gattin eine beruͤckende Buhlerin zu wer-
den , nur damit Einige Trojaner mehr blu-
ten , indeß ihr beſtochener Kaͤmmerling , der
Schlaf , dem Schickſalwaͤgenden Gott die
Augen zuſchließt . Das Aeußerſte der Rache
eines Weibes ! Gegen Troja ſtehen zwo
Weiber , fuͤr Troja zwei Maͤnner ; wer zwei-
felt , wenn es auf Haß ankommt , welche Par-
thei zum Ziel gelangen werde ? Ging es in den
hartnaͤckigſten Kriegen der Erde je anders ?
In der menſchlichen Scene hangen , wie
vorher gezeigt worden , der Griechen Unfaͤlle
bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn
des Koͤniges ab , dem keiner der Rathge-
benden Fuͤrſten ſich zu widerſetzen ge-
traute . Ein falſcher Traum iſt ſeine be-
lehrende Gottheit ; ſonſt erſcheinet ihm
keine , ( deren mehrere doch andern erſchei-
nen ) waͤhrend der ganzen Iliade . Dieſer
falſche Traum heißt Duͤnkel , dem Aga-
memnon , ſchon ſeinem Namen nach ein
Jupiter auf Erden , zum Verderben ſeines
Volkes gehorchet . Den aͤlteſten Rathge-
ber beſticht er damit , daß der Traum in
ſeiner Geſtalt erſchienen ſei ; andre Fuͤrſten
ſchweigen , oder wetteifern thoͤricht mit
Achilles Ruhme . So kommt durch Einen ,
durch Wenige das ganze Heer an den Rand
des Abgrundes . Zu ſpaͤt wird geſprochen ,
zu ſpaͤt geweinet ; und unter dieſem allen
iſt und bleibt Agamemnon der ſorgſamſte
Hirte der Voͤlker . O Homer , ſo oft ich
von neuem Deine Iliade leſe , finde ich in
ihr neue Zuͤge der ordnenden Weisheit ,
Klugheit und Menſchenliebe , mit der
du wilde Verhaͤltniſſe eines rohen Zeit-
alters erzaͤhleſt . Und keine Lehre , keine
Warnung entfließt deinen Lippen , als ob ſie
die deinige waͤre ; jedes Laſter , jede Thorheit ,
jede Leidenſchaft ſelbſt lehret und warnet .
I 2
Diderot uͤber die Einfalt in
Homer .
„ Die Natur hat mir Geſchmack an der
Einfalt gegeben und ich bemuͤhe mich , die-
ſen Geſchmack durch das Leſen der Alten
vollkommner zu machen .
O mein Freund , wie ſchoͤn iſt die Ein-
falt ! Wie uͤbel haben wir gethan , uns
davon zu entfernen !
Wollen Sie hoͤren , was der Schmerz
einem Vater eingiebt , der jetzt ſeinen
Sohn verlohren hat ? Hoͤren Sie den
Priamus . Wollen Sie wiſſen , wie ſich ein
Vater ausdruͤckt , der dem Moͤrder ſeines
Sohns fußfaͤllig flehet ? Hoͤren Sie eben
den Priamus zu den Fuͤßen des Achilles .
Was iſt in dieſen Reden ? Kein Witz ,
aber ſo viel Wahrheit , daß man faſt glau-
ben ſollte , man wuͤrde eben ſo wohl als
Homer darauf gefallen ſeyn . Wir aber ,
die wir die Schwierigkeit und das Ver-
dienſt , ſo einfaͤltig zu ſeyn , ein wenig ken-
nen , moͤgen dieſe Stellen nur leſen , moͤgen
ſie mit Bedacht leſen , und hernach alle
unſre Schreibereien nehmen und ins Feuer
werfen . Das Genie laͤßt ſich fuͤhlen , aber
nicht nachahmen . “ —
Was Diderot hier von Homers Ein-
falt ſagt , moͤchte ich von ſeiner Humani-
taͤt ſagen . Man leſe ſeine Beſchreibun-
gen des Todes der Erſchlagnen , man leſe
Hektors Abſchied von ſeinem Weibe und
Kinde , man bemerke jeden Zug , mit dem
der Dichter des Achills erwaͤhnet , inſon-
derheit wenn er ihn ſelbſt redend einfuͤh-
ret , auch was er hie und da uͤber das
Gluͤck und Ungluͤck des menſchli -
chen Lebens , uͤber Reichthum , Ehre ,
Adel der Seele und des Geſchlechts ,
I 3
uͤber Gerechtigkeit , Tapferkeit , Ge -
duld , Weisheit , Maͤßigung , Sanft -
muth , Gaſtfreundſchaft , Verſchwie -
genheit , Treue , Wahrheit , uͤber die
Verehrung der Goͤtter , die Erge -
bung in den Willen des Schickſals ,
und die ihnen entgegengeſetzten Thorheiten
und Laſter einſtreuet ; welch eine Schule
der Humanitaͤt iſt in ihm !
37 .
L eßings Emilia Galotti hat mich wie-
der einmal ins Theater gelockt ; wie zufrie-
den ja geſaͤttigt bin ich hinausgegangen !
Ein Theaterſtuͤck muß geſehen , nicht gele-
ſen werden : denn wenn es iſt , was es
ſeyn ſoll , ſo iſt ja eben auf die Vorſtel-
lung alles berechnet . Ich kann mir nicht
einbilden , daß wenn Stuͤcke dieſer Art ,
( aber auch keine andre als ſolche ) woͤchent-
lich nur Einmal , auf die leidlich-vollkom-
menſte Weiſe gegeben wuͤrden , und dieſe
Stuͤcke lauter Staͤnde und Situationen un-
ſrer Welt , wie dieſes , enthielten , das Publi-
cum ungebildet , unerleuchtet bleiben koͤnnte .
I 4
Bei der zweiten Ausgabe des Dide -
rotſchen Theaters bezeugte Leßing dieſem
Schriftſteller oͤffentlich ſeine Dankbarkeit
als dem Manne , der an der Bildung ſei-
nes Geſchmacks großen Antheil habe .
Denn , faͤhrt er fort , es mag mit dieſem
auch beſchaffen ſeyn , wie es will : ſo bin
ich mir doch zu wohl bewußt , daß er ohne
Diderots Muſter und Lehren eine ganz
andre Richtung wuͤrde bekommen haben .
Vielleicht eine eignere ; aber doch ſchwer-
lich eine , mit der am Ende mein Verſtand
zufriedener geweſen waͤre . “ Und ſetzt ſo-
dann weiter den Einfluß ins Licht , den Di -
derots Stuͤcke , inſonderheit ſein Haus -
vater auf das Deutſche Theater gehabt habe .
Sie wiſſen , wieviel Diderot darauf
hielt , daß Staͤnde aufs Theater gebracht
werden ſollten , und was Leßing in ſeiner
Dramaturgie dabei zu erinnern fand . Na-
tuͤrlich koͤnnen Staͤnde ohne beſtimmte Cha-
raktere auf dem Theater keine Wirkung
thun ; aber bilden ſich die Charaktere der
Menſchen nicht in und nach Staͤnden ? und
welcher Stand haͤtte auf den Charakter mehr
Einfluß , als der Stand eines Prinzen ? Hier
hatte alſo Leßing ein weites Feld , das phi -
loſophiſche Allgemeine , dadurch
Ariſtoteles die Poeſie von der nackten Ge-
ſchichte unterſcheidet , als Philoſoph und
Dichter zu bearbeiten . Er zeigt den Cha-
rakter des Prinzen in ſeinem Stande , den
Stand in ſeinem Charakter , beide von
mehreren Seiten , in mehreren Situationen .
Nicht nur bringt er den Prinzen in ſeiner
gegenwaͤrtigen Gemuͤthsſtimmung mit den
verſchiedenſten Perſonen , Maͤnnern und
Weibern , mit Kuͤnſtler und Canzler , Kam-
merherr und Kammerdiener , mit einer
Geliebten , die er jetzt nicht geliebt haben ,
I 5
und einer andern , die jetzt von ihm eben
nicht geliebt ſeyn will , mit dem Vater , der
Mutter , dem Braͤutigam derſelben , ja mit
ſich ſelbſt in Geſpraͤch und Handlung ; er
unterlaͤßt auch keine Gelegenheit , in jeder
dieſer Situationen eigentlich nach dem
Ringe zu rennen , und wenn mir der Aus-
druck erlaubt iſt , das Prinzliche dabei
zu charakteriſiren . Niemand wird unver-
ſchaͤmt gnug ſeyn , deßhalb das Stuͤck eine
Satyre auf die Prinzen zu nennen : denn
nur dieſer Prinz , ein Italiaͤniſcher , jun-
ger , eben zu vermaͤhlender Prinz iſts , der
ſich dieſe Spaͤße giebt und bei Marinelli
andre zulaͤßt . Auch iſt ſein Stand , ſeine
Wuͤrde , ſelbſt ſein perſoͤnlicher Charakter
in Allem zart gehalten , und mit wahrer
Freundlichkeit geſchonet . Am Ende des
Stuͤcks aber , wenn der Prinz ſein veraͤcht-
liches Werkzeug ſelbſt verachtend von ſich
weiſet , und dabei ausruft : „ Gott ! Gott !
iſt es zum Ungluͤcke ſo mancher nicht genug ,
daß Fuͤrſten Menſchen ſind ; muͤſſen ſich
auch noch Teufel in ihren Freund ver-
ſtellen ? “ und die unſchuldige Braut dabei
im Blut liegt , der Vater , ihr Moͤrder , ſich
eben vor dieſen Fuͤrſten , als vor ſeinen
Richter ſtellt , Marinelli , der Unterhaͤndler
dieſes Gewerbes , ſich noch bedenkt , den
Dolch aufzuheben ; wer iſt , dem , wenn in
ſolcher Situation der Vorhang ſinkt , nicht
noch andre Gedanken , außer dem , den der
Prinz ſagt , in die Seele ſtroͤmen ? Noth-
wendig fragt man ſich , wie wird das Ge-
richt uͤber den alten Odoardo ablaufen ?
wie lange wird Marinelli entfernt ſeyn ?
d. i. wie bald wird er , wenn ſein Dienſt
abermals brauchbar iſt , wiederkehren ?
u. f .
Es iſt vielleicht das hoͤchſte Verdienſt
der Poeſie , inſonderheit des Drama , Staͤnde
und Charaktere aller Art ( wenn mir das
niedrige Gleichniß erlaubt iſt ) an dem fein-
ſten Spieß , aufs langſamſte am Feuer eig-
ner Thorheiten , Neigungen und Leiden-
ſchaften umzuwenden . In der Seele des
Zuſchauers werden dieſe Staͤnde und Cha-
raktere dadurch gahr , oder , mit einem
edleren Ausdruck , geruͤndet . Man ſie-
het , was an der Figur Ernſt oder Scherz ,
Wort oder That iſt ; man blickt auf den
Grund hinunter , und greift das Beſtaͤn-
dige oder Unſtatthafte ihres Charakters ,
ihre Verſatilitaͤt und innere Ehrlichkeit
gleichſam mit Haͤnden .
Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus ,
durch Darſtellung unerwartet-ſchrecklicher
Koͤnigsunfaͤlle und Kataſtrophen die Ur-
theile der Menſchen zu berichtigen , ihre
Grundſaͤtze zu ſichern , und das poco piu
und poco meno der Leidenſchaften , der
Furcht und des Mitleids , dem Zuſchauer
auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen . Die neuere
Tragoͤdie , wenn ſie gleich ihren Bogen
nicht ſo ſcharf ſpannen und ihre Kaͤule ſo
raſch ſchwingen kann , als die alte , hat
dennoch mit ihr Einerlei Endzweck . Sie
ſpricht zum innerſten Gefuͤhl , zur treueſten
Ehrlichkeit des Menſchen ; die Uebelthat
kann ſie auch jenſeit der Geſetze verfolgen ,
ſo wie das Luſtſpiel die Thorheit auch jen-
ſeit der Geſetze ſtraft . Beide ſind Spre-
cherinnen vor dem erhabenſten Richterſtuhl
unſres Geſchlechts , vor der Humanitaͤt
ſelbſt , und ventiliren , beſcheinigen und ge-
genbeſcheinigen vor ihr auf die ſchaͤrfſte ,
freieſte Weiſe .
Leßing kannte dieſen Proceß uͤber die
innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs
genaueſte ; ſein Tellheim iſt ein von al-
len Seiten gepruͤfter , militairiſcher Cha-
rakter ; alles , was um ihn ſteht , was ihm
begegnet , ſichtet ihn das ganze Stuͤck hin-
durch moraliſch . Wen ſolche Komoͤdien
und Trauerſpiele nicht bearbeiten koͤnnen ,
der moͤchte durch Worte ſchwerlich zu be-
arbeiten ſeyn .
Man ruͤckt Leßingen vor , daß er die
zarteſte Weiblichkeit , das uͤber allen Aus-
druck Reizende je ne ſcais ſais quoi des ſchoͤnen
Geſchlechts nicht gekannt , und ſolches eben
ſo wohl in der Emilie , als der Minna ,
der Recha als der Orſina verfehlt habe .
Sie ſind , ſagt man , bei ihm Kinder oder
Maͤnner , Helden oder ſchwache Geſchoͤpfe .
— — Ich kann uͤber dieſen Punkt nicht
entſcheiden . Sollte es aber keinen Unter-
ſchied geben , wie ein weiblicher Charakter
im Roman und auf der Buͤhne erſcheinen
darf ? Das neuere Theater iſt bei allen
Voͤlkern Europa's , vorzuͤglich Spaniern
und Franzoſen , aus romanhaften Erzaͤh-
lungen und Sitten entſtanden ; ſollte es
dieſe nicht ablegen duͤrfen ? ja ſollte es ſie
endlich nicht ablegen muͤſſen , da dieſe
fremde Schminke aus der wirklichen Welt
Theils ſchon verbannet iſt , Theils in Man-
chem offenbar ihrer Verbannung zueilet ?
Das Theater der Alten kannte dieſe ro-
mantiſche Schminke nicht , und doch waren
ihre Weiber Weiber .
Wie dem auch ſei , in dieſem Stuͤck
getraute ich mir den Charakter der Emilie ,
Orſina , geſchweige der Claudia voͤllig ver-
theidigen zu koͤnnen ; ja es bedarf dieſer
Vertheidigung nicht , da ſich hier Alles in
der Sphaͤre eines Prinzen , um ſeine Per-
ſon , um ſeine Liebe , Treue und Affection
drehet . Wer kennt die Uebermacht dieſes
Standes beim ſchoͤnen Geſchlechte nicht ?
und wer darf es der Emilie in dieſen
Augenblicken einer ſolchen Situation ver-
argen , wenn ſie den Dolch ihres Vaters
einer kuͤnftigen Gefahr vorziehet ? Das
flatternde Voͤgelchen , ( verzeihen Sie das
Naturhiſtoriſche Gleichniß ) fuͤrchtet nicht
etwa nur den anziehenden Hauch der na-
hen großen glaͤnzenden Schlange ; es fuͤh-
let denſelben ſchon , ſieht ihren auf ſie ge-
richteten Blick — oder ohne Gleichniß , ſie
glaubt ſich ſchon umſchlungen von tauſend
feinen Netzen liebenswuͤrdiger Eigenſchaf-
ten , weiß , wie der Prinz ihre Empfindun-
gen der Religion ſelbſt vorm Altar ſtoͤrte ,
und wagt wie eine Heilige den Sprung
in die Fluth . Wie Verſtandvoll hat Le-
ßing das Herz der Emilie mit Religion
verwebet , um auch hier die Staͤrke und
Schwaͤche einer ſolchen Stuͤtze zu zeigen !
Wie
Wie uͤberlegt laͤßt er den Prinzen ſie am
heiligen Ort aufſuchen , ſie in der Kapelle
vor aller Welt anreden , und ſtellt die
ſchwache Mutter , den ſtrengen , grollhaften
Fuͤrſtenfeind , Odoardo neben ſie . Ihr Tod
iſt lehrreich-ſchrecklich , ohne aber daß da-
durch die Handlung des Vaters zum ab-
ſoluten Muſter der Beſonnenheit werde .
Nichts weniger ! Der Alte hat eben ſo
wohl , als das erſchrockene Maͤdchen in
der betaͤubenden Hofluft den Kopf verloh-
ren ; und eben dieſe Verwirrung , die Ge-
fahr ſolcher Charaktere in ſolcher Naͤhe
wollte der Dichter ſchildern .
So erlaube ich auch der Orſina , ( die
nothwendig mit Maͤßigung geſpielt werden
muß ) ihre Verhoͤnung des Marinelli , ſelbſt
ihre hoͤlliſche Phantaſie im ſiebenden Auf-
tritte des vierten Acts . Wenn ſie nicht
den Mund oͤfnet , wer ſoll ihn oͤffnen ? Und
Dritte Samml. K
ſie darfs , die geweſene Gebieterin eines
Prinzen , die in ſeiner Sphaͤre an Willkuͤhr
gewoͤhnt iſt . Als eine Beleidigte , Verach-
tete muß ſie anjetzt uͤbertreiben , und bleibt
in der groͤßeſten Tollheit die redende Ver-
nunft ſelbſt , ein Meiſterwerk der Erfindung .
So auch das Uebereilen des Plans ,
das Hineintappen des Prinzen , und vor
Allem , ſeine unbeſcholtene Rechtfertig-
keit , Alles veranlaßt , gebilligt , und am
Ende doch , nachdem der Plan verungluͤckt ,
nichts befohlen , nichts gethan zu haben .
In wenigen Tagen , fuͤrchte ich , hat er ſich
ſelbſt ganz rein gefunden , und in der Beichte
ward er gewiß abſolviret . Bei der Ver-
maͤhlung mit der Fuͤrſtin von Maſſa war
Marinelli zugegen , vertrat als Kammer-
herr vielleicht gar des Prinzen Stelle , ſie
abzuholen . Appiani dagegen iſt todt ;
Odoardo hat ſich in ſeiner Emilie ſieben-
fach das Herz durchboret , ſo daß es kei-
nes Bluturtheiles weiter bedarf . Schreck-
lich ! —
Als ich voll dieſes Eindrucks nach
Hauſe kam , fiel Diderot mir in die
Hand , und zwar folgende Stelle :
„ Der Schauplatz iſt der einzige Ort ,
wo ſich die Thraͤnen des Tugendhaften und
des Boͤſen vermiſchen . Hier laͤßt ſich der
Boͤſe wider Ungerechtigkeiten aufbringen ,
die er ſelbſt begangen haͤtte ; hier hat er
bei Ungluͤcksfaͤllen Mitleiden , die er ſelbſt
veranlaßt haͤtte ; hier ergrimmt er gegen
Perſonen von ſeinem eigenen Charakter .
Aber der Eindruck iſt geſchehen , und er
bleibt , auch wider unſern Willen ; der Boͤſe
gehet alſo aus dem Schauplatze , weit we-
niger geneigt uͤbels zu thun , als wenn ihm
ein ernſter und ſtrenger Redner eine Straf-
predigt gehalten haͤtte .
K 2
„ Der Dichter , der Romanſchreiber , der
Schauſpieler dringen verſtohlner Weiſe ans
Herz , und treffen es um ſo gewiſſer und
ſtaͤrker , je weniger es den Streich ver-
muthet , je mehr Bloͤße es folglich giebt .
Die Ungluͤcksfaͤlle , durch die man mich
ruͤhrt , ſind erdichtet : was thut das ? Sie
ruͤhren mich doch . Jede Zeile in dem
Ehrlichen Manne , der ſich der
Welt entzogen , im Dechant von
Killerine , im Cleveland erregt in
mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un-
gluͤcksfaͤllen der Tugend , und koſtet mich
Thraͤnen . — Koͤnnte es eine unſeligere
Kunſt geben , als die , die mich zum Mit-
ſchuldigen des Laſterhaften machte ? Aber
wo iſt auch eine ſchaͤtzbarere Kunſt als die ,
die mich unvermerkt fuͤr das Schickſal des
rechtſchaffenen Mannes einnimmt , die mich
aus der ruhigen und ſuͤßen Faſſung , in
der ich mich befand , reißet , um mich mit
ihm umherzutreiben , mich in die Hoͤlen zu
verſetzen , in die er fluͤchten muß , mich zum
Mitgenoſſen der Unfaͤlle zu machen , durch
die es dem Dichter beliebt , ſeine Beſtaͤn-
digkeit auf die Probe zu ſtellen .
Wie ſehr erſprießlich wuͤrde es fuͤr die
Menſchen ſeyn , wenn ſich alle Kuͤnſte der
Nachahmung einen gemeinſchaftlichen Ge-
genſtand waͤhlten und ſich einmal mit den
Geſetzen dahin verbaͤnden , uns die Tugend
liebenswuͤrdig und das Laſter verhaßt zu
machen ! Des Philoſophen Pflicht iſt es ,
ſie dazu einzuladen ; er muß ſich an den
Dichter , an den Mahler , an den Tonkuͤnſt-
ler wenden und ihnen auf das nachdruͤck-
lichſte zurufen : „ o ihr von hoͤheren Faͤhig-
keiten , warum hat euch der Himmel be-
gabt ? “ — Wird er gehoͤrt , ſo werden
gar bald die Mauern unſrer Pallaͤſte nicht
K 3
mehr von Gemaͤhlden der ſchaͤndlichſten
Wohlluſt bedeckt ſeyn ; unſre Stimmen wer-
den nicht laͤnger die Verkuͤndigerinnen des
Laſters ſeyn ; und Geſchmack und Tugend
werden dabei gewinnen .
„ Ich habe manchmal gedacht , daß man
gar wohl die wichtigſten Stuͤcke der Moral
auf dem Theater abhandeln koͤnnte , ohne
dadurch dem feurigen und reiſſenden Fort-
gange der dramatiſchen Handlung zu
ſchaden .
„ Nicht Worte , ſondern Eindruͤcke will
ich aus dem Schauplatze mitnehmen . Das
vortreflichſte Gedicht iſt dasjenige , deſſen
Wirkung am laͤngſten in mir dauert .
„ O dramatiſche Dichter ! Der wahre
Beifall , nach dem ihr ſtreben muͤßt , iſt
nicht das Klatſchen der Haͤnde , das ſich
ploͤtzlich nach einer ſchimmernden Zeile hoͤ-
ren laͤßt , ſondern der tiefe Seufzer , der
nach dem Zwange eines langen Stillſchwei-
gens aus der Seele dringt und ſie erleich-
tert . Ja es giebt einen noch heftigern
Eindruck , den ſich aber nur die vorſtellen
koͤnnen , die fuͤr ihre Kunſt gebohren ſind ,
und es vorauswiſſen , wie weit ihre Zaube-
rei gehen kann : dieſen naͤmlich , das Volk
in einen Stand der Unbehaͤglichkeit zu
ſetzen ; ſo daß Ungewißheit , Bekuͤmmerniß ,
Verwirrung in allen Gemuͤthern herrſchen ,
und eure Zuſchauer den Ungluͤcklichen glei-
chen , die in einem Erdbeben die Mauern
ihrer Haͤuſer wanken ſehen , und die Erde
ihnen einen veſten Tritt verweigern fuͤh-
len . “ — —
K 4
38 .
A ls Swift uͤber Gullivers Reiſen bruͤ-
tete , ſchrieb er an Pope : ” ich habe ganze
Nationen , ganze Profeſſionen und Zuͤnfte
immer gehaſſet ; meine Liebe gehet nur auf
einzelne Perſonen . Z. B. ich haſſe die Zunft
der Rechtsgelehrten , aber ich liebe den
Rath N. den Richter N N. So habe ichs ,
( von meiner eignen Profeſſion nichts zu
ſagen ) mit den Aerzten , mit den Solda-
ten , den Englaͤndern , Schotten , Franzoſen
u. f. Vornehmlich aber haſſe und verab-
ſcheue ich das Geſchoͤpf , der Menſch ge-
nannt , obſchon ich den Johann , den Pe-
ter , Thomas u. f. von Herzen liebe . An
dieſes Syſtem habe ich mich ( unter uns
geſagt ) nun viele Jahre her gehalten , und
werde mich immer daran halten . Ich habe
Materialien zu einer Abhandlung geſamm-
let , welche zeigen ſoll , daß man den Men-
ſchen unrecht durch ein vernuͤnftiges
Thier definirt , und daß man bloß ein
Vernunftfaͤhiges Thier ſetzen ſollte .
Auf dies ſtarke und feſte Fundament der
Miſanthropie , ( wie wohl nicht nach Ti -
mons Manier ) gruͤndet ſich das ganze
Gebaͤude meiner Reiſen ; und ich werde
nimmer ruhig ſeyn , bis alle ehrliche Leute
hieruͤber meiner Meinung ſind . Die Sache
iſt ſo klar , daß ſie keinen Widerſpruch lei-
det ; ja ich will Hundert gegen Eins ſetzen ,
daß Sie und ich in dem Puncte uͤberein-
ſtimmen . “
Dieſe Uebereinſtimmung war ein freund-
ſchaftlicher Wahn , oder ein Compliment ,
K 5
das der von ſeiner Meinung durchdrun-
gene Swift ſich ſelbſt machte . Pope
ſchien ihm Recht zu geben , aͤußerte aber
zugleich , daß er Maximen ſchreiben wollte ,
die Rochefoucaults Grundſaͤtzen ins-
geſammt entgegengeſetzt waͤren ; wogegen
Swift in noch haͤrteren Ausdruͤcken den
Rochefoucault , als ſeinen Liebling , in
welchem er ſeinen ganzen Character gefun-
den , heftig in Schutz nimmt .
Bei Swift naͤmlich war dieſe Men-
ſchenfeindſchaft nicht witzige Laune , ſon-
dern ein bittrer Ernſt , wie ſeine Schrif-
ten , wie ſein Leben es zeiget . Er hatte
einen ſo tiefen Groll gegen die menſchliche
Geſellſchaft gefaßt , daß ſelbſt ſeine Men-
ſchenfreundſchaft , ſeine ſtrenge Sorge fuͤr
die von der Natur und dem Staat ver-
wahrloſeten Ungluͤcklichen ſich in dies rauhe
Gewand kleidete ; er ſchien ein Zuchtmei-
ſter , auch wenn er ein wohlwollender Freund
war .
Es hieße , Worte verſchwenden , wenn
man uͤber das von Swift aufgeſtellte
Paradoxon in der Form diſputiren wollte ;
jedermann ſiehet , was in ihm wahr oder
uͤbertrieben ſei .
Eine andre oft aufgeworfene Frage :
ob es beſſer ſei , von den Menſchen zu gut
oder zu ſchlimm zu denken ? d. i. den Men-
ſchen zu ſchmeicheln , oder ſie mit Schaͤrfe
zu behandeln ? fuͤhrt , wie mich duͤnkt , ihre
Aufloͤſung auch mit ſich . Man muß keins
von Beiden , und eben hierinn beſtehet die
Philoſophie und Kunſt des Lebens . Alle
Uebertreibungen ſind eben ſo unwahr , als
ſchaͤdlich ; meiſtens fallen ſie auch zuſam-
men und loͤſen einander auf . Young
z. B. der in ſeiner Schrift uͤber die Ori-
ginalwerke den armen Swift heftig und
in der Geſtalt des Menſchenfreundes ſelbſt
Menſchenfeindlich angriff , hat ſich gegen
das von ihm verehrte Geſchlecht eben
ſo verſuͤndigt , da er ihm in ſeinem jetzi-
gen Zuſtande die Wuͤrde des Seraphs an-
ſchmeicheln , als Swift , da er es zum
Yahoc erniedrigen wollte . Jener , um ſein
Syſtem zu verfolgen , ward gezwungen , den
Lorenzo zu einem Teufel zu machen , damit
der erdichtete Engel in ſein Licht traͤte ;
dieſer muſte ſeine vernuͤnftigen Pferde mit
allen Vollkommenheiten ſchmuͤcken , die er
doch nur im Menſchengeſchlecht kannte .
Dem guten Rouſſeau iſt es in ſeinen
Uebertreibungen nicht anders gegangen ;
in der Phantaſie ein Idealiſt fuͤrs Gute
mußte er in einzelnen Urtheilen und im
Betragen des Lebens ein leidendes Kind
werden .
Zwiſchen zwei Aeußerſten giebt es kei-
nen andern Weg der Vernunft und Recht-
ſchaffenheit , als die Mittelſtraße . Man
ſage ſo viel Gutes , man ſchreibe ſo viel
Boͤſes vom Menſchen , als man wolle ;
lediglich kommts auf den Gebrauch an ,
den man von beiderlei Urtheilen macht ; wie
man ſie durch thaͤtige Guͤte , und Weisheit
zuſammen vereinet .
Das edlere Schauſpiel der Griechen
hatte zum Zweck , zwiſchen beiden Extre-
men eine weiſe und tugendhafte Mitte im
Menſchen zu beveſtigen ; o haͤtten wir Me-
nanders und Philemons Schauſpiele ! Die
uͤbriggebliebenen wenigen Stellen und
Spruͤche zeigen , daß in ihnen der Menſch
von allen Seiten betrachtet und zur Lehre
aufgeſtellet worden , wie es denn auch Te-
renz , der halbirte Menander klar an
den Tag leget :
Dritte Samml. L
Spruͤche aus Philemon .
Beſchwerlich iſt ein unverſtaͤndiger
Zuhoͤrer ; vor dir ſitzend , tadelt er
Aus Thorheit nie ſich ſelbſt . —
Viel leichter , eine Krankheit , als den Gram
ertragen . —
Der Seele Kummer wird durch Rede leicht .
Wer unter uns dort außerhalb der Stadt
Der Menſchen Graͤber ſieht , der ſage ſich :
Auch Jeder dieſer ſprach einſt zu ſich ſelbſt :
„ Ich werde , wenn die Zeit kommt , ſchiffen ,
pflanzen ,
„ Die Mauer brechen und beſitzen . “ Jetzt
Beſitzen ſie ein Grab .
Ihr Goͤtter , welch ein wohlgeartet Thier
Iſt eine Schnecke . Kommt auf ihrem Gange
Sie einem boͤſen Nachbar nah ; ſie hebt
Ihr Haus und wandert weiter . Darum wohnt
Sie Sorgenlos , weil ſie die Boͤſen immer flieht .
Er iſt ein Knecht ; hat aber Fleiſch und Blut
Wie Du : denn keiner ward durch die Geburt
ein Knecht ;
Ungluͤcklich Schickſal macht zum Sklaven nur .
Ein boͤſer Diener wird der Strafe nicht entgehn ;
Du aber ſei der Strafe Buͤttel nicht .
Dein Wort , o Freund , hat deine ſchoͤne That
Geſchmaͤht ; des Reichen That hat Bettlers
Wort vernichtet .
Ruͤhmſt du die Gabe ſelbſt , die du dem Freun-
de gabſt ,
L 2
So warſt in Thaten du ein Feldherr , und im
Wort
Ein Moͤrder . —
Sprich nicht : „ das will ich geben . “ Denn
wer ſpricht ,
Der giebt noch nicht und hindert andrer Ga-
ben .
Mit rechter Unterſcheidung gib und nimm .
Das kleineſte Geſchenk , es wird das Groͤßeſte ,
Wenn du's wohlmeinend giebſt .
Den Armen haß' ich , der dem Reichen ſchenkt ;
Er ſchilt das Gluͤck , die Unerſaͤttliche ! —
Sei einem Alten , der da fehlt , nicht hart ;
Ein alter Baum iſt zu verpflanzen ſchwer .
Im Alter kommt der Reichthum uns zu gut ,
Er fuͤhrt den Alten gluͤcklich an der Hand .
Was graͤmeſt du dich , Freund ? du weißt es
ja ,
Daß eben wenn das Gluͤck den Menſchen
lacht ,
Zu jedem Ungluͤck es die Pforte finde .
Auch uͤber Keines Ungluͤck freue dich :
Denn alles miſcht und kehrt das Schickſal
um .
Nie ſchilt das Gluͤck . Du weißt , zu boͤſer
Zeit
Gehn auch der Goͤtter Sachen ſelbſt nicht
wohl .
Geſundheit iſt mein erſter Wunſch ; der
zweite
L 3
Gluͤck im Geſchaͤft ; der dritte Freude ; dann
Noch Einer : „ keinem je verpflichtet ſeyn ! — “
Erſt ſieht , bewundert , dann betrachtet man
Und faͤllt in Hoffnung , und zuletzt in Liebe .
„ Sag ' an , wie ſoll ich Gott gedenken mir ? “
Daß Er , der alles ſieht , unſichtbar ſei .
„ Was machſt du , Syra ? Wie befindſt du
dich ? “
Kannſt du noch alſo fragen einen Greis ?
Ein Greis iſt nimmer wohl . Man ſagt mit
Recht ,
Und kann es ſagen : „ auch der Tod iſt gut . “
„ Was iſt es denn ? warum will er mich
ſehn ? “
Iſts , wie die Kranken , wenn der Schmerz ſie
quaͤlt ,
Und ſie den Arzt erblicken , beſſer ſind ?
So der Betruͤbte ; ſiehet er den Freund ,
Nur neben ſich ; gleich lindert ſich ſein Gram .
Auf Erden lebt kein Menſch , nicht Einer
lebt ,
Der Boͤſes nicht erfuhr , wie ? oder noch
Erfahren wird . Nur wer , was ihm begegnet ,
Aufs leichtſte nimmt , nur der iſt weiſ' und
gluͤcklich .
Erkenne was der Menſch iſt , und du wirſt
Doch gluͤcklich ſeyn . Hier hoͤrſt du Einen todt ;
Dort iſt ein anderer gebohren ; dieſe
Gebar nicht , jenem ging es uͤbel ; der
Hat Huſten ; jener weint . Das alles bringt
Die Menſchheit mit ſich ; fliehe nur den Gram .
Viel Ungluͤck iſt in vielen Haͤuſern , das ,
Wenn man es gut ertraͤgt , uns Gutes bringt .
L 4
Der Menſchen Viele machen ſich das Uebel
Noch groͤßer , als es iſt . Dem ſtarb ein Sohn ;
Dem eine Mutter ; dem , beim Jupiter !
Gar ein Verwandter . Naͤhm' ers , wie es iſt ,
So ſtarb ein Menſch . Das iſt an ſich das
Uebel .
Nun aber ruft er aus : „ das Leben iſt fuͤr
mich
Kein Leben mehr ! Er iſt dahin ! Ich werd'
ihn
Nie wieder ſehn ! “ Er ſieht den Ungluͤcksfall
Allein in ſich und haͤuft auf Uebel Uebel .
Wer alles mit Vernunft betrachtet , wie
Es an ſich ſelbſt , und nicht fuͤr ihn nur ſei ,
Empfaͤngt das Gluͤck und haͤlt das Ungluͤck
fern .
In Traurigkeit ſein ſelbſt noch Meiſter
ſeyn ;
Dies iſts , was mich erhaͤlt und was den Men-
ſchen macht .
Wir armen Menſchen ! Unſer Daſeyn iſt
Ein Leben ohne Leben . Meinungen
Beherrſchen uns , ſeit wir Geſetze fanden ,
Der Vor- und Nachwelt Meinungen . Wir
ſuchen
Dem Uebel zu entgehn und finden uns
Zum Uebel Vorwand .
Wer was er ſagen ſoll , nicht ſaget , der
Iſt immer lang und ſpraͤch' er nur zwei
Sylben .
Wer gut ſagt , was er ſaget ; ob er viel
Und lang' auch ſpraͤche , der ſpricht nie zu
lang .
Sieh den Homer . Er ſchrieb viel tauſend
Worte ,
Und wem ſchrieb er zu viel ?
L 5
Wenn was wir haben , wir nicht brauchen ,
und
Was wir nicht haben , ſuchen ; ach ſo raubt
Das Gluͤck uns Jenes , Dieſes wir uns ſelbſt .
Gerecht iſt nicht , der niemand Unrecht thut ;
Der iſts , der Unrecht thun kann und nicht will .
Nicht der , der kleinen Raubes ſich enthaͤlt ;
Der iſts , der großen Raub mit Muth ver-
ſchmaͤht ,
Wenn er ihn haben und behalten kann .
Nicht der iſts , der dies alles nur befolgt ,
Der iſts , der ungeſchminkten , reinen Sinns ,
Seyn ein Gerechter und nicht ſcheinen will .
So viele Kuͤnſte es , o Laches gab ;
Kein Lehrer , alle lehrte ſie die Zeit .
Nicht Koͤrper nur ; es wachſen mit der Zeit
Auch Dinge ! —
Endlich den Hauptſpruch :
Ανϑϱωπος ων , τȣτ ´ ισϑι , ϰαι μεμνησ´ αει .
Du biſt ein Menſch ; das wiß ' und denke ſtets
daran .
39 .
N eben den Griechen iſt ſchwer zu ſtehen ,
und doch haben auch Wir Stuͤcke , die ne-
ben ihnen ſtehen koͤnnen und duͤrfen .
Menſchentugend .
Die Ohren und die Herzen willig her ,
Ihr Menſchen ! Euer Gott hat mich gelehrt ,
Was Tugend ſei ; ich lehr' es , Menſchen , Euch !
Dem Nackenden von zweien Linnen Eins
Um ſeine Bloͤße ſelbſt ihm ſchmiegen , und
Von zweien Broten Eins dem Hungrigen
Darreichen , und aus ſeinem Quell dem Mann ,
Der friſches Waſſer bittet , einen Trunk
Selbſt ſchoͤpfen , floͤß' er noch ſo tief im Thal .
Ihr meine liebe Menſchen , Tugend iſt :
Dem Huͤlfeduͤrftigen zuvor mit Gold
Und Weisheit kommen ; ſeine Seele ſehn ,
Und ſeinen Kummer meſſen ; und ſich freun ,
Daß etwa Gold und etwa Weisheit ihn
Der Freude wiederbringen ; ihn auch nicht ,
Wer ſeines Kummers Ueberwinder war ,
Erfahren laſſen —
Menſchen , Tugend iſt :
Und wenn die Boͤſen alle gegen euch
In ihrer Bosheit wuͤteten , und ſich
Verſchworen haͤtten alle gegen euch ,
Von Menſchenliebe nicht zu Menſchenhaß
Hinuͤbergehen ; immer , immer gut
Den Boͤſen ſeyn ; dem undankbaren Mann
Exempel werden edler Dankbarkeit .
Ihr meine lieben Menſchen , Tugend iſt :
Dem Gotterſchaffenen Erhalter ſeyn ,
Lebendigen das Leben friſten , rohen Stoff
Umwenden , ſo daß er durch euren Fleiß
Einſt Leben zu dem Leben bringen muß .
Ihr meine lieben Menſchen , Tugend iſt :
Die Summe jedes Guten , welches Gott
In ſeine Welt gelegt , an ſeinem Theil
Vermehren ; wenn und wo und wie ſie nur
Vermehret werden kann . Vermehreſt Du
Die Summe dieſes Guten , dann , o dann
Sei Koͤnig oder Bettler , Du gefaͤllſt
Dem Schoͤpfer alles Guten , deinem Gott .
Du willſt ihm nicht gefallen ? wie ? du
willſt
Des Guten Summe nicht vermehren ? willſt
Des Boͤſen , welches Gott in ſeiner Welt
Zum Guten lenkt , Vermehrer ſeyn ? Sei es !
Du wirſt dich ſchaͤmen einſt und es bereun .
So unſer Gleim in ſeinem Halla -
dat , oder rothen Buche , dem wir jetzt
lieber einen andern Namen geben wollen ;
es enthaͤlt Blaͤtter zum aͤchten Koran
der Menſchenguͤte . Und dieſer Lehrer
ſpricht nicht nur , er thut auch alſo .
Inhalt
der dritten Sammlung .
-
Br. 27. Ueber das Wort und den Begriff
der Humanitaͤt. S. 5
— 28. Fortſetzung. S. 11
— 29. Fortſetzung . Einige Ausſpruͤche des
humanſten Kaiſers. S. 23
— 30. Lucrez von einem Genius der
Menſchheit . Humanitaͤt der Roͤmi-
ſchen Dichtkunſt und Geſchichte. S. 34
— 31. Humanitaͤt der Griechen. S. 45
— 32. Reſultate . Fragment eines Geſpraͤches
von Shaftesburi . S. 49
— 33. Ueber Shaftesburi . Ein Lehrgedicht
vom Rechte der Vernunft. S. 65
Br. 34. Ueber die Humanitaͤt Homers in
der Iliade. S. 76
— 35 . Vom Unmuth . Von Compoſitionen .
Muſik nach Roͤmiſchen Dichtern. S. 102
— 36. Fortſetzung des Fragments uͤber die
Humanitaͤt Homers in der Iliade .
Diderot uͤber die Einfalt in Ho -
mer . S. 114
— 37 . Von Leßings Emilia Galotti . Di-
derot uͤber die Moralitaͤt der
Schaubuͤhne. S. 135
— 38. Swift uͤber die Humanitaͤt . Spruͤ-
che aus Philemon. S. 158
— 39. Menſchentugend , von Gleim . S. 168