Aus meinem Leben
Dichtung und Wahrheit.
Von
Goethe .
Erſter Theil.
Ὁ μη δαρεις ανϑρωπος ου παιδευεται.
Tuͤbingen,
in der J. G. Cottaiſchen Buchhandlung.
1811.
Als Vorwort zu der gegenwaͤrtigen
Arbeit, welche deſſelben vielleicht mehr als
eine andere beduͤrfen moͤchte, ſtehe hier
der Brief eines Freundes, durch den ein
ſolches, immer bedenkliches Unternehmen
veranlaßt worden.
„Wir haben, theurer Freund, nun¬
mehr die zwoͤlf Theile Ihrer dichteriſchen
Werke beyſammen, und finden, indem
wir ſie durchleſen, manches Bekannte,
manches Unbekannte; ja manches Ver¬
geſſene wird durch dieſe Sammlung wie¬
der angefriſcht. Man kann ſich nicht
enthalten, dieſe zwoͤlf Baͤnde, welche in
*2
Einem Format vor uns ſtehen, als ein
Ganzes zu betrachten, und man moͤchte
ſich daraus gern ein Bild des Autors
und ſeines Talents entwerfen. Nun iſt
nicht zu laͤugnen, daß fuͤr die Lebhaf¬
tigkeit, womit derſelbe ſeine ſchriftſtelleri¬
ſche Laufbahn begonnen, fuͤr die lange
Zeit die ſeit dem verfloſſen, ein Duzzend
Baͤndchen zu wenig ſcheinen muͤſſen.
Eben ſo kann man ſich bey den einzel¬
nen Arbeiten nicht verhehlen, daß mei¬
ſtens beſondere Veranlaſſungen dieſelben
hervorgebracht, und ſowohl aͤußere be¬
ſtimmte Gegenſtaͤnde als innere entſchie¬
dene Bildungsſtufen daraus hervorſchei¬
nen, nicht minder auch gewiſſe temporaͤre
moraliſche und aͤſthetiſche Maximen und
Ueberzeugungen darin obwalten. Im
Ganzen aber bleiben dieſe Produktionen
immer unzuſammenhaͤngend; ja oft ſollte
man kaum glauben, daß ſie von demſel¬
ben Schriftſteller entſprungen ſeyen.
Ihre Freunde haben indeſſen die Nach¬
forſchung nicht aufgegeben und ſuchen, als
naͤher bekannt mit Ihrer Lebens- und
Denkweiſe, manches Raͤthſel zu erra¬
then, manches Problem aufzuloͤſen; ja
ſie finden, da eine alte Neigung und ein
verjaͤhrtes Verhaͤltniß ihnen beyſteht,
ſelbſt in den vorkommenden Schwierig¬
keiten einigen Reiz. Doch wuͤrde uns
hie und da eine Nachhuͤlfe nicht unan¬
genehm ſeyn, welche Sie unſern freund¬
ſchaftlichen Geſinnungen nicht wohl ver¬
ſagen duͤrfen.
Das Erſte alſo, warum wir Sie er¬
ſuchen, iſt, daß Sie uns Ihre, bey der
neuen Ausgabe, nach gewiſſen innern
Beziehungen geordneten Dichtwerke in
einer chronologiſchen Folge auffuͤhren
und ſowohl die Lebens- und Gemuͤthszu¬
ſtaͤnde, die den Stoff dazu hergegeben,
als auch die Beyſpiele, welche auf Sie
gewirkt, nicht weniger die theoretiſchen
Grundſaͤtze, denen Sie gefolgt, in ei¬
nem gewiſſen Zuſammenhange vertrauen
moͤchten. Widmen Sie dieſe Bemuͤhung
einem engern Kreiſe, vielleicht entſpringt
daraus etwas, was auch einem groͤßern
angenehm und nuͤtzlich werden kann.
Der Schriftſteller ſoll bis in ſein hoͤch¬
ſtes Alter den Vortheil nicht aufgeben,
ſich mit denen die eine Neigung zu ihm
gefaßt, auch in die Ferne zu unterhal¬
ten; und wenn es nicht einem Jeden ver¬
liehen ſeyn moͤchte, in gewiſſen Jahren
mit unerwarteten, maͤchtig wirkſamen
Erzeugniſſen von neuem aufzutreten: ſo
ſollte doch gerade zu der Zeit, wo die
Erkenntniß vollſtaͤndiger, das Bewußt¬
ſeyn deutlicher wird, das Geſchaͤft ſehr
unterhaltend und neubelebend ſeyn, je¬
nes Hervorgebrachte wieder als Stoff zu
behandeln und zu einem Letzten zu bear¬
beiten, welches denen abermals zur Bil¬
dung gereiche, die ſich fruͤher mit und
an dem Kuͤnſtler gebildet haben.“
Dieſes ſo freundlich geaͤußerte Ver¬
langen erweckte bey mir unmittelbar die
Luſt es zu befolgen. Denn wenn wir
in fruͤherer Zeit leidenſchaftlich unſern ei¬
genen Weg gehen, und um nicht irre zu
werden, die Anforderungen Anderer un¬
geduldig ablehnen, ſo iſt es uns in ſpaͤ¬
tern Tagen hoͤchſt erwuͤnſcht, wenn ir¬
gend eine Theilnahme uns aufregen und
zu einer neuen Thaͤtigkeit liebevoll be¬
ſtimmen mag. Ich unterzog mich daher
ſogleich der vorlaͤufigen Arbeit, die groͤ¬
ßeren und kleineren Dichtwerke meiner
zwoͤlf Baͤnde auszuzeichnen und den Jah¬
ren nach zu ordnen. Ich ſuchte mir Zeit
und Umſtaͤnde zu vergegenwaͤrtigen, un¬
ter welchen ich ſie hervorgebracht. Allein
das Geſchaͤft ward bald beſchwerlicher,
weil ausfuͤhrliche Anzeigen und Erklaͤ¬
rungen noͤthig wurden, um die Luͤcken
zwiſchen dem bereits Bekanntgemachten
auszufuͤllen. Denn zuvoͤrderſt fehlt alles
woran ich mich zuerſt geuͤbt, es fehlt
manches Angefangene und nicht Vollen¬
dete; ja ſogar iſt die aͤußere Geſtalt
manches Vollendeten voͤllig verſchwun¬
den, indem es in der Folge gaͤnzlich um¬
gearbeitet und in eine andere Form ge¬
goſſen worden. Außer dieſem blieb mir
auch noch zu gedenken, wie ich mich in
Wiſſenſchaften und andern Kuͤnſten be¬
muͤht, und was ich in ſolchen fremd
ſcheinenden Faͤchern ſowohl einzeln als
in Verbindung mit Freunden, theils im
Stillen geuͤbt, theils oͤffentlich bekannt
gemacht.
Alles dieſes wuͤnſchte ich nach und
nach zu Befriedigung meiner Wohlwol¬
lenden einzuſchalten; allein dieſe Bemuͤ¬
hungen und Betrachtungen fuͤhrten mich
immer weiter: denn indem ich jener ſehr
wohl uͤberdachten Forderung zu entſpre¬
chen wuͤnſchte, und mich bemuͤhte, die
innern Regungen, die aͤußern Einfluͤſſe,
die theoretiſch und praktiſch von mir be¬
tretenen Stufen, der Reihe nach darzu¬
ſtellen; ſo ward ich aus meinem engen
Privatleben in die weite Welt geruͤckt,
die Geſtalten von hundert bedeutenden
Menſchen, welche naͤher oder entfernter
auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die
ungeheuren Bewegungen des allgemeinen
politiſchen Weltlaufs, die auf mich wie
auf die ganze Maſſe der Gleichzeitigen
den groͤßten Einfluß gehabt, mußten vor¬
zuͤglich beachtet werden. Denn dieſes
ſcheint die Hauptaufgabe der Biographie
zu ſeyn, den Menſchen in ſeinen Zeit¬
verhaͤltniſſen darzuſtellen, und zu zeigen,
in wiefern ihm das Ganze widerſtrebt,
in wiefern es ihn beguͤnſtigt, wie er ſich
eine Welt- und Menſchenanſicht daraus
gebildet, und wie er ſie, wenn er Kuͤnſt¬
ler, Dichter, Schriftſteller iſt, wieder
nach außen abgeſpiegelt. Hiezu wird
aber ein kaum Erreichbares gefordert,
daß naͤmlich das Individuum ſich und
ſein Jahrhundert kenne, ſich, in wiefern
es unter allen Umſtaͤnden daſſelbe ge¬
blieben, das Jahrhundert, als welches
ſowohl den willigen als unwilligen mit
ſich fortreißt, beſtimmt und bildet, der¬
geſtalt daß man wohl ſagen kann, ein
Jeder, nur zehn Jahre fruͤher oder ſpaͤ¬
ter geboren, duͤrfte, was ſeine eigene
Bildung und die Wirkung nach außen
betrifft, ein ganz anderer geworden ſeyn.
Auf dieſem Wege, aus dergleichen
Betrachtungen und Verſuchen, aus ſol¬
chen Erinnerungen und Ueberlegungen
entſprang die gegenwaͤrtige Schilderung,
und aus dieſem Geſichtspunct ihres Ent¬
ſtehens wird ſie am beſten genoſſen, ge¬
nutzt, und am billigſten beurtheilt wer¬
den koͤnnen. Was aber ſonſt noch, be¬
ſonders uͤber die halb poetiſche, halb hi¬
ſtoriſche Behandlung etwa zu ſagen ſeyn
moͤchte, dazu findet ſich wohl im Laufe
der Erzaͤhlung mehrmals Gelegenheit.
Am 28. Auguſt 1749, Mittags mit dem
Glockenſchlage zwoͤlf, kam ich in Frankfurt
am Main auf die Welt. Die Conſtellation
war gluͤcklich; die Sonne ſtand im Zeichen der
Jungfrau, und culminirte fuͤr den Tag; Ju¬
piter und Venus blickten ſie freundlich an,
Merkur nicht widerwaͤrtig; Saturn und Mars
verhielten ſich gleichguͤltig: nur der Mond,
der ſo eben voll ward, uͤbte die Kraft ſeines
Gegenſcheins um ſo mehr, als zugleich ſeine
Planetenſtunde eingetreten war. Er wider¬
ſetzte ſich daher meiner Geburt, die nicht eher
erfolgen konnte, als bis dieſe Stunde vor¬
uͤbergegangen.
Dieſe guten Aſpecten, welche mir die Aſtro¬
logen in der Folgezeit ſehr hoch anzurechnen
1 *
wußten, moͤgen wohl Urſache an meiner Erhal¬
tung geweſen ſeyn: denn durch Ungeſchicklich¬
keit der Hebamme kam ich fuͤr todt auf die Welt,
und nur durch vielfache Bemuͤhungen brachte
man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Die¬
ſer Umſtand, welcher die Meinigen in große
Noth verſetzt hatte, gereichte jedoch meinen
Mitbuͤrgern zum Vortheil, indem mein Gro߬
vater, der Schultheiß Johann Wolfgang
Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Ge¬
burtshelfer angeſtellt, und der Hebammen-Un¬
terricht eingefuͤhrt oder erneuert wurde; wel¬
ches denn manchem der Nachgebornen mag zu
Gute gekommen ſeyn.
Wenn man ſich erinnern will, was uns in der
fruͤhſten Zeit der Jugend begegnet iſt, ſo kommt
man oft in den Fall, dasjenige was wir von an¬
dern gehoͤrt, mit dem zu verwechſeln, was wir
wirklich aus eigner anſchauender Erfahrung be¬
ſitzen. Ohne alſo hieruͤber eine genaue Unterſu¬
chung anzuſtellen, welche ohnehin zu nichts fuͤh¬
ren kann, bin ich mir bewußt, daß wir in ei¬
nem alten Hauſe wohnten, welches eigentlich aus
zwey durchgebrochnen Haͤuſern beſtand. Eine
thurmartige Treppe fuͤhrte zu unzuſammenhan¬
genden Zimmern, und die Ungleichheit der Stock¬
werke war durch Stufen ausgeglichen. Fuͤr
uns Kinder, eine juͤngere Schweſter und mich,
war der untere weitlaͤuftige Hausflur der liebſte
Raum, welcher neben der Thuͤre ein großes hoͤl¬
zernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmit¬
telbar mit der Straße und der freyen Luft in
Verbindung kam. Einen ſolchen Vogelbauer,
mit dem viele Haͤuſer verſehen waren, nannte
man ein Geraͤms. Die Frauen ſaßen darin,
um zu naͤhen und zu ſtricken; die Koͤchinn las ih¬
ren Salat; die Nachbarinnen beſprachen ſich
von daher miteinander, und die Straßen gewan¬
nen dadurch in der guten Jahrezeit ein ſuͤdliches
Anſehen. Man fuͤhlte ſich frey, indem man
mit dem Oeffentlichen vertraut war. So kamen
auch durch dieſe Geraͤmſe die Kinder mit den
Nachbarn in Verbindung, und mich gewan¬
nen drey gegenuͤber wohnende Bruͤder von
Ochſenſtein, hinterlaſſene Soͤhne des verſtor¬
benen Schultheißen, gar lieb, und beſchaͤftigten
und neckten ſich mit mir auf mancherley Weiſe.
Die Meinigen erzaͤhlten gern allerley Eu¬
lenſpiegeleyen, zu denen mich jene ſonſt ernſte
und einſame Maͤnner angereizt. Ich fuͤhre nur
einen von dieſen Streichen an. Es war eben
Topfmarkt geweſen, und man hatte nicht al¬
lein die Kuͤche fuͤr die naͤchſte Zeit mit ſolchen
Waaren verſorgt, ſondern auch uns Kindern
dergleichen Geſchirr im Kleinen zu ſpielender
Beſchaͤftigung eingekauft. An einem ſchoͤnen
Nachmittag, da alles ruhig im Hauſe war,
trieb ich im Geraͤms mit meinen Schuͤſſeln
und Toͤpfen mein Weſen, und da weiter nichts
dabey heraus kommen wollte, warf ich ein
Geſchirr auf die Straße und freute mich, daß
es ſo luſtig zerbrach. Die von Ochſenſtein,
welche ſahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich
ſo gar froͤhlich in die Haͤndchen patſchte, riefen:
Noch mehr! Ich ſaͤumte nicht, ſogleich einen
Topf, und auf immer fortwaͤhrendes Rufen:
Noch mehr! nach und nach ſaͤmmtliche Schuͤſ¬
ſelchen, Tiegelchen, Kaͤnnchen gegen das Pfla¬
ſter zu ſchleudern. Meine Nachbarn fuhren fort
ihren Beyfall zu bezeigen, und ich war hoͤchlich
froh ihnen Vergnuͤgen zu machen. Mein Vor¬
rath aber war aufgezehrt und ſie riefen immer:
Noch mehr! Ich eilte daher ſtracks in die Kuͤche
und holte die irdenen Teller, welche nun frey¬
lich im Zerbrechen noch ein luſtigeres Schau¬
ſpiel gaben; und ſo lief ich hin und wieder,
brachte einen Teller nach dem andern, wie ich
ſie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen
konnte, und weil ſich jene gar nicht zufrieden
gaben, ſo ſtuͤrzte ich alles was ich von Ge¬
ſchirr erſchleppen konnte, in gleiches Verder¬
ben. Nur ſpaͤter erſchien Jemand zu hindern
und zu wehren. Das Ungluͤck war geſche¬
hen, und man hatte fuͤr ſo viel zerbrochne
Toͤpferwaare wenigſtens eine luſtige Ge¬
ſchichte, an der ſich beſonders die ſchalkiſchen
Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten.
Meines Vaters Mutter, bey der wir ei¬
gentlich im Hauſe wohnten, lebte in einem gro¬
ßen Zimmer hinten hinaus, unmittelbar an
der Hausflur, und wir pflegten unſere Spiele
bis an ihren Seſſel, ja wenn ſie krank war,
bis an ihr Bett hin auszudehnen. Ich erin¬
nere mich ihrer gleichſam als eines Geiſtes, als
einer ſchoͤnen, hagern, immer weiß und rein¬
lich gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohl¬
wollend, iſt ſie mir im Gedaͤchtniß geblieben.
Wir hatten die Straße, in welcher unſer
Haus lag, den Hirſchgraben nennen hoͤren;
da wir aber weder Graben noch Hirſche ſahen,
ſo wollten wir dieſen Ausdruck erklaͤrt wiſſen.
Man erzaͤhlte ſodann, unſer Haus ſtehe auf
einem Raum, der ſonſt außerhalb der Stadt
gelegen, und da wo jetzt die Straße ſich befinde,
ſey ehmals ein Graben geweſen, in welchem eine
Anzahl Hirſche unterhalten worden. Man
habe dieſe Thiere hier bewahrt und genaͤhrt,
weil nach einem alten Herkommen der Senat
alle Jahre einen Hirſch oͤffentlich verſpeiſet, den
man denn fuͤr einen ſolchen Feſttag hier im Gra¬
ben immer zur Hand gehabt, wenn auch aus¬
waͤrts Fuͤrſten und Ritter der Stadt ihre Jagd¬
befugniß verkuͤmmerten und ſtoͤrten, oder wohl
gar Feinde die Stadt eingeſchloſſen oder belagert
hielten. Dieß gefiel uns ſehr, und wir wuͤnſch¬
ten, eine ſolche zahme Wildbahn waͤre auch noch
bey unſern Zeiten zu ſehen geweſen.
Die Hinterſeite des Hauſes hatte, beſonders
aus dem oberen Stock, eine ſehr angenehme
Ausſicht uͤber eine beynah unabſehbare Flaͤche
von Nachbarsgaͤrten, die ſich bis an die Stadt¬
mauern verbreiteten. Leider aber war, bey
Verwandlung der ſonſt hier befindlichen Ge¬
meindeplaͤtze in Hausgaͤrten, unſer Haus und
noch einige andere, die gegen die Straßenecke
zu lagen, ſehr verkuͤrzt worden, indem die
Haͤuſer vom Roßmarkt her weitlaͤufige Hin¬
tergebaͤude und große Gaͤrten ſich zueigneten,
wir aber uns durch eine ziemlich hohe Mauer
unſres Hofes von dieſen ſo nah gelegenen
Paradieſen ausgeſchloſſen ſahen.
Im zweyten Stock befand ſich ein Zimmer,
welches man das Gartenzimmer nannte, weil
man ſich daſelbſt durch wenige Gewaͤchſe vor
dem Fenſter den Mangel eines Gartens zu er¬
ſetzen geſucht hatte. Dort war, wie ich her¬
anwuchs, mein liebſter, zwar nicht trauriger,
aber doch ſehnſuͤchtiger Aufenthalt. Ueber jene
Gaͤrten hinaus, uͤber Stadtmauern und Waͤlle
ſah man in eine ſchoͤne fruchtbare Ebene; es iſt
die, welche ſich nach Hoͤchſt hinzieht. Dort
lernte ich Sommerszeit gewoͤhnlich meine Lec¬
tionen, wartete die Gewitter ab, und konnte
mich an der untergehenden Sonne, gegen wel¬
che die Fenſter gerade gerichtet waren, nicht ſatt
genug ſehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die
Nachbarn in ihren Gaͤrten wandeln und ihre
Blumen beſorgen, die Kinder ſpielen, die Ge¬
ſellſchaften ſich ergetzen ſah, die Kegelkugeln
rollen und die Kegel fallen hoͤrte; ſo erregte
dieß fruͤhzeitig in mir ein Gefuͤhl der Einſam¬
keit und einer daraus entſpringenden Sehnſucht,
das dem von der Natur in mich gelegten
Ernſten und Ahndungsvollen entſprechend, ſei¬
nen Einfluß gar bald und in der Folge noch
deutlicher zeigte.
Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen
duͤſtere Beſchaffenheit des Hauſes war uͤbrigens
geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen Ge¬
muͤthern zu erwecken. Ungluͤcklicherweiſe hatte
man noch die Erziehungsmaxime, den Kindern
fruͤhzeitig alle Furcht vor dem Ahndungsvollen
und Unſichtbaren zu benehmen, und ſie an das
Schauderhafte zu gewoͤhnen. Wir Kinder ſoll¬
ten daher allein ſchlafen, und wenn uns dieſes
unmoͤglich fiel, und wir uns ſacht aus den
Betten hervormachten und die Geſellſchaft der
Bedienten und Maͤgde ſuchten; ſo ſtellte ſich,
in umgewandtem Schlafrock und alſo fuͤr uns
verkleidet genug, der Vater in den Weg und
ſchreckte uns in unſere Ruheſtaͤtte zuruͤck. Die
daraus entſpringende uͤble Wirkung denkt ſich
Jedermann. Wie ſoll derjenige die Furcht los
werden, den man zwiſchen ein doppeltes Furcht¬
bare einklemmt? Meine Mutter, ſtets heiter und
froh, und andern das Gleiche goͤnnend, erfand
eine beſſere paͤdagogiſche Auskunft. Sie wu߬
te ihren Zweck durch Belohnungen zu erreichen.
Es war die Zeit der Pfirſchen, deren reichlichen
Genuß ſie uns jeden Morgen verſprach, wenn
wir Nachts die Furcht uͤberwunden haͤtten. Es
gelang, und beyde Theile waren zufrieden.
Innerhalb des Hauſes zog meinen Blick
am meiſten eine Reihe roͤmiſcher Proſpecte
auf ſich, mit welchen der Vater einen Vor¬
ſaal ausgeſchmuͤckt hatte, geſtochen von eini¬
gen geſchickten Vorgaͤngern des Piraneſe,
die ſich auf Architectur und Perſpective wohl
verſtanden, und deren Nadel ſehr deutlich
und ſchaͤtzbar iſt. Hier ſah ich taͤglich die
Piazza del Popolo, das Coliſeo, den Peters¬
platz, die Peterskirche von außen und innen,
die Engelsburg und ſo manches andere. Dieſe
Geſtalten druͤckten ſich tief bey mir ein, und
der ſonst ſehr laconiſche Vater hatte wohl
manchmal die Gefaͤlligkeit, eine Beſchreibung
des Gegenſtandes vernehmen zu laſſen. Seine
Vorliebe fuͤr die italiaͤniſche Sprache und
fuͤr alles was ſich auf jenes Land bezieht,
war ſehr ausgeſprochen. Eine kleine Mar¬
mor- und Naturalienſammlung, die er von
dorther mitgebracht, zeigte er uns auch manch¬
mal vor, und einen großen Theil ſeiner Zeit
verwendete er auf ſeine italiaͤniſch verfaßte
Reiſebeſchreibung, deren Abſchrift und Re¬
daction er eigenhaͤndig, heftweiſe, langſam
und genau ausfertigte. Ein alter heiterer
italiaͤniſcher Sprachmeiſter, Giovinazzi
genannt, war ihm daran behuͤlflich. Auch
ſang der Alte nicht uͤbel, und meine Mutter
mußte ſich bequemen, ihn und ſich ſelbſt mit
dem Claviere taͤglich zu accompagniren; da
ich denn das Solitario bosco ombroso bald
kennen lernte, und auswendig wußte, ehe ich
es verſtand.
Mein Vater war uͤberhaupt lehrhafter
Natur, und bey ſeiner Entfernung von Ge¬
ſchaͤften wollte er gern dasjenige was er
wußte und vermochte, auf andre uͤbertragen.
So hatte er meine Mutter in den erſten
Jahren ihrer Verheiratung zum fleißigen
Schreiben angehalten, wie zum Clavierſpie¬
len und Singen; wobey ſie ſich genoͤthigt
ſah, auch in der italiaͤniſchen Sprache einige
Kenntniß und nothduͤrftige Fertigkeit zu er¬
werben.
Gewoͤhnlich hielten wir uns in allen un¬
ſern Freyſtunden zur Großmutter, in deren ge¬
raͤumigem Wohnzimmer wir hinlaͤnglich Platz
zu unſern Spielen fanden. Sie wußte uns
mit allerley Kleinigkeiten zu beſchaͤftigen,
und mit allerley guten Biſſen zu erquicken.
An einem Weihnachtsabende jedoch ſetzte ſie
allen ihren Wohlthaten die Krone auf, in¬
dem ſie uns ein Puppenſpiel vorſtellen ließ,
und ſo in dem alten Hauſe eine neue Welt
erſchuf. Dieſes unerwartete Schauſpiel zog
die jungen Gemuͤther mit Gewalt an ſich;
beſonders auf den Knaben machte es einen
ſehr ſtarken Eindruck, der in eine große lang¬
dauernde Wirkung nachklang.
Die kleine Buͤhne mit ihrem ſtummen Per¬
ſonal, die man uns anfangs nur vorgezeigt
hatte, nachher aber zu eigner Uebung und
dramatiſcher Belebung uͤbergab, mußte uns
Kindern um ſo viel werther ſeyn, als es das
letzte Vermaͤchtniß unſerer guten Großmutter
war, die bald darauf durch zunehmende Krank¬
heit unſern Augen erſt entzogen, und dann
fuͤr immer durch den Tod entriſſen wurde.
Ihr Abſcheiden war fuͤr die Familie von deſto
groͤßerer Bedeutung, als es eine voͤllige Ver¬
aͤnderung in dem Zuſtande derſelben nach ſich
zog.
So lange die Großmutter lebte, hatte
mein Vater ſich gehuͤtet, nur das Mindeſte
im Hauſe zu veraͤndern oder zu erneuern;
aber man wußte wohl, daß er ſich zu einem
Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch ſo¬
gleich vorgenommen wurde. In Frankfurt,
wie in mehrern alten Staͤdten, hatte man bey
Auffuͤhrung hoͤlzerner Gebaͤude, um Platz zu
gewinnen, ſich erlaubt, nicht allein mit dem
erſten, ſondern auch mit den folgenden Sto¬
cken uͤberzubauen; wodurch denn freylich be¬
ſonders enge Straßen etwas Duͤſteres und
Aengſtliches bekamen. Endlich ging ein Ge¬
ſetz durch, daß wer ein neues Haus von
Grund auf baue, nur mit dem erſten Stock
uͤber das Fundament herausruͤcken duͤrfe, die
uͤbrigen aber ſenkrecht auffuͤhren muͤſſe. Mein
Vater, um den vorſpringenden Raum im
zweyten Stock auch nicht aufzugeben, wenig
bekuͤmmert um aͤußeres architektoniſches Anſe¬
hen, und nur um innere gute und bequeme
Einrichtung beſorgt, bediente ſich, wie ſchon
mehrere vor ihm gethan, der Ausflucht, die
oberen Theile des Hauſes zu unterſtuͤtzen und
von unten herauf einen nach dem andern weg¬
zunehmen, und das Neue gleichſam einzuſchal¬
ten, ſo daß, wenn zuletzt gewiſſermaßen nichts
von dem Alten uͤbrig blieb, der ganz neue
Bau noch immer fuͤr eine Reparatur gelten
konnte. Da nun alſo das Einreißen und
Aufrichten allmaͤhlich geſchah, ſo hatte mein
Vater ſich vorgenommen, nicht aus dem Hau¬
ſe zu weichen, um deſto beſſer die Aufſicht
zu fuͤhren und die Anleitung geben zu koͤnnen:
denn aufs Techniſche des Baues verſtand er
ſich ganz gut; dabey wollte er aber auch ſeine
Familie nicht von ſich laſſen. Dieſe neue Epo¬
che war den Kindern ſehr uͤberraſchend und
ſonderbar. Die Zimmer, in denen man ſie
oft enge genug gehalten und mit wenig er¬
freulichem Lernen und Arbeiten geaͤngſtigt, die
I. 2
Gaͤnge, auf denen ſie geſpielt, die Waͤnde,
fuͤr deren Reinlichkeit und Erhaltung man
ſonſt ſo ſehr geſorgt, alles das vor der Hacke
des Maurers, vor dem Beile des Zimmer¬
manns fallen zu ſehen, und zwar von unten
herauf, und indeſſen oben auf unterſtuͤtzten
Balken, gleichſam in der Luft zu ſchweben,
und dabey immer noch zu einer gewiſſen Lec¬
tion, zu einer beſtimmten Arbeit angehalten
zu werden — dieſes alles brachte eine Ver¬
wirrung in den jungen Koͤpfen hervor, die
ſich ſo leicht nicht wieder ins Gleiche ſetzen ließ.
Doch wurde die Unbequemlichkeit von der
Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas
mehr Spielraum als bisher, und manche
Gelegenheit ſich auf Balken zu ſchaukeln und
auf Brettern zu ſchwingen, gelaſſen ward.
Hartnaͤckig ſetzte der Vater die erſte Zeit ſei¬
nen Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach
theilweiſe abgetragen wurde, und ohngeachtet
alles uͤbergeſpannten Wachstuches von abge¬
nommenen Tapeten, der Regen bis zu unſern
Betten gelangte: ſo entſchloß er ſich, obgleich
ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden,
welche ſich ſchon fruͤher dazu erboten hatten,
auf eine Zeit lang zu uͤberlaſſen und ſie in
eine oͤffentliche Schule zu ſchicken.
Dieſer Uebergang hatte manches Unange¬
nehme: denn indem man die bisher zu Hauſe
abgeſondert, reinlich, edel, obgleich ſtreng,
gehaltenen Kinder unter eine rohe Maſſe von
jungen Geſchoͤpfen hinunterſtieß; ſo hatten ſie
vom Gemeinen, Schlechten, ja Niedertraͤchti¬
gen ganz unerwartet alles zu leiden, weil ſie
aller Waffen und aller Faͤhigkeit ermangelten,
ſich dagegen zu ſchuͤtzen.
Um dieſe Zeit war es eigentlich, daß ich
meine Vaterſtadt zuerſt gewahr wurde: wie
ich denn nach und nach immer freyer und un¬
gehinderter, theils allein, theils mit muntern
Geſpielen, darin auf und abwandelte. Um
2 *
den Eindruck, den dieſe ernſten und wuͤrdigen
Umgebungen auf mich machten, einigermaßen
mitzutheilen, muß ich hier mit der Schilde¬
rung meines Geburtsortes vorgreifen, wie er
ſich in ſeinen verſchiedenen Theilen allmaͤhlich
vor mir entwickelte. Am liebſten ſpazirte ich
auf der großen Mainbruͤcke. Ihre Laͤnge,
ihre Feſtigkeit, ihr gutes Anſehen machte ſie
zu einem bemerkenswerthen Bauwerk; auch
iſt es aus fruͤherer Zeit beynahe das einzige
Denkmal jener Vorſorge, welche die weltliche
Obrigkeit ihren Buͤrgern ſchuldig iſt. Der
ſchoͤne Fluß auf- und abwaͤrts zog meine Bli¬
cke nach ſich; und wenn auf dem Bruͤcken¬
kreuz der goldene Hahn im Sonnenſchein
glaͤnzte, ſo war es mir immer eine erfreuliche
Empfindung. Gewoͤhnlich ward alsdann durch
Sachſenhauſen ſpazirt, und die Ueberfahrt fuͤr
einen Kreuzer gar behaglich genoſſen. Da
befand man ſich nun wieder dieſſeits, da ſchlich
man zum Weinmarkte, bewunderte den Me¬
chanismus der Krahne, wenn Waaren aus¬
geladen wurden; beſonders aber unterhielt uns
die Ankunft der Marktſchiffe, wo man ſo
mancherley und mitunter ſo ſeltſame Figuren
ausſteigen ſah. Ging es nun in die Stadt
herein, ſo ward jederzeit der Saalhof, der
wenigſtens an der Stelle ſtand, wo die Burg
Kaiſer Carls des Großen und ſeiner Nachfol¬
ger geweſen ſeyn ſollte, ehrfurchtsvoll gegruͤßt.
Man verlor ſich in die alte Gewerbſtadt, und
beſonders Markttages gern in dem Gewuͤhl,
das ſich um die Bartholomaͤus-Kirche herum
verſammelte. Hier hatte ſich, von den fruͤh¬
ſten Zeiten an, die Menge der Verkaͤufer und
Kraͤmer uͤbereinander gedraͤngt, und wegen
einer ſolchen Beſitznahme konnte nicht leicht
in den neuern Zeiten eine geraͤumige und hei¬
tere Anſtalt Platz finden. Die Buden des
ſogenannten Pfarreiſen waren uns Kin¬
dern ſehr bedeutend, und wir trugen manchen
Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen
Thieren bedruckte Bogen anzuſchaffen. Nur
ſelten aber mochte man ſich uͤber den be¬
ſchraͤnkten, vollgepfropften und unreinlichen
Marktplatz hindraͤngen. So erinnere ich mich
auch, daß ich immer mit Entſetzen vor den
darauſtoßenden, engen und haͤßlichen Fleiſch¬
baͤnken geflohen bin. Der Roͤmerberg war
ein deſto angenehmerer Spazirplatz. Der
Weg nach der neuen Stadt, durch die neue
Kraͤm, war immer aufheiternd und ergetzlich;
nur verdroß es uns, daß nicht neben der
Liebfrauen-Kirche eine Straße nach der Zeile
zuging, und wir immer den großen Umweg
durch die Haſengaſſe oder die Catharinenpfor¬
te machen mußten. Was aber die Aufmerk¬
ſamkeit des Kindes am meiſten an ſich zog,
waren die vielen kleinen Staͤdte in der Stadt,
die Feſtungen in der Feſtung, die ummauer¬
ten Kloſterbezirke naͤmlich, und die aus fruͤ¬
hern Jahrhunderten noch uͤbrigen mehr oder
minder burgartigen Raͤume: ſo der Nuͤrnber¬
ger Hof, das Compoſtell, das Braunfels,
das Stammhaus derer von Stallburg, und
mehrere in den ſpaͤtern Zeiten zu Wohnungen
und Gewerbsbenutzungen eingerichtete Veſten.
Nichts architectoniſch Erhebendes war damals
in Frankfurt zu ſehen: alles deutete auf eine
laͤngſt vergangne, fuͤr Stadt und Gegend ſehr
unruhige Zeit. Pforten und Thuͤrme, welche
die Graͤnze der alten Stadt bezeichneten, dann
weiterhin abermals Pforten, Thuͤrme, Mau¬
ern, Bruͤcken, Waͤlle, Graͤben, womit die
neue Stadt umſchloſſen war, alles ſprach noch
zu deutlich aus, daß die Nothwendigkeit, in
unruhigen Zeiten dem Gemeinweſen Sicher¬
heit zu verſchaffen, dieſe Anſtalten hervorge¬
bracht, daß die Plaͤtze, die Straßen, ſelbſt
die neuen, breiter und ſchoͤner angelegten, alle
nur dem Zufall und der Willkuͤhr und keinem
regelnden Geiſte ihren Urſprung zu danken
hatten. Eine gewiſſe Neigung zum Alter¬
thuͤmlichen ſetzte ſich bey dem Knaben feſt,
welche beſonders durch alte Chroniken, Holz¬
ſchnitte, wie z. B. den Grave'ſchen von der
Belagerung von Frankfurt, genaͤhrt und be¬
guͤnſtigt wurden; wobey noch eine andre Luſt,
blos menſchliche Zuſtaͤnde in ihrer Mannig¬
faltigkeit und Natuͤrlichkeit, ohne weitern An¬
ſpruch auf Intereſſe oder Schoͤnheit, zu erfaſ¬
ſen, ſich hervorthat. So war es eine von
unſern liebſten Promenaden, die wir uns des
Jahrs ein paarmal zu verſchaffen ſuchten, in¬
wendig auf dem Gange der Stadtmauer her¬
zuſpaziren. Gaͤrten, Hoͤfe, Hintergebaͤude
ziehen ſich bis an den Zwinger heran; man
ſieht mehreren tauſend Menſchen in ihre haͤus¬
lichen, kleinen, abgeſchloſſenen, verborgenen
Zuſtaͤnde. Von dem Putz- und Schaugarten
des Reichen zu den Obſtgaͤrten des fuͤr ſeinen
Nutzen beſorgten Buͤrgers, von da zu Fabri¬
ken, Bleichplaͤtzen und aͤhnlichen Anſtalten, ja
bis zum Gottesacker ſelbſt — denn eine klei¬
ne Welt lag innerhalb des Bezirks der Stadt
— ging man an dem mannigfaltigſten, wun¬
derlichſten, mit jedem Schritt ſich veraͤndern¬
den Schauſpiel vorbey, an dem unſre kindi¬
ſche Neugier ſich nicht genug ergetzen konnte.
Denn fuͤrwahr der bekannte hinkende Teufel,
als er fuͤr ſeinen Freund die Daͤcher von Ma¬
drid in der Nacht abhob, hat kaum mehr fuͤr
dieſen geleiſtet, als hier vor uns unter freyem
Himmel, bey hellem Sonnenſchein, gethan
war. Die Schluͤſſel, deren man ſich auf die¬
ſem Wege bedienen mußte, um durch man¬
cherley Thuͤrme, Treppen und Pfoͤrtchen durch¬
zukommen, waren in den Haͤnden der Zeug¬
herren, und wir verfehlten nicht ihren Subal¬
ternen aufs beſte zu ſchmeicheln.
Bedeutender noch und in einem andern
Sinne fruchtbarer blieb fuͤr uns das Rath¬
haus, der Roͤmer genannt. In ſeinen untern,
gewoͤlbaͤhnlichen Hallen verloren wir uns gar
zu gerne. Wir verſchafften uns Eintritt in
das große, hoͤchſt einfache Seſſionszimmer
des Rathes. Bis auf eine gewiſſe Hoͤhe ge¬
taͤfelt, waren uͤbrigens die Waͤnde ſo wie die
Woͤlbung weiß, und das Ganze ohne Spur
von Malerey oder irgend einem Bildwerk.
Nur an der mittelſten Wand in der Hoͤhe
las man die kurze Inſchrift:
Eines Manns Rede
Iſt keines Manns Rede:
Man ſoll ſie billig hoͤren Beede.
Nach der alterthuͤmlichſten Art waren fuͤr
die Glieder dieſer Verſammlung Baͤnke rings¬
umher an der Vertaͤfelung angebracht und um
eine Stufe von dem Boden erhoͤht. Da be¬
griffen wir leicht, warum die Rangordnung
unſres Senats nach Baͤnken eingetheilt ſey.
Von der Thuͤre linker Hand bis in die ge¬
genuͤberſtehende Ecke, als auf der erſten Bank,
ſaßen die Schoͤffen, in der Ecke ſelbſt der
Schultheiß, der einzige der ein kleines Tiſch¬
chen vor ſich hatte; zu ſeiner Linken bis
gegen die Fenſterſeite ſaßen nunmehr die
Herren der zweyten Bank; an den Fenſtern
her zog ſich die dritte Bank, welche die Hand¬
werker einnahmen; in der Mitte des Saals
ſtand ein Tiſch fuͤr den Protocollfuͤhrer.
Waren wir einmal im Roͤmer, ſo miſch¬
ten wir uns auch wohl in das Gedraͤnge vor
den burgemeiſterlichen Audienzen. Aber groͤ¬
ßeren Reiz hatte alles, was ſich auf Wahl
und Kroͤnung der Kaiſer bezog. Wir wußten
uns die Gunſt der Schließer zu verſchaffen,
um die neue, heitre, in Fresko gemalte,
ſonſt durch ein Gitter verſchloſſene Kaiſertrep¬
pe hinaufſteigen zu duͤrfen. Das mit Pur¬
purtapeten und wunderlich verſchnoͤrkelten Gold¬
leiſten verzierte Wahlzimmer floͤßte uns Ehr¬
furcht ein. Die Thuͤrſtuͤcke, auf welchen klei¬
ne Kinder oder Genien mit dem kaiſerlichen
Ornat bekleidet, und belaſtet mit den Reichs¬
inſignien, eine gar wunderliche Figur ſpielen,
betrachteten wir mit großer Aufmerkſamkeit,
und hofften wohl auch noch einmal eine Kroͤ¬
nung mit Augen zu erleben. Aus dem gro¬
ßen Kaiſerſaale konnte man uns nur mit ſehr
vieler Muͤhe wieder herausbringen, wenn
es uns einmal gegluͤckt war hineinzuſchluͤpfen;
und wir hielten denjenigen fuͤr unſern wahr¬
ſten Freund, der uns bey den Bruſtbildern der
ſaͤmmtlichen Kaiſer, die in einer gewiſſen Hoͤ¬
he umher gemalt waren, etwas von ihren
Thaten erzaͤhlen mochte.
Von Carl dem Großen vernahmen wir
manches Maͤhrchenhafte; aber das Hiſtoriſch¬
intereſſante fuͤr uns fing erſt mit Rudolph
von Habsburg an, der durch ſeine Mannheit
ſo großen Verwirrungen ein Ende gemacht.
Auch Carl der vierte zog unſre Aufmerkſam¬
keit an ſich. Wir hatten ſchon von der gold¬
nen Bulle und der peinlichen Halsgerichtsord¬
nung gehoͤrt, auch daß er den Frankfurtern
ihre Anhaͤnglichkeit an ſeinen edlen Gegenkai¬
ſer, Guͤnther von Schwarzburg, nicht entgel¬
ten ließ. Maximilianen hoͤrten wir als einen
Menſchen- und Buͤrgerfreund loben, und daß
von ihm prophezeyt worden, er werde der
letzte Kaiſer aus einem deutſchen Hauſe ſeyn;
welches denn auch leider eingetroffen, indem
nach ſeinem Tode die Wahl nur zwiſchen dem
Koͤnig von Spanien, Carl dem fuͤnften, und
dem Koͤnig von Frankreich, Franz dem erſten,
geſchwankt habe. Bedenklich fuͤgte man hin¬
zu, daß nun abermals eine ſolche Weiſſagung
oder vielmehr Vorbedeutung umgehe: denn es
ſey augenfaͤllig, daß nur noch Platz fuͤr das
Bild eines Kaiſers uͤbrig bleibe; ein Umſtand,
der obgleich zufaͤllig ſcheinend, die Patriotiſch¬
geſinnten mit Beſorgniß erfuͤlle.
Wenn wir nun ſo einmal unſern Umgang
hielten, verfehlten wir auch nicht, uns nach
dem Dom zu begeben und daſelbſt das Grab
jenes braven, von Freund und Feinden ge¬
ſchaͤtzten Guͤnther zu beſuchen. Der merkwuͤr¬
dige Stein, der es ehmals bedeckte, iſt in
dem Chor aufgerichtet. Die gleich daneben
befindliche Thuͤre, welche ins Conclave fuͤhrt,
blieb uns lange verſchloſſen, bis wir endlich
durch die obern Behoͤrden auch den Eintritt in
dieſen ſo bedeutenden Ort zu erlangen wußten.
Allein wir haͤtten beſſer gethan, ihn durch
unſre Einbildungskraft, wie bisher, auszuma¬
len: denn wir fanden dieſen in der deutſchen
Geſchichte ſo merkwuͤrdigen Raum, wo die
maͤchtigſten Fuͤrſten ſich zu einer Handlung
von ſolcher Wichtigkeit zu verſammlen pfleg¬
ten, keinesweges wuͤrdig ausgeziert, ſondern
noch obenein mit Balken, Stangen, Geruͤ¬
ſten und anderem ſolchen Geſperr, das man
bey Seite ſetzen wollte, verunſtaltet. De¬
ſto mehr ward unſere Einbildungskraft ange¬
regt und das Herz uns erhoben, als wir kurz
nachher die Erlaubniß erhielten, beym Vor¬
zeigen der goldnen Bulle an einige vornehme
Fremden, auf dem Rathhauſe gegenwaͤrtig zu
ſeyn.
Mit vieler Begierde vernahm der Knabe
ſodann, was ihm die Seinigen ſo wie aͤltere
Verwandte und Bekannte gern erzaͤhlten und
wiederholten, die Geſchichten der zuletzt kurz
auf einander gefolgten Kroͤnungen: denn es
war kein Frankfurter von einem gewiſſen Al¬
ter, der nicht dieſe beyden Ereigniſſe und was
ſie begleitete, fuͤr den Gipfel ſeines Lebens
gehalten haͤtte. So praͤchtig die Kroͤnung
Carls des ſiebenten geweſen war, bey welcher
beſonders der franzoͤſiſche Geſandte, mit Ko¬
ſten und Geſchmack, herrliche Feſte gegeben; ſo
war doch die Folge fuͤr den guten Kaiſer deſto
trauriger, der ſeine Reſidenz Muͤnchen nicht
behaupten konnte und gewiſſermaßen die Gaſt¬
freyheit ſeiner Reichsſtaͤdter anflehen mußte.
War die Kroͤnung Franz des erſten nicht
ſo auffallend praͤchtig wie jene, ſo wurde ſie
doch durch die Gegenwart der Kaiſerinn Ma¬
ria Thereſia verherrlicht, deren Schoͤnheit eben
ſo einen großen Eindruck auf die Maͤnner
ſcheint gemacht zu haben, als die ernſte wuͤr¬
dige Geſtalt und die blauen Augen Carls des
ſiebenten auf die Frauen. Wenigſtens wettei¬
ferten beyde Geſchlechter, dem aufhorchenden
Knaben einen hoͤchſt vortheilhaften Begriff
von jenen beyden Perſonen beyzubringen. Alle
dieſe Beſchreibungen und Erzaͤhlungen ge¬
ſchahen mit heitrem und beruhigtem Gemuͤth:
denn der Achner Friede hatte fuͤr den Augen¬
blick aller Fehde ein Ende gemacht, und wie
von jenen Feyerlichkeiten, ſo ſprach man mit
Behaglichkeit von den voruͤbergegangenen
Kriegszuͤgen, von der Schlacht bey Dettin¬
gen, und was die merkwuͤrdigſten Begebenhei¬
ten der verfloſſenen Jahre mehr ſeyn moch¬
ten; und alles Bedeutende und Gefaͤhrliche
ſchien, wie es nach einem abgeſchloſſenen Frie¬
den zu gehen pflegt, ſich nur ereignet zu ha¬
ben, um gluͤcklichen und ſorgenfreyen Men¬
ſchen zur Unterhaltung zu dienen.
Hatte man in einer ſolchen patriotiſchen
Beſchraͤnkung kaum ein halbes Jahr hinge¬
bracht, ſo traten ſchon die Meſſen wieder
ein, welche in den ſaͤmmtlichen Kinderkoͤpfen
jederzeit eine unglaubliche Gaͤhrung hervor¬
brachten. Eine durch Erbauung ſo vieler
Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit
entſpringende neue Stadt, das Wogen und
Treiben, das Abladen und Auspacken der
Waaren, erregte von den erſten Momenten
des Bewußtſeyns an, eine unbezwinglich thaͤti¬
ge Neugierde und ein unbegraͤnztes Verlan¬
gen nach kindiſchem Beſitz, das der Knabe
mit wachſenden Jahren, bald auf dieſe bald
auf jene Weiſe, wie es die Kraͤfte ſeines klei¬
nen Beutels erlauben wollten, zu befriedigen
ſuchte. Zugleich aber bildete ſich die Vorſtel¬
lung von dem was die Welt alles hervor¬
bringt, was ſie bedarf, und was die Bewoh¬
ner ihrer verſchiedenen Theile gegen einander
auswechſeln.
Dieſe großen, im Fruͤhjahr und Herbſt
eintretenden Epochen wurden durch ſeltſame
Feyerlichkeiten angekuͤndigt, welche um deſto
wuͤrdiger ſchienen, als ſie die alte Zeit und
was von dorther noch auf uns gekommen,
lebhaft vergegenwaͤrtigten. Am Geleitstag
war das ganze Volk auf den Beinen, draͤng¬
I. 3
te ſich nach der Fahrgaſſe, nach der Bruͤcke,
bis uͤber Sachſenhauſen hinaus; alle Fenſter
waren beſetzt, ohne daß den Tag uͤber was
beſonderes vorging; die Menge ſchien nur da
zu ſeyn, um ſich zu draͤngen, und die Zu¬
ſchauer, um ſich unter einander zu betrach¬
ten: denn das worauf es eigentlich ankam,
ereignete ſich erſt mit ſinkender Nacht, und
wurde mehr geglaubt als mit Augen geſehen.
In jenen aͤltern unruhigen Zeiten naͤm¬
lich, wo ein Jeder nach Belieben Unrecht
that, oder nach Luſt das Rechte befoͤrderte,
wurden die auf die Meſſen ziehenden Han¬
delsleute von Wegelagerern, edlen und uned¬
len Geſchlechts, willkuͤhrlich geplagt und ge¬
plackt, ſo daß Fuͤrſten und andre maͤchtige
Staͤnde die Ihrigen mit gewaffneter Hand
bis nach Frankfurt geleiten ließen. Hier
wollten nun aber die Reichsſtaͤdter ſich ſelbſt
und ihrem Gebiet nichts vergeben; ſie zogen
den Ankoͤmmlingen entgegen: da gab es denn
manchmal Streitigkeiten, wie weit jene Ge¬
leitenden heran kommen, oder ob ſie wohl
gar ihren Einritt in die Stadt nehmen
koͤnnten. Weil nun dieſes nicht allein bey
Handels- und Meßgeſchaͤften ſtatt fand, ſon¬
dern auch wenn hohe Perſonen in Kriegs- und
Friedenszeiten, vorzuͤglich aber zu Wahltagen,
ſich heranbegaben; und es auch oͤfters zu
Thaͤtlichkeiten kam, ſobald irgend ein Gefol¬
ge, das man in der Stadt nicht dulden woll¬
te, ſich mit ſeinem Herrn hereinzudraͤngen
begehrte: ſo waren zeither daruͤber manche
Verhandlungen gepflogen, es waren viele Re¬
ceſſe deshalb, obgleich ſtets mit beyderſeitigen
Vorbehalten, geſchloſſen worden, und man
gab die Hoffnung nicht auf, den ſeit Jahr¬
hunderten dauernden Zwiſt endlich einmal bey¬
zulegen, als die ganze Anſtalt, weshalb er
ſo lange und oft ſehr heftig gefuͤhrt worden
war, beynah fuͤr unnuͤtz, wenigſtens fuͤr uͤber¬
fluͤßig angeſehen werden konnte.
3 *
Unterdeſſen ritt die buͤrgerliche Cavallerie
in mehreren Abtheilungen, mit den Ober¬
haͤuptern an ihrer Spitze, an jenen Tagen zu
verſchiedenen Thoren hinaus, fand an einer
gewiſſen Stelle einige Reiter oder Huſaren
der zum Geleit berechtigten Reichsſtaͤnde, die
nebſt ihren Anfuͤhrern wohl empfangen und
bewirthet wurden; man zoͤgerte bis gegen
Abend, und ritt alsdann, kaum von der war¬
tenden Menge geſehen, zur Stadt herein;
da denn mancher buͤrgerliche Reiter weder
ſein Pferd noch ſich ſelbſt auf dem Pferde
zu erhalten vermochte. Zu dem Bruͤckenthore
kamen die bedeutendſten Zuͤge herein, und
deswegen war der Andrang dorthin am
ſtaͤrkſten. Ganz zuletzt und mit ſinkender
Nacht langte der auf gleiche Weiſe geleitete
Nuͤrnberger Poſtwagen an, und man trug
ſich mit der Rede, es muͤſſe jederzeit, dem
Herkommen gemaͤß, eine alte Frau darin
ſitzen; weshalb denn die Straßenjungen bey
Ankunft des Wagens in ein gellendes Ge¬
ſchrey auszubrechen pflegten, ob man gleich
die im Wagen ſitzenden Paſſagiere keineswegs
mehr unterſcheiden konnte. Unglaublich und
wirklich die Sinne verwirrend war der Drang
der Menge, die in dieſem Augenblick durch
das Bruͤckenthor herein dem Wagen nach¬
ſtuͤrzte; deswegen auch die naͤchſten Haͤuſer
von den Zuſchauern am meiſten geſucht wurden.
Eine andere, noch viel ſeltſamere Feyer¬
lichkeit, welche am hellen Tage das Publi¬
cum aufregte, war das Pfeifergericht. Es
erinnerte dieſe Ceremonie an jene erſten Zei¬
ten, wo bedeutende Handelsſtaͤdte ſich von
den Zoͤllen, welche mit Handel und Gewerb
in gleichem Maaße zunahmen, wo nicht zu
befreyen, doch wenigſtens eine Milderung
derſelben zu erlangen ſuchten. Der Kaiſer,
der ihrer bedurfte, ertheilte eine ſolche Frey¬
heit, da wo es von ihm abhing, gewoͤhnlich
aber nur auf ein Jahr, und ſie mußte daher
jaͤhrlich erneuert werden. Dieſes geſchah
durch ſymboliſche Gaben, welche dem kaiſer¬
lichen Schultheißen, der auch wohl gelegentlich
Oberzoͤllner ſeyn konnte, vor Eintritt der
Bartholomaͤi-Meſſe gebracht wurden, und
zwar des Anſtands wegen, wenn er mit den
Schoͤffen zu Gericht ſaß. Als der Schultheiß
ſpaͤterhin nicht mehr vom Kaiſer geſetzt, ſon¬
dern von der Stadt ſelbſt gewaͤhlt wurde,
behielt er doch dieſe Vorrechte, und ſowohl
die Zollfreyheiten der Staͤdte, als die Cere¬
monien, womit die Abgeordneten von Worms,
Nuͤrnberg und Alt-Bamberg dieſe uralte Ver¬
guͤnſtigung anerkannten, waren bis auf unſere
Zeiten gekommen. Den Tag vor Mariaͤ
Geburt ward ein oͤffentlicher Gerichtstag ange¬
kuͤndigt. In dem großen Kaiſerſaale, in ei¬
nem umſchraͤnkten Raume, ſaßen erhoͤht die
Schoͤffen, und eine Stufe hoͤher der Schult¬
heiß in ihrer Mitte; die von den Parteyen
bevollmaͤchtigten Procuratoren unten zur rech¬
ten Seite. Der Actuarius faͤngt an, die
auf dieſen Tag geſparten wichtigen Urtheile
laut vorzuleſen; die Procuratoren bitten um
Abſchrift, appelliren, oder was ſie ſonſt zu
thun noͤthig finden.
Auf einmal meldet eine wunderliche Mu¬
ſik gleichſam die Ankunft voriger Jahrhunder¬
te. Es ſind drey Pfeifer, deren einer eine
alte Schalmey, der andere einen Baß, der
dritte einen Pommer oder Hoboe blaͤſt. Sie
tragen blaue mit Gold verbraͤmte Maͤntel,
auf den Aermeln die Noten befeſtigt, und ha¬
ben das Haupt bedeckt. So waren ſie aus
ihrem Gaſthauſe, die Geſandten und ihre
Begleitung hinterdrein, Punkt zehn ausge¬
zogen, von Einheimiſchen und Fremden ange¬
ſtaunt, und ſo treten ſie in den Saal. Die
Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer
und Begleitung bleiben vor den Schranken,
der Abgeſandte tritt hinein und ſtellt ſich dem
Schultheißen gegenuͤber. Die ſymboliſchen Ga¬
ben, welche auf das genauſte nach dem alten
Herkommen gefordert wurden, beſtanden ge¬
woͤhnlich in ſolchen Waaren, womit die dar¬
bringende Stadt vorzuͤglich zu handlen pfleg¬
te. Der Pfeffer galt gleichſam fuͤr alle
Waaren, und ſo brachte auch hier der Ab¬
geſandte einen ſchoͤn gedrechſelten hoͤlzernen
Pocal mit Pfeffer angefuͤllt. Ueber demſel¬
ben lagen ein Paar Handſchuhe, wunderſam
geſchlitzt, mit Seide beſteppt und bequaſtet,
als Zeichen einer geſtatteten und angenomme¬
nen Verguͤnſtigung, deſſen ſich auch wohl der
Kaiſer ſelbſt in gewiſſen Faͤllen bediente.
Daneben ſah man ein weißes Staͤbchen, wel¬
ches vormals bey geſetzlichen und gerichtlichen
Handlungen nicht leicht fehlen durfte. Es
waren noch einige kleine Silbermuͤnzen hinzu¬
gefuͤgt, und die Stadt Worms brachte einen
alten Filzhut, den ſie immer wieder einloͤſte,
ſo daß derſelbe viele Jahre ein Zeuge dieſer
Ceremonien geweſen.
Nachdem der Geſandte ſeine Anrede gehal¬
ten, das Geſchenk abgegeben, von dem Schult¬
heißen die Verſicherung fortdauernder Beguͤnſti¬
gung empfangen; ſo entfernte er ſich aus dem
geſchloſſenen Kreiſe, die Pfeifer blieſen, der Zug
ging ab, wie er gekommen war, das Gericht
verfolgte ſeine Geſchaͤfte, bis der zweyte und
endlich der dritte Geſandte eingefuͤhrt wur¬
den : denn ſie kamen erſt einige Zeit nacheinan¬
der, theils damit das Vergnuͤgen des Publi¬
cums laͤnger daure, theils auch weil es im¬
mer dieſelben alterthuͤmlichen Virtuoſen waren,
welche Nuͤrnberg fuͤr ſich und ſeine Mitſtaͤdte
zu unterhalten und jedes Jahr an Ort und
Stelle zu bringen uͤbernommen hatte.
Wir Kinder waren bey dieſem Feſte beſon¬
ders intereſſirt, weil es uns nicht wenig ſchmei¬
chelte, unſern Großvater an einer ſo ehrenvol¬
len Stelle zu ſehen, und weil wir gewoͤhnlich
noch ſelbigen Tag ihn ganz beſcheiden zu beſu¬
chen pflegten, um, wenn die Großmutter den
Pfeffer in ihre Gewuͤrzladen geſchuͤttet haͤtte,
einen Becher und Staͤbchen, ein paar Hand¬
ſchuh oder einen alten Raͤder-Albus zu erhaſchen.
Man konnte ſich dieſe ſymboliſchen, das Alter¬
thum gleichſam hervorzaubernden Ceremonien
nicht erklaͤren laſſen, ohne in vergangene Jahr¬
hunderte wieder zuruͤckgefuͤhrt zu werden, ohne
ſich nach Sitten, Gebraͤuchen und Geſinnungen
unſerer Altvordern zu erkundigen, die ſich durch
wieder auferſtandene Pfeifer und Abgeordnete,
ja durch handgreifliche und fuͤr uns beſitzbare
Gaben, auf eine ſo wunderliche Weiſe verge¬
genwaͤrtigten.
Solchen altehrwuͤrdigen Feyerlichkeiten folg¬
te in guter Jahrszeit manches fuͤr uns Kin¬
der luſtreichere Feſt außerhalb der Stadt unter
freyem Himmel. An dem rechten Ufer des
Mains unterwaͤrts, etwa eine halbe Stunde
vom Thor, quillt ein Schwefelbrunnen, ſau¬
ber eingefaßt und mit uralten Linden umgeben.
Nicht weit davon ſteht der Hof zu den
guten Leuten, ehmals ein um dieſer Quelle
willen erbautes Hoſpital. Auf den Ge¬
meinweiden umher verſammelte man zu einem
gewiſſen Tage des Jahres die Rindviehheerden
aus der Nachbarſchaft, und die Hirten ſammt
ihren Maͤdchen feyerten ein laͤndliches Feſt,
mit Tanz und Geſang, mit mancherley Luſt
und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der
Stadt lag ein aͤhnlicher nur groͤßerer Gemeinde¬
platz, gleichfalls durch einen Brunnen und
durch noch ſchoͤnere Linden geziert. Dorthin
trieb man zu Pfingſten die Schafheerden,
und zu gleicher Zeit ließ man die armen ver¬
bleichten Waiſenkinder aus ihren Mauern ins
Freye: denn man ſollte erſt ſpaͤter auf den Ge¬
danken gerathen, daß man ſolche verlaſſene
Kreaturen, die ſich einſt durch die Welt durch
zu helfen genoͤthigt ſind, fruͤh mit der Welt
in Verbindung bringen, anſtatt ſie auf eine
traurige Weiſe zu hegen, ſie lieber gleich zum
Dienen und Dulden gewoͤhnen muͤſſe, und
alle Urſach habe, ſie von Kindesbeinen an
ſowohl phyſiſch als moraliſch zu kraͤftigen.
Die Ammen und Maͤgde, welche ſich ſelbſt
immer gern einen Spazirgang bereiten, ver¬
fehlten nicht, von den fruͤhſten Zeiten, uns an
dergleichen Orte zu tragen und zu fuͤhren, ſo
daß dieſe laͤndlichen Feſte wohl mit zu den
erſten Eindruͤcken gehoͤren, deren ich mich er¬
inneren kann.
Das Haus war indeſſen fertig geworden
und zwar in ziemlich kurzer Zeit, weil alles
wohl uͤberlegt, vorbereitet und fuͤr die noͤthige
Geldſumme geſorgt war. Wir fanden uns nun
alle wieder verſammelt und fuͤhlten uns behag¬
lich: denn ein wohlausgedachter Plan, wenn
er ausgefuͤhrt daſteht, laͤßt alles vergeſſen,
was die Mittel, um zu dieſem Zweck zu gelan¬
gen, unbequemes moͤgen gehabt haben. Das
Haus war fuͤr eine Privatwohnung geraͤumig
genug, durchaus hell und heiter, die Treppe
frey, die Vorſaͤle luſtig, und jene Ausſicht
uͤber die Gaͤrten aus mehrern Fenſtern bequem
zu genießen. Der innere Ausbau und was
zur Vollendung und Zierde gehoͤrt, ward nach
und nach vollbracht, und diente zugleich zur
Beſchaͤftigung und zur Unterhaltung.
Das erſte was man in Ordnung brachte,
war die Buͤcherſammlung des Vaters, von
welcher die beſten, in Franz- oder Halb-Franz¬
band gebundenen Buͤcher die Waͤnde ſeines
Arbeits- und Studirzimmers ſchmuͤcken ſollten.
Er beſaß die ſchoͤnen hollaͤndiſchen Ausgaben der
lateiniſchen Schriftſteller, welche er der aͤußern
Uebereinſtimmung wegen ſaͤmmtlich in Quart
anzuſchaffen ſuchte; ſodann vieles was ſich
auf die roͤmiſchen Antiquitaͤten und die elegan¬
tere Jurisprudenz bezieht. Die vorzuͤglichſten
italiaͤniſchen Dichter fehlten nicht, und fuͤr den
Taſſo bezeigte er eine große Vorliebe. Die
beſten neuſten Reiſebeſchreibungen waren auch
vorhanden, und er ſelbſt machte ſich ein Ver¬
gnuͤgen daraus, den Keyßler und Ne¬
meiz zu berichtigen und zu ergaͤnzen. Nicht
weniger hatte er ſich mit den noͤthigſten Huͤlfs¬
mitteln umgeben, mit Woͤrterbuͤchern aus ver¬
ſchiedenen Sprachen, mit Reallexiken, daß
man ſich alſo nach Belieben Raths erholen
konnte, ſo wie mit manchem andern was zum
Nutzen und Vergnuͤgen gereicht.
Die andere Haͤlfte dieſer Buͤcherſammlung,
in ſaubern Pergamentbaͤnden mit ſehr ſchoͤn
geſchriebenen Titeln, ward in einem beſon¬
dern Manſardzimmer aufgeſtellt. Das Nach¬
ſchaffen der neuen Buͤcher, ſo wie das Binden
und Einreihen derſelben, betrieb er mit gro¬
ßer Gelaſſenheit und Ordnung. Dabey
hatten die gelehrten Anzeigen, welche dieſem
oder jenem Wert beſondere Vorzuͤge beylegten,
auf ihn großen Einfluß. Seine Sammlung
juriſtiſcher Diſſertationen vermehrte ſich jaͤhr¬
lich um einige Baͤnde.
Zunaͤchſt aber wurden die Gemaͤlde, die
ſonſt in dem alten Hauſe zerſtreut herumgehan¬
gen, nunmehr zuſammen an den Waͤnden ei¬
nes freundlichen Zimmers neben der Studir¬
ſtube, alle in ſchwarzen, mit goldenen Staͤb¬
chen verzierten Ramen, ſymmetriſch angebracht.
Mein Vater hatte den Grundſatz, den er oͤf¬
ters und ſogar leidenſchaftlich ausſprach, daß
man die lebenden Meiſter beſchaͤftigen, und
weniger auf die abgeſchiedenen wenden ſolle,
bey deren Schaͤtzung ſehr viel Vorurtheil mit
unterlaufe. Er hatte die Vorſtellung, daß
es mit den Gemaͤlden voͤllig wie mit den Rhein¬
weinen beſchaffen ſey, die wenn ihnen gleich
das Alter einen vorzuͤglichen Werth beylege,
dennoch in jedem folgenden Jahre eben ſo vor¬
trefflich als in den vergangenen koͤnnten hervor¬
gebracht werden. Nach Verlauf einiger Zeit
werde der neue Wein auch ein alter, eben ſo
koſtbar und vielleicht noch ſchmackhafter. In
dieſer Meynung beſtaͤtigte er ſich vorzuͤglich durch
die Bemerkung, daß mehrere alte Bilder haupt¬
ſaͤchlich dadurch fuͤr die Liebhaber einen großen
Werth zu erhalten ſchienen, weil ſie dunkler
und braͤuner geworden, und der harmoniſche
Ton eines ſolchen Bildes oͤfters geruͤhmt wur¬
de. Mein Vater verſicherte dagegen, es ſey
ihm gar nicht bange, daß die neuen Bilder
kuͤnftig nicht auch ſchwarz werden ſollten; daß
ſie aber gerade dadurch gewoͤnnen, wollte er
nicht zugeſtehen.
Nach dieſen Grundſaͤtzen beſchaͤftigte er
mehrere Jahre hindurch die ſaͤmmtlichen
Frankfurter Kuͤnſtler: den Maler Hirt, wel¬
cher Eichen- und Buchenwaͤlder, und andere
ſogenannte laͤndliche Gegenden, ſehr wohl mit
Vieh zu ſtaffiren wußte; desgleichen Traut¬
mann, der ſich den Rembrand zum Muſter
genommen, und es in eingeſchloſſenen Lichtern
und Widerſcheinen, nicht weniger in effectvollen
Feuersbruͤnſten weit gebracht hatte, ſo daß er
einſtens aufgefordert wurde, einen Pendant zu
einem Rembrandiſchen Bilde zu malen; ferner
Schuͤtz, der auf dem Wege des Sachtle¬
ben die Rheingegenden fieißig bearbeitet;
nicht weniger Junkern, der Blumen- und
Fruchtſtuͤcke, Stillleben und ruhig beſchaͤftigte
Perſonen, nach dem Vorgang der Niederlaͤn¬
der, ſehr reinlich ausfuͤhrte. Nun aber ward
durch die neue Ordnung, durch einen beque¬
mern Raum, und noch mehr durch die Be¬
kanntſchaft eines geſchickten Kuͤnſtlers, die
Liebhaberey, wieder angefriſcht und belebt. Die¬
ſes war Seekaz, ein Schuͤler von Brink¬
mann, darmſtaͤdtiſcher Hofmaler, deſſen Ta¬
lent und Character ſich in der Folge vor uns
umſtaͤndlicher entwickeln wird.
Man ſchritt auf dieſe Weiſe mit Vollen¬
dung der uͤbrigen Zimmer, nach ihren ver¬
ſchiedenen Beſtimmungen, weiter. Reinlichkeit
und Ordnung herrſchten im Ganzen; vorzuͤg¬
lich trugen große Spiegelſcheiben das ihrige
zu einer vollkommenen Helligkeit bey, die in
dem alten Hauſe aus mehrern Urſachen, zu¬
naͤchſt aber auch wegen meiſt runder Fenſterſchei¬
ben gefehlt hatte. Der Vater zeigte ſich heiter,
weil ihm alles gut gelungen war; und waͤre
der gute Humor nicht manchmal dadurch un¬
I. 4
terbrochen worden, daß nicht immer der Fleiß
und die Genauigkeit der Handwerker ſeinen
Forderungen entſprachen: ſo haͤtte man kein
gluͤcklicheres Leben denken koͤnnen, zumal da
manches Gute theils in der Familie ſelbſt
entſprang, theils ihr von außen zufloß.
Durch ein außerordentliches Weltereigniß
wurde jedoch die Gemuͤthsruhe des Knaben
zum erſten Mal im Tiefſten erſchuͤttert. Am
erſten November 1755 ereignete ſich das
Erdbeben von Liſſabon, und verbreitete uͤber
die in Frieden und Ruhe ſchon eingewohnte
Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine gro¬
ße praͤchtige Reſidenz, zugleich Handels- und
Hafenſtadt, wird ungewarnt von dem furcht¬
barſten Ungluͤck betroffen. Die Erde bebt
und ſchwankt, das Meer brauſt auf, die
Schiffe ſchlagen zuſammen, die Haͤuſer ſtuͤr¬
zen ein, Kirchen und Thuͤrme daruͤber her,
der koͤnigliche Palaſt zum Theil wird vom
Meere verſchlungen, die geborſtene Erde ſcheint
Flammen zu ſpeyen: denn uͤberall meldet
ſich Rauch und Brand in den Ruinen. Sech¬
zigtauſend Menſchen, einen Augenblick zuvor
noch ruhig und behaglich, gehen mit einander
zu Grunde, und der gluͤcklichſte darunter iſt der
zu nennen, dem keine Empfindung, keine Be¬
ſinnung uͤber das Ungluͤck mehr geſtattet iſt.
Die Flammen wuͤthen fort, und mit ihnen wuͤ¬
thet eine Schaar ſonſt verborgner, oder durch
dieſes Ereigniß in Freyheit geſetzter Verbrecher.
Die ungluͤcklichen Uebriggebliebenen ſind dem
Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen
blosgeſtellt; und ſo behauptet von allen Sei¬
ten die Natur ihre ſchrankenloſe Willkuͤhr.
Schneller als die Nachrichten hatten ſchon
Andeutungen von dieſem Vorfall ſich durch
große Landſtrecken verbreitet; an vielen Orten
waren ſchwaͤchere Erſchuͤtterungen zu verſpuͤ¬
ren, an manchen Quellen, beſonders den
heilſamen, ein ungewoͤhnliches Innehalten zu
bemerken geweſen: um deſto groͤßer war die
4 *
Wirkung der Nachrichten ſelbſt, welche erſt
im Allgemeinen, dann aber mit ſchrecklichen
Einzelheiten ſich raſch verbreiteten. Hierauf
ließen es die Gottesfuͤrchtigen nicht an Be¬
trachtungen, die Philoſophen nicht an Troſt¬
gruͤnden, an Strafpredigten die Geiſtlichkeit
nicht fehlen. So vieles zuſammen richtete
die Aufmerkſamkeit der Welt eine Zeit lang
auf dieſen Punct, und die durch fremdes
Ungluͤck aufgeregten Gemuͤther wurden durch
Sorgen fuͤr ſich ſelbſt und die Ihrigen um
ſo mehr geaͤngſtigt, als uͤber die weitverbrei¬
tete Wirkung dieſer Exploſion von allen Or¬
ten und Enden immer mehrere und umſtaͤnd¬
lichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht
hat der Daͤmon des Schreckens zu keiner
Zeit ſo ſchnell und ſo maͤchtig ſeine Schauer
uͤber die Erde verbreitet.
Der Knabe, der alles dieſes wiederholt
vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen.
Gott, der Schoͤpfer und Erhalter Himmels
und der Erden, den ihm die Erklaͤrung des
erſten Glaubens-Artikels ſo weiſe und gnaͤ¬
dig vorſtellte, hatte ſich, indem er die Gerech¬
ten mit den Ungerechten gleichem Verderben
preis gab, keineswegs vaͤterlich bewieſen.
Vergebens ſuchte das junge Gemuͤth ſich ge¬
gen dieſe Eindruͤcke herzuſtellen, welches uͤber¬
haupt um ſo weniger moͤglich war, als die
Weiſen und Schriftgelehrten ſelbſt ſich uͤber
die Art, wie man ein ſolches Phaͤnomen an¬
zuſehen habe, nicht vereinigen konnten.
Der folgende Sommer gab eine naͤhere
Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das
alte Teſtament ſo viel uͤberliefert, unmittelbar
kennen zu lernen. Unverſehens brach ein Ha¬
gelwetter herein und ſchlug die neuen Spie¬
gelſcheiben der gegen Abend gelegenen Hin¬
terſeite des Hauſes unter Donner und Bli¬
tzen auf das gewaltſamſte zuſammen, beſchaͤ¬
digte die neuen Moͤbeln, verderbte einige
ſchaͤtzbare Buͤcher und ſonſt werthe Dinge,
und war fuͤr die Kinder um ſo fuͤrchterlicher,
als das ganz außer ſich geſetzte Hausgeſinde
ſie in einen dunklen Gang mit fortriß, und
dort auf den Knieen liegend durch ſchreckli¬
ches Geheul und Geſchrey die erzuͤrnte Gott¬
heit zu verſoͤhnen glaubte; indeſſen der Vater
ganz allein gefaßt, die Fenſterfluͤgel aufriß
und aushob; wodurch er zwar manche Schei¬
ben rettete, aber auch dem auf den Hagel
folgenden Regenguß einen deſto offnern Weg
bereitete, ſo daß man ſich, nach endlicher
Erholung, auf den Vorſaͤlen und Treppen
von flutendem und rinnendem Waſſer umge¬
ben ſah.
Solche Vorfaͤlle, wie ſtoͤrend ſie auch im
Ganzen waren, unterbrachen doch nur wenig den
Gang und die Folge des Unterrichts, den der
Vater ſelbſt uns Kindern zu geben ſich einmal
vorgenommen. Er hatte ſeine Jugend auf dem
Coburger Gymnaſium zugebracht, welches unter
den deutſchen Lehranſtalten eine der erſten Stel¬
len einnahm. Er hatte daſelbſt einen guten
Grund in den Sprachen und was man ſonſt
zu einer gelehrten Erziehung rechnete, gelegt,
nachher in Leipzig ſich der Rechtswiſſenſchaft
befliſſen, und zuletzt in Gießen promovirt.
Seine mit Ernſt und Fleiß verfaßte Diſſer¬
tation: Electa de aditione hereditatis,
wird noch von den Rechtslehrern mit Lob
angefuͤhrt.
Es iſt ein frommer Wunſch aller Vaͤter,
das was ihnen ſelbſt abgegangen, an den
Soͤhnen realiſirt zu ſehen, ſo ohngefaͤhr als
wenn man zum zweyten Mal lebte und die
Erfahrungen des erſten Lebenslaufes nun erſt
recht nutzen wollte. Im Gefuͤhl ſeiner Kennt¬
niſſe, in Gewißheit einer treuen Ausdauer,
und im Mistrauen gegen die damaligen Leh¬
rer, nahm der Vater ſich vor, ſeine Kinder
ſelbſt zu unterrichten, und nur ſoviel als es
noͤthig ſchien, einzelne Stunden durch eigent¬
liche Lehrmeiſter zu beſetzen. Ein paͤdagogi¬
ſcher Dilettantismus fing ſich uͤberhaupt ſchon
zu zeigen an. Die Pedanterie und Truͤbſin¬
nigkeit der an oͤffentlichen Schulen angeſtell¬
ten Lehrer mochte wohl die erſte Veranlaſſung
dazu geben. Man ſuchte nach etwas Beſſerem,
und vergaß, wie, mangelhaft aller Unterricht
ſeyn muß, der nicht durch Leute vom Metier
ertheilt wird.
Meinem Vater war ſein eigner Lebens¬
gang bis dahin ziemlich nach Wunſch gelun¬
gen; ich ſollte denſelben Weg gehen, aber
bequemer und weiter. Er ſchaͤtzte meine an¬
gebornen Gaben um ſo mehr als ſie ihm man¬
gelten: denn er hatte alles nur durch unſaͤg¬
lichen Fleiß, Anhaltſamkeit und Wiederho¬
lung erworben. Er verſicherte mir oͤfters,
fruͤher und ſpaͤter, im Ernſt und Scherz,
daß er mit meinen Anlagen ſich ganz anders
wuͤrde benommen, und nicht ſo liederlich da¬
mit wuͤrde gewirthſchaftet haben.
Durch ſchnelles Ergreifen, Verarbeiten
und Feſthalten entwuchs ich ſehr bald dem
Unterricht, den mir mein Vater und die
uͤbrigen Lehrmeiſter geben konnten, ohne daß
ich doch in irgend etwas begruͤndet geweſen
waͤre. Die Grammatik misfiel mir, weil ich
ſie nur als ein willkuͤhrliches Geſetz anſah;
die Regeln ſchienen mir laͤcherlich, weil ſie
durch ſo viele Ausnahmen aufgehoben wurden,
die ich alle wieder beſonders lernen ſollte.
Und waͤre nicht der gereimte angehende Latei¬
ner geweſen, ſo haͤtte es ſchlimm mit mir
ausgeſehen; doch dieſen trommelte und ſang
ich mir gern vor. So hatten wir auch eine
Geographie in ſolchen Gedaͤchtnißverſen, wo
uns die abgeſchmackteſten Reime das zu Be¬
haltende am beſten einpraͤgten, z. B:
Ober-Yſſel; viel Moraſt
Macht das gute Land verhaßt.
Die Sprachformen und Wendungen faßte
ich leicht; ſo auch entwickelte ich mir ſchnell,
was in dem Begriff einer Sache lag. In
rhetoriſchen Dingen, Chrieen und dergleichen
that es mir Niemand zuvor, ob ich ſchon
wegen Sprachfehler oft hintanſtehen mußte.
Solche Aufſaͤtze waren es jedoch, die meinem
Vater beſondre Freude machten, und wegen
deren er mich mit manchem, fuͤr einen Kna¬
ben bedeutenden, Geldgeſchenk belohnte.
Mein Vater lehrte die Schweſter in dem¬
ſelben Zimmer Italiaͤniſch, wo ich den Cella¬
rius auswendig zu lernen hatte. Indem ich
nun mit meinem Penſum bald fertig war
und doch ſtill ſitzen ſollte, horchte ich uͤber
das Buch weg und faßte das Italiaͤniſche,
das mir als eine luſtige Abweichung des
Lateiniſchen auffiel, ſehr behende.
Andere Fruͤhzeitigkeiten in Abſicht auf Ge¬
daͤchtniß und Combination hatte ich mit jenen
Kindern gemein, die dadurch einen fruͤhen
Ruf erlangt haben. Deshalb konnte mein
Vater kaum erwarten, bis ich auf Akademie
gehen wuͤrde. Sehr bald erklaͤrte er, daß
ich in Leipzig, fuͤr welches er eine große
Vorliebe behalten, gleichfalls Jura ſtudiren,
alsdann noch eine andre Univerſitaͤt beſuchen,
und promoviren ſollte. Was dieſe zweyte
betraf, war es ihm gleichguͤltig, welche ich
waͤhlen wuͤrde; nur gegen Goͤttingen hatte er,
ich weiß nicht warum, einige Abneigung, zu
meinem Leidweſen: denn ich hatte gerade auf
dieſe viel Zutrauen und große Hoffnungen
geſetzt.
Ferner erzaͤhlte er mir, daß ich nach
Wetzlar und Regensburg, nicht weniger nach
Wien und von da nach Italien gehen ſollte;
ob er gleich wiederholt behauptete, man muͤſſe
Paris voraus ſehen, weil man aus Italien
kommend ſich an nichts mehr ergetze.
Dieſes Maͤhrchen meines kuͤnftigen Ju¬
gendganges ließ ich mir gern wiederholen,
beſonders da es in eine Erzaͤhlung von Ita¬
lien und zuletzt in eine Beſchreibung von
Neapel auslief. Sein ſonſtiger Ernſt und
Trockenheit ſchien ſich jederzeit aufzuloͤſen und
zu beleben, und ſo erzeugte ſich in uns Kin¬
dern der leidenſchaftliche Wunſch, auch dieſer
Paradieſe theilhaft zu werden.
Privat-Stunden, welche ſich nach und
nach vermehrten, theilte ich mit Nachbars¬
kindern. Dieſer gemeinſame Unterricht foͤr¬
derte mich nicht; die Lehrer gingen ihren
Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal
die Boͤsartigkeiten meiner Geſellen, brachten
Unruh, Verdruß und Stoͤrung in die kaͤrg¬
lichen Lehrſtunden. Chreſtomathieen, wodurch
die Belehrung heiter und mannigfaltig wird,
waren noch nicht bis zu uns gekommen. Der
fuͤr junge Leute ſo ſtarre Cornelius Nepos,
das allzu leichte, und durch Predigten und
Religions-Unterricht ſogar trivial gewordne
Neue Teſtament, Cellarius und Paſor konn¬
ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte
ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch
Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer
bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬
griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬
toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der
poetiſchen uͤberzugehen.
Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬
ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬
tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬
gegnete mir etwas Wunderbares, was mich
ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte,
wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer
fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte
bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬
me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle
waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja
was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter,
obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger
Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der
aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen
ließ, hielt dieſe nicht allein fuͤr die allerbeſten,
ſondern war voͤllig uͤberzeugt, er habe ſie
ſelbſt gemacht; wie er mir, in dem vertrau¬
teren Verhaͤltniß, worin ich mit ihm ſtand,
jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun
ſolchen Irrthum und Wahnſinn offenbar vor
mir ſah, fiel es mir eines Tages aufs Herz,
ob ich mich vielleicht ſelbſt in dem Falle be¬
faͤnde, ob nicht jene Gedichte wirklich beſſer
ſeyen als die meinigen, und ob ich nicht mit
Recht jenen Knaben eben ſo toll als ſie mir
vorkommen moͤchte? Dieſes beunruhigte mich
ſehr und lange Zeit: denn es war mir durch¬
aus unmoͤglich, ein aͤußeres Kennzeichen der
Wahrheit zu finden; ja ich ſtockte ſogar in
meinen Hervorbringungen, bis mich endlich
Leichtſinn und Selbſtgefuͤhl und zuletzt eine
Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und
Aeltern, welche auf unſere Scherze aufmerk¬
ſam geworden, aus dem Stegreif aufgaben,
wobey ich gut beſtand und allgemeines Lob
davontrug.
Man hatte zu der Zeit noch keine Biblio¬
theken fuͤr Kinder veranſtaltet. Die Alten
hatten ſelbſt noch kindliche Geſinnungen,
und fanden es bequem, ihre eigene Bildung
der Nachkommenſchaft mitzutheilen. Außer
dem Orbis pictus des Amos Comenius kam
uns kein Buch dieſer Art in die Haͤnde;
aber die große Folio-Bibel, mit Kupfern
von Merian, ward haͤufig von uns durchblaͤt¬
tert; Gottfrieds Chronik, mit Kupfern deſſel¬
ben Meiſters, belehrte uns von den merkwuͤr¬
digſten Faͤllen der Weltgeſchichte; die Acerra
philologica that noch allerley Fabeln, My¬
thologieen und Seltſamkeiten hinzu; und da
ich gar bald die Ovidiſchen Verwandlungen
gewahr wurde, und beſonders die erſten Buͤ¬
cher fleißig ſtudirte: ſo war mein junges
Gehirn ſchnell genug mit einer Maſſe von
Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden
und wunderbaren Geſtalten und Ereigniſſen
angefuͤllt, und ich konnte niemals lange Wei¬
le haben, indem ich mich immerfort beſchaͤf¬
tigte, dieſen Erwerb zu verarbeiten, zu wie¬
derholen, wieder hervorzubringen.
Einen froͤmmern ſittlichern Effect, als
jene mitunter rohen und gefaͤhrlichen Alter¬
thuͤmlichkeiten, machte Fenelons Telemach,
den ich erſt nur in der Neukirchiſchen Ueber¬
ſetzung kennen lernte, und der, auch ſo unvoll¬
kommen uͤberliefert, eine gar ſuͤße und wohl¬
thaͤtige Wirkung auf mein Gemuͤth aͤußerte.
Daß Robinſon Cruſoe ſich zeitig angeſchloſſen,
liegt wohl in der Natur der Sache; daß die
Inſel Felſenburg nicht gefehlt habe, laͤßt ſich
denken. Lord Anſon's Reiſe um die Welt
verband das Wuͤrdige der Wahrheit mit dem
Phantaſiereichen des Maͤhrchens, und indem
wir dieſen trefflichen Seemann mit den Ge¬
danken begleiteten, wurden wir weit in alle
Welt hinausgefuͤhrt, und verſuchten ihm mit
unſern Fingern auf dem Globus zu folgen.
Nun ſollte mir auch noch eine reichlichere
Aerndte bevorſtehn, indem ich an eine Maſſe
Schriften gerieth, die zwar in ihrer gegenwaͤr¬
tigen Geſtalt nicht vortrefflich genannt werden
koͤnnen, deren Inhalt jedoch uns manches Ver¬
dienſt voriger Zeiten in einer unſchuldigen
Weiſe naͤher bringt.
Der Verlag oder vielmehr die Fabrik je¬
ner Buͤcher, welche in der folgenden Zeit,
unter dem Titel: Volksſchriften, Volksbuͤcher,
bekannt und ſogar beruͤhmt geworden, war in
Frankfurt ſelbſt, und ſie wurden, wegen des
großen Abgangs, mit ſtehenden Lettern auf
das ſchrecklichſte Loͤſchpapier faſt unleſerlich ge¬
druckt. Wir Kinder hatten alſo das Gluͤck,
dieſe ſchaͤtzbaren Ueberreſte der Mittelzeit auf
einem Tiſchchen vor der Hausthuͤre eines
Buͤchertroͤdlers taͤglich zu finden, und ſie uns
fuͤr ein paar Kreuzer zuzueignen. Der Eu¬
lenſpiegel, die vier Haimonskinder, die ſchoͤne
Meluſine, der Kaiſer Octavian, die ſchoͤne
Magelone, Fortunatus, mit der ganzen Sipp¬
ſchaft bis auf den ewigen Juden, alles ſtand
l. 5
uns zu Dienſten, ſobald uns geluͤſtete nach
dieſen Werken, anſtatt nach irgend einer
Naͤſcherey zu greifen. Der groͤßte Vortheil
dabey war, daß wenn wir ein ſolches Heft
zerleſen oder ſonſt beſchaͤdigt hatten, es bald
wieder angeſchafft und aufs neue verſchlungen
werden konnte.
Wie eine Familienſpazirfahrt im Sommer
durch ein ploͤtzliches Gewitter auf eine hoͤchſt
verdrießliche Weiſe geſtoͤrt, und ein froher
Zuſtand in den widerwaͤrtigſten verwandelt
wird, ſo fallen auch die Kinderkrankheiten un¬
erwartet in die ſchoͤnſte Jahrszeit des Fruͤh¬
lebens. Mir erging es auch nicht anders.
Ich hatte mir eben den Fortunatus mit ſei¬
nem Seckel und Wuͤnſchhuͤthlein gekauft, als
mich ein Misbehagen und ein Fieber uͤberfiel,
wodurch die Pocken ſich ankuͤndigten. Die
Einimpfung derſelben ward bey uns noch im¬
mer fuͤr ſehr problematiſch angeſehen, und
ob ſie gleich populare Schriftſteller ſchon fa߬
lich und eindringlich empfohlen; ſo zauderten
doch die deutſchen Aerzte mit einer Operation,
welche der Natur vorzugreifen ſchien. Specu¬
lirende Englaͤnder kamen daher aufs feſte Land
und impften, gegen ein anſehnliches Honorar,
die Kinder ſolcher Perſonen, die ſie wohl¬
habend und frey von Vorurtheil fanden.
Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem
alten Unheil ausgeſetzt; die Krankheit wuͤthete
durch die Familien, toͤdtete und entſtellte viele
Kinder, und wenige Aeltern wagten es, nach
einem Mittel zu greifen, deſſen wahrſchein¬
liche Huͤlfe doch ſchon durch den Erfolg man¬
nigfaltig beſtaͤtigt war. Das Uebel betraf
nun auch unſer Haus, und uͤberfiel mich mit
ganz beſonderer Heftigkeit. Der ganze Koͤr¬
per war mit Blattern uͤberſaͤet, das Geſicht
zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind
und in großen Leiden. Man ſuchte die moͤg¬
lichſte Linderung, und verſprach mir goldene
Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und
das Uebel nicht durch Reiben und Kratzen
5 *
vermehren wollte. Ich gewann es uͤber mich;
indeſſen hielt man uns, nach herrſchendem
Vorurtheil, ſo warm als moͤglich, und ſchaͤrf¬
te dadurch nur das Uebel. Endlich, nach
traurig verfloſſener Zeit, fiel es mir wie eine
Maske vom Geſicht, ohne daß die Blattern
eine ſichtbare Spur auf der Haut zuruͤckge¬
laſſen; aber die Bildung war merklich veraͤn¬
dert. Ich ſelbſt war zufrieden, nur wieder
das Tageslicht zu ſehen, und nach und nach
die fleckige Haut zu verlieren; aber Andere
waren unbarmherzig genug, mich oͤfters an
den vorigen Zuſtand zu erinnern; beſonders
eine ſehr lebhafte Tante, die fruͤher Abgoͤtte¬
rey mit mir getrieben hatte, konnte mich,
ſelbſt noch in ſpaͤtern Jahren, ſelten anſehen,
ohne auszurufen: Pfui Teufel! Vetter, wie
garſtig iſt er geworden! Dann erzaͤhlte ſie
mir umſtaͤndlich, wie ſie ſich ſonſt an mir er¬
getzt, welches Aufſehen ſie erregt, wenn ſie
mich umhergetragen; und ſo erfuhr ich fruͤh¬
zeitig, daß uns die Menſchen fuͤr das Ver¬
gnuͤgen, das wir ihnen gewaͤhrt haben, ſehr
oft empfindlich buͤßen laſſen.
Weder von Maſern, noch Windblattern,
und wie die Quaͤlgeiſter der Jugend heißen
moͤgen, blieb ich verſchont, und jedesmal ver¬
ſicherte man mir, es waͤre ein Gluͤck, daß
dieſes Uebel nun fuͤr immer voruͤber ſey;
aber leider drohte ſchon wieder ein andres
im Hintergrund und ruͤckte heran. Alle dieſe
Dinge vermehrten meinen Hang zum Nach¬
denken, und da ich, um das Peinliche der
Ungeduld von mir zu entfernen, mich ſchon
oͤfter im Ausdauern geuͤbt hatte; ſo ſchienen
mir die Tugenden, welche ich an den Stoi¬
kern hatte ruͤhmen hoͤren, hoͤchſt nachahmens¬
werth, um ſo mehr als durch die chriſtliche
Duldungslehre ein Aehnliches empfohlen wurde.
Bey Gelegenheit dieſes Familienleidens
will ich auch noch eines Bruders gedenken,
welcher um drey Jahr juͤnger als ich, gleich¬
falls von jener Anſteckung ergriffen wurde und
nicht wenig davon litt. Er war von zarter
Natur, ſtill und eigenſinnig, und wir hatten
niemals ein eigentliches Verhaͤltniß zuſammen.
Auch uͤberlebte er kaum die Kinderjahre. Un¬
ter mehrern nachgebornen Geſchwiſtern, die
gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erin¬
nere ich mich nur eines ſehr ſchoͤnen und an¬
genehmen Maͤdchens, die aber auch bald ver¬
ſchwand, da wir denn nach Verlauf einiger
Jahre, ich und meine Schweſter, uns allein
uͤbrig ſahen, und nur um ſo inniger und lie¬
bevoller verbanden.
Jene Krankheiten und andere unangenehme
Stoͤrungen wurden in ihren Folgen doppelt
laͤſtig: denn mein Vater, der ſich einen ge¬
wiſſen Erziehungs- und Unterrichts-Calender
gemacht zu haben ſchien, wollte jedes Ver¬
ſaͤumniß unmittelbar wieder einbringen, und be¬
legte die Geneſenden mit doppelten Lectionen,
welche zu leiſten mir zwar nicht ſchwer, aber
in ſofern beſchwerlich fiel, als es meine in¬
nere Entwicklung, die eine entſchiedene Rich¬
tung genommen hatte, aufhielt und gewiſſer¬
maßen zuruͤckdraͤngte.
Vor dieſen didactiſchen und paͤdagogiſchen
Bedraͤngniſſen fluͤchteten wir gewoͤhnlich zu den
Großaͤltern. Ihre Wohnung lag auf der
friedberger Gaſſe und ſchien ehmals eine
Burg geweſen zu ſeyn: denn wenn man her¬
ankam, ſah man nichts als ein großes Thor
mit Zinnen, welches zu beyden Seiten an
zwey Nachbarhaͤuſer ſtieß. Trat man hinein,
ſo gelangte man durch einen ſchmalen Gang
endlich in einen ziemlich breiten Hof, umgeben
von ungleichen Gebaͤuden, welche nunmehr alle
zu einer Wohnung vereinigt waren. Ge¬
woͤhnlich eilten wir ſogleich in den Garten,
der ſich anſehnlich lang und breit hinter den
Gebaͤuden hin erſtreckte und ſehr gut unter¬
halten war; die Gaͤnge meiſtens mit Rebge¬
laͤnder eingefaßt, ein Theil des Raums den
Kuͤchengewaͤchſen, ein andrer den Blumen
gewidmet, die vom Fruͤhjahr bis in den
Herbſt, in reichlicher Abwechslung, die Rabat¬
ten ſo wie die Beete ſchmuͤckten. Die lange,
gegen Mittag gerichtete Mauer war zu wohl
gezogenen Spalier-Pfirſichbaͤumen genuͤtzt,
von denen uns die verbotenen Fruͤchte, den
Sommer uͤber, gar appetitlich entgegenreiften.
Doch vermieden wir lieber dieſe Seite, weil
wir unſere Genaͤſchigkeit hier nicht befriedigen
durften, und wandten uns zu der entgegen¬
geſetzten, wo eine unabſehbare Reihe Johan¬
nis– und Stachelbeer-Buͤsſche unſerer Gierig¬
keit eine Folge von Aerndten bis in den Herbſt
eroͤffnete. Nicht weniger war uns ein alter,
hoher, weitverbreiteter Maulbeerbaum bedeu¬
tend, ſowohl wegen ſeiner Fruͤchte als auch
weil man uns erzaͤhlte, daß von ſeinen Blaͤt¬
tern die Seidenwuͤrmer ſich ernaͤhrten. In die¬
ſem friedlichen Revier fand man jeden Abend
den Großvater mit behaglicher Geſchaͤftigkeit
eigenhaͤndig die feinere Obſt- und Blumen¬
zucht beſorgend, indeß ein Gaͤrtner die groͤ¬
bere Arbeit verrichtete. Die vielfachen Be¬
muͤhungen, welche noͤthig ſind, um eine ſchoͤne
Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, ließ
er ſich niemals verdrießen. Er ſelbſt band
ſorgfaͤltig die Zweige der Pfirſichbaͤume faͤ¬
cherartig an die Spaliere, um einen reich¬
lichen und bequemen Wachsthum der Fruͤchte
zu befoͤrdern. Das Sortiren der Zwiebeln
von Tulpen, Hyacinthen und verwandter
Gewaͤchſe, ſo wie die Sorge fuͤr Aufbe¬
wahrung derſelben, uͤberließ er Niemanden;
und noch erinnere ich mich gern, wie emſig
er ſich mit dem Oculiren der verſchiedenen
Roſenarten beſchaͤftigte. Dabey zog er, um
ſich vor den Dornen zu ſchuͤtzen, jene alter¬
thuͤmlichen ledernen Handſchuhe an, die ihm
beym Pfeifergericht jaͤhrlich in Triplo uͤber¬
reicht wurden, woran es ihm deshalb niemals
mangelte. So trug er auch immer einen ta¬
laraͤhnlichen Schlafrock, und auf dem Haupt
eine faltige ſchwarze Sammtmuͤtze, ſo daß er
eine mittlere Perſon zwiſchen Alcinous und
Laertes haͤtte vorſtellen koͤnnen.
Alle dieſe Gartenarbeiten betrieb er eben ſo
regelmaͤßig und genau als ſeine Amtsgeſchaͤfte:
denn eh er herunterkam, hatte er immer die
Regiſtrande ſeiner Proponenden fuͤr den an¬
dern Tag in Ordnung gebracht und die
Acten geleſen. Eben ſo fuhr er Morgens
aufs Rathhaus, ſpeiſte nach ſeiner Ruͤckkehr,
nickte hierauf in ſeinem Großſtuhl, und ſo
ging alles einen Tag wie den andern. Er
ſprach wenig, zeigte keine Spur von Heftig¬
keit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig ge¬
ſehen zu haben. Alles was ihn umgab, war
alterthuͤmlich. In ſeiner getaͤfelten Stube
habe ich niemals irgend eine Neuerung wahr¬
genommen. Seine Bibliothek enthielt außer
juriſtiſchen Werken nur die erſten Reiſebeſchrei¬
bungen, Seefahrten und Laͤnder-Entdeckungen.
Ueberhaupt erinnere ich mich keines Zuſtandes,
der ſo wie dieſer das Gefuͤhl eines unver¬
bruͤchlichen Friedens und einer ewigen Dauer
gegeben haͤtte.
Was jedoch die Ehrfurcht, die wir fuͤr
dieſen wuͤrdigen Greis empfanden, bis zum
Hoͤchſten ſteigerte, war die Ueberzeugung, daß
derſelbe die Gabe der Weiſſagung beſitze,
beſonders in Dingen, die ihn ſelbſt und ſein
Schickſal betrafen. Zwar ließ er ſich gegen
Niemand als gegen die Großmutter entſchie¬
den und umſtaͤndlich heraus; aber wir alle
wußten doch, daß er durch bedeutende Traͤu¬
me von dem was ſich ereignen ſollte, unter¬
richtet werde. So verſicherte er z. B. ſeiner
Gattinn, zur Zeit als er noch unter die juͤn¬
gern Rathsherren gehoͤrte, daß er bey der
naͤchſten Vakanz auf der Schoͤffenbank zu der
erledigten Stelle gelangen wuͤrde. Und als
wirklich bald darauf einer der Schoͤffen vom
Schlage geruͤhrt ſtarb, verordnete er am Ta¬
ge der Wahl und Kugelung, daß zu Hauſe
im Stillen alles zum Empfang der Gaͤſte und
Gratulanten ſolle eingerichtet werden, und
die entſcheidende goldne Kugel ward wirklich
fuͤr ihn gezogen. Den einfachen Traum, der
ihn hievon belehrt, vertraute er ſeiner Gat¬
tinn folgendermaßen: Er habe ſich in voller
gewoͤhnlicher Rathsverſammlung geſehen, wo
alles nach hergebrachter Weiſe vorgegangen.
Auf einmal habe ſich der nun verſtorbene
Schoͤff von ſeinem Sitze erhoben, ſey herab¬
geſtiegen und habe ihm auf eine verbindliche
Weiſe das Compliment gemacht: er moͤge
den verlaſſenen Platz einnehmen, und ſey
darauf zur Thuͤre hinausgegangen.
Etwas Aehnliches begegnete, als der
Schultheiß mit Tode abging. Man zaudert
in ſolchem Falle nicht lange mit Beſetzung
dieſer Stelle, weil man immer zu fuͤrchten
hat, der Kaiſer werde ſein altes Recht, einen
Schultheißen zu beſtellen, irgend einmal wie¬
der hervorrufen. Dießmal ward um Mitter¬
nacht eine außerordentliche Sitzung auf den
andern Morgen durch den Gerichtsboten an¬
geſagt. Weil dieſem nun das Licht in der
Laterne verloͤſchen wollte, ſo erbat er ſich ein
Stuͤmpfchen, um ſeinen Weg weiter fortſetzen
zu koͤnnen. „Gebt ihm ein ganzes, ſagte
der Großvater zu den Frauen: er hat ja
doch die Muͤhe um meinetwillen.“ Dieſer
Aeußerung entſprach auch der Erfolg: er wur¬
de wirklich Schultheiß; wobey der Umſtand
noch beſonders merkwuͤrdig war, daß, ob¬
gleich ſein Repraͤſentant bey der Kugelung
an der dritten und letzten Stelle zu ziehen
hatte, die zwey ſilbernen Kugeln zuerſt her¬
aus kamen, und alſo die goldne fuͤr ihn auf
dem Grunde des Beutels liegen blieb.
Voͤllig proſaiſch, einfach und ohne Spur
von Phantaſtiſchem oder Wunderſamem wa¬
ren auch die uͤbrigen der uns bekannt geword¬
nen Traͤume. Ferner erinnere ich mich, daß
ich als Knabe unter ſeinen Buͤchern und
Schreibcalendern geſtoͤrt, und darin unter
andern auf Gaͤrtnerey bezuͤglichen Anmerkun¬
gen aufgezeichnet gefunden: Heute Nacht kam
N. N. zu mir und ſagte . . . . . Name
und Offenbarung waren in Chiffern geſchrie¬
ben. Oder es ſtand auf gleiche Weiſe: Heute
Nacht ſah ich . . . . Das Uebrige war wie¬
der in Chiffern, bis auf die Verbindungs¬
und andre Worte, aus denen ſich nichts ab¬
nehmen ließ.
Bemerkenswerth bleibt es hiebey, daß
Perſonen, welche ſonſt keine Spur von Ahn¬
dungsvermoͤgen zeigten, in ſeiner Sphaͤre,
fuͤr den Augenblick die Faͤhigkeit erlangten,
daß ſie von gewiſſen gleichzeitigen, obwohl
in der Entfernung vorgehenden Krankheits-
und Todesereigniſſen durch ſinnliche Wahrzei¬
chen eine Vorempfindung hatten. Aber auf
keines ſeiner Kinder und Enkel hat eine ſol¬
che Gabe fortgeerbt; vielmehr waren ſie mei¬
ſtentheils ruͤſtige Perſonen, lebensfroh und
nur aufs Wirkliche geſtellt.
Bey dieſer Gelegenheit gedenk' ich derſel¬
ben mit Dankbarkeit fuͤr vieles Gute, das
ich von ihnen in meiner Jugend empfangen.
So waren wir z. B. auf gar mannigfaltige
Weiſe beſchaͤftigt und unterhalten, wenn wir
die an einen Materialhaͤndler Melbert ver¬
heiratete zweyte Tochter beſuchten, deren Woh¬
nung und Laden mitten im lebhafteſten, ge¬
draͤngteſten Theile der Stadt an dem Markte
lag. Hier ſahen wir nun dem Gewuͤhl und
Gedraͤnge, in welches wir uns ſcheuten zu
verlieren, ſehr vergnuͤglich aus den Fenſtern
zu; und wenn uns im Laden unter ſo vieler¬
ley Waaren anfaͤnglich nur das Suͤßholtz und
die daraus bereiteten braunen geſtempelten
Zeltlein vorzuͤglich intereſſirten: ſo wurden
wir doch allmaͤhlich mit der großen Menge
von Gegenſtaͤnden bekannt, welche bey einer
ſolchen Handlung aus- und einfließen. Die¬
ſe Tante war unter den Geſchwiſtern die
lebhafteſte. Wenn meine Mutter, in juͤn¬
gern Jahren, ſich in reinlicher Kleidung, bey
einer zierlichen weiblichen Arbeit, oder im
Leſen eines Buches gefiel; ſo fuhr jene in
der Nachbarſchaft umher, um ſich dort ver¬
ſaͤumter Kinder anzunehmen, ſie zu warten,
zu kaͤmmen und herumzutragen, wie ſie es
denn auch mit mir eine gute Weile ſo getrieben.
Zur Zeit oͤffentlicher Feyerlichkeiten, wie bey
Kroͤnungen, war ſie nicht zu Hauſe zu halten.
Als kleines Kind ſchon hatte ſie nach dem
bey ſolchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gel¬
de gehaſcht, und man erzaͤhlte ſich: wie ſie
einmal eine gute Partie beyſammen gehabt
und ſolches vergnuͤglich in der flachen Hand
beſchaut, habe ihr einer dagegen geſchlagen,
wodurch denn die wohlerworbene Beute auf
einmal verloren gegangen. Nicht weniger
wußte ſie ſich viel damit, daß ſie dem vor¬
beyfahrenden Kaiſer Carl dem ſiebenten, waͤh¬
rend eines Augenblicks, da alles Volk ſchwieg,
auf einem Prallſteine ſtehend, ein heftiges
Vivat in die Kutſche gerufen und ihn veran¬
laßt habe, den Hut vor ihr abzuziehen und
fuͤr dieſe kecke Aufmerkſamkeit gar gnaͤdig
zu danken.
Auch in ihrem Hauſe war um ſie her
alles bewegt, lebensluſtig und munter, und
wir Kinder ſind ihr manche frohe Stunde
ſchuldig geworden.
In einem ruhigern, aber auch ihrer Na¬
tur angemeſſenen Zuſtande befand ſich eine
zweyte Tante, welche mit dem bey der
St. Catharinen-Kirche angeſtellten Pfarrer
Stark verheiratet war. Er lebte ſeiner
Geſinnung und ſeinem Stande gemaͤß ſehr
einſam, und beſaß eine ſchoͤne Bibliothek.
Hier lernte ich zuerſt den Homer kennen,
und zwar in einer proſaiſchen Ueberſetzung,
wie ſie im ſiebenten Theil der durch Herrn
von Loen beſorgten neuen Sammlung der
merkwuͤrdigſten Reiſegeſchichten, unter dem
Titel: Homers Beſchreibung der Eroberung
des trojaniſchen Reichs, zu finden iſt, mit
I. 6
Kupfern im franzoͤſiſchen Theaterſinne geziert.
Dieſe Bilder verdarben mir dermaßen die Ein¬
bildungskraft, daß ich lange Zeit die home¬
riſchen Helden mir nur unter dieſen Geſtalten
vergegenwaͤrtigen konnte. Die Begebenheiten
ſelbſt gefielen mir unſaͤglich; nur hatte ich an
dem Werte ſehr auszuſetzen, daß es uns von
der Eroberung Troja's keine Nachricht gebe,
und ſo ſtumpf mit dem Tode Hectors endige.
Mein Oheim, gegen den ich dieſen Tadel
aͤußerte, verwies mich auf den Virgil, wel¬
cher denn meiner Forderung vollkommen Ge¬
nuͤge that.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß wir Kin¬
der, neben den uͤbrigen Lehrſtunden, auch
eines fortwaͤhrenden und fortſchreitenden Re¬
ligionsunterrichts genoſſen. Doch war der
kirchliche Proteſtantismus, den man uns uͤber¬
lieferte, eigentlich nur eine Art von trockner
Moral: an einen geiſtreichen Vortrag ward
nicht gedacht, und die Lehre konnte weder
der Seele noch dem Herzen zuſagen. Des¬
wegen ergaben ſich gar mancherley Abſonde¬
rungen von der geſetzlichen Kirche. Es ent¬
ſtanden die Separatiſten, Pietiſten, Herrn¬
huter, die Stillen im Lande und wie man
ſie ſonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte,
die aber alle blos die Abſicht hatten, ſich der
Gottheit, beſonders durch Chriſtum, mehr
zu naͤhern, als es ihnen unter der Form der
oͤffentlichen Religion moͤglich zu ſeyn ſchien.
Der Knabe hoͤrte von dieſen Meynungen
und Geſinnungen unaufhoͤrlich ſprechen: denn
die Geiſtlichkeit ſowohl als die Laien theil¬
ten ſich in das Fuͤr und Wider. Die mehr
oder weniger Abgeſonderten waren immer die
Minderzahl; aber ihre Sinnesweiſe zog an
durch Originalitaͤt, Herzlichkeit, Beharren und
Selbſtaͤndigkeit. Man erzaͤhlte von dieſen
Tugenden und ihren Aeußerungen allerley
Geſchichten. Beſonders ward die Antwort
eines frommen Klempnermeiſters bekannt, den
6 *
einer ſeiner Zunftgenoſſen durch die Frage zu
beſchaͤmen gedachte: wer denn eigentlich ſein
Beichtvater ſey? Mit Heiterkeit und Ver¬
trauen auf ſeine gute Sache erwiederte jener:
Ich habe einen ſehr vornehmen; es iſt nie¬
mand geringeres als der Beichtvater des
Koͤnigs David.
Dieſes und dergleichen mag wohl Ein¬
druck auf den Knaben gemacht und ihn zu
aͤhnlichen Geſinnungen aufgefordert haben.
Genug, er kam auf den Gedanken, ſich dem
großen Gotte der Natur, dem Schoͤpfer und
Erhalter Himmels und der Erden, deſſen
fruͤhere Zorn-Aeußerungen ſchon lange uͤber
die Schoͤnheit der Welt und das mannigfal¬
tige Gute, das uns darin zu Theil wird,
vergeſſen waren, unmittelbar zu naͤhern; der
Weg dazu aber war ſehr ſonderbar.
Der Knabe hatte ſich uͤberhaupt an den
erſten Glaubensartikel gehalten. Der Gott,
der mit der Natur in unmittelbarer Verbin¬
dung ſtehe, ſie als ſein Werk anerkenne und
liebe, dieſer ſchien ihm der eigentliche Gott,
der ja wohl auch mit dem Menſchen wie mit
allem uͤbrigen in ein genaueres Verhaͤltniß tre¬
ten koͤnne, und fuͤr denſelben eben ſo wie fuͤr
die Bewegung der Sterne, fuͤr Tages- und
Jahrszeiten, fuͤr Pflanzen und Thiere Sor¬
ge tragen werde. Einige Stellen des Evan¬
geliums beſagten dieſes ausdruͤcklich. Eine
Geſtalt konnte der Knabe dieſem Weſen nicht
verleihen; er ſuchte ihn alſo in ſeinen Wer¬
ken auf, und wollte ihm auf gut altteſtament¬
liche Weiſe einen Altar errichten. Naturpro¬
ducte ſollten die Welt im Gleichniß vorſtellen,
uͤber dieſen ſollte eine Flamme brennen und
das zu ſeinem Schoͤpfer ſich aufſehnende Ge¬
muͤth des Menſchen bedeuten. Nun wurden
aus der vorhandnen und zufaͤllig vermehrten
Naturalienſammlung die beſten Stufen und
Exemplare herausgeſucht; allein wie ſolche zu
ſchichten und aufzubauen ſeyn moͤchten, das
war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte
einen ſchoͤnen rothlackirten goldgebluͤmten Mu¬
ſikpult, in Geſtalt einer vierſeitigen Pyrami¬
de mit verſchiedenen Abſtufungen, den man
zu Quartetten ſehr bequem fand, ob er gleich
in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde.
Deſſen bemaͤchtigte ſich der Knabe, und baute nun
ſtufenweiſe die Abgeordneten der Natur uͤber¬
einander, ſo daß es recht heiter und zugleich
bedeutend genug ausſah. Nun ſollte bey ei¬
nem fruͤhen Sonnenaufgang die erſte Gottes¬
verehrung angeſtellt werden; nur war der
junge Prieſter nicht mit ſich einig, auf welche
Weiſe er eine Flamme hervorbringen ſollte,
die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Ge¬
ruch von ſich geben muͤſſe. Endlich gelang
ihm ein Einfall, beydes zu verbinden, indem
er Raͤucherkerzchen beſaß, welche wo nicht
flammend doch glimmend den angenehmſten
Geruch verbreiteten. Ja dieſes gelinde Ver¬
brennen und Verdampfen ſchien noch mehr
das was im Gemuͤthe vorgeht auszudruͤcken,
als eine offene Flamme. Die Sonne war
ſchon laͤngſt aufgegangen, aber Nachbarhaͤu¬
ſer verdeckten den Oſten. Endlich erſchien ſie
uͤber den Daͤchern; ſogleich ward ein Brenn¬
glas zur Hand genommen, und die in einer
ſchoͤnen Porzellanſchale auf dem Gipfel ſte¬
henden Raͤucherkerzen angezuͤndet. Alles
gelang nach Wunſch, und die Andacht war
vollkommen. Der Altar blieb als eine be¬
ſondre Zierde des Zimmers, das man ihm
im neuen Hauſe eingeraͤumt hatte, ſtehen.
Jedermann ſah darin nur eine wohlaufgeputz¬
te Naturalienſammlung; der Knabe hingegen
wußte beſſer was er verſchwieg. Er ſehnte
ſich nach der Wiederholung jener Feyerlich¬
keit. Ungluͤcklicherweiſe war eben, als die ge¬
legenſte Sonne hervorſtieg, die Porzellantaſſe
nicht bey der Hand; er ſtellte die Raͤucher¬
kerzchen unmittelbar auf die obere Flaͤche des
Muſikpultes; ſie wurden angezuͤndet, und die
Andacht war ſo groß, daß der Prieſter nicht
merkte, welchen Schaden ſein Opfer anrichte¬
te, als bis ihm nicht mehr abzuhelfen war.
Die Kerzen hatten ſich naͤmlich in den ro¬
then Lack und in die ſchoͤnen goldnen Blu¬
men auf eine ſchmaͤhliche Weiſe eingebrannt,
und gleich als waͤre ein boͤſer Geiſt verſchwun¬
den, ihre ſchwarzen unausloͤſchlichen Fußtapfen
zuruͤckgelaſſen. Hieruͤber kam der junge Prie¬
ſter in die aͤußerſte Verlegenheit. Zwar wu߬
te er den Schaden durch die groͤßeſten Pracht¬
ſtufen zu bedecken, allein der Muth zu neuen
Opfern war ihm vergangen, und faſt moͤchte
man dieſen Zufall als eine Andeutung und
Warnung betrachten, wie gefaͤhrlich es uͤber¬
haupt ſey, ſich Gott auf dergleichen Wegen
naͤhern zu wollen.
Zweytes Buch.
Alles bisher Vorgetragene deutet auf jenen
gluͤcklichen und gemaͤchlichen Zuſtand, in wel¬
chem ſich die Laͤnder waͤhrend eines langen
Friedens befinden. Nirgends aber genießt man
eine ſolche ſchoͤne Zeit wohl mit groͤßerem
Behagen als in Staͤdten, die nach ihren ei¬
genen Geſetzen leben, die groß genug ſind,
eine anſehnliche Menge Buͤrger zu faſſen,
und wohl gelegen, um ſie durch Handel und
Wandel zu bereichern. Fremde finden ihren
Gewinn, da aus- und einzuziehen, und ſind
genoͤthigt Vortheil zu bringen, um Vortheil
zu erlangen. Beherrſchen ſolche Staͤdte auch
kein weites Gebiet, ſo koͤnnen ſie deſtomehr
im Innern Wohlhaͤbigkeit bewirken, weil ih¬
re Verhaͤltniſſe nach außen ſie nicht zu koſt¬
ſpieligen Unternehmungen oder Theilnahmen
verpflichten.
Auf dieſe Weiſe verſtoß den Frankfurtern
waͤhrend meiner Kindheit eine Reihe gluͤck¬
licher Jahre. Aber kaum hatte ich am 28.
Auguſt 1756 mein ſiebentes Jahr zuruͤck¬
gelegt, als gleich darauf jener weltbekannte
Krieg ausbrach, welcher auf die naͤchſten ſie¬
ben Jahre meines Lebens auch großen Ein¬
fluß haben ſollte. Friedrich der zweyte, Koͤ¬
nig von Preußen, war mit 60000 Mann in
Sachſen eingefallen, und ſtatt einer vor¬
gaͤngigen Kriegserklaͤrung folgte ein Manifeſt,
wie man ſagte, von ihm ſelbſt verfaßt, welches
die Urſachen enthielt, die ihn zu einem ſolchen
ungeheuren Schritt bewogen und berechtigt.
Die Welt, die ſich nicht nur als Zuſchau¬
er, ſondern auch als Richter aufgefordert
fand, ſpaltete ſich ſogleich in zwey Parteyen,
und unſere Familie war ein Bild des großen
Ganzen.
Mein Großvater, der als Schoͤff von
Frankfurt uͤber Franz dem erſten den Kroͤ¬
nungs-Himmel getragen, und von der Kai¬
ſerinn eine gewichtige goldene Kette mit ihrem
Bildniß erhalten hatte, war mit einigen
Schwiegerſoͤhnen und Toͤchtern auf oͤſtreichi¬
ſcher Seite. Mein Vater, von Carl dem
ſiebenten zum kaiſerlichen Rath ernannt,
und an dem Schickſale dieſes ungluͤcklichen
Monarchen gemuͤthlich theilnehmend, neigte
ſich mit der kleinern Familienhaͤlfte gegen
Preußen. Gar bald wurden unſere Zuſam¬
menkuͤnfte, die man ſeit mehrern Jahren
Sonntags ununterbrochen fortgeſetzt hatte,
geſtoͤrt. Die unter Verſchwaͤgerten gewoͤhn¬
lichen Mishelligkeiten fanden nun erſt eine
Form, in der ſie ſich ausſprechen konnten.
Man ſtritt, man uͤberwarf ſich, man ſchwieg,
man brach los. Der Großvater, ſonſt ein
heitrer, ruhiger und bequemer Mann, ward
ungeduldig. Die Frauen ſuchten vergebens
das Feuer zu tuͤſchen, und nach einigen un¬
angenehmen Scenen blieb mein Vater zuerſt
aus der Geſellſchaft. Nun freuten wir uns
ungeſtoͤrt zu Hauſe der preußiſchen Siege,
welche gewoͤhnlich durch jene leidenſchaftliche
Tante mit großem Jubel verkuͤndigt wur¬
den. Alles andere Intereſſe mußte dieſem
weichen, und wir brachten den Ueberreſt des
Jahres in beſtaͤndiger Agitation zu. Die
Beſitznahme von Dresden, die anfaͤngliche
Maͤßigung des Koͤnigs, die zwar langſamen
aber ſichern Fortſchritte, der Sieg bey Lowo¬
ſitz, die Gefangennehmung der Sachſen waren
fuͤr unſere Partey eben ſo viele Triumphe.
Alles was zum Vortheil der Gegner ange¬
fuͤhrt werden konnte, wurde gelaͤugnet oder
verkleinert, und da die entgegengeſetzten Fami¬
lienglieder das Gleiche thaten; ſo konnten
ſie einander nicht auf der Straße begegnen,
ohne daß es Haͤndel ſetzte, wie in Romeo
und Julie.
Und ſo war ich denn auch Preußiſch, oder
um richtiger zu reden, Fritziſch geſinnt: denn
was ging uns Preußen an. Es war die Per¬
ſoͤnlichkeit des großen Koͤnigs, die auf alle
Gemuͤther wirkte. Ich freute mich mit dem
Vater unſerer Siege, ſchrieb ſehr gern die
Siegslieder ab, und faſt noch lieber die
Spottlieder auf die Gegenpartey, ſo platt
die Reime auch ſeyn mochten.
Als aͤlteſter Enkel und Pathe hatte ich
ſeit meiner Kindheit jeden Sonntag bey den
Großaͤltern geſpeiſt: es waren meine vergnuͤg¬
teſten Stunden der ganzen Woche. Aber
nun wollte mir kein Biſſen mehr ſchmecken:
denn ich mußte meinen Helden aufs graͤu¬
lichſte verlaͤumden hoͤren. Hier wehte ein an¬
derer Wind, hier klang ein anderer Ton als
zu Hauſe. Die Neigung, ja die Verehrung
fuͤr meine Großaͤltern nahm ab. Bey den
Aeltern durfte ich nichts davon erwaͤhnen;
ich unterließ es aus eigenem Gefuͤhl und
auch weil die Mutter mich gewarnt hatte.
Dadurch war ich auf mich ſelbſt zuruͤck¬
gewieſen, und wie mir in meinem ſechſten
Jahre, nach dem Erdbeben von Liſſabon,
die Guͤte Gottes einigermaßen verdaͤchtig
geworden war, ſo fing ich nun, wegen Fried¬
richs des zweyten, die Gerechtigkeit des
Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬
muͤth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬
neigt, und es gehoͤrte eine große Erſchuͤtte¬
rung dazu, um meinen Glauben an irgend
ein Ehrwuͤrdiges wanken zu machen. Leider
hatte man uns die guten Sitten, ein anſtaͤn¬
diges Betragen, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern
um der Leute willen anempfohlen; was die
Leute ſagen wuͤrden, hieß es immer, und
ich dachte, die Leute muͤßten auch rechte
Leute ſeyn, wuͤrden auch Alles und Jedes
zu ſchaͤtzen wiſſen. Nun aber erfuhr ich das
Gegentheil. Die groͤßten und augenfaͤlligſten
Verdienſte wurden geſchmaͤht und angefein¬
det, die hoͤchſten Thaten wo nicht gelaͤugnet
doch wenigſtens entſtellt und verkleinert; und
ein ſo ſchnoͤdes Unrecht geſchah dem einzigen,
offenbar uͤber alle ſeine Zeitgenoſſen erhabenen
Manne, der taͤglich bewies und darthat was
er vermoͤge; und dieß nicht etwa vom Poͤbel,
ſondern von vorzuͤglichen Maͤnnern, wofuͤr ich
doch meinen Großvater und meine Oheime zu
halten hatte. Daß es Parteyen geben koͤnne,
ja daß er ſelbſt zu einer Partey gehoͤrte, davon
hatte der Knabe keinen Begriff. Er glaubte
um ſo viel mehr Recht zu haben und ſeine
Geſinnung fuͤr die beſſere erklaͤren zu duͤrfen,
da er und die Gleichgeſinnten Marien There¬
ſien, ihre Schoͤnheit und uͤbrigen guten Eigen¬
ſchaften ja gelten ließen, und dem Kaiſer Franz
ſeine Juwelen- und Geldliebhaberen weiter
auch nicht verargten; daß Graf Daun manch¬
mal eine Schlafmuͤtze geheißen wurde, glaub¬
ten ſie verantworten zu koͤnnen.
Bedenke ich es aber jetzt genauer, ſo fin¬
de ich hier den Keim der Nichtachtung, ja
der Verachtung des Publicums, die mir eine
ganze Zeit meines Lebens anhing und nur
ſpaͤt durch Einſicht und Bildung, ins Gleich¬
l. 7
gebracht werden konnte. Genug, ſchon da¬
mals war das Gewahrwerden parteyiſcher
Ungerechtigkeit dem Knaben ſehr unangenehm,
ja ſchaͤdlich, indem es ihn gewoͤhnte, ſich von
geliebten und geſchaͤtzten Perſonen zu entfernen.
Die immer auf einander folgenden Kriegs¬
thaten und Begebenheiten ließen den Par¬
teyen weder Ruhe noch Raſt. Wir fanden
ein verdrießliches Behagen, jene eingebildeten
Uebel und willkuͤhrlichen Haͤndel immer von
friſchem wieder zu erregen und zu ſchaͤrfen,
und ſo fuhren wir fort uns unter einander zu
quaͤlen, bis einige Jahre darauf die Franzo¬
ſen Frankfurt beſetzten und uns wahre Unbe¬
quemlichkeit in die Haͤuſer brachten.
Ob nun gleich die Meiſten ſich dieſer wich¬
tigen, in der Ferne vorgehenden Ereigniſſe
nur zu einer leidenſchaftlichen Unterhaltung
bedienten; ſo waren doch auch andre, welche
den Ernſt dieſer Zeiten wohl einſahen, und
befuͤrchteten, daß bey einer Theilnahme Frank¬
reichs der Kriegs-Schauplatz ſich auch in un¬
ſern Gegenden aufthun koͤnne. Man hielt
uns Kinder mehr als bisher zu Hauſe, und
ſuchte uns auf mancherley Weiſe zu beſchaͤfti¬
gen und zu unterhalten. Zu ſolchem Ende
hatte man das von der Großmutter hinter¬
laſſene Puppenſpiel wieder aufgeſtellt, und
zwar dergeſtalt eingerichtet, daß die Zuſchauer
in meinem Giebelzimmer ſitzen, die ſpielenden
und dirigirenden Perſonen aber, ſo wie das
Theater ſelbſt vom Proſcenium an, in einem
Nebenzimmer Platz und Raum fanden. Durch
die beſondere Verguͤnſtigung, bald dieſen bald
jenen Knaben als Zuſchauer einzulaſſen, er¬
warb ich mir anfangs viele Freunde; allein
die Unruhe, die in den Kindern ſteckt, ließ
ſie nicht lange geduldige Zuſchauer bleiben.
Sie ſtoͤrten das Spiel, und wir mußten uns
ein juͤngeres Publicum ausſuchen, das noch
allenfalls durch Ammen und Maͤgde in der
Ordnung gehalten werden konnte. Wir hat¬
ten das urſpruͤngliche Hauptdrama, worauf
7 *
die Puppengeſellſchaft eigentlich eingerichtet
war, auswendig gelernt, und fuͤhrten es an¬
fangs auch ausſchließlich auf; allein dieß er¬
muͤdete uns bald, wir veraͤnderten die Gar¬
derobe, die Decorationen, und wagten uns
an verſchiedene Stuͤcke, die freylich fuͤr einen
ſo kleinen Schauplatz zu weitlaͤuftig waren.
Ob wir uns nun gleich durch dieſe Anma¬
ßung dasjenige was wir wirklich haͤtten leiſten
koͤnnen, verkuͤmmerten und zuletzt gar zerſtoͤr¬
ten; ſo hat doch dieſe kindliche Unterhaltung
und Beſchaͤftigung auf ſehr mannigfaltige
Weiſe bey mir das Erfindungs- und Dar¬
ſtellungsvermoͤgen, die Einbildungskraft und
eine gewiſſe Technik geuͤbt und befoͤrdert, wie
es vielleicht auf keinem andern Wege, in
ſo kurzer Zeit, in einem ſo engen Raume,
mit ſo wenigem Aufwand haͤtte geſchehen
koͤnnen.
Ich hatte fruͤh gelernt mit Zirkel und
Lineal umzugehen, indem ich den ganzen Un¬
terricht, den man uns in der Geometrie er¬
theilte, ſogleich in das Thaͤtige verwandte,
und Pappenarbeiten konnten mich hoͤchlich be¬
ſchaͤftigen. Doch blieb ich nicht bey geome¬
triſchen Koͤrpern, bey Kaͤſtchen und ſolchen
Dingen ſtehen, ſondern erſann mir artige
Luſthaͤuſer, welche mit Pilaſtern, Freytreppen
und flachen Daͤchern ausgeſchmuͤckt wurden;
wovon jedoch wenig zu Stande kam.
Weit beharrlicher hingegen war ich, mit
Huͤlfe unſers Bedienten, eines Schneiders
von Profeſſion, eine Ruͤſtkammer auszuſtat¬
ten, welche zu unſern Schau- und Trauer¬
ſpielen dienen ſollte, die wir, nachdem wir
den Puppen uͤber den Kopf gewachſen waren,
ſelbſt aufzufuͤhren Luſt hatten. Meine Ge¬
ſpielen verfertigten ſich zwar auch ſolche Ruͤ¬
ſtungen und hielten ſie fuͤr eben ſo ſchoͤn und
gut als die meinigen; allein ich hatte es
nicht bey den Beduͤrfniſſen Einer Perſon
bewenden laſſen, ſondern konnte mehrere des
kleinen Heeres mit allerley Requiſiten aus¬
ſtatten, und machte mich daher unſerm klei¬
nen Kreiſe immer nothwendiger. Daß ſolche
Spiele auf Parteyungen, Gefechte und Schlaͤ¬
ge hinwieſen, und gewoͤhnlich auch mit Haͤn¬
deln und Verdruß ein ſchreckliches Ende nah¬
men, laͤßt ſich denken. In ſolchen Faͤllen
hielten gewoͤhnlich gewiſſe beſtimmte Geſpielen
an mir, andre auf der Gegenſeite, ob es
gleich oͤfter manchen Parteywechſel gab. Ein
einziger Knabe, den ich Pylades nennen
will, verließ nur ein einzigmal, von den an¬
dern aufgehetzt, meine Partey, konnte es aber
kaum eine Minute aushalten, mir feindſelig
gegenuͤber zu ſtehen; wir verſoͤhnten uns un¬
ter vielen Thraͤnen, und haben eine ganze
Weile treulich zuſammen gehalten.
Dieſen ſo wie andre Wohlwollende konnte
ich ſehr gluͤcklich machen, wenn ich ihnen
Maͤhrchen erzaͤhlte, und beſonders liebten ſie,
wenn ich in eigner Perſon ſprach, und hat¬
ten eine große Freude, daß mir als ihrem
Geſpielen ſo wunderliche Dinge koͤnnten be¬
gegnet ſeyn, und dabey gar kein Arges, wie
ich Zeit und Raum zu ſolchen Abenteuern
finden koͤnnen, da ſie doch ziemlich wußten,
wie ich beſchaͤftigt war, und wo ich aus und
einging. Nicht weniger waren zu ſolchen
Begebenheiten Localitaͤten, wo nicht aus ei¬
ner andern Welt, doch gewiß aus einer an¬
dern Gegend noͤthig, und alles war doch erſt
heut oder geſtern geſchehen. Sie mußten ſich
daher mehr ſelbſt betruͤgen, als ich ſie zum
beſten haben konnte. Und wenn ich nicht
nach und nach, meinem Naturell gemaͤß,
dieſe Luftgeſtalten und Windbeuteleyen zu
kunſtmaͤßigen Darſtellungen haͤtte verarbeiten
lernen; ſo waͤren ſolche aufſchneideriſche An¬
faͤnge gewiß nicht ohne ſchlimme Folgen fuͤr
mich geblieben.
Betrachtet man dieſen Trieb recht genau,
ſo moͤchte man in ihm diejenige Anmaßung
erkennen, womit der Dichter ſelbſt das Un¬
wahrſcheinlichſte gebieteriſch ausſpricht, und von
einem Jeden fordert, er ſolle dasjenige fuͤr
wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder,
auf irgend eine Weiſe als wahr erſcheinen
konnte.
Was jedoch hier nur im Allgemeinen und
betrachtungsweiſe vorgetragen worden, wird
vielleicht durch ein Beyſpiel, durch ein Mu¬
ſterſtuͤck angenehmer und anſchaulicher werden.
Ich fuͤge daher ein ſolches Maͤhrchen bey,
welches mir, da ich es meinen Geſpielen oft
wiederholen mußte, noch ganz wohl vor der
Einbildungskraft und im Gedaͤchtniß ſchwebt.
Der neue Paris,
Knabenmaͤhrchen.
Mir traͤumte neulich in der Nacht vor
Pfingſtſonntag, als ſtuͤnde ich vor einem Spie¬
gel und beſchaͤftigte mich mit den neuen Som¬
merkleidern, welche mir die lieben Aeltern
auf das Feſt hatten machen laſſen. Der An¬
zug beſtand, wie ihr wißt, in Schuhen von
ſauberem Leder, mit großen ſilbernen Schnal¬
len, feinen baumwollnen Struͤmpfen, ſchwar¬
zen Unterkleidern von Sarſche, und einem
Rock von gruͤnem Berkan mit goldnen Bal¬
letten. Die Weſte dazu, von Goldſtoff, war
aus meines Vaters Braͤutigamsweſte geſchnit¬
ten. Ich war friſirt und gepudert, die Lo¬
cken ſtanden mir wie Fluͤgelchen vom Kopfe;
aber ich konnte mit dem Anziehen nicht fer¬
tig werden, weil ich immer die Kleidungs¬
ſtuͤcke verwechſelte, und weil mir immer das
erſte vom Leibe fiel, wenn ich das zweyte
umzunehmen gedachte. In dieſer großen Ver¬
legenheit trat ein junger ſchoͤner Mann zu
mir und begruͤßte mich aufs freundlichſte.
Ey, ſeyd mir willkommen! ſagte ich: es iſt
mir ja gar lieb, daß ich Euch hier ſehe. —
„Kennt Ihr mich denn?“ verſetzte jener laͤ¬
chelnd. — Warum nicht? war meine gleich¬
falls laͤchelnde Antwort. Ihr ſeyd Merkur,
und ich habe Euch oft genug abgebildet ge¬
ſehen. — „Das bin ich, ſagte jener, und
von den Goͤttern mit einem wichtigen Auf¬
trag an dich geſandt. Siehſt du dieſe drey
Aepfel?“ — Er reichte ſeine Hand her und
zeigte mir drey Aepfel, die ſie kaum faſſen
konnte, und die eben ſo wunderſam ſchoͤn als
groß waren, und zwar der eine von rother,
der andere von gelber, der dritte von gruͤner
Farbe. Man mußte ſie fuͤr Edelſteine hal¬
ten, denen man die Form von Fruͤchten ge¬
geben. Ich wollte darnach greifen; er aber
zog zuruͤck und ſagte: „Du mußt erſt wiſſen,
daß ſie nicht fuͤr dich ſind. Du ſollſt ſie
den drey ſchoͤnſten jungen Leuten von der
Stadt geben, welche ſodann, jeder nach ſei¬
nem Looſe, Gattinnen finden ſollen, wie ſie
ſolche nur wuͤnſchen koͤnnen. Nimm, und
mach deine Sachen gut!“ ſagte er ſcheidend,
und gab mir die Aepfel in meine offnen
Haͤnde; ſie ſchienen mir noch groͤßer gewor¬
den zu ſeyn. Ich hielt ſie darauf in die Hoͤ¬
he, gegen das Licht, und fand ſie ganz durch¬
ſichtig; aber gar bald zogen ſie ſich aufwaͤrts
in die Laͤnge und wurden zu drey ſchoͤnen,
ſchoͤnen Frauenzimmerchen in maͤßiger Pup¬
pengroͤße, deren Kleider von der Farbe der
vorherigen Aepfel waren. So gleiteten ſie
ſacht an meinen Fingern hinauf, und als ich
nach ihnen haſchen wollte, um wenigſtens
eine feſtzuhalten, ſchwebten ſie ſchon weit in
der Hoͤhe und Ferne, daß ich nichts als das
Nachſehen hatte. Ich ſtand ganz verwundert
und verſteinert da, hatte die Haͤnde noch in
der Hoͤhe und beguckte meine Finger, als
waͤre daran etwas zu ſehen geweſen. Aber
mit einmal erblickte ich auf meinen Finger¬
ſpitzen ein allerliebſtes Maͤdchen herumtanzen,
kleiner als jene, aber gar niedlich und mun¬
ter; und weil ſie nicht wie die andern fort¬
flog, ſondern verweilte, und bald auf dieſe
bald auf jene Fingerſpitze tanzend hin und
her trat; ſo ſah ich ihr eine Zeit lang ver¬
wundert zu. Da ſie mir aber gar ſo wohl
gefiel, glaubte ich ſie endlich haſchen zu koͤn¬
nen und dachte geſchickt genug zuzugreifen;
allein in dem Augenblick fuͤhlte ich einen
Schlag an den Kopf, ſo daß ich ganz be¬
taͤubt niederfiel, und aus dieſer Betaͤubung
nicht eher erwachte, als bis es Zeit war
mich anzuziehen und in die Kirche zu gehen.
Unter dem Gottesdienſt wiederholte ich
mir jene Bilder oft genug; auch am gro߬
aͤlterlichen Tiſche, wo ich zu Mittag ſpeiſte.
Nachmittags wollte ich einige Freunde be¬
ſuchen, ſowohl um mich in meiner neuen
Kleidung, den Hut unter dem Arm und den
Degen an der Seite, ſehen zu laſſen, als
auch weil ich ihnen Beſuche ſchuldig war.
Ich fand Niemanden zu Hauſe, und da
ich hoͤrte, daß ſie in die Gaͤrten gegangen;
ſo gedachte ich ihnen zu folgen und den
Abend vergnuͤgt zuzubringen. Mein Weg
fuͤhrte mich den Zwinger hin, und ich kam
in die Gegend, welche mit Recht den Namen
ſchlimme Mauer fuͤhrt: denn es iſt dort
niemals ganz geheuer. Ich ging nur lang¬
ſam und dachte an meine drey Goͤttinnen,
beſonders aber an die kleine Nymphe, und
hielt meine Finger manchmal in die Hoͤhe,
in Hoffnung ſie wuͤrde ſo artig ſeyn, wieder
darauf zu balanciren. In dieſen Gedanken
vorwaͤrts gehend erblickte ich, linker Hand,
in der Mauer ein Pfoͤrtchen, das ich mich
nicht erinnerte je geſehen zu haben. Es
ſchien niedrig, aber der Spitzbogen druͤber
haͤtte den groͤßten Mann hindurch gelaſſen.
Bogen und Gewaͤnde waren aufs zierlichſte
vom Steinmetz und Bildhauer ausgemeißelt,
die Thuͤre ſelbſt aber zog erſt recht meine
Aufmerkſamkeit an ſich. Braunes uraltes
Holz, nur wenig verziert, war mit breiten,
ſowohl erhaben als vertieft gearbeiteten Baͤn¬
dern von Erz beſchlagen, deren Laubwerk,
worin die natuͤrlichſten Voͤgel ſaßen, ich
nicht genug bewundern konnte. Doch was
mir das merkwuͤrdigſte ſchien, kein Schluͤſſel¬
loch war zu ſehen, keine Klinke, kein Klop¬
fer, und ich vermuthete daraus, daß dieſe
Thuͤre nur von innen aufgemacht werde.
Ich hatte mich nicht geirrt: denn als ich ihr
naͤher trat, um die Zieraten zu befuͤhlen,
that ſie ſich hineinwaͤrts auf, und es erſchien
ein Mann, deſſen Kleidung etwas Langes,
Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehr¬
wuͤrdiger Bart umwoͤlkte ſein Kinn; daher
ich ihn fuͤr einen Juden zu halten geneigt
war. Er aber, eben als wenn er meine Ge¬
danken errathen haͤtte, machte das Zeichen
des heiligen Kreuzes, wodurch er mir zu
erkennen gab, daß er ein guter catholiſcher
Chriſt ſey. — „Junger Herr, wie kommt
Ihr hieher, und was macht Ihr da?“ ſagte
er mit freundlicher Stimme und Gebaͤrde. —
Ich bewundre, verſetzte ich, die Arbeit dieſer
Pforte: denn ich habe dergleichen noch nie¬
mals geſehen; es muͤßte denn ſeyn auf klei¬
nen Stuͤcken in den Kunſtſammlungen der
Liebhaber. — „Es freut mich, verſetzte er
darauf daß Ihr ſolche Arbeit liebt. In¬
wendig iſt die Pforte noch viel ſchoͤner: tre¬
tet herein, wenn es Euch gefaͤllt.“ Mir
war bey der Sache nicht ganz wohl zu Mu¬
the. Die wunderliche Kleidung des Pfoͤrt¬
ners, die Abgelegenheit und ein ſonſt ich
weiß nicht was, das in der Luft zu liegen
ſchien, beklemmte mich. Ich verweilte daher,
unter dem Vorwande die Außenſeite noch
laͤnger zu betrachten, und blickte dabey ver¬
ſtohlen in den Garten: denn ein Garten war
es, der ſich vor mir eroͤffnet hatte. Gleich
hinter der Pforte ſah ich einen großen beſchat¬
teten Platz; alte Linden, regelmaͤßig von
einander abſtehend, bedeckten ihn voͤllig mit
ihren dicht in einander greifenden Aeſten, ſo
daß die zahlreichſten Geſellſchaften in der
groͤßten Tageshitze ſich darunter haͤtten erqui¬
cken koͤnnen. Schon war ich auf die Schwelle
getreten, und der Alte wußte mich immer
um einen Schritt weiter zu locken. Ich
widerſtand auch eigentlich nicht: denn ich
hatte jederzeit gehoͤrt, daß ein Prinz oder
Sultan in ſolchem Falle niemals fragen muͤſſe,
ob Gefahr vorhanden ſey. Hatte ich doch
auch meinen Degen an der Seite; und ſollte
ich mit dem Alten nicht fertig werden, wenn
er ſich feindlich erweiſen wollte? Ich trat alſo
ganz geſichert hinein; der Pfoͤrtner druͤckte
die Thuͤre zu, die ſo leiſe einſchnappte, daß
ich es kaum ſpuͤrte. Nun zeigte er mir die
inwendig angebrachte, wirklich noch viel kunſt¬
reichere Arbeit, legte ſie mir aus, und bewies
mir dabey ein beſonderes Wohlwollen. Hie¬
durch nun voͤllig beruhigt, ließ ich mich in
dem belaubten Raume an der Mauer, die
ſich ins Runde, zog, weiter fuͤhren, und fand
manches an ihr zu bewundern. Niſchen,
mit Muſcheln, Corallen und Metallſtufen
kuͤnſtlich ausgeziert, gaben aus Tritonenmaͤu¬
lern reichliches Waſſer in marmorne Becken;
dazwiſchen waren Vogelhaͤuſer angebracht und
andre Vergitterungen, worin Eichhoͤrnchen
herumhuͤpften, Meerſchweinchen hin und wie¬
der liefen, und was man nur ſonſt von arti¬
gen Geſchoͤpfen wuͤnſchen kann. Die Voͤgel
riefen und ſangen uns an, wie wir vorſchrit¬
ten; die Staare beſonders ſchwaͤtzten das
naͤrriſchſte Zeug; der eine rief immer: Paris,
Paris, und der andre: Narciß, Narciß, ſo
deutlich als es ein Schulknabe nur ausſpre¬
chen kann. Der Alte ſchien mich immer
ernſthaft anzuſehen, indem die Voͤgel dieſes
riefen; ich that aber nicht als wenn ich's
merkte, und hatte auch wirklich nicht Zeit
I. 8
auf ihn Acht zu geben: denn ich konnte wohl
gewahr werden, daß wir in die Runde gin¬
gen, und daß dieſer beſchattete Raum eigent¬
lich ein großer Kreis ſey, der einen andern
viel bedeutendern umſchließe. Wir waren
auch wirklich wieder bis ans Pfoͤrtchen
gelangt, und es ſchien als wenn der Alte
mich hinauslaſſen wolle; allein meine Augen
blieben auf ein goldnes Gitter gerichtet,
welches die Mitte dieſes wunderbaren Gar¬
tens zu umzaͤunen ſchien, und das ich auf
unſerm Gange hinlaͤnglich zu beobachten Gele¬
genheit fand, ob mich der Alte gleich immer
an der Mauer und alſo ziemlich entfernt
von der Mitte zu halten wußte. Als er nun
eben auf das Pfoͤrtchen los ging, ſagte ich
zu ihm, mit einer Verbeugung: Ihr ſeyd ſo
aͤußerſt gefaͤllig gegen mich geweſen, daß ich
wohl noch eine Bitte wagen moͤchte, ehe ich
von Euch ſcheide. Duͤrfte ich nicht jenes
goldne Gitter naͤher beſehen, das in einem
ſehr weiten Kreiſe das Innere des Gartens
einzuſchließen ſcheint? — „Recht gern, ver¬
ſetzte jener; aber ſodann muͤßt Ihr Euch
einigen Bedingungen unterwerfen.“ — Wor¬
in beſtehen ſie? fragte ich haſtig. — „Ihr
muͤßt Euren Hut und Degen hier zuruͤck¬
laſſen, und duͤrft mir nicht von der Hand,
indem ich Euch begleite.“ — Herzlich gern!
erwiederte ich, und legte Hut und Degen auf
die erſte beſte ſteinerne Bank. Sogleich
ergriff er mit ſeiner Rechten meine Linke,
hielt ſie feſt, und fuͤhrte mich mit einiger
Gewalt gerade vorwaͤrts. Als wir ans Git¬
ter kamen, verwandelte ſich meine Verwunde¬
rung in Erſtaunen: ſo etwas hatte ich nie
geſehen. Auf einem hohen Sockel von Mar¬
mor ſtanden unzaͤhlige Spieße und Partiſa¬
nen neben einander gereiht, die durch ihre
ſeltſam verzierten oberen Enden zuſammenhin¬
gen und einen ganzen Kreis bildeten. Ich
ſchaute durch die Zwiſchenraͤume, und ſah gleich
dahinter ein ſanft fließendes Waſſer, auf
beyden Seiten mit Marmor eingefaßt, das
8 *
in ſeinen klaren Tiefen eine große Anzahl
von Gold- und Silberfiſchen ſehen ließ, die
ſich bald ſachte bald geſchwind, bald einzeln
bald zugweiſe, hin und her bewegten. Nun
haͤtte ich aber auch gern uͤber den Canal
geſehen, um zu erfahren, wie es in dem
Herzen des Gartens beſchaffen ſey, allein da
fand ich zu meiner großen Betruͤbniß, daß
an der Gegenſeite das Waſſer mit einem
gleichen Gitter eingefaßt war, und zwar ſo
kuͤnſtlicher Weiſe, daß auf einen Zwiſchenraum
dieſſeits gerade ein Spieß oder eine Parti¬
ſane jenſeits paßte, und man alſo, die uͤbri¬
gen Zieraten mitgerechnet, nicht hindurchſehen
konnte, man mochte ſich ſtellen wie man
wollte. Ueberdieß hinderte mich der Alte,
der mich noch immer feſthielt, daß ich mich
nicht frey bewegen konnte. Meine Neugier
wuchs indeß, nach allem was ich geſehen,
immer mehr, und ich nahm mir ein Herz,
den Alten zu fragen, ob man nicht auch
hinuͤber kommen koͤnne. — „Warum nicht?
verſetzte jener; aber auf neue Bedingun¬
gen.“ — Als ich nach dieſen fragte, gab er
mir zu erkennen, daß ich mich umkleiden
muͤſſe. Ich war es ſehr zufrieden; er fuͤhrte
mich zuruͤck nach der Mauer in einen kleinen
reinlichen Saal, an deſſen Waͤnden mancher¬
ley Kleidungen hingen, die ſich ſaͤmmtlich
dem orientaliſchen Coſtum zu naͤhern ſchienen.
Ich war geſchwind umgekleidet; er ſtreifte
meine gepuderten Haare unter ein buntes
Netz, nachdem er ſie zu meinem Entſetzen
gewaltig ausgeſtaͤubt hatte. Nun fand ich
mich vor einem großen Spiegel in meiner
Vermummung gar huͤbſch, und gefiel mir
beſſer als in meinem ſteifen Sonntagskleide.
Ich machte einige Gebaͤrden und Spruͤnge,
wie ich ſie von den Taͤnzern auf dem Me߬
theater geſehen hatte. Unter dieſem ſah ich
in den Spiegel und erblickte zufaͤllig das Bild
einer hinter mir befindlichen Niſche. Auf
ihrem weißen Grunde hingen drey gruͤne
Strickchen, jedes in ſich auf eine Weiſe ver¬
ſchlungen, die mir in der Ferne nicht deutlich
werden wollte. Ich kehrte mich daher etwas
haſtig um, und fragte den Alten nach der
Niſche ſo wie nach den Strickchen. Er,
ganz gefaͤllig, holte eins herunter und zeigte
es mir. Es war eine gruͤnſeidene Schnur
von maͤßiger Staͤrke, deren beyde Enden
durch ein zwiefach durchſchnittenes gruͤnes
Leder geſchlungen, ihr das Anſehn gaben,
als ſey es ein Werkzeug zu einem eben
nicht ſehr erwuͤnſchten Gebrauch. Die Sache
ſchien mir bedenklich, und ich fragte den Alten
nach der Bedeutung. Er antwortete mir ganz
gelaſſen und guͤtig: es ſey dieſes fuͤr diejeni¬
gen, welche das Vertrauen misbrauchten,
das man ihnen hier zu ſchenken bereit ſey.
Er hing die Schnur wieder an ihre Stelle
und verlangte ſogleich, daß ich ihm folgen
ſolle: denn dießmal faßte er mich nicht an,
und ſo ging ich frey neben ihm her.
Meine groͤßte Neugier war nunmehr, wo
die Thuͤre, wo die Bruͤcke ſeyn moͤchte, um
durch das Gitter, um uͤber den Canal zu
kommen: denn ich hatte dergleichen bis jetzt
noch nicht ausfindig machen koͤnnen. Ich
betrachtete daher die goldene Umzaͤunung ſehr
genau, als wir darauf zueilten; allein au¬
genblicklich verging mir das Geſicht: denn
unerwartet begannen Spieße, Speere, Helle¬
barden, Partiſanen ſich zu ruͤtteln und zu ſchuͤt¬
teln, und dieſe ſeltſame Bewegung endigte
damit, daß die ſaͤmmtlichen Spitzen ſich gegen
einander ſenkten, eben als wenn zwey alter¬
thuͤmliche, mit Piken bewaffnete Heerhaufen
gegen einander losgehen wollten. Die Ver¬
wirrung fuͤrs Auge, das Geklirr fuͤr die Oh¬
ren, war kaum zu ertragen, aber unendlich
uͤberraſchend der Anblick, als ſie voͤllig nie¬
dergelaſſen den Kreis des Canals bedeckten
und die herrlichſte Bruͤcke bildeten, die man
ſich denken kann: denn nun lag das bunte¬
ſte Gartenparterre vor meinem Blick. Es
war in verſchlungene Beete getheilt, welche
zuſammen betrachtet ein Labyrinth von Zie¬
raten bildeten; alle mit gruͤnen Einfaſſungen
von einer niedrigen, wollig wachſenden Pflan¬
ze, die ich nie geſehen; alle mit Blumen,
jede Abtheilung von verſchiedener Farbe, die
ebenfalls niedrig und am Boden, den vorge¬
zeichneten Grundriß leicht verfolgen ließen.
Dieſer koͤſtliche Anblick, den ich in vollem
Sonnenſchein genoß, feſſelte ganz meine Au¬
gen; aber ich wußte faſt nicht, wo ich den
Fuß hinſetzen ſollte: denn die ſchlaͤngelnden
Wege waren aufs reinlichſte von blauem Sande
gezogen, der einen dunklern Himmel, oder
einen Himmel im Waſſer, an der Erde zu
bilden ſchien; und ſo ging ich, die Augen
auf den Boden gerichtet, eine Zeit lang ne¬
ben meinem Fuͤhrer, bis ich zuletzt gewahr
ward, daß in der Mitte von dieſem Beeten-
und Blumen-Rund ein großer Kreis von
Cypreſſen oder pappelartigen Baͤumen ſtand,
durch den man nicht hindurchſehen konnte,
weil die unterſten Zweige aus der Erde her¬
vorzutreiben ſchienen. Mein Fuͤhrer, ohne
mich gerade auf den naͤchſten Weg zu draͤn¬
gen, leitete mich doch unmittelbar nach jener
Mitte, und wie war ich uͤberraſcht! als ich
in den Kreis der hohen Baͤume tretend, die
Saͤulenhalle eines koͤſtlichen Gartengebaͤudes
vor mir ſah, das nach den uͤbrigen Seiten
hin aͤhnliche Anſichten und Eingaͤnge zu ha¬
ben ſchien. Noch mehr aber als dieſes Mu¬
ſter der Baukunſt entzuͤckte mich eine himm¬
liſche Muſik, die aus dem Gebaͤude hervor¬
drang. Bald glaubte ich eine Laute, bald
eine Harfe, bald eine Zither zu hoͤren, und
bald noch etwas Klimperndes, das keinem
von dieſen drey Inſtrumenten gemaͤß war.
Die Pforte, auf die wir zu gingen, eroͤffnete
ſich bald nach einer leiſen Beruͤhrung des
Alten; aber wie erſtaunt war ich, als die
heraustretende Pfoͤrtnerinn ganz vollkommen
dem niedlichen Maͤdchen glich, das mir im
Traume auf den Fingern getanzt hatte. Sie
gruͤßte mich auch auf eine Weiſe, als wenn
wir ſchon bekannt waͤren, und bat mich her¬
einzutreten. Der Alte blieb zuruͤck, und ich
ging mit ihr durch einen gewoͤlbten und ſchoͤn
verzierten kurzen Gang nach dem Mittelſaal,
deſſen herrliche domartige Hoͤhe beym Ein¬
tritt meinen Blick auf ſich zog und mich in
Verwunderung ſetzte. Doch konnte mein
Auge nicht lange dort verweilen, denn es
ward durch ein reizenderes Schauſpiel herab¬
gelockt. Auf einem Teppich, gerade unter
der Mitte der Kuppel, ſaßen drey Frauen¬
zimmer im Dreyeck, in drey verſchiedene
Farben gekleidet, die eine roth, die andre
gelb, die dritte gruͤn; die Seſſel waren ver¬
goldet, und der Teppich ein vollkommenes
Blumenbeet. In ihren Armen lagen die
drey Inſtrumente, die ich draußen hatte un¬
terſcheiden koͤnnen: denn durch meine Ankunft
geſtoͤrt, hatten ſie mit ſpielen inne gehal¬
ten. — „Seyd uns willkommen!“ ſagte die
mittlere, die naͤmlich, welche mit dem Ge¬
ſicht nach der Thuͤre ſaß, im rothen Kleide
und mit der Harfe. „Setzt Euch zu Aler¬
ten und hoͤrt zu, wenn Ihr Liebhaber von
der Muſik ſeyd.“ Nun ſah' ich erſt, daß
unten quer vor ein ziemlich langes Baͤnkchen
ſtand, worauf eine Mandoline lag. Das
artige Maͤdchen nahm ſie auf, ſetzte ſich und
zog mich an ihre Seite. Jetzt betrachtete
ich auch die zweyte Dame zu meiner Rech¬
ten; ſie hatte das gelbe Kleid an, und eine
Zither in der Hand; und wenn jene Harfen¬
ſpielerinn anſehnlich von Geſtalt, groß von
Geſichtszuͤgen, und in ihrem Betragen maje¬
ſtaͤtisch war, ſo konnte man der Zitherſpiele¬
rinn ein leicht anmuthiges, heitres Weſen
anmerken. Sie war eine ſchlanke Blondine,
da jene dunkelbraunes Haar ſchmuͤckte. Die
Mannigfaltigkeit und Uebereinſtimmung ihrer
Muſik konnte mich nicht abhalten, nun auch
die dritte Schoͤnheit im gruͤnen Gewande
zu betrachten, deren Lautenſpiel etwas Ruͤh¬
rendes und zugleich Auffallendes fuͤr mich
hatte. Sie war diejenige, die am meiſten
auf mich Acht zu geben und ihr Spiel an
mich zu richten ſchien; nur konnte ich aus
ihr nicht klug werden: denn ſie kam mir
bald zaͤrtlich, bald wunderlich, bald offen,
bald eigenſinnig vor, je nachdem ſie die Mie¬
nen und ihr Spiel veraͤnderte. Bald ſchien
ſie mich ruͤhren, bald mich necken zu wollen.
Doch mochte ſie ſich ſtellen wie ſie wollte,
ſo gewann ſie mir wenig ab: denn meine
kleine Nachbarinn, mit der ich Ellbogen an
Ellbogen ſaß, hatte mich ganz fuͤr ſich einge¬
nommen; und wenn ich in jenen drey Da¬
men ganz deutlich die Sylphiden meines
Traums und die Farben der Aepfel erblickte,
ſo begriff ich wohl, daß ich keine Urſache
haͤtte ſie feſtzuhalten. Die artige Kleine
haͤtte ich lieber angepackt, wenn mir nur
nicht der Schlag, den ſie mir im Traume
verſetzt hatte, gar zu erinnerlich geweſen
waͤre. Sie hielt ſich bisher mit ihrer Man¬
doline ganz ruhig; als aber ihre Gebieterin¬
nen aufgehoͤrt hatten, ſo befahlen ſie ihr, ei¬
nige luſtige Stuͤckchen zum Beſten zu geben.
Kaum hatte ſie einige Tanzmelodieen gar
aufregend abgeklimpert, ſo ſprang ſie in die
Hoͤhe; ich that das Gleiche. Sie ſpielte
und tanzte; ich ward hingeriſſen ihre Schritte
zu begleiten, und wir fuͤhrten eine Art von
kleinem Ballet auf, womit die Damen zufrie¬
den zu ſeyn ſchienen: denn ſobald wir geen¬
digt, befahlen ſie der Kleinen, mich derweil
mit etwas Gutem zu erquicken, bis das
Nachteſſen herankaͤme. Ich hatte freylich
vergeſſen, daß außer dieſem Paradieſe noch
etwas anderes in der Welt waͤre. Alerte
fuͤhrte mich ſogleich in den Gang zuruͤck,
durch den ich hereingekommen war. An der
Seite hatte ſie zwey wohleingerichtete Zim¬
mer; in dem einen, wo ſie wohnte, ſetzte ſie
mir Orangen, Feigen, Pfirſchen und Trau¬
ben vor, und ich genoß ſowohl die Fruͤchte
fremder Laͤnder, als auch die der erſt kom¬
menden Monate mit großem Appetit. Zucker¬
werk war im Ueberfluß; auch fuͤllte ſie einen
Pocal von geſchliffnem Cryſtall mit ſchaͤumen¬
dem Wein: doch zu trinken bedurfte ich
nicht; denn ich hatte mich an den Fruͤchten
hinreichend gelabt. — „Nun wollen wir
ſpielen,“ ſagte ſie und fuͤhrte mich in das an¬
dere Zimmer. Hier ſah es nun aus wie
auf einem Chriſtmarkt; aber ſo koſtbare und
feine Sachen hat man niemals in einer
Weihnachtsbude geſehen. Da waren alle
Arten von Puppen, Puppenkleidern und Pup¬
pengeraͤthſchaften; Kuͤchen, Wochenſtuben und
Laͤden; und einzelne Spielſachen in Unzahl.
Sie fuͤhrte mich an allen Glasſchraͤnken
herum: denn in ſolchen waren dieſe kuͤnſtlichen
Arbeiten aufbewahrt. Die erſten Schraͤnke
verſchloß ſie aber bald wieder und ſagte:
„Das iſt nichts fuͤr Euch, ich weiß es wohl.
Hier aber, ſagte ſie, koͤnnten wir Baumate¬
rialien finden, Mauern und Thuͤrme, Haͤu¬
ſer, Pallaͤſte, Kirchen, um eine große Stadt
zuſammenzuſtellen. Das unterhaͤlt mich aber
nicht; wir wollen zu etwas anderem greifen,
das fuͤr Euch und mich gleich vergnuͤglich
iſt.“ — Sie brachte darauf einige Kaſten
hervor, in denen ich kleines Kriegsvolk uͤber
einander geſchichtet erblickte, von dem ich
ſogleich bekennen mußte, daß ich niemals ſo
etwas Schoͤnes geſehen haͤtte. Sie ließ mir
die Zeit nicht, das Einzelne naͤher zu be¬
trachten, ſondern nahm den einen Kaſten un¬
ter den Arm, und ich packte den andern auf.
„Wir wollen auf die goldne Bruͤcke gehen,
ſagte ſie; dort ſpielt ſich's am beſten mit
Soldaten: die Spieße geben gleich die Rich¬
tung, wie man die Armeen gegen einander
zu ſtellen hat.“ Nun waren wir auf dem
goldnen ſchwankenden Boden angelangt; un¬
ter mir hoͤrte ich das Waſſer rieſeln und die
Fiſche plaͤtſchern, indem ich niederkniete meine
Linien aufzuſtellen. Es war alles Reiterey,
wie ich nunmehr ſah. Sie ruͤhmte ſich, die
Koͤniginn der Amazonen zum Fuͤhrer ihres
weiblichen Heeres zu beſitzen; ich dagegen
fand den Achill und eine ſehr ſtattliche grie¬
chiſche Reiterey. Die Heere ſtanden gegen
einander, und man konnte nichts ſchoͤneres
ſehen. Es waren nicht etwa flache bleyerne
Reiter, wie die unſrigen, ſondern Mann
und Pferd rund und koͤrperlich, und auf das
feinſte gearbeitet; auch konnte man kaum be¬
greifen, wie ſie ſich im Gleichgewicht hielten:
denn ſie ſtanden fuͤr ſich, ohne ein Fußbrett¬
chen zu haben.
Wir hatten nun Jedes mit großer Selbſt¬
zufriedenheit unſere Heerhaufen beſchaut, als
ſie mir den Angriff verkuͤndigte. Wir hatten
auch Geſchuͤtz in unſern Kaͤſten gefunden;
es waren naͤmlich Schachteln voll kleiner
wohlpolirter Achatkugeln. Mit dieſen ſollten
wir aus einer gewiſſen Entfernung gegen ein¬
ander kaͤmpfen, wobey jedoch ausdruͤcklich be¬
dungen war, daß nicht ſtaͤrker geworfen werde,
als noͤthig ſey die Figuren umzuſtuͤrzen: denn
beſchaͤdigt ſollte keine werden. Wechſelſeitig
ging nun die Canonade los, und im Anfang
wirkte ſie zu unſer beyder Zufriedenheit. Al¬
lein als meine Gegnerinn bemerkte, daß ich
doch beſſer zielte als ſie, und zuletzt den
Sieg, der von der Ueberzahl der ſtehn ge¬
bliebenen abhing, gewinnen moͤchte, trat ſie
naͤher, und ihr maͤdchenhaftes Werfen hatte
denn auch den erwuͤnſchten Erfolg. Sie
ſtreckte mir eine Menge meiner beſten Trup¬
pen nieder, und jemehr ich proteſtirte, deſto
eifriger warf ſie. Dieß verdroß mich zuletzt,
und ich erklaͤrte, daß ich ein Gleiches thun
wuͤrde. Ich trat auch wirklich nicht allein
naͤher heran, ſondern warf im Unmuth viel
heftiger, da es denn nicht lange waͤhrte als
ein paar ihrer kleinen Centaurinnen in Stuͤcke
ſprangen. In ihrem Eifer bemerkte ſie es
nicht gleich; aber ich ſtand verſteinert, als
die zerbrochnen Figuͤrchen ſich von ſelbſt wie¬
der zuſammenfuͤgten, Amazone und Pferd
wieder ein Ganzes, auch zugleich voͤllig leben¬
dig wurden, im Galopp von der goldnen
Bruͤcke unter die Linden ſetzten, und in Car¬
I. 9
riere hin und wieder rennend ſich endlich ge¬
gen die Mauer, ich weiß nicht wie, verloren.
Meine ſchoͤne Gegnerinn war das kaum ge¬
wahr worden, als ſie in ein lautes Weinen
und Jammern ausbrach und rief: daß ich ihr
einen unerſetzlichen Verluſt zugefuͤgt, der weit
groͤßer ſey, als es ſich ausſprechen laſſe. Ich
aber, der ich ſchon erboßt war, freute mich
ihr etwas zu Leide zu thun, und warf noch
ein paar mir uͤbrig gebliebene Achatkugeln
blindlings mit Gewalt unter ihren Heerhau¬
fen. Ungluͤcklicherweiſe traf ich die Koͤni¬
ginn, die bisher bey unſerm regelmaͤßigen
Spiel ausgenommen geweſen. Sie ſprang
in Stuͤcken, und ihre naͤchſten Adjutanten
wurden auch zerſchmettert; aber ſchnell ſtell¬
ten ſie ſich wieder her und nahmen Reißaus
wie die erſten, galoppirten ſehr luſtig unter
den Linden herum und verloren ſich gegen
die Mauer.
Meine Gegnerinn ſchalt und ſchimpfte;
ich aber, nun einmal im Gange, buͤckte mich
einige Achatkugeln aufzuheben, welche an den
goldnen Spießen herumrollten. Mein er¬
grimmter Wunſch war, ihr ganzes Heer zu
vernichten; ſie dagegen nicht faul, ſprang auf
mich los und gab mir eine Ohrfeige, daß
mir der Kopf ſummte. Ich, der ich immer
gehoͤrt hatte, auf die Ohrfeige eines Maͤd¬
chens gehoͤre ein derber Kuß, faßte ſie bey
den Ohren und kuͤßte ſie zu wiederholten Ma¬
len. Sie aber that einen ſolchen durchdrin¬
genden Schrey, der mich ſelbſt erſchreckte;
ich ließ ſie fahren, und das war mein Gluͤck:
denn in dem Augenblick wußte ich nicht wie
mir geſchah. Der Boden unter mir fing
an zu beben und zu raſſeln; ich merkte ge¬
ſchwind, daß ſich die Gitter wieder in Bewe¬
gung ſetzten: allein ich hatte nicht Zeit zu uͤber¬
legen, noch konnte ich Fuß faſſen, um zu fliehen.
Ich fuͤrchtete jeden Augenblick geſpießt zu wer¬
den: denn die Partiſanen und Lanzen, die ſich
aufrichteten, zerſchlitzten mir ſchon die Kleider;
9 *
genug ich weiß nicht wie mir geſchah, mir
verging Hoͤren und Sehen, und ich erholte
mich aus meiner Betaͤubung, von meinem
Schrecken, am Fuß einer Linde, wider den
mich das aufſchnellende Gitter geworfen hatte.
Mit dem Erwachen erwachte auch meine
Bosheit, die ſich noch heftig vermehrte, als
ich von druͤben die Spottworte und das Ge¬
laͤchter meiner Gegnerinn vernahm, die an
der andern Seite, etwas gelinder als ich,
mochte zur Erde gekommen ſeyn. Daher
ſprang ich auf, und als ich rings um mich
das kleine Heer nebſt ſeinem Anfuͤhrer Achill,
welche das auffahrende Gitter mit mir her¬
uͤber geſchnellt hatte, zerſtreut ſah, ergriff
ich den Helden zuerſt und warf ihn wider
einen Baum. Seine Wiederherſtellung und
ſeine Flucht gefielen mir nun doppelt, weil ſich
die Schadenfreude zu dem artigſten Anblick
von der Welt geſellte, und ich war im Begriff
die ſaͤmmtlichen Griechen ihm nachzuſchicken,
als auf einmal ziſchende Waſſer von allen
Seiten her, aus Steinen und Mauern, aus
Boden und Zweigen hervorſpruͤhten, und
wo ich mich hinwendete, kreuzweiſe auf mich
lospeitſchten. Mein leichtes Gewand war in
kurzer Zeit voͤllig durchnaͤßt; zerſchlitzt war
es ſchon, und ich ſaͤumte nicht, es mir ganz
vom Leibe zu reißen. Die Pantoffeln warf
ich von mir, und ſo eine Huͤlle nach der an¬
dern; ja ich fand es endlich bey dem warmen
Tage ſehr angenehm, ein ſolches Strahlbad
uͤber mich ergehen zu laſſen. Ganz nackt ſchritt
ich nun gravitaͤtiſch zwiſchen dieſen willkommen
Gewaͤſſern einher, und dachte mich lange ſo
wohl befinden zu koͤnnen. Mein Zorn verkuͤhlte
ſich, und ich wuͤnſchte nichts mehr als eine
Verſoͤhnung mit meiner kleinen Gegnerinn.
Doch in einem Nu ſchnappten die Waſſer ab,
und ich ſtand nun feucht auf einem durchnaͤßten
Boden. Die Gegenwart des alten Mannes,
der unvermuthet vor mich trat, war mir kei¬
neswegs willkommen; ich haͤtte gewuͤnſcht, mich
wo nicht verbergen, doch wenigſtens verhuͤllen
zu koͤnnen. Die Beſchaͤmung, der Froſtſchauer,
das Beſtreben mich einigermaßen zu bedecken,
ließen mich eine hoͤchſt erbaͤrmliche Figur ſpie¬
len; der Alte benutzte den Augenblick, um
mir die groͤßeſten Vorwuͤrfe zu machen. „Was
hindert mich, rief er aus, daß ich nicht eine
der gruͤnen Schnuren ergreife und ſie, wo
nicht Eurem Hals, doch Eurem Ruͤcken an¬
meſſe!“ Dieſe Drohung nahm ich hoͤchſt
uͤbel. Huͤtet Euch, rief ich aus, vor ſolchen
Worten, ja nur vor ſolchen Gedanken: denn
ſonſt ſeyd Ihr und Eure Gebieterinnen ver¬
loren! — „Wer biſt denn du, fragte er tru¬
tzig, daß du ſo reden darfſt?“ — Ein Lieb¬
ling der Goͤtter, ſagte ich, von dem es ab¬
haͤngt, ob jene Frauenzimmer wuͤrdige Gatten
finden und ein gluͤckliches Leben fuͤhren ſollen,
oder ob er ſie will in ihrem Zauberkloſter ver¬
ſchmachten und veralten laſſen. — Der Alte
trat einige Schritte zuruͤck. „Wer hat dir
das offenbart?“ fragte er erſtaunt und be¬
denklich. — Drey Aepfel, ſagte ich, drey Ju¬
welen. — „Und was verlangſt du zum
Lohn?“ rief er aus. — Vor allen Dingen
das kleine Geſchoͤpf, verſetzte ich, die mich in
dieſen verwuͤnſchten Zuſtand gebracht hat. —
Der Alte warf ſich vor mir nieder, ohne ſich
vor der noch feuchten und ſchlammigen Erde
zu ſcheuen; dann ſtand er auf, ohne benetzt zu
ſeyn, nahm mich freundlich bey der Hand,
fuͤhrte mich in jenen Saal, kleidete mich be¬
hend wieder an, und bald war ich wieder
ſonntaͤgig geputzt und friſirt wie vorher. Der
Pfoͤrtner ſprach kein Wort weiter; aber ehe er
mich uͤber die Schwelle ließ, hielt er mich an,
und deutete mir auf einige Gegenſtaͤnde an der
Mauer druͤben uͤber den Weg, indem er zu¬
gleich ruͤckwaͤrts auf das Pfoͤrtchen zeigte.
Ich verſtand ihn wohl; er wollte naͤmlich, daß
ich mir die Gegenſtaͤnde einpraͤgen moͤchte,
um das Pfoͤrtchen deſto gewiſſer wieder zu
finden, welches ſich unverſehens hinter mir
zuſchloß. Ich merkte mir nun wohl, was mir
gegenuͤber ſtand. Ueber eine hohe Mauer
ragten die Aeſte uralter Nußbaͤume heruͤber,
und bedeckten zum Theil das Geſimms, wo¬
mit ſie endigte. Die Zweige reichten bis an
eine ſteinerne Tafel, deren verzierte Einfaſ¬
ſung ich wohl erkennen, deren Inſchrift ich
aber nicht leſen konnte. Sie ruhte auf dem
Kragſtein einer Niſche, in welcher ein kuͤnſt¬
lich gearbeiteter Brunnen, von Schale zu
Schale, Waſſer in ein großes Becken goß,
das wie einen kleinen Teich bildete und ſich
in die Erde verlor. Brunnen, Inſchrift,
Nußbaͤume, alles ſtand ſenkrecht uͤbereinander;
ich wollte es malen, wie ich es geſehn habe.
Nun laͤßt ſich wohl denken, wie ich dieſen
Abend und manchen folgenden Tag zubrach¬
te, und wie oft ich mir dieſe Geſchichten,
die ich kaum ſelbſt glauben konnte, wieder¬
holte. Sobald mir's nur irgend moͤglich
war, ging ich wieder zur ſchlimmen Mauer,
um wenigſtens jene Merkzeichen im Gedaͤcht¬
niß anzufriſchen und das koͤſtliche Pfoͤrtchen
zu beſchauen. Allein zu meinem groͤßten
Erſtaunen fand ich alles veraͤndert. Nußbaͤu¬
me ragten wohl uͤber die Mauer, aber ſie
ſtanden nicht unmittelbar neben einander. Ei¬
ne Tafel war auch eingemauert, aber von den
Baͤumen weit rechts, ohne Verzierung, und
mit einer leſerlichen Inſchrift. Eine Niſche
mit einem Brunnen findet ſich weit links, der
aber jenem, den ich geſehen, durchaus nicht
zu vergleichen iſt; ſo daß ich beynahe glauben
muß, das zweyte Abenteuer ſey ſo gut als
das erſte ein Traum geweſen: denn von dem
Pfoͤrtchen findet ſich uͤberhaupt gar keine Spur.
Das Einzige was mich troͤſtet, iſt die Be¬
merkung, daß jene drey Gegenſtaͤnde ſtets
den Ort zu veraͤndern ſcheinen: denn bey wie¬
derholtem Beſuch jener Gegend glaube ich be¬
merkt zu haben, daß die Nußbaͤume etwas
zuſammenruͤcken, und daß Tafel und Brunnen
ſich ebenfalls zu naͤhern ſcheinen. Wahrſchein¬
lich, wenn alles wieder zuſammentrifft, wird
auch die Pforte von neuem ſichtbar ſeyn,
und ich werde mein Moͤgliches thun, das
Abenteuer wieder anzuknuͤpfen. Ob ich Euch
erzaͤhlen kann, was weiter begegnet, oder ob
es mir ausdruͤcklich verboten wird, weiß ich
nicht zu ſagen.
Dieſes Maͤhrchen, von deſſen Wahrheit
meine Geſpielen ſich leidenſchaftlich zu uͤber¬
zeugen trachteten, erhielt großen Beyfall. Sie
beſuchten, Jeder allein, ohne es mir oder
den andern zu vertrauen, den angedeuteten
Ort, fanden die Nußbaͤume, die Tafel und
den Brunnen, aber immer entfernt von ein¬
ander: wie ſie zuletzt bekannten, weil man
in jenen Jahren nicht gern ein Geheim¬
niß verſchweigen mag. Hier ging aber der
Streit erſt an. Der Eine verſicherte: die
Gegenſtaͤnde ruͤckten nicht vom Flecke und blie¬
ben immer in gleicher Entfernung unter ein¬
ander. Der Zweyte behauptete: ſie beweg¬
ten ſich, aber ſie entfernten ſich von einander.
Mit dieſem war der Dritte uͤber den erſten
Punct der Bewegung einſtimmig, doch ſchie¬
nen ihm Nußbaͤume, Tafel und Brunnen
ſich vielmehr zu naͤhern. Der Vierte wollte
noch was merkwuͤrdigeres geſehen haben: die
Nußbaͤume naͤmlich in der Mitte, die Tafel
aber und den Brunnen auf den entgegen¬
geſetzten Seiten als ich angegeben. In Ab¬
ſicht auf die Spur des Pfoͤrtchens variirten ſie
auch. Und ſo gaben ſie mir ein fruͤhes Beyſpiel,
wie die Menſchen von einer ganz einfachen
und leicht zu eroͤrternden Sache die wider¬
ſprechendſten Anſichten haben und behaupten
koͤnnen. Als ich die Fortſetzung meines
Maͤhrchens hartnaͤckig verweigerte, ward dieſer
erſte Theil oͤfters wieder begehrt. Ich huͤtete
mich, an den Umſtaͤnden viel zu veraͤndern,
und durch die Gleichfoͤrmigkeit meiner Erzaͤh¬
lung verwandelte ich in den Gemuͤthern mei¬
ner Zuhoͤrer die Fabel in Wahrheit.
Uebrigens war ich den Luͤgen und der
Verſtellung abgeneigt, und uͤberhaupt keines¬
wegs leichtſinnig; vielmehr zeigte ſich der in¬
nere Ernſt, mit dem ich ſchon fruͤh mich und
die Welt betrachtete, auch in meinem Aeußern,
und ich ward, oft freundlich, oft auch ſpoͤttiſch,
uͤber eine gewiſſe Wuͤrde berufen, die ich mir
herausnahm. Denn ob es mir zwar an guten,
ausgeſuchten Freunden nicht fehlte, ſo waren
wir doch immer die Minderzahl gegen jene, die
uns mit rohem Muthwillen anzufechten ein Ver¬
gnuͤgen fanden, und uns freylich oft ſehr un¬
ſanft aus jenen maͤhrchenhaften, ſelbſtgefaͤlli¬
gen Traͤumen aufweckten, in die wir uns, ich
erfindend und meine Geſpielen theilnehmend,
nur allzugern verloren. Nun wurden wir
abermals gewahr, daß man anſtatt ſich der
Weichlichkeit und phantaſtiſchen Vergnuͤgungen
hinzugeben, wohl eher Urſache habe, ſich ab¬
zuhaͤrten, um die unvermeidlichen Uebel ent¬
weder zu ertragen, oder ihnen entgegen zu
wirken.
Unter die Uebungen des Stoicismus, den
ich deshalb ſo ernſtlich als es einem Knaben
moͤglich iſt, bey mir ausbildete, gehoͤrten auch
die Duldungen koͤrperlicher Leiden. Unſere
Lehrer behandelten uns oft ſehr unfreundlich
und ungeſchickt mit Schlaͤgen und Puͤffen,
gegen die wir uns um ſo mehr verhaͤrteten,
als Widerſetzlichkeit oder Gegenwirkung aufs
hoͤchſte verpoͤnt war. Sehr viele Scherze
der Jugend beruhen auf einem Wettſtreit
ſolcher Ertragungen: zum Beyſpiel, wenn
man mit zwey Fingern oder der ganzen Hand
ſich wechſelsweiſe bis zur Betaͤubung der Glie¬
der ſchlaͤgt, oder die bey gewiſſen Spielen
verſchuldeten Schlaͤge mit mehr oder weniger
Geſetztheit aushaͤlt; wenn man ſich beym
Ringen und Balgen durch die Kniffe der
Halbuͤberwundenen nicht irre machen laͤßt;
wenn man einen aus Neckerey zugefuͤgten
Schmerz unterdruͤckt, ja ſelbſt das Zwicken
und Kitzeln, womit junge Leute ſo geſchaͤftig
gegen einander ſind, als etwas Gleichguͤltiges
behandelt. Dadurch ſetzt man ſich in einen
großen Vortheil, der uns von andern ſo ge¬
ſchwind nicht abgewonnen wird.
Da ich jedoch von einem ſolchen Leidens¬
trotz gleichſam Profeſſion machte, ſo wuchſen
die Zudringlichkeiten der Andern; und wie
eine unartige Grauſamkeit keine Graͤnzen
kennt, ſo wußte ſie mich doch aus meiner
Graͤnze hinauszutreiben. Ich erzaͤhle einen
Fall ſtatt vieler. Der Lehrer war eine
Stunde nicht gekommen: ſo lange wir Kin¬
der alle beyſammen waren, unterhielten wir
uns recht artig; als aber die mir Wohlwol¬
lenden, nachdem ſie lange genug gewartet,
hinweggingen, und ich mit drey Mißwollen¬
den allein blieb: ſo dachten dieſe mich zu
quaͤlen, zu beſchaͤmen und zu vertreiben.
Sie hatten mich einen Augenblick im Zim¬
mer verlaſſen und kamen mit Ruthen zuruͤck,
die ſie ſich aus einem geſchwind zerſchnittenen
Beſen verſchafft hatten. Ich merkte ihre
Abſicht, und weil ich das Ende der Stunde
nahe glaubte, ſo ſetzte ich aus dem Stegreife
bey mir feſt, mich bis zum Glockenſchlage
nicht zu wehren. Sie fingen darauf unbarm¬
herzig an, mir die Beine und Waden auf
das grauſamſte zu peitſchen. Ich ruͤhrte
mich nicht, fuͤhlte aber bald, daß ich mich
verrechnet hatte, und daß ein ſolcher Schmerz
die Minuten ſehr verlaͤngert. Mit der Dul¬
dung wuchs meine Wuth, und mit dem er¬
ſten Stundenſchlag fuhr ich dem einen, der
ſich's am wenigſten verſah, mit der Hand
in die Nackenhaare und ſtuͤrzte ihn augen¬
blicklich zu Boden, indem ich mit dem Knie
ſeinen Ruͤcken druckte; den andern, einen
juͤngeren und ſchwaͤcheren, der mich von hin¬
ten anfiel, zog ich bey dem Kopfe durch den
Arm und erdroſſelte ihn faſt, indem ich ihn
an mich preßte. Nun war der letzte noch
uͤbrig und nicht der ſchwaͤchſte, und mir
blieb nur die linke Hand zu meiner Verthei¬
digung. Allein ich ergriff ihn beym Kleide,
und durch eine geſchickte Wendung von mei¬
ner Seite, durch eine uͤbereilte von ſeiner,
brachte ich ihn nieder und ſtieß ihn mit dem
Geſicht gegen den Boden. Sie ließen es
nicht an Beißen, Kratzen und Treten fehlen;
aber ich hatte nur meine Rache im Sinn
und in den Gliedern. In dem Vortheil in
dem ich mich befand, ſtieß ich ſie wiederholt
mit den Koͤpfen zuſammen. Sie erhuben
zuletzt ein entſetzliches Zetergeſchrey, und wir
ſahen uns bald von allen Hausgenoſſen um¬
geben. Die umhergeſtreuten Ruthen und
meine Beine, die ich von den Struͤmpfen
entbloͤßte, zeugten bald fuͤr mich. Man be¬
hielt ſich die Strafe vor und ließ mich aus
dem Hauſe; ich erklaͤrte aber, daß ich kuͤnf¬
tig, bey der geringſten Beleidigung, einem
oder dem andern die Augen auskratzen, die
Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdroſſeln
wuͤrde.
Dieſer Vorfall, ob man ihn gleich, wie
es in kindiſchen Dingen zu geſchehen pflegt,
bald wieder vergaß und ſogar belachte, war
jedoch Urſache, daß dieſe gemeinſamen Unter¬
richtsſtunden ſeltner wurden und zuletzt ganz
aufhoͤrten. Ich war alſo wieder wie vorher
mehr ins Haus gebannt, wo ich an meiner
Schweſter Cornelia, die nur ein Jahr
weniger zaͤhlte als ich, eine an Annehmlich¬
keit immer wachſende Geſellſchafterinn fand.
Ich will jedoch dieſen Gegenſtand nicht
verlaſſen, ohne noch einige Geſchichten zu er¬
zaͤhlen, wie mancherley Unangenehmes mir
von meinen Geſpielen begegnet: denn das iſt
ja eben das Lehrreiche ſolcher ſittlichen Mit¬
theilungen, daß der Menſch erfahre, wie es
andern ergangen, und was auch er vom Le¬
ben zu erwarten habe, und daß er, es mag
ſich ereignen was will, bedenke, dieſes wi¬
derfahre ihm als Menſchen und nicht als
einem beſonders Gluͤcklichen oder Ungluͤcklichen.
Nuͤtzt ein ſolches Wiſſen nicht viel, um die
I. 10
Uebel zu vermeiden, ſo iſt es doch ſehr dien¬
lich, daß wir uns in die Zuſtaͤnde finden,
ſie ertragen, ja ſie uͤberwinden lernen.
Noch eine allgemeine Bemerkung ſteht
hier an der rechten Stelle, daß naͤmlich bey
dem Emporwachſen der Kinder aus den ge¬
ſitteten Staͤnden ein ſehr großer Widerſpruch
zum Vorſchein kommt, ich meyne den, daß
ſie von Aeltern und Lehrern angemahnt und
angeleitet werden, ſich maͤßig, verſtaͤndig,
ja vernuͤnftig zu betragen, Niemanden aus
Muthwillen oder Uebermuth ein Leids zuzu¬
fuͤgen und alle gehaͤſſigen Regungen, die ſich
an ihnen entwickeln moͤchten, zu unterdruͤ¬
cken; daß nun aber im Gegentheil, waͤhrend
die jungen Geſchoͤpfe mit einer ſolchen Ue¬
bung beſchaͤftigt ſind, ſie von andern das zu
leiden haben, was an ihnen geſcholten wird
und hoͤchlich verpoͤnt iſt. Dadurch kommen
die armen Weſen zwiſchen dem Naturzuſtande
und dem der Civiliſation gar erbaͤrmlich in
die Klemme, und werden, je nachdem die
Charakter ſind, entweder tuͤckiſch, oder ge¬
waltſam aufbrauſend, wenn ſie eine Zeitlang
an ſich gehalten haben.
Gewalt iſt eher mit Gewalt zu vertrei¬
ben; aber ein gut geſinntes, zur Liebe und
Theilnahme geneigtes Kind weiß dem Hohn
und dem boͤſen Willen wenig entgegenzuſetzen.
Wenn ich die Thaͤtlichkeiten meiner Geſellen
ſo ziemlich abzuhalten wußte; ſo war ich
doch keineswegs ihren Sticheleyen und Mis¬
reden gewachſen, weil in ſolchen Faͤllen der¬
jenige, der ſich vertheidigt, immer verlieren
muß. Es wurden alſo auch Angriffe dieſer
Art, in ſofern ſie zum Zorn reizten, mit
phyſiſchen Kraͤften zuruͤckgewieſen, oder ſie
regten wunderſame Betrachtungen in mir auf,
die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten.
Unter andern Vorzuͤgen misgoͤnnten mir die
Uebelwollenden auch, daß ich mir in einem
Verhaͤltniß gefiel, welches aus dem Schult¬
10 *
heißenamt meines Großvaters fuͤr die Fami¬
lie entſprang: denn indem er als der Erſte
unter ſeines Gleichen daſtand, hatte dieſes
doch auch auf die Seinigen nicht geringen
Einfluß. Und als ich mir einmal nach ge¬
haltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzu¬
bilden ſchien, meinen Großvater in der Mitte
des Schoͤffenraths, eine Stufe hoͤher als
die andern, unter dem Bilde des Kaiſers
gleichſam thronend geſehen zu haben; ſo ſagte
einer der Knaben hoͤhniſch: ich ſollte doch,
wie der Pfau auf ſeine Fuͤße, ſo auf meinen
Großvater vaͤterlicher Seite hinſehen, welcher
Gaſtgeber zum Weidenhof geweſen, und wohl
an die Thronen und Kronen keinen Anſpruch
gemacht haͤtte. Ich erwiderte darauf, daß
ich davon keineswegs beſchaͤmt ſey, weil ge¬
rade darin das Herrliche und Erhebende un¬
ſerer Vaterſtadt beſtehe, daß alle Buͤrger
ſich einander gleich halten duͤrften, und daß
einem Jeden ſeine Thaͤtigkeit nach ſeiner Art
foͤrderlich und ehrenvoll ſeyn koͤnne. Es ſey
mir nur leid, daß der gute Mann ſchon ſo
lange geſtorben: denn ich habe mich auch
ihn perſoͤnlich zu kennen oͤfters geſehnt, ſein
Bildniß vielmals betrachtet, ja ſein Grab
beſucht und mich wenigſtens bey der Inſchrift
an dem einfachen Denkmal ſeines voruͤbergegan¬
genen Daſeyns gefreut, dem ich das meine
ſchuldig geworden. Ein anderer Miswollen¬
der, der tuͤckiſchſte von allen, nahm jenen
erſten bey Seite und fluͤſterte ihm etwas in
die Ohren, wobey ſie mich immer ſpoͤttiſch
anſahen. Schon fing die Galle mir an zu
kochen, und ich foderte ſie auf, laut zu re¬
den. — „Nun was iſt es denn weiter,
ſagte der erſte, wenn du es wiſſen willſt:
dieſer da meynt, du koͤnnteſt lange herumge¬
hen und ſuchen, bis du deinen Großvater
faͤndeſt.“ — Ich drohte nun noch heftiger,
wenn ſie ſich nicht deutlicher erklaͤren wuͤrden.
Sie brachten darauf ein Maͤhrchen vor, das
ſie ihren Aeltern wollten abgelauſcht haben:
mein Vater ſey der Sohn eines vornehmen
Mannes, und jener gute Buͤrger habe ſich
willig finden laſſen, aͤußerlich Vaterſtelle zu
vertreten. Sie hatten die Unverſchaͤmtheit
allerley Argumente vorzubringen, z. B. daß
unſer Vermoͤgen blos von der Großmutter
herruͤhre, daß die uͤbrigen Seitenverwandten,
die ſich in Friedberg und ſonſt aufhielten,
gleichfalls ohne Vermoͤgen ſeyen, und was
noch andre ſolche Gruͤnde waren, die ihr
Gewicht blos von der Bosheit hernehmen
konnten. Ich hoͤrte ihnen ruhiger zu als ſie
erwarteten, denn ſie ſtanden ſchon auf dem
Sprung zu entfliehen, wenn ich Miene
machte, nach ihren Haaren zu greifen. Aber
ich verſetzte ganz gelaſſen: auch dieſes koͤnne
mir recht ſeyn. Das Leben ſey ſo huͤbſch,
daß man voͤllig fuͤr gleichguͤltig achten koͤnne,
wem man es zu verdanken habe: denn es
ſchriebe ſich doch zuletzt von Gott her, vor
welchem wir alle gleich waͤren. So ließen
ſie, da ſie nichts ausrichten konnten, die
Sache fuͤr dießmal gut ſeyn; man ſpielte zu¬
ſammen weiter fort, welches unter Kindern
immer ein erprobtes Verſoͤhnungsmittel bleibt.
Mir war jedoch durch dieſe haͤmiſchen
Worte eine Art von ſittlicher Krankheit ein¬
geimpft, die im Stillen fortſchlich. Es
wollte mir gar nicht misfallen, der Enkel ir¬
gend eines vornehmen Herrn zu ſeyn, wenn
es auch nicht auf die geſetzlichſte Weiſe ge¬
weſen waͤre. Meine Spuͤrkraft ging auf
dieſer Faͤhrte, meine Einbildungskraft war
angeregt und mein Scharfſinn aufgefordert.
Ich fing nun an die Aufgaben jener zu un¬
terſuchen, fand und erfand neue Gruͤnde der
Wahrſcheinlichkeit. Ich hatte von meinem
Großvater wenig reden hoͤren, außer daß
ſein Bildniß mit dem meiner Großmutter
in einem Beſuchzimmer des alten Hauſes
gehangen hatte, welche beyde, nach Erbauung
des neuen, in einer obern Cammer aufbe¬
wahrt wurden. Meine Großmutter mußte
eine ſehr ſchoͤne Frau geweſen ſeyn, und von
gleichem Alter mit ihrem Manne. Auch erin¬
nerte ich mich, in ihrem Zimmer das Minia¬
turbild eines ſchoͤnen Herrn, in Uniform mit
Stern und Orden, geſehen zu haben, wel¬
ches nach ihrem Tode mit vielen andern klei¬
nen Geraͤthſchaften, waͤhrend des alles um¬
waͤlzenden Hausbaues, verſchwunden war.
Solche wie manche andre Dinge baute ich
mir in meinem kindiſchen Kopfe zuſammen,
und uͤbte fruͤhzeitig genug jenes moderne
Dichter-Talent, welches durch eine abenteu¬
erliche Verknuͤpfung der bedeutenden Zuſtaͤnde
des menſchlichen Lebens ſich die Theilnahme
der ganzen cultivirten Welt zu verſchaffen
weiß.
Da ich nun aber einen ſolchen Fall Nie¬
manden zu vertrauen, oder auch nur von
ferne nachzufragen mich unterſtand; ſo ließ
ich es an einer heimlichen Betriebſamkeit
nicht fehlen, um wo moͤglich der Sache et¬
was naͤher zu kommen. Ich hatte naͤmlich
ganz beſtimmt behaupten hoͤren, daß die
Soͤhne den Vaͤtern oder Großvaͤtern oft ent¬
ſchieden aͤhnlich zu ſeyn pflegten. Mehrere un¬
ſerer Freunde, beſonders auch Rath Schnei¬
der, unſer Hausfreund, hatten Geſchaͤftsver¬
bindungen mit allen Fuͤrſten und Herren
der Nachbarſchaft, deren, ſowohl regierender
als nachgeborner, keine geringe Anzahl am
Rhein und Main und in dem Raume zwi¬
ſchen beyden ihre Beſitzungen hatten, und die
aus beſonderer Gunſt ihre treuen Geſchaͤfts¬
traͤger zuweilen wohl mit ihren Bildniſſen
beehrten. Dieſe, die ich von Jugend auf
vielmals an den Waͤnden geſehen, betrach¬
tete ich nunmehr mit doppelter Aufmerkſam¬
keit, forſchend ob ich nicht eine Aehnlichkeit
mit meinem Vater, oder gar mit mir entde¬
cken koͤnnte; welches aber zu oft gelang, als
daß es mich zu einiger Gewißheit haͤtte fuͤh¬
ren koͤnnen. Denn bald waren es die Au¬
gen von dieſem, bald die Naſe von jenem,
die mir auf einige Verwandtſchaft zu deuten
ſchienen. So fuͤhrten mich dieſe Kennzeichen
truͤglich genug hin und wieder. Und ob ich
gleich in der Folge dieſen Vorwurf als ein
durchaus leeres Maͤhrchen betrachten mußte,
ſo blieb mir doch der Eindruck, und ich
konnte nicht unterlaſſen, die ſaͤmmtlichen
Herren, deren Bildniſſe mir ſehr deutlich in
der Phantaſie geblieben waren, von Zeit zu
Zeit im Stillen bey mir zu muſtern und zu
pruͤfen. So wahr iſt es, daß alles was
den Menſchen innerlich in ſeinem Duͤnkel
beſtaͤrkt, ſeiner heimlichen Eitelkeit ſchmei¬
chelt, ihm dergeſtalt hoͤchlich erwuͤnſcht iſt,
daß er nicht weiter fragt, ob es ihm ſonſt
auf irgend eine Weiſe zur Ehre oder zur
Schmach gereichen koͤnne.
Doch anſtatt hier ernſthafte, ja ruͤgende
Betrachtungen einzumiſchen, wende ich lieber
meinen Blick von jenen ſchoͤnen Zeiten hin¬
weg: denn wer waͤre im Stande von der
Fuͤlle der Kindheit wuͤrdig zu ſprechen! Wir
koͤnnen die kleinen Geſchoͤpfe, die vor uns
herum wandeln, nicht anders als mit Ver¬
gnuͤgen, ja mit Bewunderung anſehen: denn
meiſt verſprechen ſie mehr als ſie halten, und
es ſcheint als wenn die Natur unter andern
ſchelmiſchen Streichen, die ſie uns ſpielt,
auch hier ſich ganz beſonders vorgeſetzt, uns
zum Beſten zu haben. Die erſten Organe,
die ſie Kindern mit auf die Welt giebt, ſind
dem naͤchſten unmittelbaren Zuſtande des Ge¬
ſchoͤpfs gemaͤß; es bedient ſich derſelben kunſt-
und anſpruchslos, auf die geſchickteſte Weiſe
zu den naͤchſten Zwecken. Das Kind, an
und fuͤr ſich betrachtet, mit ſeines Gleichen
und in Beziehungen die ſeinen Kraͤften an¬
gemeſſen ſind, ſcheint ſo verſtaͤndig, ſo ver¬
nuͤnftig, daß nichts druͤber geht, und zugleich
ſo bequem, heiter und gewandt, daß man
keine weitre Bildung fuͤr daſſelbe wuͤnſchen
moͤchte. Wuͤchſen die Kinder in der Art
fort, wie ſie ſich andeuten, ſo haͤtten wir
lauter Genies. Aber das Wachsthum iſt
nicht blos Entwicklung; die verſchiednen or¬
ganiſchen Syſteme, die den Einen Menſchen
ausmachen, entſpringen aus einander, folgen
einander, verwandlen ſich in einander, ver¬
draͤngen einander, ja zehren einander auf,
ſo daß von manchen Faͤhigkeiten, von man¬
chen Kraftaͤußerungen, nach einer gewiſſen
Zeit, kaum eine Spur mehr zu finden iſt.
Wenn auch die menſchlichen Anlagen im Gan¬
zen eine entſchiedene Richtung haben, ſo wird
es doch dem groͤßten und erfahrenſten Kenner
ſchwer ſeyn, ſie mit Zuverlaͤſſigkeit voraus
zu verkuͤnden; doch kann man hinterdrein
wohl bemerken, was auf ein Kuͤnftiges hin¬
gedeutet hat.
Keinesweges gedenke ich daher in dieſen
erſten Buͤchern meine Jugendgeſchichten voͤllig
abzuſchließen, ſondern ich werde vielmehr noch
ſpaͤterhin manchen Faden aufnehmen und
fortleiten, der ſich unbemerkt durch die erſten
Jahre ſchon hindurchzog. Hier muß ich
aber bemerken, welchen ſtaͤrkeren Einfluß nach
und nach die Kriegsbegebenheiten auf unſere
Geſinnungen und unſre Lebensweiſe ausuͤbten.
Der ruhige Buͤrger ſteht zu den großen
Weltereigniſſen in einem wunderbaren Ver¬
haͤltniß. Schon aus der Ferne regen ſie
ihn auf und beunruhigen ihn, und er kann
ſich, ſelbſt wenn ſie ihn nicht beruͤhren, eines
Urtheils, einer Theilnahme nicht enthalten.
Schnell ergreift er eine Partey, nachdem ihn
ſein Character oder aͤußere Anlaͤſſe beſtimmen.
Ruͤcken ſo große Schickſale, ſo bedeutende
Veraͤnderungen naͤher, dann bleibt ihm bey
manchen aͤußern Unbequemlichkeiten noch im¬
mer jenes innre Misbehagen, verdoppelt und
ſchaͤrft das Uebel meiſtentheils und zerſtoͤrt
das noch moͤgliche Gute. Dann hat er von
Freunden und Feinden wirklich zu leiden,
oft mehr von jenen als von dieſen, und er
weiß weder wie er ſeine Neigung, noch wie
er ſeinen Vortheil wahren und erhalten ſoll.
Das Jahr 1757, das wir noch in voͤllig
buͤrgerlicher Ruhe verbrachten, wurde dem
ungeachtet in großer Gemuͤthsbewegung ver¬
lebt. Reicher an Begebenheiten als dieſes
war vielleicht kein anderes. Die Siege, die
Großthaten, die Ungluͤcksfaͤlle, die Wieder¬
herſtellungen folgten auf einander, verſchlan¬
gen ſich und ſchienen ſich aufzuheben; immer
aber ſchwebte die Geſtalt Friedrich's, ſein
Name, ſein Ruhm, in kurzem wieder oben.
Der Enthuſiasmus ſeiner Verehrer ward im¬
mer groͤßer und belebter, der Haß ſeiner
Feinde bitterer, und die Verſchiedenheit der
Anſichten, welche ſelbſt Familien zerſpaltete,
trug nicht wenig dazu bey, die ohnehin ſchon
auf mancherley Weiſe von einander getrenn¬
ten Buͤrger noch mehr zu iſoliren. Denn in
einer Stadt wie Frankfurt, wo drey Religio¬
nen die Einwohner in drey ungleiche Maſſen
theilen, wo nur wenige Maͤnner, ſelbſt von
der herrſchenden, zum Regiment gelangen
koͤnnen, muß es gar manchen Wohlhabenden
und Unterrichteten geben, der ſich auf ſich
zuruͤckzieht und durch Studien und Liebhabe¬
reyen ſich eine eigne und abgeſchloſſene Exi¬
ſtenz bildet. Von ſolchen wird gegenwaͤrtig
und auch kuͤnftig die Rede ſeyn muͤſſen, wenn
man ſich die Eigenheiten eines Frankfurter
Buͤrgers aus jener Zeit vergegenwaͤrtigen ſoll.
Mein Vater hatte, ſobald er von Reiſen
zuruͤckgekommen, nach ſeiner eigenen Sinnes¬
art, den Gedanken gefaßt, daß er, um ſich
zum Dienſte der Stadt faͤhig zu machen,
eins der ſubalternen Aemter uͤbernehmen und
ſolches ohne Emolumente fuͤhren wolle, wenn
man es ihm ohne Ballotage uͤbergaͤbe. Er
glaubte nach ſeiner Sinnesart, nach dem Be¬
griffe den er von ſich ſelbſt hatte, im Ge¬
fuͤhl ſeines guten Willens, eine ſolche Aus¬
zeichnung zu verdienen, die freylich weder
geſetzlich noch herkoͤmmlich war. Daher, als
ihm ſein Geſuch abgeſchlagen wurde, gerieth
er in Aerger und Mismuth, verſchwur je¬
mals irgend eine Stelle anzunehmen, und
um es unmoͤglich zu machen, verſchaffte er ſich
den Character eines kaiſerlichen Rathes, den
der Schultheiß und die aͤlteſten Schoͤffen
als einen beſondern Ehrentitel tragen. Da¬
durch hatte er ſich zum Gleichen der Oberſten
gemacht und konnte nicht mehr von unten
anfangen. Derſelbe Beweggrund fuͤhrte ihn
auch dazu, um die aͤlteſte Tochter des Schult¬
heißen zu werben, wodurch er auch auf die¬
ſer Seite von dem Rathe ausgeſchloſſen ward.
Er gehoͤrte nun unter die Zuruͤckgezogenen,
welche niemals unter ſich eine Societaͤt ma¬
chen. Sie ſtehen ſo iſolirt gegen einander
wie gegen das Ganze, und um ſo mehr, als
ſich in dieſer Abgeſchiedenheit das Eigenthuͤm¬
liche der Character immer ſchroffer ausbil¬
det. Mein Vater mochte ſich auf Reiſen
und in der freyen Welt, die er geſehen, von
einer elegantern und liberalern Lebensweiſe
einen Begriff gemacht haben, als ſie viel¬
leicht unter ſeinen Mitbuͤrgern gewoͤhnlich
war. Zwar fand er darin Vorgaͤnger und
Geſellen.
Der Name von Uffenbach iſt bekannt.
Ein Schoͤff von Uffenbach lebte damals in
gutem Anſehen. Er war in Italien geweſen,
hatte ſich beſonders auf Muſik gelegt, ſang
einen angenehmen Tenor, und da er eine
ſchoͤne Sammlung von Muſicalien mitgebracht
hatte, wurden Concerte und Oratorien bey
ihm aufgefuͤhrt. Weil er nun dabey ſelbſt
ſang und die Muſiker beguͤnſtigte, ſo fand
man es nicht ganz ſeiner Wuͤrde gemaͤß,
und die eingeladenen Gaͤſte ſowohl als die
uͤbrigen Landsleute erlaubten ſich daruͤber
manche luſtige Anmerkung.
Ferner erinnere ich mich eines Barons
von Haͤkel, eines reichen Edelmanns, der
verheiratet aber kinderlos ein ſchoͤnes Haus
in der Antoniusgaſſe bewohnte, mit allem
Zubehoͤr eines anſtaͤndigen Lebens ausgeſtat¬
I. 11
tet. Auch beſaß er gute Gemaͤlde, Kupfer¬
ſtiche, Antiken und manches andre, wie es
bey Sammlern und Liebhabern zuſammen¬
fließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Honora¬
tioren zum Mittageſſen, und war auf eine
eigne achtſame Weiſe wohlthaͤtig, indem er
in ſeinem Hauſe die Armen kleidete, ihre
alten Lumpen aber zuruͤckbehielt, und ihnen
nur unter der Bedingung ein woͤchentliches
Almoſen reichte, daß ſie in jenen geſchenkten
Kleidern ſich ihm jedesmal ſauber und ordent¬
lich vorſtellten. Ich erinnere mich ſeiner nur
dunkel als eines freundlichen, wohlgebildeten
Mannes; deſto deutlicher aber ſeiner Auction,
der ich vom Anfang bis zu Ende beywohnte,
und theils auf Befehl meines Vaters, theils
aus eigenem Antrieb manches erſtand, was
ſich noch unter meinen Sammlungen befindet.
Fruͤher, und von mir kaum noch mit
Augen geſehen, machte Johann Michael
von Loen in der literariſchen Welt ſo wie
in Frankfurt ziemliches Aufſehen. Nicht von
Frankfurt gebuͤrtig hatte er ſich daſelbſt nie¬
dergelaſſen und war mit der Schweſter mei¬
ner Großmutter Textor, einer gebornen Lind¬
heim, verheiratet. Bekannt mit der Hof-
und Staatswelt, und eines erneuten Adels
ſich erfreuend, erlangte er dadurch einen
Namen, daß er in die verſchiedenen Regun¬
gen, welche in Kirche und Staat zum Vor¬
ſchein kamen, einzugreifen den Muth hatte.
Er ſchrieb den Grafen von Rivera, einen
didactiſchen Roman, deſſen Inhalt aus dem
zweyten Titel: oder der ehrliche Mann
am Hofe, erſichtlich iſt. Dieſes Werk wurde
gut aufgenommen, weil es auch von den Hoͤ¬
fen, wo ſonſt nur Klugheit zu Hauſe iſt,
Sittlichkeit verlangte; und ſo brachte ihm
ſeine Arbeit Beyfall und Anſehen. Ein
zweytes Werk ſollte dagegen deſto gefaͤhrlicher
fuͤr ihn werden. Er ſchrieb: die einzige
wahre Religion, ein Buch das die Ab¬
ſicht hatte, Toleranz beſonders zwiſchen Luthe¬
II *
ranern und Calviniſten zu befoͤrdern. Hier¬
uͤber kam er mit den Theologen in Streit;
beſonders ſchrieb Dr. Benner in Gießen
gegen ihn. Von Loen erwiederte; der Streit
wurde heftig und perſoͤnlich, und die daraus
entſpringenden Unannehmlichkeiten veranla߬
ten den Verfaſſer, die Stelle eines Praͤſiden¬
ten zu Lingen anzunehmen, die ihm Friedrich
der zweyte anbot, der in ihm einen aufge¬
klaͤrten, und den Neuerungen, die in Frank¬
reich ſchon viel weiter gediehen waren, nicht
abgeneigten vorurtheilsfreyen Mann zu erken¬
nen glaubte. Seine ehemaligen Landsleute,
die er mit einigem Verdruß verlaſſen, behaup¬
teten, daß er dort nicht zufrieden ſey, ja
nicht zufrieden ſeyn koͤnne, weil ſich ein Ort
wie Lingen mit Frankfurt keineswegs meſſen
duͤrfe. Mein Vater zweifelte auch an dem
Behagen des Praͤſidenten, und verſicherte, der
gute Oheim haͤtte beſſer gethan, ſich mit
dem Koͤnige nicht einzulaſſen, weil es uͤber¬
haupt gefaͤhrlich ſey, ſich demſelben zu naͤhern,
ſo ein außerordentlicher Herr er auch uͤbri¬
gens ſeyn moͤge. Denn man habe ja geſe¬
hen, wie ſchmaͤhlich der beruͤhmte Voltaire,
auf Requiſition des preußiſchen Reſidenten
Freytag, in Frankfurt ſey verhaftet worden,
da er doch vorher ſo hoch in Gunſten geſtan¬
den und als des Koͤnigs Lehrmeiſter in der
franzoͤſiſchen Poeſie anzuſehen geweſen. Es
mangelte bey ſolchen Gelegenheiten nicht an
Betrachtungen und Beyſpielen, um vor Hoͤ¬
fen und Herrendienſt zu warnen, wovon ſich
uͤberhaupt ein geborner Frankfurter kaum ei¬
nen Begriff machen konnte.
Eines vortrefflichen Mannes, Doctor
Orth, will ich hier nur dem Namen nach
gedenken, indem ich verdienten Frankfurtern
hier nicht ſowohl ein Denkmal zu errichten
habe, vielmehr derſelben nur in ſo fern
erwaͤhne, als ihr Ruf oder ihre Perſoͤnlichkeit
auf mich in den fruͤhſten Jahren einigen Ein¬
fluß gehabt. Doctor Orth war ein reicher
Mann, und gehoͤrte auch unter die, welche
niemals Theil am Regimente genommen,
ob ihn gleich ſeine Kenntniſſe und Einſichten
wohl dazu berechtigt haͤtten. Die deutſchen
und beſonders die frankfurtiſchen Alterthuͤmer
ſind ihm ſehr viel ſchuldig geworden; er gab
die Anmerkungen zu der ſogenannten Frank¬
furter Reformation heraus, ein Werk, in
welchem die Statuten der Reichsſtadt ge¬
ſammlet ſind. Die hiſtoriſchen Capitel deſſel¬
ben habe ich in meinen Juͤnglingsjahren flei¬
ßig ſtudirt.
Von Ochſenſtein, der aͤltere jener drey
Bruͤder, deren ich oben als unſerer Nachbarn
gedacht, war bey ſeiner eingezogenen Art zu
ſeyn, waͤhrend ſeines Lebens nicht merkwuͤrdig
geworden, deſto merkwuͤrdiger aber nach ſeinem
Tode, indem er eine Verordnung hinterließ,
daß er morgens fruͤh, ganz im Stillen und
ohne Begleitung und Gefolg, von Handwerks¬
leuten zu Grabe gebracht ſeyn wolle. Es ge¬
ſchah, und dieſe Handlung erregte in der
Stadt, wo man an prunkhafte Leichenbegaͤng¬
niſſe gewoͤhnt war, großes Aufſehn. Alle
diejenigen, die bey ſolchen Gelegenheiten ei¬
nen herkoͤmmlichen Verdienſt hatten, erhu¬
ben ſich gegen die Neuerung. Allein der
wackre Patrizier fand Nachfolger in allen
Staͤnden, und ob man ſchon dergleichen
Begaͤngniſſe ſpottweiſe Ochſenleichen nannte;
ſo nahmen ſie doch zum Beſten mancher
wenig bemittelten Familien uͤberhand, und
die Prunkbegaͤngniſſe verloren ſich immer
mehr. Ich fuͤhre dieſen Umſtand an, weil er
eins der fruͤhern Symptome jener Geſinnun¬
gen von Demuth und Gleichſtellung darbie¬
tet, die ſich in der zweyten Haͤlfte des vo¬
rigen Jahrhunderts von obenherein auf ſo
manche Weiſe gezeigt haben und in ſo uner¬
wartete Wirkungen ausgeſchlagen ſind.
Auch fehlte es nicht an Liebhabern des
Alterthums. Es fanden ſich Gemaͤldecabinette,
Kupferſtichſammlungen, beſonders aber wur¬
den vaterlaͤndiſche Merkwuͤrdigkeiten mit Eifer
geſucht und aufgehoben. Die aͤlteren Verord¬
nungen und Mandate der Reichsſtadt, von
denen keine Sammlung veranſtaltet war, wur¬
den in Druck und Schrift ſorgfaͤltig aufge¬
ſucht, nach der Zeitfolge geordnet und als ein
Schatz vaterlaͤndiſcher Rechte und Herkommen
mit Ehrfurcht verwahrt. Auch die Bildniſſe
von Frankfurtern, die in großer Anzahl exi¬
ſtirten, wurden zuſammengebracht und mach¬
ten eine beſondre Abtheilung der Cabinette.
Solche Maͤnner ſcheint mein Vater ſich uͤber¬
haupt zum Muſter genommen zu haben. Ihm
fehlte keine der Eigenſchaften, die zu einem
rechtlichen und angeſehnen Buͤrger gehoͤren.
Auch brachte er, nachdem er ſein Haus erbaut,
ſeine Beſitzungen von jeder Art in Ordnung.
Eine vortreffliche Landchartenſammlung der
Schenkiſchen und anderer damals vorzuͤglicher
geographiſchen Blaͤtter, jene oberwaͤhnten Ver¬
ordnungen und Mandate, jene Bildniſſe, ein
Schrank alter Gewehre, ein Schrank merk¬
wuͤrdiger venetianiſcher Glaͤſer, Becher und
Bocale, Naturalien, Elfenbeinarbeiten, Bron¬
zen und hundert andere Dinge wurden ge¬
ſondert und aufgeſtellt, und ich verfehlte nicht,
bey vorfallenden Auctionen, mir jederzeit ei¬
nige Auftraͤge zu Vermehrung des Vorhan¬
denen zu erbitten.
Noch einer bedeutenden Familie muß ich
gedenken, von der ich ſeit meiner fruͤhſten Ju¬
gend viel Sonderbares vernahm und von ei¬
nigen ihrer Glieder ſelbſt noch manches Wun¬
derbare erlebte; es war die Senkenber¬
giſche. Der Vater, von dem ich wenig zu
ſagen weiß, war ein wohlhabender Mann.
Er hatte drey Soͤhne, die ſich in ihrer Ju¬
gend ſchon durchgaͤngig als Sonderlinge aus¬
zeichneten. Dergleichen wird in einer be¬
ſchraͤnkten Stadt, wo ſich Niemand weder
im Guten noch im Boͤſen hervorthun ſoll,
nicht zum Beſten aufgenommen. Spottnamen
und ſeltſame, ſich lang im Gedaͤchtniß erhal¬
tende Maͤhrchen ſind meiſtens die Frucht ei¬
ner ſolchen Sonderbarkeit. Der Vater wohn¬
te an der Ecke der Haſengaſſe, die von dem
Zeichen des Hauſes, das einen, wo nicht gar
drey Haſen vorſtellt, den Namen fuͤhrte.
Man nannte daher dieſe drey Bruͤder nur die
drey Haſen, welchen Spitznamen ſie lange
Zeit nicht los wurden. Allein, wie große
Vorzuͤge ſich oft in der Jugend durch etwas
Wunderliches und Unſchickliches ankuͤndigen,
ſo geſchah es auch hier. Der aͤlteſte war
der nachher ſo ruͤhmlich bekannte Reichs¬
hofrath von Senkenberg. Der zweyte
ward in den Magiſtrat aufgenommen und
zeigte vorzuͤgliche Talente, die er aber auf
eine rabuliſtiſche, ja verruchte Weiſe, wo nicht
zum Schaden ſeiner Vaterſtadt, doch we¬
nigſtens ſeiner Collegen in der Folge mis¬
brauchte. Der dritte Bruder, ein Arzt und
ein Mann von großer Rechtſchaffenheit, der
aber wenig und nur in vornehmen Haͤuſern
praktizirte, behielt bis in ſein hoͤchſtes Alter
immer ein etwas wunderliches Aeußere. Er
war immer ſehr nett gekleidet, und man ſah
ihn nie anders auf der Straße als in Schuh
und Struͤmpfen und einer wohlgepuderten Lo¬
ckenperuͤcke, den Hut unterm Arm. Er ging
ſchnell, doch mit einem ſeltſamen Schwanken vor
ſich hin, ſo daß er bald auf dieſer bald auf jener
Seite der Straße ſich befand, und im Gehen
ein Zickzack bildete. Spottvoͤgel ſagten: er
ſuche durch dieſen abweichenden Schritt den ab¬
geſchiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen,
die ihn in grader Linie wohl verfolgen moͤch¬
ten, und ahme diejenigen nach, die ſich vor
einem Crocodil fuͤrchten. Doch aller dieſer
Scherz und manche luſtige Nachrede verwan¬
delte ſich zuletzt in Ehrfurcht gegen ihn, als
er ſeine anſehnliche Wohnung mit Hof, Gar¬
ten und allem Zubehoͤr, auf der Eſchenhei¬
mer Gaſſe, zu einer mediciniſchen Stiftung
widmete, wo neben der Anlage eines blos
fuͤr Frankfurter Buͤrger beſtimmten Hospitals,
ein botaniſcher Garten, ein anatomiſch Thea¬
ter, ein chemiſch Laboratorium, eine anſehn¬
liche Bibliothek und eine Wohnung fuͤr den Di¬
rector eingerichtet ward, auf eine Weiſe, de¬
ren keine Akademie ſich haͤtte ſchaͤmen duͤrfen.
Ein andrer vorzuͤglicher Mann, deſſen
Perſoͤnlichkeit nicht ſowohl als ſeine Wirkung
in der Nachbarſchaft und ſeine Schriften ei¬
nen ſehr bedeutenden Einfluß auf mich ge¬
habt haben, war Carl Friedrich von
Moſer, der ſeiner Geſchaͤftstaͤtigkeit wegen
in unſerer Gegend immer genannt wurde.
Auch er hatte einen gruͤndlich-ſittlichen Cha¬
racter, der, weil die Gebrechen der menſch¬
lichen Natur ihm wohl manchmal zu ſchaffen
machten, ihn ſogar zu den ſogenannten From¬
men hinzog; und ſo wollte er, wie von Loen
das Hofleben, eben ſo das Geſchaͤftsleben
einer gewiſſenhafteren Behandlung entgegen¬
fuͤhren. Die große Anzahl der kleinen deut¬
ſchen Hoͤfe ſtellte eine Menge von Herren
und Dienern dar, wovon die erſten unbeding¬
ten Gehorſam verlangten, und die andern
meiſtentheils nur nach ihren Ueberzeugungen
wirken und dienen wollten. Es entſtand da¬
her ein ewiger Conflict und ſchnelle Veraͤnde¬
rungen und Exploſionen, weil die Wirkungen
des unbedingten Handelns im Kleinen viel
geſchwinder merklich und ſchaͤdlich werden als
im Großen. Viele Haͤuſer waren verſchuldet,
und kaiſerliche Debit-Commiſſionen ernannt;
andre fanden ſich langſamer oder geſchwinder
auf demſelben Wege, wobey die Diener entwe¬
der gewiſſenlos Vortheil zogen, oder gewiſſen¬
haft ſich unangenehm und verhaßt machten.
Moſer wollte als Staats- und Geſchaͤftsmann
wirken; und hier gab ſein ererbtes, bis zum
Metier ausgebildetes Talent ihm eine ent¬
ſchiedene Ausbeute; aber er wollte auch zu¬
gleich als Menſch und Buͤrger handeln und
ſeiner ſittlichen Wuͤrde ſo wenig als moͤglich
vergeben. Sein Herr und Diener, ſein
Daniel in der Loͤwengrube, ſeine
Reliquien ſchildern durchaus die Lage,
in welcher er ſich zwar nicht gefoltert, aber
doch immer geklemmt fuͤhlte. Sie deuten
ſaͤmtlich auf eine Ungeduld in einem Zu¬
ſtand, mit deſſen Verhaͤltniſſen man ſich nicht
verſoͤhnen und den man doch nicht los wer¬
den kann. Bey dieſer Art zu denken und
zu empfinden mußte er freylich mehrmals
andere Dienſte ſuchen, an welchen es ihm
ſeine große Gewandtheit nicht fehlen ließ.
Ich erinnere mich ſeiner als eines angeneh¬
men, beweglichen und dabey zarten Mannes.
Aus der Ferne machte jedoch der Name
Klopſtock auch ſchon auf uns eine große
Wirkung. Im Anfang wunderte man ſich,
wie ein ſo vortrefflicher Mann ſo wunderlich
heißen koͤnne; doch gewoͤhnte man ſich bald
daran und dachte nicht mehr an die Bedeu¬
tung dieſer Sylben. In meines Vaters
Bibliothek hatte ich bisher nur die fruͤhern,
beſonders die zu ſeiner Zeit nach und nach
heraufgekommenen und geruͤhmten Dichter ge¬
funden. Alle dieſe hatten gereimt, und mein
Vater hielt den Reim fuͤr poetiſche Werke
unerlaͤßlich. Canitz, Hagedorn, Drol¬
linger, Gellert, Kreutz, Haller ſtan¬
den in ſchoͤnen Franzbaͤnden in einer Reihe.
An dieſe ſchloſſen ſich Neukirch's Tele¬
mach, Koppen's befreytes Jeruſalem, und
andre Ueberſetzungen. Ich hatte dieſe ſaͤmmt¬
lichen Baͤnde von Kindheit auf fleißig durch¬
geleſen und theilweiſe memorirt, weshalb ich
denn zur Unterhaltung der Geſellſchaft oͤfters
aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche
im Gegentheil eroͤffnete ſich fuͤr meinen Va¬
ter, als durch Klopſtocks Meſſias, Verſe die
ihm keine Verſe ſchienen, ein Gegenſtand
der oͤffentlichen Bewunderung wurden. Er
ſelbſt hatte ſich wohl gehuͤtet dieſes Werk an¬
zuſchaffen; aber unſer Hausfreund, Rath
Schneider, ſchwaͤrzte es ein und ſteckte es
der Mutter und den Kindern zu.
Auf dieſen geſchaͤftsthaͤtigen Mann, wel¬
cher wenig las, hatte der Meſſias gleich bey
ſeiner Erſcheinung einen maͤchtigen Eindruck
gemacht. Dieſe ſo natuͤrlich ausgedruͤckten
und doch ſo ſchoͤn veredelten frommen Ge¬
fuͤhle, dieſe gefaͤllige Sprache, wenn man ſie
auch nur fuͤr harmoniſche Proſa gelten ließ,
hatten den uͤbrigens trocknen Geſchaͤftsmann
ſo gewonnen, daß er die zehn erſten Geſaͤnge,
denn von dieſen iſt eigentlich die Rede, als
das herrlichſte Erbauungsbuch betrachtete, und
ſolches alle Jahre Einmal in der Charwoche,
in welcher er ſich von allen Geſchaͤften zu
entbinden wußte, fuͤr ſich im Stillen durch¬
las und ſich daran fuͤrs ganze Jahr erquickte.
Anfangs dachte er ſeine Empfindungen ſeinem
alten Freunde mitzutheilen; allein er fand
ſich ſehr beſtuͤrzt, als er eine unheilbare Ab¬
neigung vor einem Werke von ſo koͤſtlichem
Gehalt, wegen einer wie es ihm ſchien gleich¬
guͤltigen aͤußern Form, gewahr werden mußte.
Es fehlte, wie ſich leicht denken laͤßt, nicht
an Wiederholung des Geſpraͤchs uͤber dieſen
Gegenſtand; aber beyde Theile entfernten
ſich immer weiter von einander, es gab hef¬
tige Scenen, und der nachgiebige Mann
ließ ſich endlich gefallen, von ſeinem Lieb¬
lingswerke zu ſchweigen, damit er nicht zu¬
gleich einen Jugendfreund und eine gute
Sonntagsſuppe verloͤre.
Proſelyten zu machen iſt der natuͤrlichſte
Wunſch eines jeden Menſchen, und wie ſehr
fand ſich unſer Freund im Stillen belohnt,
als er in der uͤbrigen Familie fuͤr ſeinen Hei¬
ligen ſo offen geſinnte Gemuͤther entdeckte.
Das Exemplar, das er jaͤhrlich nur eine
Woche brauchte, war uns fuͤr die uͤbrige
Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heim¬
lich, und wir Geſchwiſter bemaͤchtigten uns
deſſelben wann wir konnten, um in Frey¬
ſtunden, in irgend einem Winkel verborgen,
die auffallendſten Stellen auswendig zu ler¬
nen, und beſonders die zarteſten und heftig¬
I. 12
ſten ſo geſchwind als moͤglich ins Gedaͤchtniß
zu faſſen.
Porcia's Traum recitirten wir um die
Wette, und in das wilde verzweifelnde Ge¬
ſpraͤch zwiſchen Satan und Adramelech, welche
in's rothe Meer geſtuͤrzt worden, hatten wir
uns getheilt. Die erſte Rolle, als die ge¬
waltſamſte, war auf mein Theil gekommen,
die andere, um ein wenig klaͤglicher, uͤber¬
nahm meine Schweſter. Die wechſelſeitigen,
zwar graͤßlichen aber doch wohlklingenden Ver¬
wuͤnſchungen floſſen nur ſo vom Munde, und
wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit dieſen
hoͤlliſchen Redensarten zu begruͤßen.
Es war ein Samſtagsabend im Winter
— der Vater ließ ſich immer bey Licht raſi¬
ren, um Sonntags fruͤh ſich zur Kirche be¬
quemlich anziehen zu koͤnnen — wir ſaßen
auf einem Schaͤmel hinter dem Ofen und
murmelten, waͤhrend der Barbier einſeifte,
unſere herkoͤmmlichen Fluͤche ziemlich leiſe.
Nun hatte aber Adramelech den Satan mit
eiſernen Haͤnden zu faſſen; meine Schweſter
packte mich gewaltig an, und recitirte, zwar
leiſe genug aber doch mit ſteigender Leiden¬
ſchaft :
Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn
du es forderſt,
Ungeheuer! dich an! Verworfner, ſchwar¬
zer Verbrecher,
Hilf mir! ich leide die Pein des raͤchenden
ewigen Todes!...
Vormals konnt' ich mit heißem, mit grimmi¬
gem Haſſe dich haſſen!
Jetzt vermag ich's nicht mehr! Auch dieß iſt
ſtechender Jammer!
Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut,
mit fuͤrchterlicher Stimme, rief ſie die folgen¬
den Worte:
O wie bin ich zermalmt!..
12 *
Der gute Chirurgus erſchrak und goß dem
Vater das Seifenbecken in die Bruſt. Da
gab es einen großen Aufſtand, und eine ſtren¬
ge Unterſuchung ward gehalten, beſonders in
Betracht des Ungluͤcks das haͤtte entſtehen
koͤnnen, wenn man ſchon im Raſiren begrif¬
fen geweſen waͤre. Um allen Verdacht des
Muthwillens von uns abzulehnen, bekannten
wir uns zu unſern teufliſchen Rollen, und
das Ungluͤck das die Hexameter angerichtet
hatten, war zu offenbar, als daß man ſie
nicht aufs neue haͤtte verrufen und verbannen
ſollen.
So pflegen Kinder und Volk das Große,
das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Poſſe
zu verwandeln; und wie ſollten ſie auch ſonſt
im Stande ſeyn es auszuhalten und zu er¬
tragen.
Drittes Buch.
Der Neujahrstag ward zu jener Zeit
durch den allgemeinen Umlauf von perſoͤnli¬
chen Gluͤckwuͤnſchungen fuͤr die Stadt ſehr
belebend. Wer ſonſt nicht leicht aus dem
Hauſe kam, warf ſich in ſeine beſten Kleider,
um Goͤnnern und Freunden einen Augenblick
freundlich und hoͤflich zu ſeyn. Fuͤr uns
Kinder war beſonders die Feſtlichkeit in dem
Hauſe des Großvaters an dieſem Tage ein
hoͤchſt erwuͤnſchter Genuß. Mit dem fruͤhſten
Morgen waren die Enkel ſchon daſelbſt ver¬
ſammelt, um die Trommeln, die Hoboen
und Clarinetten, die Poſaunen und Zinken,
wie ſie das Militaͤr, die Stadtmuſici und
wer ſonſt alles ertoͤnen ließ, zu vernehmen.
Die verſiegelten und uͤberſchriebenen Neu¬
jahrsgeſchenke wurden von den Kindern un¬
ter die geringern Gratulanten ausgetheilt,
und wie der Tag wuchs, ſo vermehrte ſich
die Anzahl der Honoratioren. Erſt erſchie¬
nen die Vertrauten und Verwandten, dann
die untern Staatsbeamten; die Herren vom
Rathe ſelbſt verfehlten nicht ihren Schult¬
heiß zu begruͤßen, und eine auserwaͤhlte
Anzahl wurde Abends in Zimmern bewirthet,
welche das ganze Jahr uͤber kaum ſich oͤffne¬
ten. Die Torten, Biscuitkuchen, Marzipane,
der ſuͤße Wein uͤbte den groͤßten Reiz auf
die Kinder aus, wozu noch kam, daß der
Schultheiß ſo wie die beyden Burgemeiſter,
aus einigen Stiftungen jaͤhrlich etwas Sil¬
berzeug erhielten, welches denn den Enkeln
und Pathen nach einer gewiſſen Abſtufung
verehrt ward; genug es fehlte dieſem Feſte
im Kleinen an nichts was die groͤßten zu
verherrlichen pflegt.
Der Neujahrstag 1759 kam heran, fuͤr
uns Kinder erwuͤnſcht und vergnuͤglich wie
die vorigen, aber den aͤltern Perſonen be¬
denklich und ahndungsvoll. Die Durchmaͤr¬
ſche der Franzoſen war man zwar gewohnt,
und ſie ereigneten ſich oͤfters und haͤufig,
aber doch am haͤufigſten in den letzten Tagen
des vergangenen Jahres. Nach alter reichs¬
ſtaͤdtiſcher Sitte poſaunte der Thuͤrmer des
Hauptthurms ſo oft Truppen heranruͤckten,
und an dieſem Neujahrstage wollte er gar
nicht aufhoͤren, welches ein Zeichen war, daß
groͤßere Heereszuͤge von mehreren Seiten in
Bewegung ſeyen. Wirklich zogen ſie auch in
groͤßeren Maſſen an dieſem Tage durch die
Stadt; man lief, ſie vorbeypaſſiren zu ſehen.
Sonſt war man gewohnt, daß ſie nur in
kleinen Partieen durchmarſchirten; dieſe aber
vergroͤßerten ſich nach und nach, ohne daß
man es verhindern konnte oder wollte. Ge¬
nug, am 2ten Januar, nachdem eine Co¬
lonne durch Sachſenhauſen uͤber die Bruͤcke
durch die Fahrgaſſe bis an die Conſtabler¬
wache gelangt war, machte ſie Halt, uͤber¬
waͤltigte das kleine, ſie durchfuͤhrende Comman¬
do, nahm Beſitz von gedachter Wache, zog
die Zeile hinunter, und nach einem gerin¬
gen Widerſtand mußte ſich auch die Haupt¬
wache ergeben. Augenblicks waren die fried¬
lichen Straßen in einen Kriegsſchauplatz ver¬
wandelt. Dort verharrten und bivouakirten
die Truppen, bis durch regelmaͤßige Einquar¬
tierung fuͤr ihr Unterkommen geſorgt waͤre.
Dieſe unerwartete, ſeit vielen Jahren un¬
erhoͤrte Laſt druͤckte die behaglichen Buͤrger
gewaltig, und Niemanden konnte ſie beſchwer¬
licher ſeyn als dem Vater, der in ſein kaum
vollendetes Haus fremde militaͤriſche Bewoh¬
ner aufnehmen, ihnen ſeine wohlaufgeputzten
und meiſt verſchloſſenen Staatszimmer ein¬
raͤumen, und das was er ſo genau zu ordnen
und zu regieren pflegte, fremder Willkuͤhr
Preis geben ſollte; er, ohnehin preußiſch
geſinnt, ſollte ſich nun von Franzoſen in ſei¬
nen Zimmern belagert ſehen: es war das
Traurigſte was ihm nach ſeiner Denkweiſe
begegnen konnte. Waͤre es ihm jedoch moͤg¬
lich geweſen, die Sache leichter zu nehmen,
da er gut franzoͤſiſch ſprach, und im Leben
ſich wohl mit Wuͤrde und Anmuth betragen
konnte; ſo haͤtte er ſich und uns manche
truͤbe Stunde erſparen moͤgen: denn man
quartierte bey uns den Koͤnigs-Lieutenant,
der, obgleich Militaͤrperſon, doch nur die
Civilvorfaͤlle, die Streitigkeiten zwiſchen Sol¬
daten und Buͤrgern, Schuldenſachen und
Haͤndel zu ſchlichten hatte. Es war Graf
Thorane von Graſſe in der Provence,
ohnweit Antibes, gebuͤrtig, eine lange hagre
ernſte Geſtalt, das Geſicht durch die Blat¬
tern ſehr entſtellt, mit ſchwarzen feurigen
Augen, und von einem wuͤrdigen zuſammen¬
genommenen Betragen. Gleich ſein Eintritt
war fuͤr den Hausbewohner guͤnſtig. Man
ſprach von den verſchiedenen Zimmern, welche
theils abgegeben werden, theils der Familie
verbleiben ſollten, und als der Graf ein
Gemaͤldezimmer erwaͤhnen hoͤrte, ſo erbat er
ſich gleich, ob es ſchon Nacht war, mit Ker¬
zen die Bilder wenigſtens fluͤchtig zu beſehen.
Er hatte an dieſen Dingen eine uͤbergroße
Freude, bezeigte ſich gegen den ihn begleiten¬
den Vater auf das verbindlichſte, und als er
vernahm, daß die meiſten Kuͤnſtler noch leb¬
ten, ſich in Frankfurt und in der Nachbar¬
ſchaft aufhielten; ſo verſicherte er, daß er
nichts mehr wuͤnſche, als ſie baldigſt kennen
zu lernen und ſie zu beſchaͤftigen.
Aber auch dieſe Annaͤherung von Seiten
der Kunſt vermochte nicht die Geſinnung mei¬
nes Vaters zu aͤndern, noch ſeinen Character
zu beugen. Er ließ geſchehen was er nicht
verhindern konnte, hielt ſich aber in unwirk¬
ſamer Entfernung, und das Außerordentliche
was nun um ihn vorging, war ihm bis auf
die geringſte Kleinigkeit unertraͤglich.
Graf Thorane indeſſen betrug ſich muſter¬
haft. Nicht einmal ſeine Landcharten wollte
er an die Waͤnde genagelt haben, um die
neuen Tapeten nicht zu verderben. Seine
Leute waren gewandt, ſtill und ordentlich;
aber freylich, da den ganzen Tag und einen
Theil der Nacht nicht Ruhe bey ihm ward,
da ein Klagender dem andern folgte, Arre¬
ſtanten gebracht und fortgefuͤhrt, alle Offiziere
und Adjutanten vorgelaſſen wurden‚ da der
Graf noch uͤberdieß taͤglich offne Tafel hielt:
ſo gab es in dem maͤßig großen, nur fuͤr
eine Familie eingerichteten Hauſe, das nur
eine durch alle Stockwerke unverſchloſſen
durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung
und ein Geſumme wie in einem Bienenkoͤrbe,
obgleich alles ſehr gemaͤßigt, ernſthaft und
ſtreng zuging.
Zum Vermittler zwiſchen einem verdrie߬
lichen, taͤglich mehr ſich hypochondriſch quaͤ¬
lenden Hausherrn und einem zwar wohlwol¬
lenden aber ſehr ernſten und genauen Mili¬
taͤrgaſt, fand ſich gluͤcklicherweiſe ein behag¬
ticher Dolmetſcher, ein ſchoͤner wohlbeleibter
heitrer Mann, der Buͤrger von Frankfurt
war und gut franzoͤſiſch ſprach, ſich in alles
zu ſchicken wußte und mit mancherley kleinen
Unannehmlichkeiten nur ſeinen Spaß trieb.
Durch dieſen hatte meine Mutter dem Grafen
ihre Lage bey dem Gemuͤthszuſtande ihres
Gatten vorſtellen laſſen; er hatte die Sache
ſo kluͤglich ausgemalt, das neue noch nicht
einmal ganz eingerichtete Haus, die natuͤrliche
Zuruͤckgezogenheit des Beſitzers, die Beſchaͤf¬
tigung mit der Erziehung ſeiner Familie und
was ſich alles ſonſt noch ſagen ließ, zu beden¬
ken gegeben; ſo daß der Graf, der an ſeiner
Stelle auf die hoͤchſte Gerechtigkeit, Unbe¬
ſtechlichkeit und ehrenvollen Wandel den groͤ߬
ten Stolz ſetzte, auch hier ſich als Einquar¬
tierter muſterhaft zu betragen vornahm, und
es wirklich die einigen Jahre ſeines Dablei¬
bens unter mancherley Umſtaͤnden unverbruͤch¬
lich gehalten hat.
Meine Mutter beſaß einige Kenntniß des
Italiaͤniſchen, welche Sprache uͤberhaupt Nie¬
manden von der Familie fremd war: ſie ent¬
ſchloß ſich daher ſogleich Franzoͤſiſch zu ler¬
nen, zu welchem Zweck der Dolmetſcher, dem
ſie unter dieſen ſtuͤrmiſchen Ereigniſſen ein
Kind aus der Taufe gehoben hatte, und der
nun auch als Gevatter zu dem Hauſe eine
doppelte Neigung ſpuͤrte, ſeiner Gevatterinn
jeden abgemuͤßigten Augenblick ſchenkte (denn
er wohnte gerade gegenuͤber) und ihr vor
allen Dingen diejenigen Phraſen einlernte,
welche ſie perſoͤnlich dem Grafen vorzutragen
habe; welches denn zum beſten gerieth. Der
Graf war geſchmeichelt von der Muͤhe, welche
die Hausfrau ſich in ihren Jahren gab, und
weil er einen heitern geiſtreichen Zug in ſei¬
nem Character hatte, auch eine gewiſſe trockne
Galanterie gern ausuͤbte; ſo entſtand daraus
das beſte Verhaͤltniß, und die verbuͤndeten
Gevattern konnten erlangen was ſie wollten.
Waͤre es, wie ſchon geſagt, moͤglich ge¬
weſen, den Vater zu erheitern, ſo haͤtte die¬
ſer veraͤnderte Zuſtand wenig Druͤckendes ge¬
habt. Der Graf uͤbte die ſtrengſte Uneigen¬
nuͤtzigkeit; ſelbſt Gaben, die ſeiner Stelle ge¬
buͤhrten, lehnte er ab; das Geringſte was einer
Beſtechung haͤtte aͤhnlich ſehen koͤnnen, wurde
mit Zorn, ja mit Strafe weggewieſen; ſeinen
Leuten war aufs ſtrengſte befohlen, dem Haus¬
beſitzer nicht die mindeſten Unkoſten zu ma¬
chen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich
vom Nachtiſche mitgetheilt. Bey dieſer Gele¬
heit muß ich, um von der Unſchuld jener
Zeiten einen Begriff zu geben, anfuͤhren, daß
die Mutter uns eines Tages hoͤchlich betruͤbte,
indem ſie das Gefrorene, das man uns von
der Tafel ſendete, weggoß, weil es ihr un¬
moͤglich vorkam, daß der Magen ein wahr¬
haftes Eis, wenn es auch noch ſo durchzuckert
ſey, vertragen koͤnne.
Außer dieſen Leckereyen, die wir denn doch
allmaͤhlich ganz gut genießen und vertragen
lernten, daͤuchte es uns Kindern auch noch
gar behaglich, von genauen Lehrſtunden und
ſtrenger Zucht einigermaßen entbunden zu ſeyn.
Des Vaters uͤble Laune nahm zu, er konnte
ſich nicht in das Unvermeidliche ergeben. Wie
ſehr quaͤlte er ſich, die Mutter und den Ge¬
vatter, die Rathsherren, alle ſeine Freunde,
nur um den Grafen los zu werden! Vergebens
ſtellte man ihm vor, daß die Gegenwart eines
ſolchen Mannes im Hauſe, unter den gegebe¬
nen Umſtaͤnden, eine wahre Wohlthat ſey,
daß ein ewiger Wechſel, es ſey nun von Of¬
fizieren oder Gemeinen, auf die Umquartierung
des Grafen folgen wuͤrde. Keins von die¬
ſen Argumenten wollte bey ihm greifen. Das
Gegenwaͤrtige ſchien ihm ſo unertraͤglich, daß
ihn ſein Unmuth ein Schlimmeres das folgen
koͤnnte, nicht gewahr werden ließ.
Auf dieſe Weiſe ward ſeine Thaͤtigkeit ge¬
laͤhmt, die er ſonſt hauptſaͤchlich auf uns zu
wenden gewohnt war. Das was er uns auf¬
I. 13
gab, forderte er nicht mehr mit der ſonſtigen
Genauigkeit, und wir ſuchten, wie es nur moͤg¬
lich ſchien, unſere Neugierde an militaͤriſchen
und andern oͤffentlichen Dingen zu befriedi¬
gen, nicht allein im Hauſe, ſondern auch auf
den Straßen, welches um ſo leichter anging,
da die Tag und Nacht unverſchloſſene Haus¬
thuͤre von Schildwachen beſetzt war, die ſich
um das Hin- und Wiederlaufen unruhiger
Kinder nichts bekuͤmmerten.
Die mancherley Angelegenheiten, die vor
dem Richterſtuhle des Koͤnigslieutenant ge¬
ſchlichtet wurden, hatten dadurch noch ei¬
nen ganz beſondern Reiz, daß er einen eige¬
nen Werth darauf legte, ſeine Entſcheidun¬
gen zugleich mit einer witzigen, geiſtreichen,
heitern Wendung zu begleiten. Was er be¬
fahl, war ſtreng gerecht; die Art wie er
es ausdruͤckte, war launig und pikant. Er
ſchien ſich den Herzog von Oſſuna zum
Vorbilde genommen zu haben. Es verging
195
kaum ein Tag, daß der Dolmetſcher nicht
eine oder die andere ſolche Anecdote uns und
der Mutter zur Aufheiterung erzaͤhlte. Es
hatte dieſer muntere Mann eine kleine Samm¬
lung ſolcher Salomoniſchen Entſcheidungen ge¬
macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬
drucks im Allgemeinen, ohne im Gedaͤchtniß
ein Beſonderes wieder zu finden.
Den wunderbaren Character des Grafen
lernte man nach und nach immer mehr kennen.
Dieſer Mann war ſich ſelbſt, ſeiner Eigen¬
heiten aufs deutlichſte bewußt, und weil er ge¬
wiſſe Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art
von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man
den boͤſen Daͤmon nennen ſoll, uͤberfiel; ſo zog
er ſich in ſolchen Stunden, die ſich manchmal
zu Tagen verlaͤngerten, in ſein Zimmer zuruͤck,
ſah Niemanden als ſeinen Cammerdiener,
und war ſelbſt in dringenden Faͤllen nicht zu
bewegen, daß er Audienz gegeben haͤtte. So¬
bald aber der boͤſe Geiſt von ihm gewichen
13 *
war, erſchien er nach wie vor, mild, heiter
und thaͤtig. Aus den Reden ſeines Cammer¬
dieners, Saint Jean, eines kleinen hagern
Mannes von muntrer Gutmuͤthigkeit, konnte
man ſchließen, daß er in fruͤhern Jahren von
ſolcher Stimmung uͤberwaͤltigt, großes Ungluͤck
angerichtet, und ſich nun vor aͤhnlichen Ab¬
wegen, bey einer ſo wichtigen, den Blicken al¬
ler Welt ausgeſetzten Stelle, zu huͤten ernſtlich
vornehme.
Gleich in den erſten Tagen der Anweſen¬
heit des Grafen wurden die ſaͤmmtlichen
Frankfurter Maler, als Hirt, Schuͤtz,
Trautmann, Nothnagel, Junker, zu
ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen Gemaͤl¬
de vor, und der Graf eignete ſich das Verkaͤuf¬
liche zu. Ihm wurde mein huͤbſches helles Gie¬
belzimmer in der Manſarde eingeraͤumt und ſo¬
gleich in ein Cabinett und Atelier umgewandelt:
denn er war Willens, die ſaͤmmtlichen Kuͤnſtler,
vor allen aber Seekaz in Darmſtadt, deſ¬
ſen Pinſel ihm beſonders bey natuͤrlichen und
unſchuldigen Vorſtellungen hoͤchlich gefiel, fuͤr
eine ganze Zeit in Arbeit zu ſetzen. Er ließ
daher von Graſſe, wo ſein aͤlterer Bruder
ein ſchoͤnes Gebaͤude beſitzen mochte, die ſaͤmmt¬
lichen Maße aller Zimmer und Cabinette her¬
beykommen, uͤberlegte ſodann mit den Kuͤnſt¬
lern die Wandabtheilungen, und beſtimmte
die Groͤße der hiernach zu verfertigenden an¬
ſehnlichen Oelbilder, welche nicht in Ramen
eingefaßt, ſondern als Tapetentheile auf die
Wand befeſtigt werden ſollten. Hier ging
nun die Arbeit eifrig an. Seekaz uͤber¬
nahm laͤndliche Scenen, worin die Greiſe und
Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt,
ganz herrlich gluͤckten; die Juͤnglinge wollten
ihm nicht eben ſo gerathen, ſie waren meiſt
zu hager; und die Frauen misfielen aus der
entgegengeſetzten Urſache. Denn da er eine
kleine dicke, gute aber unangenehme Perſon
zur Frau hatte, die ihm außer ſich ſelbſt nicht
wohl ein Modell zuließ; ſo wollte nichts Ge¬
faͤlliges zu Stande kommen. Zudem war er
genoͤthigt geweſen, uͤber das Maß ſeiner Fi¬
guren hinaus zu gehen. Seine Baͤume hatten
Wahrheit, aber ein kleinliches Blaͤtterwerk.
Er war ein Schuͤler von Brinkmann, deſ¬
ſen Pinſel in Staffeleygemaͤlden nicht zu
ſchelten iſt.
Schuͤtz, der Landſchaftmaler, fand ſich
vielleicht am beſten in die Sache. Die Rhein¬
gegenden hatte er ganz in ſeiner Gewalt, ſo wie
den ſonnigen Ton, der ſie in der ſchoͤnen Jah¬
reszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt,
in einem groͤßern Maßſtabe zu arbeiten, und
auch da ließ er es an Ausfuͤhrung und Hal¬
tung nicht fehlen. Er lieferte ſehr heitre
Bilder.
Trautmann rembrandiſirte einige Auf¬
erweckungswunder des neuen Teſtaments, und
zuͤndete nebenher Doͤrfer und Muͤhlen an.
Auch ihm war, wie ich aus den Aufriſſen
der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Ca¬
binett zugetheilt worden. Hirt malte eini¬
ge gute Eichen- und Buchenwaͤlder. Seine
Heerden waren lobenswert. Junker, an
die Nachahmung der ausfuͤhrlichſten Nieder¬
laͤnder gewoͤhnt, konnte ſich am wenigſten in
dieſen Tapetenſtyl finden; jedoch bequemte er
ſich, fuͤr gute Zahlung, mit Blumen und
Fruͤchten manche Abtheilung zu verzieren.
Da ich alle dieſe Maͤnner von meiner
fruͤhſten Jugend an gekannt, und ſie oft in
ihren Werkſtaͤtten beſucht hatte, auch der
Graf mich gern um ſich leiden mochte; ſo
war ich bey den Aufgaben, Berathſchlagun¬
gen und Beſtellungen, wie auch bey den Ab¬
lieferungen gegenwaͤrtig, und nahm mir, zu¬
mal wenn Skizzen und Entwuͤrfe eingereicht
wurden, meine Meynung zu eroͤffnen gar
wohl heraus. Ich hatte mir ſchon fruͤher
bey Gemaͤlde-Liebhabern, beſonders aber auf
Auctionen, denen ich fleißig beywohnte, den
Ruhm erworben, daß ich gleich zu ſagen
wiſſe, was irgend ein hiſtoriſches Bild vor¬
ſtelle, es ſey nun aus der bibliſchen oder der
Profangeſchichte oder aus der Mythologie ge¬
nommen; und wenn ich auch den Sinn der
allegoriſchen Bilder nicht immer traf, ſo war
doch ſelten Jemand gegenwaͤrtig, der es beſ¬
ſer verſtand als ich. So hatte ich auch oͤf¬
ters die Kuͤnſtler vermocht, dieſen oder jenen
Gegenſtand vorzuſtellen, und ſolcher Vortheile
bediente ich mich gegenwaͤrtig mit Luſt und
Liebe. Ich erinnere mich noch, daß ich ei¬
nen umſtaͤndlichen Aufſatz verfertigte, worin
ich zwoͤlf Bilder beſchrieb, welche die Ge¬
ſchichte Joſephs darſtellen ſollten: einige da¬
von wurden ausgefuͤhrt.
Nach dieſen, fuͤr einen Knaben allerdings
loͤblichen Verrichtungen, will ich auch einer
kleinen Beſchaͤmung, die mir innerhalb dieſes
Kuͤnſtlerkreiſes begegnete, Erwaͤhnung thun.
Ich war naͤmlich mit allen Bildern wohl be¬
kannt, welche man nach und nach in jenes
Zimmer gebracht hatte. Meine jugendliche
Neugierde ließ nichts ungeſehen und unun¬
terſucht. Einſt fand ich hinter dem Ofen ein
ſchwarzes Kaͤſtchen; ich ermangelte nicht, zu
forſchen was darin verborgen ſey, und ohne
mich lange zu beſinnen zog ich den Schieber
weg. Das darin enthaltene Gemaͤlde war
freylich von der Art, die man den Augen
nicht auszuſtellen pflegt, und ob ich es gleich
alſobald wieder zuzuſchieben Anſtalt machte,
ſo konnte ich doch nicht geſchwind genug da¬
mit fertig werden. Der Graf trat herein
und ertappte mich. — „Wer hat Euch er¬
laubt dieſes Kaͤſtchen zu eroͤffnen?“ ſagte er
mit ſeiner Koͤnigslieutenants-Miene. Ich
hatte nicht viel darauf zu antworten, und
er ſprach ſogleich die Strafe ſehr ernſthaft
aus: „Ihr werdet in acht Tagen, ſagte er,
dieſes Zimmer nicht betreten.“ — Ich machte
eine Verbeugung und ging hinaus. Auch ge¬
horchte ich dieſem Gebot aufs puͤnctlichſte,
ſo daß es dem guten Seekaz, der eben in
dem Zimmer arbeitete, ſehr verdrießlich war:
denn er hatte mich gern um ſich; und ich
trieb aus einer kleinen Tuͤcke den Gehorſam
ſo weit, daß ich Seekazen ſeinen Kaffe, den
ich ihm gewoͤhnlich brachte, auf die Schwelle
ſetzte; da er denn von ſeiner Arbeit aufſtehen
und ihn holen mußte, welches er ſo uͤbel
empfand, daß er mir faſt gram geworden waͤre.
Nun aber ſcheint es noͤthig, umſtaͤndli¬
cher anzuzeigen und begreiflich zu machen,
wie ich mir in ſolchen Faͤllen in der franzoͤ¬
ſiſchen Sprache, die ich doch nicht gelernt,
mit mehr oder weniger Bequemlichkeit durch¬
geholfen. Auch hier kam mir die angeborne
Gabe zu ſtatten, daß ich leicht den Schall
und Klang einer Sprache, ihre Bewegung,
ihren Accent, den Ton und was ſonſt von
aͤußern Eigenthuͤmlichkeiten, faſſen konnte.
Aus dem Lateiniſchen waren mir viele Worte
bekannt; das Italiaͤniſche vermittelte noch
mehr, und ſo horchte ich in kurzer Zeit von
Bedienten und Soldaten, Schildwachen und
Beſuchen ſo viel heraus, daß ich mich, wo
nicht ins Geſpraͤch miſchen, doch wenigſtens
einzelne Fragen und Antworten beſtehen konnte.
Aber dieſes war alles nur wenig gegen den
Vortheil, den mir das Theater brachte. Von
meinem Großvater hatte ich ein Freybillet
erhalten, deſſen ich mich, mit Widerwillen
meines Vaters, unter dem Beyſtand meiner
Mutter, taͤglich bediente. Hier ſaß ich nun
im Parterre vor einer fremden Buͤhne, und
paßte um ſo mehr auf Bewegung, mimiſchen
und Rede-Ausdruck, als ich wenig oder
nichts von dem verſtand was da oben geſpro¬
chen wurde, und alſo meine Unterhaltung nur
vom Geberdenſpiel und Sprachton nehmen
konnte. Von der Comoͤdie verſtand ich am
wenigſten, weil ſie geſchwind geſprochen wurde
und ſich auf Dinge des gemeinen Lebens be¬
zog, deren Ausdruͤcke mir gar nicht bekannt
waren. Die Tragoͤdie kam ſeltner vor, und
der gemeſſene Schritt, das Tactartige der
Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks
machten ſie mir in jedem Sinne faßlicher.
Es dauerte nicht lange, ſo nahm ich den
Racine, den ich in meines Vaters Biblio¬
thek antraf, zur Hand, und declamirte mir
die Stuͤcke nach theatraliſcher Art und Weiſe,
wie ſie das Organ meines Ohrs und das
ihm ſo genau verwandte Sprachorgan gefaßt
hatte, mit großer Lebhaftigkeit, ohne daß ich
noch eine ganze Rede im Zuſammenhang
haͤtte verſtehen koͤnnen. Ja ich lernte ganze
Stellen auswendig und recitirte ſie, wie ein
eingelernter Sprachvogel; welches mir um
ſo leichter ward, als ich fruͤher die fuͤr ein
Kind meiſt unverſtaͤndlichen bibliſchen Stellen
auswendig gelernt, und ſie in dem Ton der
proteſtantiſchen Prediger zu recitiren mich ge¬
woͤhnt hatte. Das verſificirte franzoͤſiſche Luſt¬
ſpiel war damals ſehr beliebt; die Stuͤcke von
Destouches, Mariveaux, La Chauſ¬
ſée kamen haͤufig vor, und ich erinnere mich
noch deutlich mancher charakteriſtiſchen Figu¬
ren. Von den Molieriſchen iſt mir we¬
niger im Sinn geblieben. Was am meiſten
Eindruck auf mich machte, war die Hyper¬
mneſtra von Lemière, die als ein neues
Stuͤck mit Sorgfalt aufgefuͤhrt und wieder¬
holt gegeben wurde. Hoͤchſt anmuthig war
der Eindruck, den der Devin du Village,
Rose et Colas, Annette et Lubin, auf
mich machten. Ich kann mir die bebaͤnder¬
ten Buben und Maͤdchen und ihre Bewe¬
gungen noch jetzt zuruͤckrufen. Es dauerte
nicht lange, ſo regte ſich der Wunſch bey
mir, mich auf dem Theater ſelbſt umzuſehen,
wozu ſich mir ſo mancherley Gelegenheit dar¬
bot. Denn da ich nicht immer die ganzen
Stuͤcke auszuhoͤren Geduld hatte, und manche
Zeit in den Corridors, auch wohl bey gelin¬
derer Jahrszeit vor der Thuͤre, mit andern
Kindern meines Alters allerley Spiele trieb;
ſo geſellte ſich ein ſchoͤner munterer Knabe
zu uns, der zum Theater gehoͤrte, und den
ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur
beylaͤufig, geſehen hatte. Mit mir konnte er
ſich am beſten verſtaͤndigen, indem ich mein
Franzoͤſiſch bey ihm geltend zu machen wußte;
und er knuͤpfte ſich um ſo mehr an mich,
als kein Knabe ſeines Alters und ſeiner Na¬
tion beym Theater oder ſonſt in der Naͤhe
war. Wir gingen auch außer der Theater¬
zeit zuſammen, und ſelbſt waͤhrend der Vor¬
ſtellungen ließ er mich ſelten in Ruhe. Er
war ein allerliebſter kleiner Aufſchneider,
ſchwaͤtzte charmant und unaufhoͤrlich, und
wußte ſo viel von ſeinen Abenteuern, Haͤn¬
deln und andern Sonderbarkeiten zu erzaͤhlen,
daß er mich außerordentlich unterhielt, und
ich von ihm, was Sprache und Mittheilung
durch dieſelbe betrifft, in vier Wochen mehr
lernte, als man ſich haͤtte vorſtellen koͤnnen;
ſo daß Niemand wußte, wie ich auf einmal,
gleichſam durch Inſpiration, zu der fremden
Sprache gelangt war.
Gleich in den erſten Tagen unſerer Be¬
kanntſchaft zog er mich mit ſich aufs Theater,
und fuͤhrte mich beſonders in die Foyers, wo
die Schauſpieler und Schauſpielerinnen in
der Zwiſchenzeit ſich aufhielten und ſich an
und auskleideten. Das Local war weder
guͤnſtig noch bequem, indem man das Thea¬
ter in einen Concertſaal hineingezwaͤngt hatte,
ſo daß fuͤr die Schauſpieler hinter der Buͤhne
keine beſonderen Abtheilungen ſtatt fanden.
In einem ziemlich großen Nebenzimmer, das
ehedem zu Spielpartieen gedient hatte, wa¬
ren nun beyde Geſchlechter meiſt beyſammen
und ſchienen ſich ſo wenig unter einander
ſelbſt als vor uns Kindern zu ſcheuen, wenn
es beym Anlegen oder Veraͤndern der Klei¬
dungsſtuͤcke nicht immer zum anſtaͤndigſten
herging. Mir war dergleichen niemals vor¬
gekommen, und doch fand ich es bald durch
Gewohnheit, bey wiederholtem Beſuch, ganz
natuͤrlich.
Es waͤhrte nicht lange, ſo entſpann ſich
aber fuͤr mich ein eignes und beſondres In¬
tereſſe. Der junge Derones, ſo will ich
den Knaben nennen, mit dem ich mein Ver¬
haͤltniß immer fortſetzte, war außer ſeinen
Aufſchneidereyen ein Knabe von guten Sitten
und recht artigem Betragen. Er machte
mich mit ſeiner Schweſter bekannt, die ein
paar Jahre aͤlter als wir und ein gar ange¬
nehmes Maͤdchen war, gut gewachſen, von
einer regelmaͤßigen Bildung, brauner Farbe,
ſchwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes
Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges.
Ich ſuchte ihr auf alle Weiſe gefaͤllig zu
ſeyn; allein ich konnte ihre Aufmerkſamkeit
nicht auf mich lenken. Junge Maͤdchen duͤn¬
ken ſich gegen juͤngere Knaben ſehr weit vor¬
geſchritten, und nehmen, indem ſie nach den
Juͤnglingen hinſchauen, ein tantenhaftes Be¬
tragen gegen den Knaben an, der ihnen ſeine
erſte Neigung zuwendet. Mit einem juͤngern
Bruder hatte ich kein Verhaͤltniß.
Manchmal, wenn die Mutter auf den
Proben oder in Geſellſchaft war, fanden wir
uns in ihrer Wohnung zuſammen, um zu
ſpielen oder uns zu unterhalten. Ich ging
niemals hin, ohne der Schoͤnen eine Blume,
eine Frucht oder ſonſt etwas zu uͤberreichen,
welches ſie zwar jederzeit mit ſehr guter Art
annahm und auf das hoͤflichſte dankte; al¬
lein ich ſah ihren traurigen Blick ſich nie¬
mals erheitern, und fand keine Spur, daß
ſie ſonſt auf mich geachtet haͤtte. Endlich
glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der
Knabe zeigte mir hinter dem Bette ſeiner
Mutter, das mit eleganten ſeidnen Vorhaͤn¬
gen aufgeputzt war, ein Paſtellbild, das Por¬
traͤt eines ſchoͤnen Mannes, und bemerkte zu¬
gleich mit ſchlauer Miene: das ſey eigentlich
nicht der Papa, aber eben ſo gut wie der
Papa; und indem er dieſen Mann ruͤhmte,
und nach ſeiner Art umſtaͤndlich und prahle¬
riſch manches erzaͤhlte: ſo glaubte ich heraus¬
zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater,
I. 14
die beyden andern Kinder aber dem Haus¬
freund angehoͤren mochten. Ich erklaͤrte mir
nun ihr trauriges Anſehen und hatte ſie nur
um deſto lieber.
Die Neigung zu dieſem Maͤdchen half
mir die Schwindeleyen des Bruders uͤbertra¬
gen, der nicht immer in ſeinen Graͤnzen
blieb. Ich hatte oft die weitlaͤuftigen Er¬
zaͤhlungen ſeiner Großthaten auszuhalten, wie
er ſich ſchon oͤfter geſchlagen, ohne jedoch
dem andern ſchaden zu wollen: es ſey alles
blos der Ehre wegen geſchehen. Stets habe
er gewußt ſeinen Widerſacher zu entwaffnen,
und ihm alsdann verziehen; ja er verſtehe
ſich aufs Legiren ſo gut, daß er einſt ſelbſt
in große Verlegenheit gerathen, als er den
Degen ſeines Gegners auf einen hohen Baum
geſchleudert, ſo daß man ihn nicht leicht wie¬
der habhaft werden koͤnnen.
Was mir meine Beſuche auf dem Thea¬
ter ſehr erleichterte, war, daß mir mein
Freybillet, als aus den Haͤnden des Schult¬
heißen, den Weg zu allen Plaͤtzen eroͤffnete,
und alſo auch zu den Sitzen im Proſcenium.
Dieſes war nach franzoͤſiſcher Art ſehr tief
und an beyden Seiten mit Sitzen eingefaßt,
die durch eine niedrige Barriere beſchraͤnkt,
ſich in mehreren Reihen hinter einander auf¬
bauten und zwar dergeſtalt, daß die erſten
Sitze nur wenig uͤber die Buͤhne erhoben
waren. Das Ganze galt fuͤr einen beſon¬
dern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten ſich
gewoͤhnlich deſſelben, obgleich die Naͤhe der
Schauſpieler, ich will nicht ſagen jede Illu¬
ſion, ſondern gewiſſermaßen jedes Gefallen
aufhob. Sogar jenen Gebrauch oder Mis¬
brauch, uͤber den ſich Voltaire ſo ſehr be¬
ſchwert, habe ich noch erlebt und mit Au¬
gen geſehen. Wenn bey ſehr vollem Hauſe,
und etwa zur Zeit von Durchmaͤrſchen ange¬
ſehene Offiziere nach jenem Ehrenplatz ſtreb¬
ten, der aber gewoͤhnlich ſchon beſetzt war;
ſo ſtellte man noch einige Reihen Baͤnke und
14 *
Stuͤhle ins Proſcenium auf die Buͤhne ſelbſt,
und es blieb den Helden und Heldinnen
nichts uͤbrig, als in einem ſehr maͤßigen
Raume zwiſchen den Uniformen und Orden
ihre Geheimniſſe zu enthuͤllen. Ich habe
die Hypermneſtra ſelbſt unter ſolchen Umſtaͤn¬
den auffuͤhren ſehen.
Der Vorhang fiel nicht zwiſchen den Ac¬
ten; und ich erwaͤhne noch eines ſeltſamen
Gebrauchs, den ich ſehr auffallend finden mu߬
te, da mir als einem guten deutſchen Kna¬
ben das Kunſtwidrige daran ganz unertraͤg¬
lich war. Das Theater naͤmlich ward als
das groͤßte Heiligthum betrachtet und eine
vorfallende Stoͤrung auf demſelben haͤtte als
das groͤßte Verbrechen gegen die Majeſtaͤt
des Publicums ſogleich muͤſſen geruͤgt werden.
Zwey Grenadiere, das Gewehr beym Fuß,
ſtanden daher in allen Luſtſpielen ganz oͤffent¬
lich zu beyden Seiten des hinterſten Vor¬
hangs, und waren Zeugen von allem was
im Innerſten der Familie vorging. Da, wie
geſagt, zwiſchen den Acten der Vorhang
nicht niedergelaſſen wurde; ſo loͤſten, bey ein¬
fallender Muſik, zwey andere dergeſtalt ab,
daß ſie aus den Culiſſen ganz ſtrack vor jene
hintraten, welche ſich dann eben ſo gemeſſent¬
lich zuruͤckzogen. Wenn nun eine ſolche An¬
ſtalt recht dazu geeignet war, alles was man
beym Theater Illuſion nennt, aufzuheben; ſo
faͤllt es um ſo mehr auf, daß dieſes zu einer
Zeit geſchah, wo nach Diderots Grundſaͤtzen
und Beyſpielen die natuͤrlichſte Natuͤrlichkeit
auf der Buͤhne gefordert, und eine vollkom¬
mene Taͤuſchung als das eigentliche Ziel der
theatraliſchen Kunſt angegeben wurde. Von
einer ſolchen militaͤriſchen Polizeyanſtalt war
jedoch die Tragoͤdie entbunden, und die Hel¬
den des Alterthums hatten das Recht ſich
ſelbſt zu bewachen; die gedachten Grenadiere
ſtanden indeß nahe genug hinter den Cu¬
liſſen.
So will ich denn auch noch anfuͤhren,
daß ich Diderot's Hausvater, und die
Philoſophen von Paliſſot geſehen habe,
und mich im letztern Stuͤck der Figur des
Philoſophen, der auf allen Vieren geht und
in ein rohes Salathaupt beißt, noch wohl
erinnre.
Alle dieſe theatraliſche Mannigfaltigkeit
konnte jedoch uns Kinder nicht immer im
Schauſpielhauſe feſthalten. Wir ſpielten bey
ſchoͤnem Wetter vor demſelben und in der
Naͤhe, und begingen allerley Thorheiten,
welche beſonders an Sonn- und Feſttagen
keineswegs zu unſrem Aeußeren paßten: denn
ich und meines Gleichen erſchienen alsdann,
angezogen wie man mich in jenem Maͤhrchen
geſehen, den Hut unterm Arm, mit einem
kleine Degen, deſſen Buͤgel mit einer gro¬
ßen ſeidenen Bandſchleife geziert war. Einſt,
als wir eine ganze Zeit unſer Weſen getrie¬
ben, und Derones ſich unter uns gemiſcht
hatte, fiel es dieſem ein, mir zu betheuern,
ich hatte ihn beleidigt, und muͤſſe ihm Sa¬
tisfaction geben. Ich begriff zwar nicht,
was ihm Anlaß geben konnte, ließ mir aber
ſeine Ausforderung gefallen und wollte ziehen.
Er verſicherte mir aber, es ſey in ſolchen
Faͤllen gebraͤuchlich, daß man an einſame
Oerter gehe, um die Sache deſto bequemer
ausmachen zu koͤnnen. Wir verfuͤgten uns
deshalb hinter einige Scheunen, und ſtellten
uns in gehoͤrige Poſitur. Der Zweykampf
erfolgte auf eine etwas theatraliſche Weiſe,
die Klingen klirrten, und die Stoͤße gingen
neben aus; doch im Feuer der Action blieb
er mit der Spitze ſeines Degens an der
Bandſchleife meines Buͤgels hangen. Sie
ward durchbohrt, und er verſicherte mir,
daß er nun die vollkommenſte Satisfaction
habe, umarmte mich ſodann, gleichfalls recht
theatraliſch, und wir gingen in das naͤch¬
ſte Caffeehaus, um uns mit einem Glaſe
Mandelmilch von unſerer Gemuͤthsbewegung
zu erholen und den alten Freundſchafts-
Bund nur deſto feſter zu ſchließen.
Ein andres Abenteuer, das mir auch im
Schauſpielhauſe obgleich ſpaͤter begegnet, will
ich bey dieſer Gelegenheit erzaͤhlen. Ich ſaß
naͤmlich mit einem meiner Geſpielen ganz
ruhig im Parterre, und wir ſahen mit Ver¬
gnuͤgen einem Solotanze zu, den ein huͤb¬
ſcher Knabe, ohngefaͤhr von unſerm Alter,
der Sohn eines durchreiſenden franzoͤſiſchen
Tanzmeiſters, mit vieler Gewandtheit und
Anmuth auffuͤhrte. Nach Art der Taͤnzer
war er mit einem knappen Waͤmschen von
rother Seide bekleidet, welches in einen kur¬
zen Reifrock ausgehend, gleich den Laufer¬
ſchuͤrzen, bis uͤber die Kniee ſchwebte. Wir
hatten dieſem angehenden Kuͤnſtler mit dem
ganzen Publicum unſern Beyfall gezollt, als
mir ich weiß nicht wie einfiel, eine morali¬
ſche Reflexion zu machen. Ich ſagte zu mei¬
nem Begleiter: Wie ſchoͤn war dieſer Knabe
geputzt und wie gut nahm er ſich aus; wer
weiß in was fuͤr einem zerriſſenen Jaͤckchen
er heute Nacht ſchlafen mag! — Alles war
ſchon aufgeſtanden, nur ließ uns die Menge
noch nicht vorwaͤrts. Eine Frau, die neben
mir geſeſſen hatte und nun hart an mir
ſtand, war zufaͤlliger Weiſe die Mutter die¬
ſes jungen Kuͤnſtlers, die ſich durch meine
Reflexion ſehr beleidigt fuͤhlte. Zu meinem
Ungluͤck konnte ſie Deutſch genug, um mich
verſtanden zu haben, und ſprach es gerade ſo
viel als noͤthig war, um ſchelten zu koͤnnen.
Sie machte mich gewaltig herunter: Wer ich
denn ſey, meinte ſie, daß ich Urſache haͤtte
an der Familie und an der Wohlhabenheit
dieſes jungen Menſchen zu zweifeln. Auf
alle Falle duͤrfe ſie ihn fuͤr ſo gut halten als
mich, und ſeine Talente koͤnnten ihm wohl
ein Gluͤck bereiten, wovon ich mir nicht
wuͤrde traͤumen laſſen. Dieſe Strafpredigt
hieit ſie mir im Gedraͤnge und machte die
Umſtehenden aufmerkſam, welche Wunder
dachten, was ich fuͤr eine Unart muͤßte be¬
gangen haben. Da ich mich weder entſchul¬
digen, noch von Ihr entfernen konnte, ſo
war ich wirklich verlegen, und als ſie einen
Augenblick inne hielt, ſagte ich, ohne etwas
dabey zu denken: Nun, wozu der Laͤrm?
heute roth, morgen todt! — Auf dieſe Worte
ſchien die Frau zu verſtummen. Sie ſah
mich an und entfernte ſich von mir, ſobald
es nur einigermaßen moͤglich war. Ich
dachte nicht weiter an meine Worte. Nur
einige Zeit hernach fielen ſie mir auf, als
der Knabe, anſtatt ſich nochmals ſehen zu
laſſen, krank ward und zwar ſehr gefaͤhrlich.
Ob er geſtorben iſt, weiß ich nicht zu ſagen.
Dergleichen Vordeutungen durch ein un¬
zeitig, ja unſchicklich ausgeſprochnes Wort
ſtanden bey den Alten ſchon in Anſehen,
und es bleibt hoͤchſt merkwuͤrdig, daß die
Formen des Glaubens und Aberglaubens bey
allen Voͤlkern und zu allen Zeiten immer die¬
ſelben geblieben ſind.
Nun fehlte es von dem erſten Tage der
Beſitznehmung unſerer Stadt, zumal Kin¬
dern und jungen Leuten, nicht an immer¬
waͤhrender Zerſtreuung. Theater und Baͤlle,
Paraden und Durchmaͤrſche zogen unſere Auf¬
merkſamkeit hin und her. Die letztern be¬
ſonders nahmen immer zu, und das Solda¬
tenleben ſchien uns ganz luſtig und ver¬
gnuͤglich.
Der Aufenthalt des Koͤnigs-Lieutenants
in unſerm Hauſe verſchaffte uns den Vortheil,
alle bedeutende Perſonen der franzoͤſiſchen Ar¬
mee nach und nach zu ſehen, und beſonders
die Erſten, deren Name ſchon durch den Ruf
zu uns gekommen war, in der Naͤhe zu be¬
trachten. So ſahen wir von Treppen und
Podeſten, gleichſam wie von Galerieen, ſehr
bequem die Generalitaͤt bey uns voruͤbergehn.
Vor allen erinnere ich mich des Prinzen Sou¬
biſe als eines ſchoͤnen leutſeligen Herrn;
am deutlichſten aber des Marſchalls von
Broglio als eines juͤngern, nicht großen
aber wohlgebauten, lebhaften, geiſtreich um
ſich blickenden, behenden Mannes.
Er kam mehrmals zum Koͤnigs-Lieutenant,
und man merkte wohl, daß von wichtigen
Dingen die Rede war. Wir hatten uns im
erſten Vierteljahr der Einquartierung kaum in
dieſen neuen Zuſtand gefunden, als ſchon die
Nachricht ſich dunkel verbreitete: die Alliirten
ſeyen im Anmarſch, und Herzog Ferdi¬
nand von Braunſchweig komme, die Fran¬
zoſen vom Main zu vertreiben. Man hatte
von dieſen, die ſich keines beſondern Kriegs¬
gluͤckes ruͤhmen konnten, nicht die groͤßte
Vorſtellung, und ſeit der Schlacht von Ros¬
bach glaubte man ſie verachten zu duͤrfen;
auf den Herzog Ferdinand ſetzte man das
groͤßte Vertrauen, und alle preußiſch Ge¬
ſinnten erwarteten mit Sehnſucht ihre Be¬
freyung von der bisherigen Laſt. Mein Va¬
ter war etwas heiterer, meine Mutter in
Sorgen. Sie war klug genug einzuſe¬
hen, daß ein gegenwaͤrtiges geringes Uebel
leicht mit einem großen Ungemach vertauſcht
werden koͤnne: denn es zeigte ſich nur allzu
deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬
gen gehen, ſondern einen Angriff in der
Naͤhe der Stadt abwarten werde. Eine
Niederlage der Franzoſen, eine Flucht, eine
Vertheidigung der Stadt, waͤre es auch nur
um den Ruͤckzug zu decken und um die
Bruͤcke zu behalten, ein Bombardement, eine
Pluͤnderung, alles ſtellte ſich der erregten
Einbildungskraft dar, und machte beyden
Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche
alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte,
ließ durch den Dolmetſcher ihre Furcht bey
dem Grafen anbringen; worauf ſie die in
ſolchen Faͤllen gebraͤuchliche Antwort erhielt:
ſie ſolle ganz ruhig ſeyn, es ſey nichts zu
befuͤrchten, ſich uͤbrigens ſtill halten und mit
Niemand von der Sache ſprechen.
Mehrere Truppen zogen durch die Stadt;
man erfuhr, daß ſie bey Bergen Halt
machten. Das Kommen und Gehen, das
Reiten und Laufen vermehrte ſich immer, und
unſer Haus war Tag und Nacht in Aufruhr.
In dieſer Zeit habe ich den Marſchall Bro¬
glio oͤfter geſehen, immer heiter, ein wie das
andre Mal an Gebaͤrden und Betragen voͤl¬
lig gleich, und es hat mich auch nachher
gefreut, den Mann, deſſen Geſtalt einen ſo
guten und dauerhaften Eindruck gemacht
hatte, in der Geſchichte ruͤhmlich erwaͤhnt zu
finden.
So kam denn endlich, nach einer unruhi¬
gen Charwoche, 1759 der Charfreytag heran.
Eine große Stille verkuͤndigte den nahen
Sturm. Uns Kindern war verboten aus
dem Hauſe zu gehen; der Vater hatte keine
Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann;
ich ſtieg auf den oberſten Boden, wo ich
zwar die Gegend zu ſehen verhindert war,
aber den Donner der Canonen und das Maſ¬
ſenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut ver¬
nehmen konnte. Nach einigen Stunden ſa¬
hen wir die erſten Zeichen der Schlacht an
einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete
in mancherley traurigen Verſtuͤmmelungen und
Gebaͤrden ſachte bey uns vorbeygefahren wur¬
den, um in das zum Lazareth umgewandelte
Liebfrauen-Kloſter gebracht zu werden. So¬
gleich regte ſich die Barmherzigkeit der Buͤr¬
ger. Bier, Wein, Brodt, Geld ward den¬
jenigen hingereicht, die noch etwas empfan¬
gen konnten. Als man aber einige Zeit dar¬
auf bleſſirte und gefangne Deutſche unter
dieſem Zug gewahr wurde, fand das Mit¬
leid keine Graͤnze, und es ſchien als wollte
Jeder ſich von allem entbloͤßen, was er nur
Bewegliches beſaß, um ſeinen bedraͤngten
Landsleuten beyzuſtehen.
Dieſe Gefangenen waren jedoch Anzei¬
chen einer fuͤr die Alliirten ungluͤcklichen
Schlacht. Mein Vater, in ſeiner Parteylich¬
keit ganz ſicher, daß dieſe gewinnen wuͤrden,
hatte die leidenſchaftliche Verwegenheit den
gehofften Siegern entgegen zu gehen, ohne
zu bedenken, daß die geſchlagene Partey erſt
uͤber ihn wegfliehen muͤßte. Erſt begab er
ſich in ſeinen Garten, vor dem Friedberger
Thore, wo er alles einſam und ruhig fand;
dann wagte er ſich auf die Bornheimer
Haide, wo er aber bald verſchiedene zer¬
ſtreute Nachzuͤgler und Troßknechte anſichtig
ward, die ſich den Spaß machten nach den
Graͤnzſteinen zu ſchießen, ſo daß dem neu¬
gierigen Wandrer das abprallende Bley um
den Kopf ſauſte. Er hielt es deshalb doch
fuͤr gerathner zuruͤckzugehen, und erfuhr, bey
einiger Nachfrage, was ihm ſchon der Schall
des Feurens haͤtte klar machen ſollen, daß
alles fuͤr die Franzoſen gut ſtehe und an
kein Weichen zu denken ſey. Nach Hauſe
gekommen, voll Unmuth, gerieth er beym
Erblicken der verwundeten und gefangenen
Landsleute ganz aus der gewoͤhnlichen Faſſung.
Auch er ließ den Vorbeyziehenden mancherley
Spende reichen; aber nur die Deutſchen ſoll¬
ten ſie erhalten, welches nicht immer moͤglich
war, weil das Schickſal Freunde und Feinde
zuſammen aufgepackt hatte.
Die Mutter und wir Kinder, die wir
ſchon fruͤher auf des Grafen Wort gebaut
und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag
hingebracht hatten, waren hoͤchlich erfreut,
und die Mutter doppelt getroͤſtet, da ſie des
Morgens, als ſie das Orakel ihres Schatz¬
kaͤſtleins durch einen Nadelſtich befragt, eine
fuͤr die Gegenwart ſowohl als fuͤr die Zukunft
ſehr troͤſtliche Antwort erhalten hatte. Wir
wuͤnſchten unſerm Vater gleichen Glauben
und gleiche Geſinnung, wir ſchmeichelten ihm
was wir konnten, wir baten ihn etwas
Speiſe zu ſich zu nehmen, die er den ganzen
I. 15
Tag entbehrt hatte; er verweigerte unſre
Liebkoſungen und jeden Genuß, und begab
ſich auf ſein Zimmer. Unſre Freude ward
indeſſen nicht geſtoͤrt; die Sache war ent¬
ſchieden; der Koͤnigs-Lieutenant, der dieſen
Tag gegen ſeine Gewohnheit zu Pferde gewe¬
ſen, kehrte endlich zuruͤck, ſeine Gegenwart
zu Hauſe war noͤthiger als je. Wir ſpran¬
gen ihm entgegen, kuͤßten ſeine Haͤnde und
bezeigten ihm unſre Freude. Es ſchien ihm
ſehr zu gefallen. „Wohl! ſagte er freundli¬
cher als ſonſt, ich bin auch um euertwillen
vergnuͤgt, liebe Kinder!‘ Er befahl ſogleich
uns Zuckerwerck, ſuͤßen Wein, uͤberhaupt das
Beſte zu reichen, und ging auf ſein Zimmer,
ſchon von einer großen Maſſe Dringender,
Fordernder und Bittender umgeben.
Wir hielten nun eine koͤſtliche Collation,
bedauerten den guten Vater, der nicht Theil
daran nehmen mochte, und drangen in die
Mutter, ihn herbey zu rufen; ſie aber kluͤger
als wir wußte wohl, wie unerfreulich ihm
ſolche Gaben ſeyn wuͤrden. Indeſſen hatte
ſie etwas Abendbrodt zurecht gemacht und
haͤtte ihm gern eine Portion auf das Zim¬
mer geſchickt; aber eine ſolche Unordnung
litt er nie, auch nicht in den aͤußerſten Faͤl¬
len; und nachdem man die ſuͤßen Gaben bey
Seite geſchafft, ſuchte man ihn zu bere¬
den, herab in das gewoͤhnliche Speiſezimmer
zu kommen. Endlich ließ er ſich bewegen,
ungern, und wir ahndeten nicht, welches
Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die
Treppe lief frey durchs ganze Haus an allen
Vorſaͤlen vorbey. Der Vater mußte, indem
er herabſtieg, unmittelbar an des Grafen
Zimmer voruͤbergehn. Sein Vorſaal ſtand
ſo voller Leute, daß der Graf ſich entſchloß,
um mehrers auf Einmal abzuthun, herauszu¬
treten; und dieß geſchah leider in dem Augen¬
blick als der Vater herabkam. Der Graf
ging ihm heiter entgegen, begruͤßte ihn und
ſagte: „Ihr werdet uns und Euch Gluͤck wuͤn¬
15*
ſchen, daß dieſe gefaͤhrliche Sache ſo gluͤcklich
abgelaufen iſt.“ — Keinesweges! verſetzte
mein Vater, mit Ingrimm; ich wollte ſie
haͤtten Euch zum Teufel gejagt, und wenn
ich haͤtte mitfahren ſollen. — Der Graf
hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr
er mit Wuth auf: „Dieſes ſollt Ihr buͤßen!
rief er: Ihr ſollt nicht umſonſt der gerechten
Sache und mir eine ſolche Beleidigung zuge¬
fuͤgt haben!“
Der Vater war indeß gelaſſen herunter¬
geſtiegen, ſetzte ſich zu uns, ſchien heitrer als
bisher, und fing an zu eſſen. Wir freuten
uns daruͤber, und wußten nicht, auf welche
bedenkliche Weiſe er ſich den Stein vom Her¬
zen gewaͤlzt hatte. Kurz darauf wurde die
Mutter herausgerufen, und wir hatten große
Luſt, dem Vater auszuplaudern, was uns
der Graf fuͤr Suͤßigkeiten verehrt habe. Die
Mutter kam nicht zuruͤck. Endlich trat der
Dolmetſcher herein. Auf ſeinen Wink ſchickte
man uns zu Bette; es war ſchon ſpaͤt und
wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durch¬
ſchlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltſame
Bewegung, die geſtern Abend das Haus er¬
ſchuͤttert hatte. Der Koͤnigs-Lieutenant hatte
ſogleich befohlen, den Vater auf die Wache
zu fuͤhren. Die Subalternen wußten wohl,
daß ihm niemals zu widerſprechen war; doch
hatten ſie ſich manchmal Dank verdient, wenn
ſie mit der Ausfuͤhrung zauderten. Dieſe
Geſinnung wußte der Gevatter Dolmetſch,
den die Geiſtesgegenwart niemals verließ,
aufs lebhafteſte bey ihnen rege zu machen.
Der Tumult war ohnehin ſo groß, daß eine
Zoͤgerung ſich von ſelbſt verſteckte und ent¬
ſchuldigte. Er hatte meine Mutter heraus¬
gerufen, und ihr den Adjutanten gleichſam
in die Haͤnde gegeben, daß ſie durch Bitten
und Vorſtellungen nur einigen Aufſchub erlan¬
gen moͤchte. Er ſelbſt eilte ſchnell hinauf
zum Grafen, der ſich bey der großen Beherr¬
ſchung ſeiner ſelbſt ſogleich ins innre Zimmer
zuruͤckgezogen hatte, und das dringendſte
Geſchaͤft lieber einen Augenblick ſtocken ließ,
als daß er den einmal in ihm erregten boͤſen
Muth an einem Unſchuldigen gekuͤhlt, und
eine ſeiner Wuͤrde nachtheilige Entſcheidung
gegeben haͤtte.
Die Anrede des Dolmetſchers an den
Grafen, die Fuͤhrung des ganzen Geſpraͤchs
hat uns der dicke Gevatter, der ſich auf den
gluͤcklichen Erfolg nicht wenig zu Gute that,
oft genug wiederholt, ſo daß ich ſie aus dem
Gedaͤchtniß wohl noch aufzeichnen kann.
Der Dolmetſch hatte gewagt das Kabi¬
net zu eroͤffnen und hineinzutreten, eine Hand¬
lung die hoͤchſt verpoͤnt war. „Was wollt
ihr? rief ihm der Graf zornig entgegen:
Hinaus mit euch! Hier hat niemand das
Recht hereinzutreten als Saint Jean.“
So haltet mich einen Augenblick fuͤr
Saint Jean, verſetzte der Dolmetſch.
„Dazu gehoͤrt eine gute Einbildungskraft.
Seiner zwey machen noch nicht einen wie ihr
ſeyd. Entfernt euch!“
Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe
vom Himmel empfangen und an die appel¬
lire ich.
„Ihr denkt mir zu ſchmeicheln! Glaubt
nicht, daß es euch gelingen werde.“
Ihr habt die große Gabe, Herr Graf,
auch in Augenblicken der Leidenſchaft, in Au¬
genblicken des Zorns, die Geſinnungen an¬
derer anzuhoͤren.
„Wohl, wohl! Von Geſinnungen iſt eben
die Rede, die ich zu lange angehoͤrt habe.
Ich weiß nur zu gut, daß man uns hier nicht
liebt, daß uns dieſe Buͤrger ſcheel anſehn.“
Nicht alle!
„Sehr viele! Was! dieſe Staͤdter, Reichs¬
ſtaͤdter wollen ſie ſeyn? Ihren Kaiſer haben
ſie waͤhlen und kroͤnen ſehen, und wenn dieſer
ungerecht angegriffen ſeine Laͤnder zu verlieren
und einem Uſurpator zu unterliegen Gefahr
laͤuft, wenn er gluͤcklicherweiſe getreue Alliirte
findet, die ihr Geld, ihr Blut zu ſeinem
Vortheil verwenden; ſo wollen ſie die geringe
Laſt nicht tragen, die zu ihrem Theil ſie trifft,
daß der Reichsfeind gedemuͤthigt werde.“
Freylich kennt Ihr dieſe Geſinnungen ſchon
lange, und habt ſie als ein weiſer Mann ge¬
duldet; auch iſt es nur die geringere Zahl.
Wenige, verblendet durch die glaͤnzenden Ei¬
genſchaften des Feindes, den Ihr ja ſelbſt als
einen außerordentlichen Mann ſchaͤtzt, wenige
nur‚ Ihr wißt es!
„Ja wohl! zu lange habe ich es gewußt
und geduldet, ſonſt haͤtte dieſer ſich nicht un¬
terſtanden, mir in den bedeutendſten Au¬
genblicken ſolche Beleidigungen ins Geſicht zu
ſagen. Es moͤgen ſeyn ſo viel ihrer wollen,
ſie ſollen in dieſem ihren kuͤhnen Repraͤſentan¬
ten geſtraft werden, und ſich merken was ſie
zu erwarten haben.“
Nur Aufſchub, Herr Graf!
„In gewiſſen Dingen kann man nicht zu
geſchwind verfahren.“
Nur einen kurzen Aufſchub!
„Nachbar! ihr denkt mich zu einem fal¬
ſchen Schritt zu verleiten; es ſoll euch nicht
gelingen.“
Weder verleiten will ich Euch zu einem
falſchen Schritt, noch von einem falſchen zu¬
ruͤckhalten; Euer Entſchluß iſt gerecht: er ge¬
ziemt dem Franzoſen, dem Koͤnigs-Lieutenant;
aber bedenkt, daß Ihr auch Graf Thorane ſeyd.
„Der hat hier nicht mitzuſprechen.“
Man ſollte den braven Mann doch auch
hoͤren.
„Nun was wuͤrde er denn ſagen?“
Herr Koͤnigs-Lieutenant! wuͤrde er ſagen:
Ihr habt ſo lange mit ſo viel dunklen, un¬
willigen, ungeſchickten Menſchen Geduld ge¬
habt, wenn ſie es Euch nur nicht gar zu arg
machten. Dieſer hat's freylich ſehr arg ge¬
macht; aber gewinnt es uͤber Euch, Herr
Koͤnigs-Lieutenant! und Jedermann wird Euch
deswegen loben und preiſen.
„Ihr wißt, daß ich eure Poſſen manch¬
mal leiden kann; aber misbraucht nicht mein
Wohlwollen. Dieſe Menſchen ſind ſie denn
ganz verblendet? Haͤtten wir die Schlacht
verloren, in dieſem Augenblick, was wuͤrde
ihr Schickſal ſeyn? Wir ſchlagen uns bis
vor die Thore, wir ſperren die Stadt, wir
halten, wir vertheidigen uns, um unſere Reti¬
rade uͤber die Bruͤcke zu decken. Glaubt ihr,
daß der Feind die Haͤnde in den Schoß ge¬
legt haͤtte? Er wirft Granaten und was er
bey der Hand hat, und ſie zuͤnden wo ſie
koͤnnen. Dieſer Hausbeſitzer da, was will er?
In dieſen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine
Feuerkugel und eine andere folgte hinterdrein;
in dieſen Zimmern, deren vermaledeyte Pe¬
king-Tapeten ich geſchont, mich genirt habe,
meine Landcharten nicht aufzunageln! Den
ganzen Tag haͤtten ſie auf den Knieen liegen
ſollen.“
Wie viele haben das gethan!
„Sie haͤtten ſollen den Segen fuͤr uns
erſtehen; den Generalen und Offizieren mit
Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten
Gemeinen mit Erquickung entgegen gehen. An¬
ſtatt deſſen verdirbt mir der Gift dieſes Par¬
teygeiſtes die ſchoͤnſten, gluͤcklichſten, durch ſo
viel Sorgen und Anſtrengungen erworbenen
Augenblicke meines Lebens!“
Es iſt ein Parteygeiſt; aber ihr werdet
ihn durch die Beſtrafung dieſes Mannes nur
vermehren. Die mit ihm Gleichgeſinnten wer¬
den Euch als einen Tyrannen, als einen Bar¬
baren ausſchreyen; ſie werden ihn als einen
Maͤrtyrer betrachten, der fuͤr die gute Sache
gelitten hat; und ſelbſt die anders Geſinnten,
die jetzt ſeine Gegner ſind, werden in ihm
nur den Mitbuͤrger ſehen, werden ihn be¬
dauern, und indem ſie Euch Recht geben, den¬
noch finden, daß Ihr zu hart verfahren ſeyd.
„Ich habe Euch ſchon zu lange angehoͤrt;
macht, daß Ihr fortkommt!“
So hoͤrt nur noch dieſes! Bedenkt, daß es
das Unerhoͤrteſte iſt, was dieſem Manne, was
dieſer Familie begegnen koͤnnte. Ihr hattet
nicht Urſache von dem guten Willen des
Hausherrn erbaut zu ſeyn; aber die Haus¬
frau iſt allen euren Wuͤnſchen zuvorgekom¬
men, und die Kinder haben Euch als ihren
Oheim betrachtet. Mit dieſem einzigen Schlag
werdet Ihr den Frieden und das Gluͤck dieſer
Wohnung auf ewig zerſtoͤren. Ja ich kann
wohl ſagen, eine Bombe die ins Haus ge¬
fallen waͤre, wuͤrde nicht groͤßere Verwuͤ¬
ſtungen darin angerichtet haben. Ich habe
Euch ſo oft uͤber Eure Faſſung bewundert,
Herr Graf; gebt mir dießmal Gelegenheit,
Euch anzubeten. Ein Krieger iſt ehrwuͤrdig,
der ſich ſelbſt in Feindes Haus als einen Gaſt¬
freund betrachtet; hier iſt kein Feind, nur
ein Verirrter. Gewinnt es uͤber Euch, und
es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!
„Das muͤßte wunderlich zugehen, verſetzte
der Graf, mit einem Laͤcheln.“
Nur ganz natuͤrlich, erwiederte der Dol¬
metſcher. Ich habe die Frau, die Kinder
nicht zu Euren Fuͤßen geſchickt: denn ich
weiß, daß Euch ſolche Scenen verdrießlich
ſind; aber ich will Euch die Frau, die Kin¬
der ſchildern, wie ſie Euch danken; ich will
ſie Euch ſchildern, wie ſie ſich zeitlebens von
dem Tage der Schlacht bey Bergen, und
von Eurer Großmuth an dieſem Tage unter¬
halten, wie ſie es Kindern und Kindeskin¬
dern erzaͤhlen, und auch Fremden ihr Inter¬
eſſe fuͤr Euch einzufloͤßen wiſſen: eine Hand¬
lung dieſer Art kann nicht untergehen!
„Ihr trefft meine ſchwache Seite nicht,
Dolmetſcher. An den Nachruhm pfleg' ich
nicht zu denken, der iſt fuͤr andere, nicht fuͤr
mich; aber im Augenblick recht zu thun,
meine Pflicht nicht zu verſaͤumen, meiner
Ehre nichts zu vergeben, das iſt meine
Sorge. Wir haben ſchon zu viel Worte ge¬
macht; jetzt geht hin — und laßt Euch von
den Undankbaren danken, die ich verſchone!“
Der Dolmetſch, durch dieſen unerwar¬
tet gluͤcklichen Ausgang uͤberraſcht und bewegt,
konnte ſich der Thraͤnen nicht enthalten, und
wollte dem Grafen die Haͤnde kuͤſſen; der
Graf wies ihn ab und ſagte ſtreng und
ernſt: Ihr wißt, daß ich dergleichen nicht
leiden kann! Und mit dieſen Worten trat er
auf den Vorſaal, um die andringenden Ge¬
ſchaͤfte zu beſorgen, und das Begehren ſo
vieler wartenden Menſchen zu vernehmen.
So ward die Sache beygelegt, und wir
feyerten den andern Morgen, bey den Ueber¬
bleibſeln der geſtrigen Zuckergeſchenke, das
Voruͤbergehen eines Uebels, deſſen Androhen
wir gluͤcklich verſchlafen hatten.
Ob der Dolmetſch wirklich ſo weiſe ge¬
ſprochen, oder ob er ſich die Scene nur ſo
ausgemalt, wie man es wohl nach einer gu¬
ten und gluͤcklichen Handlung zu thun pflegt,
will ich nicht entſcheiden; wenigſtens hat er
bey Wiedererzaͤhlung derſelben niemals variirt.
Genug, dieſer Tag duͤnkte ihm, ſo wie der
ſorgenvollſte, ſo auch der glorreichſte ſeines
Lebens.
Wie ſehr uͤbrigens der Graf alles falſche
Ceremoniel abgelehnt, keinen Titel, der ihm
nicht gebuͤhrte, jemals angenommen, und wie
er in ſeinen heitern Stunden immer geiſtreich
geweſen, davon ſoll eine kleine Begebenheit
ein Zeugniß ablegen.
Ein vornehmer Mann, der aber auch
unter die abſtruſen einſamen Frankfurter ge¬
hoͤrte, glaubte ſich uͤber ſeine Einquartierung
beklagen zu muͤſſen. Er kam perſoͤnlich, und
der Dolmetſch bot ihm ſeine Dienſte an;
Jener aber meinte derſelben nicht zu beduͤr¬
fen. Er trat vor den Grafen mit einer an¬
ſtaͤndigen Verbeugung und ſagte: Excellenz!
Der Graf gab ihm die Verbeugung zuruͤck,
ſo wie die Excellenz. Betroffen von dieſer
Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend als
der Titel ſey zu gering, buͤckte er ſich tiefer,
und ſagte: Monſeigneur! — „Mein Herr,
ſagte der Graf ganz ernſthaft: wir wollen
nicht weiter gehen, denn ſonſt koͤnnten wir
es leicht bis zur Majeſtaͤt bringen.“ — Der
andere war aͤußerſt verlegen und wußte kein
Wort zu ſagen. Der Dolmetſch, in einiger
Entfernung ſtehend und von der ganzen Sache
unterrichtet, war boshaft genug, ſich nicht
zu ruͤhren; der Graf aber, mit großer Hei¬
terkeit, fuhr fort: „Zum Beyſpiel, mein
Herr, wie heißen Sie?“ — Spangenberg,
verſetzte jener — „und ich, ſagte der Graf,
heiße Thorane. Spangenberg, was wollt
Ihr von Thorane? und nun ſetzen wir uns,
die Sache ſoll gleich abgethan ſeyn.“
Und ſo wurde die Sache auch gleich zu
großer Zufriedenheit desjenigen abgethan, den
ich hier Spangenberg genannt habe, und die
Geſchichte noch an ſelbigem Abend von dem
ſchadenfrohen Dolmetſch in unſerm Familien¬
I. 16
kreiſe nicht nur erzaͤhlt, ſondern mit allen
Umſtaͤnden und Gebaͤrden aufgefuͤhrt.
Nach ſolchen Verwirrungen, Unruhen und
Bedraͤngniſſen fand ſich gar bald die vorige
Sicherheit und der Leichtſinn wieder, mit
welchem beſonders die Jugend von Tag zu
Tage lebt, wenn es nur einigermaßen ange¬
hen will. Meine Leidenſchaft zu dem fran¬
zoͤſiſchen Theater wuchs mit jeder Vorſtel¬
lung; ich verſaͤumte keinen Abend, ob ich
gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schau¬
ſpiel mich zur ſpeiſenden Familie an den
Tiſch ſetzte und mich gar oft nur mit einigen
Reſten begnuͤgte, die ſteten Vorwuͤrfe des
Vaters zu dulden hatte: das Theater ſey zu
gar nichts nuͤtze, und koͤnne zu gar nichts
fuͤhren. Ich rief in ſolchem Falle gewoͤhnlich
alle und jede Argumente hervor, welche den
Vertheidigern des Schauſpiels zur Hand ſind,
wenn ſie in eine gleiche Noth wie die mei¬
nige gerathen. Das Laſter im Gluͤck, die
Tugend im Ungluͤck wurden zuletzt durch die
poetiſche Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬
wicht gebracht. Die ſchoͤnen Beyſpiele von
beſtraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬
ſon und der Kaufmann von London, wurden
ſehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich
zog dagegen oͤfters den Kuͤrzern, wenn die
Schelmſtreiche Scapins und dergleichen auf
dem Zettel ſtanden, und ich mir das Beha¬
gen mußte vorwerfen laſſen, das man uͤber
die Betruͤgereyen raͤnkevoller Knechte, und
uͤber den guten Erfolg der Thorheiten aus¬
gelaſſener Juͤnglinge im Publicum empfinde.
Beyde Parteyen uͤberzeugten einander nicht;
doch wurde mein Vater ſehr bald mit der
Buͤhne ausgeſoͤhnt, als er ſah, daß ich mit
unglaublicher Schnelligkeit in der franzoͤſiſchen
Sprache zunahm.
Die Menſchen ſind nun einmal ſo, daß
Jeder was er thun ſieht, lieber ſelbſt vor¬
naͤhme, er habe nun Geſchick dazu oder
16 *
nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Cur¬
ſus der franzoͤſiſchen Buͤhne durchgemacht;
mehrere Stuͤcke kamen ſchon zum zweyten
und dritten Mal; von der wuͤrdigſten Tra¬
goͤdie bis zum leichtfertigſten Nachſpiel war
mir alles vor Augen und Geiſt vorbeyge¬
gangen; und wie ich als Kind den Terenz
nachzuahmen wagte: ſo verfehlte ich nunmehr
nicht als Knabe, bey einem viel lebhafter
dringenden Anlaß, auch die franzoͤſiſchen For¬
men nach meinem Vermoͤgen und Unvermoͤ¬
gen zu wiederholen. Es wurden damals
einige halb mythologiſche, halb allegoriſche
Stuͤcke im Geſchmack des Piron gegeben;
ſie hatten etwas von der Parodie und gefie¬
len ſehr. Dieſe Vorſtellungen zogen mich
beſonders an: die goldnen Fluͤgelchen eines
heitern Merkur, der Donnerkeil des verkapp¬
ten Jupiter, eine galante Danae, oder wie
eine von Goͤttern beſuchte Schoͤne heißen
mochte, wenn es nicht gar eine Schaͤferinn
oder Jaͤgerinn war, zu der ſie ſich herunter¬
ließen. Und da mir dergleichen Elemente
aus Ovids Verwandlungen, und Pomey's
Pantheon Mythicum ſehr haͤufig im Kopfe
herum ſummten, ſo hatte ich bald ein ſolches
Stuͤckchen in meiner Phantaſie zuſammen¬
geſtellt, wovon ich nur ſo viel zu ſagen weiß,
daß die Scene laͤndlich war, daß es aber
doch darin weder an Koͤnigstoͤchtern, noch
Prinzen, noch Goͤttern fehlte. Der Merkur
beſonders war mir dabey ſo lebhaft im
Sinne, daß ich noch ſchwoͤren wollte, ich
haͤtte ihn mit Augen geſehen.
Eine von mir ſelbſt ſehr reinlich gefertigte
Abſchrift legte ich meinem Freunde Dero¬
nes vor, welcher ſie mit ganz beſonderem
Anſtand und einer wahrhaften Goͤnnermiene
aufnahm, das Manuſcript fluͤchtig durchſah,
mir einige Sprachfehler nachwies, einige Re¬
den zu lang fand, und zuletzt verſprach das
Werk bey gehoͤriger Muße naͤher zu betrach¬
ten und zu beurtheilen. Auf meine beſchei¬
dene Frage, ob das Stuͤck wohl aufgefuͤhrt
werden koͤnne, verſicherte er mir, daß es gar
nicht unmoͤglich ſey. Sehr vieles komme
beym Theater auf Gunſt an, und er be¬
ſchuͤtze mich von ganzem Herzen; nur muͤſſe
man die Sache geheim halten: denn er habe
ſelbſt einmal mit einem von ihm verfertigten
Stuͤck die Direction uͤberraſcht, und es waͤre
gewiß aufgefuͤhrt worden, wenn man nicht
zu fruͤh entdeckt haͤtte, daß er der Verfaſſer
ſey. Ich verſprach ihm alles moͤgliche Still¬
ſchweigen, und ſah ſchon im Geiſt den Titel
meiner Piece an den Ecken der Straßen und
Plaͤtze mit großen Buchſtaben angeſchlagen.
So leichtſinnig uͤbrigens der Freund war,
ſo ſchien ihm doch die Gelegenheit den Mei¬
ſter zu ſpielen allzu erwuͤnſcht. Er las das
Stuͤck mit Aufmerkſamkeit durch, und indem
er ſich mit mir hinſetzte, um einige Kleinig¬
keiten zu aͤndern, kehrte er im Laufe der
Unterhaltung das ganze Stuͤck um und um,
ſo daß auch kein Stein auf dem andern
blieb. Er ſtrich aus, ſetzte zu, nahm eine
Perſon weg, ſubſtituirte eine andere, genug
er verfuhr mit der tollſten Willkuͤhr von der
Welt, daß mir die Haare zu Berge ſtanden.
Mein Vorurtheil, daß er es doch verſtehen
muͤſſe, ließ ihn gewaͤhren: denn er hatte mir
ſchon oͤfter von den drey Einheiten des Ari¬
ſtoteles, von der Regelmaͤßigkeit der franzoͤſi¬
ſchen Buͤhne, von der Wahrſcheinlichkeit, von
der Harmonie der Verſe und allem was dar¬
an haͤngt, ſo viel vorerzaͤhlt, daß ich ihn
nicht nur fuͤr unterrichtet, ſondern auch fuͤr
begruͤndet halten mußte. Er ſchalt auf die
Englaͤnder und verachtete die Deutſchen; ge¬
nug, er trug mir die ganze dramaturgiſche
Litaney vor, die ich in meinem Leben ſo oft
mußte wiederholen hoͤren.
Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel,
meine zerfetzte Geburt mit nach Hauſe, und
ſuchte ſie wieder herzuſtellen; aber vergebens.
Weil ich ſie jedoch nicht ganz aufgeben wollte,
ſo ließ ich aus meinem erſten Manuſcript,
nach wenigen Veraͤnderungen, eine ſaubere
Abſchrift durch unſern Schreibenden anferti¬
gen, die ich denn meinem Vater uͤberreichte
und dadurch ſoviel erlangte, daß er mich,
nach vollendetem Schauſpiel, meine Abendkoſt
eine Zeitlang ruhig verzehren ließ.
Dieſer mislungene Verſuch hatte mich
nachdenklich gemacht, und ich wollte nunmehr
dieſe Theorieen, dieſe Geſetze, auf die ſich
Jedermann berief, und die mir beſonders
durch die Unart meines anmaaßlichen Mei¬
ſters verdaͤchtig geworden waren, unmittelbar
an den Quellen kennen lernen, welches mir
zwar nicht ſchwer doch muͤhſam wurde. Ich
las zunaͤchſt Corneilie's Abhandlung uͤber die
drey Einheiten, und erſah wohl daraus, wie
man es haben wollte; warum man es aber
ſo verlangte, ward mir keineswegs deutlich,
und was das ſchlimmſte war, ich gerieth
ſogleich in noch groͤßere Verwirrung, indem
ich mich mit den Haͤndeln uͤber den Cid be¬
kannt machte, und die Vorreden las, in
welchen Corneille und Racine ſich gegen Kri¬
tiker und Publicum zu vertheidigen genoͤthigt
ſind. Hier ſah ich wenigſtens auf das deut¬
lichſte, daß kein Menſch wußte was er wollte;
daß ein Stuͤck wie Cid, das die herrlichſte
Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines
allmaͤchtigen Cardinal's abſolut ſollte fuͤr
ſchlecht erklaͤrt werden; daß Racine, der Ab¬
gott der zu meiner Zeit lebenden Franzoſen,
der nun auch mein Abgott geworden war
(denn ich hatte ihn naͤher kennen lernen, als
Schoͤff von Olenſchlager durch uns
Kinder den Britannicus auffuͤhren ließ, wor¬
in mir die Rolle des Nero zu Theil ward)
daß Racine, ſage ich, auch zu ſeiner Zeit
weder mit Liebhabern noch Kunſtrichtern fer¬
tig werden koͤnnen. Durch alles dieſes ward
ich verworrner als jemals, und nachdem ich
mich lange mit dieſem Hin- und Herreden,
mit dieſer theoretiſchen Salbaderey des vo¬
rigen Jahrhunderts, gequaͤlt hatte, ſchuͤttete
ich das Kind mit dem Bade aus, und warf
den ganzen Plunder deſto entſchiedener von
mir, je mehr ich zu bemerken glaubte, daß
die Autoren ſelbſt, welche vortreffliche Sa¬
chen hervorbrachten, wenn ſie daruͤber zu re¬
den anfingen, wenn ſie den Grund ihres
Handelns angaben, wenn ſie ſich vertheidigen,
entſchuldigen, beſchoͤnigen wollten, doch auch
nicht immer den rechten Fleck zu treffen wu߬
ten. Ich eilte daher wieder zu dem lebendig
Vorhandenen, beſuchte das Schauſpiel weit
eifriger, las gewiſſenhafter und ununterbroch¬
ner, ſo daß ich in dieſer Zeit Racine und
Moliere ganz, und von Corneille einen gro¬
ßen Theil durchzuarbeiten die Anhaltſamkeit
hatte.
Der Koͤnigs-Lieutenant wohnte noch im¬
mer in unſerm Hauſe. Er hatte ſein Be¬
tragen in nichts geaͤndert, beſonders gegen
uns; allein es war merklich, und der Gevat¬
ter Dolmetſch wußte es uns noch deutlicher
zu machen, daß er ſein Amt nicht mehr mit
der Heiterkeit, nicht mehr mit dem Eifer
verwaltete wie Anfangs, obgleich immer mit
derſelben Rechtſchaffenheit und Treue. Sein
Weſen und Betragen, das eher einen Spa¬
nier als einen Franzoſen ankuͤndigte, ſeine
Launen, die doch mitunter Einfluß auf ein
Geſchaͤft hatten, ſeine Unbiegſamkeit gegen
die Umſtaͤnde, ſeine Reizbarkeit gegen alles
was ſeine Perſon oder Character beruͤhrte,
dieſes zuſammen mochte ihn doch zuweilen
mit ſeinen Vorgeſetzten in Conflict bringen.
Hiezu kam noch, daß er in einem Duell,
welches ſich im Schauſpiel entſponnen hatte,
verwundet wurde, und man dem Koͤnigs-
Lieutenant uͤbel nahm, daß er ſelbſt eine ver¬
poͤnte Handlung als oberſter Polizeymeiſter
begangen. Alles dieſes mochte, wie geſagt,
dazu beytragen, daß er in ſich gezogner
lebte und hier und da vielleicht weniger en¬
ergiſch verfuhr.
Indeſſen war nun ſchon eine anſehnliche
Partie der beſtellten Gemaͤlde abgeliefert.
Graf Thorane brachte ſeine Freyſtunden mit
der Betrachtung derſelben zu, indem er ſie
in gedachtem Gibelzimmer, Bane fuͤr Bane,
breiter und ſchmaͤler, neben einander, und
weil es an Platz mangelte, ſogar uͤber einan¬
der nageln, wiederabnehmen und aufrollen
ließ. Immer wurden die Arbeiten aufs neue
unterſucht, man erfreute ſich wiederholt an
den Stellen, die man fuͤr die gelungenſten
hielt; aber es fehlte auch nicht an Wuͤnſchen,
dieſes oder jenes anders geleiſtet zu ſehen.
Hieraus entſprang eine neue und ganz
wunderſame Operation. Da naͤmlich der
eine Maler Figuren, der andere die Mittel¬
gruͤnde und Fernen, der dritte die Baͤume,
der vierte die Blumen am beſten arbeitete;
ſo kam der Graf auf den Gedanken, ob
man nicht dieſe Talente in den Bildern ver¬
einigen, und auf dieſem Wege vollkommene
Werke hervorbringen koͤnne. Der Anfang
ward ſogleich damit gemacht, daß man
z. B. in eine fertige Landſchaft noch ſchoͤne
Herden hineinmalen ließ. Weil nun aber
nicht immer der gehoͤrige Platz dazu da
war, es auch dem Thiermaler auf ein paar
Schafe mehr oder weniger nicht ankam; ſo
war endlich die weiteſte Landſchaft zu enge.
Nun hatte der Menſchenmaler auch noch die
Hirten und einige Wandrer hineinzubrin¬
gen; dieſe nahmen ſich wiederum einander
gleichſam die Luft, und man war verwun¬
dert, wie ſie nicht ſaͤmtlich in der freye¬
ſten Gegend erſtickten. Man konnte niemals
vorausſehen, was aus der Sache werden
wuͤrde, und wenn ſie fertig war, befrie¬
digte ſie nicht. Die Maler wurden verdrie߬
lich. Bey den erſten Beſtellungen hatten ſie
gewonnen, bey dieſen Nacharbeiten verloren
ſie, obgleich der Graf auch dieſe ſehr gro߬
muͤthig bezahlte. Und da die von mehrern
auf Einem Bilde durch einander gearbeiteten
Theile, bey aller Muͤhe, keinen guten Effect
hervorbrachten, ſo glaubte zuletzt ein Jeder,
daß ſeine Arbeit durch die Arbeiten der an¬
dern verdorben und vernichtet worden; daher
wenig fehlte, die Kuͤnſtler haͤtten ſich hieruͤ¬
ber entzweyt und waͤren in unverſoͤhnliche
Feindſchaft gerathen. Dergleichen Veraͤnde¬
rungen oder vielmehr Zuthaten wurden in
gedachtem Atelier, wo ich mit den Kuͤnſtlern
ganz allein blieb, ausgefertiget; und es un¬
terhielt mich, aus den Studien, beſonders
der Thiere, dieſes und jenes Einzelne, dieſe
oder jene Gruppe auszuſuchen, und ſie fuͤr
die Naͤhe oder die Ferne in Vorſchlag zu
bringen; worin man mir denn manchmal
aus Ueberzeugung oder Geneigtheit zu will¬
fahren pflegte.
Die Theilnehmenden an dieſem Geſchaͤft
wurden alſo hoͤchſt muthlos, beſonders See¬
kaz, ein ſehr hypochondriſcher und in ſich
gezogner Mann, der zwar unter Freunden
durch eine unvergleichlich heitre Laune ſich
als den beſten Geſellſchafter bewies, aber
wenn er arbeitete, allein, in ſich gekehrt und
voͤllig frey wirken wollte. Dieſer ſollte nun,
wenn er ſchwere Aufgaben geloͤſt, ſie mit
dem groͤßten Fleiß und der waͤrmſten Liebe,
deren er immer faͤhig war, vollendet hatte,
zu wiederholten Malen von Darmſtadt nach
Frankfurt reiſen, um entweder an ſeinen ei¬
genen Bildern etwas zu veraͤndern, oder
fremde zu ſtaffiren, oder gar unter ſeinem
Beyſtand durch einen Dritten ſeine Bilder
ins Buntſchaͤckige arbeiten zu laſſen. Sein
Mismuth nahm zu, ſein Widerſtand ent¬
ſchied ſich, und es brauchte großer Bemuͤhun¬
gen von unſerer Seite, um dieſen Gevat¬
ter — denn auch er war's geworden — nach
des Grafen Wuͤnſchen zu lenken. Ich erin¬
nere mich noch, daß, als ſchon die Kaſten
bereit ſtanden, um die ſaͤmtlichen Bilder in
der Ordnung einzupacken, in welcher ſie an
dem Ort ihrer Beſtimmung der Tapezirer ohne
weiteres aufheften konnte, daß, ſage ich, nur
eine kleine doch unumgaͤngliche Nacharbeit er¬
fordert wurde, Seekaz aber nicht zu bewe¬
gen war heruͤberzukommen. Er hatte freylich
noch zu guter Letzt das beſte gethan was er
vermochte, indem er die vier Elemente in
Kindern und Knaben, nach dem Leben, in
Thuͤrſtuͤcken dargeſtellt, und nicht allein auf
die Figuren ſondern auch auf die Beywerke
den groͤßten Fleiß gewendet hatte. Dieſe
waren abgeliefert, bezahlt, und er glaubte
auf immer aus der Sache geſchieden zu ſeyn;
nun aber ſollte er wieder heruͤber, um einige
Bilder, deren Maße etwas zu klein genom¬
men worden, mit wenigen Pinſelzuͤgen zu
erweitern. Ein anderer, glaubte er, koͤnne
das auch thun; er hatte ſich ſchon zu neuer
Arbeit eingerichtet; kurz er wollte nicht kom¬
men. Die Abſendung war vor der Thuͤre,
trocknen ſollte es auch noch, jeder Verzug
war mislich; der Graf, in Verzweiflung,
wollte ihn militaͤriſch abholen laſſen. Wir
alle wuͤnſchten die Bilder endlich fort zu ſe¬
hen, und fanden zuletzt keine Auskunft, als
daß der Gevatter Dolmetſch ſich in einen
Wagen ſetzte und den Widerſpaͤnſtigen mit
Frau und Kind heruͤberholte, der dann von
dem Grafen freundlich empfangen, wohl
gepflegt, und zuletzt reichlich beſchenkt entlaſ¬
ſen wurde.
Nach den fortgeſchafften Bildern zeigte ſich
ein großer Friede im Hauſe. Das Giebel¬
zimmer im Manſard wurde gereinigt und
mir uͤbergeben, und mein Vater, wie er die
Kaſten fortſchaffen ſah, konnte ſich des Wun¬
ſches nicht erwehren, den Grafen hinterdrein
zu ſchicken. Denn wie ſehr die Neigung des
Grafen auch mit der ſeinigen uͤbereinſtimmte;
wie ſehr es den Vater freuen mußte, ſeinen
I. 17
Grundſatz, fuͤr lebende Meiſter zu ſorgen,
durch einen reicheren ſo fruchtbar befolgt zu
ſehen; wie ſehr es ihn ſchmeicheln konnte,
daß ſeine Sammlung Anlaß gegeben, einer
Anzahl braver Kuͤnſtler in bedraͤngter Zeit
einen ſo anſehnlichen Erwerb zu verſchaffen:
ſo fuͤhlte er doch eine ſolche Abneigung ge¬
gen den Fremden, der in ſein Haus einge¬
drungen, daß ihm an deſſen Handlungen
nichts recht duͤnken konnte. Man ſolle Kuͤnſt¬
ler beſchaͤftigen, aber nicht zu Tapetenmalern
erniedrigen; man ſolle mit dem was ſie nach
ihrer Ueberzeugung und Faͤhigkeit geleiſtet,
wenn es einem auch nicht durchgaͤngig behage,
zufrieden ſeyn und nicht immer daran mark¬
ten und maͤkeln: genug, es gab, ungeachtet
des Grafen eigner liberalen Bemuͤhung, ein
fuͤr allemal kein Verhaͤltniß. Mein Vater
beſuchte jenes Zimmer bloß, wenn ſich der
Graf bey Tafel befand, und ich erinnere
mich nur ein einziges Mal, als Seekaz
ſich ſelbſt uͤbertroffen hatte, und das Verian¬
gen dieſe Bilder zu ſehen das ganze Haus
herbeytrieb, daß mein Vater und der Graf
zuſammentreffend an dieſen Kunſtwerken ein
gemeinſames Gefallen bezeigten, das ſie an
einander ſelbſt nicht finden konnten.
Kaum hatten alſo die Kiſten und Ka¬
ſten das Haus geraͤumt, als der fruͤher
eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den
Grafen zu entfernen, wieder angeknuͤpft wur¬
de. Man ſuchte durch Vorſtellungen die
Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten,
durch Einfluß die Neigung zu gewinnen, und
brachte es endlich dahin, daß die Quartier¬
herren den Beſchluß faßten: es ſolle der Graf
umlogirt, und unſer Haus, in Betracht der
ſeit einigen Jahren unausgeſetzt Tag und
Nacht getragnen Laſt, kuͤnftig mit Einquar¬
tierung verſchont werden. Damit ſich aber
hierzu ein ſcheinbarer Vorwand finde, ſo ſolle
man in eben den erſten Stock, den bisher
der Koͤnigs-Lieutenant beſetzt gehabt, Mieth¬
17 *
leute einnehmen und dadurch eine neue Be¬
quartierung gleichſam unmoͤglich machen. Der
Graf, der nach der Trennung von ſeinen
geliebten Gemaͤlden kein beſonderes Intereſſe
mehr am Hauſe fand, auch ohnehin bald
abgerufen und verſetzt zu werden hoffte,
ließ es ſich ohne Widerrede gefallen eine an¬
dere gute Wohnung zu beziehen, und ſchied
von uns in Frieden und gutem Willen. Auch
verließ er bald darauf die Stadt und erhielt
ſtufenweiſe noch verſchiedene Chargen, doch,
wie man hoͤrte, nicht zu ſeiner Zufriedenheit.
Er hatte indeß das Vergnuͤgen, jene ſo emſig
von ihm beſorgten Gemaͤlde in dem Schloſſe
ſeines Bruders gluͤcklich angebracht zu ſehen;
ſchrieb einige Male, ſendete Maße und ließ
von den mehr genannten Kuͤnſtlern verſchie¬
denes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir
nichts weiter von ihm, außer daß man uns
nach mehreren Jahren verſichern wollte, er
ſey in Weſtindien, auf einer der franzoͤſiſchen
Colonieen, als Gouverneur geſtorben.
Viertes Buch.
So viel Unbequemlichkeit uns auch die
franzoͤſiſche Einquartierung mochte verurſacht
haben, ſo waren wir ſie doch zu gewohnt
geworden, als daß wir ſie nicht haͤtten ver¬
miſſen, daß uns Kindern das Haus nicht
haͤtte todt ſcheinen ſollen. Auch war es
uns nicht beſtimmt, wieder zur voͤlligen Fa¬
milieneinheit zu gelangen. Neue Miethleute
waren ſchon beſprochen, und nach einigem
Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen,
Malen und Anſtreichen, war das Haus voͤl¬
lig wieder hergeſtellt. Der Canzleydirector
Moriz mit den Seinigen, ſehr werthe
Freunde meiner Aeltern, zogen ein. Dieſer,
kein geborner Frankfurter, aber ein tuͤchtiger
Juriſt und Geſchaͤftsmann, beſorgte die
Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fuͤr¬
ſten, Grafen und Herren. Ich habe ihn
niemals anders als heiter und gefaͤllig und
uͤber ſeinen Acten emſig geſehen. Frau und
Kinder, ſanft, ſtill und wohlwollend, ver¬
mehrten zwar nicht die Geſelligkeit in unſerm
Hauſe: denn ſie blieben fuͤr ſich; aber es war
eine Stille, ein Friede zuruͤckgekehrt, den
wir lange Zeit nicht genoſſen hatten. Ich
bewohnte nun wieder mein Manſard-Zimmer,
in welchem die Geſpenſter der vielen Gemaͤlde
mir zuweilen vorſchwebten, die ich denn durch
Arbeiten und Studien zu verſcheuchen ſuchte.
Der Legationsrath Moriz, ein Bruder
des Canzleydirectors, kam von jetzt an auch
oͤfters in unſer Haus. Er war ſchon mehr
Weltmann, von einer anſehnlichen Geſtalt und
dabey von bequem gefaͤlligem Betragen. Auch
er beſorgte die Angelegenheiten verſchiedener
Standesperſonen, und kam mit meinem Va¬
ter, bey Anlaß von Concurſen und kaiſerli¬
chen Commiſſionen, mehrmals in Beruͤhrung.
Beyde hielten viel auf einander, und ſtanden
gemeiniglich auf der Seite der Creditoren,
mußten aber zu ihrem Verdruß gewoͤhnlich
erfahren, daß die Mehrheit der bey ſolcher
Gelegenheit Abgeordneten fuͤr die Seite der
Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der
Legationsrath theilte ſeine Kenntniſſe gern mit,
war ein Freund der Mathematik, und weil
dieſe in ſeinem gegenwaͤrtigen Lebensgange gar
nicht vorkam, ſo machte er ſich ein Vergnuͤgen
daraus, mir in dieſen Kenntniſſen weiter zu
helfen. Dadurch ward ich in den Stand
geſetzt, meine architectoniſchen Riſſe genauer
als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht
eines Zeichenmeiſters, der uns jetzt auch taͤglich
eine Stunde beſchaͤftigte, beſſer zu nutzen.
Dieſer gute alte Mann war freylich nur
ein Halbkuͤnſtler. Wir mußten Striche machen
und ſie zuſammenſetzen, woraus denn Augen
und Naſen, Lippen und Ohren, ja zuletzt
ganze Geſichter und Koͤpfe entſtehen ſollten;
allein es war dabey weder an natuͤrliche
noch kuͤnſtliche Form gedacht. Wir wurden
eine Zeitlang mit dieſem Qui pro Quo der
menſchlichen Geſtalt gequaͤlt, und man glaubte
uns zuletzt ſehr weit gebracht zu haben, als
wir die ſogenannten Affecten von Le Bruͤn
zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch dieſe
Zerrbilder foͤrderten uns nicht. Nun ſchwank¬
ten wir zu den Landſchaften, zum Baumſchlag
und zu allen den Dingen, die im gewoͤhnli¬
chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode
geuͤbt werden. Zuletzt fielen wir auf die
genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit
der Striche, ohne uns weiter um den Werth
des Originals oder deſſen Geſchmack zu
bekuͤmmern.
In dieſem Beſtreben ging uns der Vater
auf eine muſterhafte Weiſe vor. Er hatte
nie gezeichnet, wollte nun aber, da ſeine
Kinder dieſe Kunſt trieben, nicht zuruͤckblei¬
ben, ſondern ihnen, ſelbſt in ſeinem Alter,
ein Beyſpiel geben, wie ſie in ihrer Jugend
verfahren ſollten. Er copirte alſo einige
Koͤpfe des Piazzetta, nach deſſen bekann¬
ten Blaͤttern in klein Octav, mit engliſchem
Bleyſtift auf das feinſte hollaͤndiſche Papier.
Er beobachtete dabey nicht allein die groͤßte
Reinlichkeit im Umriß, ſondern ahmte auch
die Schraffirung des Kupferſtichs aufs genauſte
nach, mit einer leichten Hand, nur allzu
leiſe, da er denn, weil er die Haͤrte vermei¬
den wollte, keine Haltung in ſeine Blaͤtter
brachte. Doch waren ſie durchaus zart und
gleichfoͤrmig. Sein anhaltender unermuͤdlicher
Fleiß ging ſo weit, daß er die ganze anſehn¬
liche Sammlung nach allen ihren Nummern
durchzeichnete, indeſſen wir Kinder von ei¬
nem Kopf zum andern ſprangen, und uns
nur die auswaͤhlten, die uns gefielen.
Um dieſe Zeit ward auch der ſchon laͤngſt
in Berathung gezogne Vorſatz, uns in der
Muſik unterrichten zu laſſen, ausgefuͤhrt; und
zwar verdient der letzte Anſtoß dazu wohl
einige Erwaͤhnung. Daß wir das Clavier
lernen ſollten, war ausgemacht; allein uͤber
die Wahl des Meiſters war man immer ſtrei¬
tig geweſen. Endlich komme ich einmal zufaͤl¬
ligerweiſe in das Zimmer eines meiner Geſel¬
len, der eben Clavierſtunde nimmt, und
finde den Lehrer als einen ganz allerliebſten
Mann. Fuͤr jeden Finger der rechten und
linken Hand hat er einen Spitznamen, womit
er ihn aufs luſtigſte bezeichnet, wenn er
gebraucht werden ſoll. Die ſchwarzen und
weißen Taſten werden gleichfalls bildlich
benannt, ja die Toͤne ſelbſt erſcheinen unter
figuͤrlichen Namen. Eine ſolche bunte Geſell¬
ſchaft arbeitet nun ganz vergnuͤglich durch
einander. Applicatur und Tact ſcheinen ganz
leicht und anſchaulich zu werden, und indem
der Schuͤler zu dem beſten Humor aufgeregt
wird, geht auch alles zum ſchoͤnſten von
Statten.
Kaum war ich nach Hauſe gekommen,
als ich den Aeltern anlag, nunmehr Ernſt
zu machen und uns dieſen unvergleichlichen
Mann zum Claviermeiſter zu geben. Man
nahm noch einigen Anſtand, man erkundigte
ſich; man hoͤrte zwar nichts Uebles von dem
Lehrer, aber auch nichts ſonderlich Gutes.
Ich hatte indeſſen meiner Schweſter alle die
luſtigen Benennungen erzaͤhlt, wir konnten
den Unterricht kaum erwarten, und ſetzten es
durch, daß der Mann angenommen wurde.
Das Notenleſen ging zuerſt an, und
als dabey kein Spaß vorkommen wollte, troͤ¬
ſteten wir uns mit der Hoffnung, daß wenn
es erſt ans Clavier gehen wuͤrde, wenn es
an die Finger kaͤme, das ſcherzhafte Weſen
ſeinen Anfang nehmen wuͤrde. Allein weder
Taſtatur noch Fingerſetzung ſchien zu einigem
Gleichniß Gelegenheit zu geben. So trocken
wie die Noten, mit ihren Strichen auf
und zwiſchen den fuͤnf Linien, blieben auch
die ſchwarzen und weißen Claves, und weder
von einem Daͤumerling noch Deuterling noch
Goldfinger war mehr eine Sylbe zu hoͤren;
und das Geſicht verzog der Mann ſo wenig
beym trocknen Unterricht, als er es vorher
beym trocknen Spaß verzogen hatte. Meine
Schweſter machte mir die bitterſten Vorwuͤrfe,
daß ich ſie getaͤuſcht habe, und glaubte wirk¬
lich, es ſey nur Erfindung von mir geweſen.
Ich war aber ſelbſt betaͤubt und lernte wenig,
ob der Mann gleich ordentlich genug zu
Werke ging: denn ich wartete immer noch,
die fruͤhern Spaͤße ſollten zum Vorſchein
kommen, und vertroͤſtete meine Schweſter
von einem Tage zum andern. Aber ſie blie¬
ben aus, und ich haͤtte mir dieſes Raͤthſel
niemals erklaͤren koͤnnen, wenn es mir nicht
gleichfalls ein Zufall aufgeloͤſt haͤtte.
Einer meiner Geſpielen trat herein, mit¬
ten in der Stunde, und auf einmal eroͤffne¬
ten ſich die ſaͤmmtlichen Roͤhren des humori¬
ſtiſchen Springbrunnens; die Daͤumerlinge,
und Deuterlinge, die Krabler und Zabler,
wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die
Fakchen und Gakchen, wie er z. B. die No¬
ten f und g, die Fiekchen und Giekchen,
wie er fis und gis benannte, waren auf ein¬
mal wieder vorhanden und machten die wun¬
derſamſten Maͤnnerchen. Mein junger Freund
kam nicht aus dem Lachen, und freute ſich,
daß man auf eine ſo luſtige Weiſe ſo viel
lernen koͤnne. Er ſchwur, daß er ſeinen
Aeltern keine Ruhe laſſen wuͤrde, bis ſie
ihm einen ſolchen vortrefflichen Mann zum
Lehrer gegeben.
Und ſo war mir, nach den Grundſaͤtzen
einer neuern Erziehungslehre, der Weg zu
zwey Kuͤnſten fruͤh genug eroͤffnet, blos auf
gut Gluͤck, ohne Ueberzeugung, daß ein an¬
gebornes Talent mich darin weiter foͤrdern
koͤnne. Zeichnen muͤſſe Jedermann lernen,
behauptete mein Vater, und verehrte deshalb
beſonders Kaiſer Maxmilian, welcher dieſes
ausdruͤcklich ſolle befohlen haben. Auch hielt
er mich ernſtlicher dazu an, als zur Muſik,
welche er dagegen meiner Schweſter vorzuͤg¬
lich empfahl, ja dieſelbe außer ihren Lehr¬
ſtunden eine ziemliche Zeit des Tages am
Claviere feſthielt.
Je mehr ich aber auf dieſe Weiſe zu
treiben veranlaßt wurde, deſto mehr wollte
ich treiben, und ſelbſt die Freyſtunden wur¬
den zu allerley wunderlichen Beſchaͤftigungen
verwendet. Schon ſeit meinen fruͤhſten Zei¬
ten fuͤhlte ich einen Unterſuchungstrieb gegen
natuͤrliche Dinge. Man legt es manchmal
als eine Anlage zur Grauſamkeit aus, daß
Kinder ſolche Gegenſtaͤnde, mit denen ſie
eine Zeit lang geſpielt, die ſie bald ſo, bald
ſo gehandhabt, endlich zerſtuͤcken, zerreißen
und zerfetzen. Doch pflegt ſich auch die
Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie
ſolche Dinge zuſammenhaͤngen, wie ſie in¬
wendig ausſehen, auf dieſe Weiſe an den
Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich
als Kind Blumen zerpfluͤckt, um zu ſehen,
wie die Blaͤtter in den Kelch, oder auch Voͤ¬
gel berupft, um zu beobachten, wie die Fe¬
dern in die Fluͤgel eingefuͤgt waren. Iſt
doch Kindern dieſes nicht zu verdenken, da
ja ſelbſt Naturforſcher oͤfter durch Trennen
und Sondern als durch Vereinigen und Ver¬
knuͤpfen, mehr durch Toͤdten als durch Bele¬
ben, ſich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetſtein, ſehr zier¬
lich in Scharlachtuch eingenaͤht, mußte auch
eines Tages die Wirkung einer ſolchen For¬
ſchungsluſt erfahren. Denn dieſe geheime
Anziehungskraft, die er nicht allein gegen
das ihm angepaßte Eiſenſtaͤbchen ausuͤbte,
ſondern die noch uͤberdieß von der Art war,
daß ſie ſich verſtaͤrken und taͤglich ein groͤßres
Gewicht tragen konnte, dieſe geheimnißvolle
Tugend hatte mich dergeſtalt zur Bewunde¬
rung hingeriſſen, daß ich mir lange Zeit blos
im Anſtaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt
l. 18
aber glaubte ich doch einige naͤhere Auf¬
ſchluͤſſe zu erlangen, wenn ich die aͤußere
Huͤlle wegtrennte. Dieß geſchah, ohne daß
ich dadurch kluͤger geworden waͤre: denn die
nackte Armatur belehrte mich nicht weiter.
Auch dieſe nahm ich herab und behielt nun
den bloßen Stein in Haͤnden, mit dem ich
durch Feilſpaͤne und Naͤhnadeln mancherley
Verſuche zu machen nicht ermuͤdete, aus de¬
nen jedoch mein jugendlicher Geiſt, außer
einer mannigfaltigen Erfahrung, keinen wei¬
tern Vortheil zog. Ich wußte die ganze
Vorrichtung nicht wieder zuſammenzubringen,
die Theile zerſtreuten ſich, und ich verlor das
eminente Phaͤnomen zugleich mit dem Ap¬
parat.
Nicht gluͤcklicher ging es mir mit der
Zuſammenſetzung einer Electriſirmaſchine. Ein
Hausfreund, deſſen Jugend in die Zeit ge¬
fallen war, in welcher die Electricitaͤt alle
Geiſter beſchaͤftigte, erzaͤhlte uns oͤfter, wie
er als Knabe eine ſolche Maſchine zu beſitzen
gewuͤnſcht, wie er ſich die Hauptbedingungen
abgeſehen, und mit Huͤlfe eines alten Spinn¬
rades und einiger Arzneyglaͤſer ziemliche Wir¬
kungen hervorgebracht. Da er dieſes gern
und oft wiederholte, und uns dabey von der
Electricitaͤt uͤberhaupt unterrichtete; ſo fanden
wir Kinder die Sache ſehr plauſibel, und
quaͤlten uns mit einem alten Spinnrade und
einigen Arzneyglaͤſern lange Zeit herum, ohne
auch nur die mindeſte Wirkung hervorbringen
zu koͤnnen. Wir hielten demungeachtet am
Glauben feſt, und waren ſehr vergnuͤgt, als
zur Meßzeit, unter andern Raritaͤten, Zau¬
ber- und Taſchenſpielerkuͤnſten, auch eine
Electriſirmaſchine ihre Kunſtſtuͤcke machte,
welche ſo wie die magnetiſchen, fuͤr jene Zeit
ſchon ſehr vervielfaͤltigt waren.
Das Mistrauen gegen den oͤffentlichen
Unterricht vermehrte ſich von Tage zu Tage.
Man ſah ſich nach Hauslehrern um, und
18 *
weil einzelne Familien den Aufwand nicht
beſtreiten konnten, ſo traten mehrere zuſam¬
men, um eine ſolche Abſicht zu erreichen.
Allein die Kinder vertrugen ſich ſelten; der
junge Mann hatte nicht Autoritaͤt genug,
und nach oft widerholtem Verdruß, gab es
nur gehaͤſſige Trennungen. Kein Wunder
daher, daß man auf andere Anſtalten dachte,
welche ſowohl beſtaͤndiger als vortheilhafter
ſeyn ſollten.
Auf den Gedanken, Penſionen zu errich¬
ten, war man durch die Nothwendigkeit ge¬
kommen, welche Jedermann empfand, daß
die franzoͤſiſche Sprache lebendig gelehrt und
uͤberliefert werden muͤſſe. Mein Vater hatte
einen jungen Menſchen erzogen, der bey ihm
Bedienter, Cammerdiener, Secretaͤr, genug
nach und nach alles in allem geweſen war.
Dieſer, Namens Pfeil, ſprach gut franzoͤ¬
ſiſch und verſtand es gruͤndlich. Nachdem
er ſich verheiratet hatte, und ſeine Goͤnner
fuͤr ihn auf einen Zuſtand denken mußten;
ſo fielen ſie auf den Gedanken, ihn eine
Penſion errichten zu laſſen, die ſich nach
und nach zu einer kleinen Schulanſtalt er¬
weiterte, in der man alles Nothwendige, ja
zuletzt ſogar Lateiniſch und Griechiſch lehrte.
Die weitverbreiteten Connexionen von Frank¬
furt gaben Gelegenheit, daß junge Franzoſen
und Englaͤnder, um Deutſch zu lernen und
ſonſt ſich auszubilden, dieſer Anſtalt anver¬
traut wurden. Pfeil, der ein Mann in ſei¬
nen beſten Jahren, von der wunderſamſten
Energie und Thaͤtigkeit war, ſtand dem
Ganzen ſehr lobenswuͤrdig vor, und weil er
nie genug beſchaͤftigt ſeyn konnte; ſo warf er
ſich bey Gelegenheit, da er ſeinen Schuͤlern
Muſikmeiſter halten mußte, ſelbſt in die
Muſik, und betrieb das Clavierſpielen mit
ſolchem Eifer, daß er, der niemals vorher
eine Taſte angeruͤhrt hatte, ſehr bald recht
fertig und brav ſpielte. Er ſchien die Ma¬
xime meines Vaters angenommen zu haben,
daß junge Leute nichts mehr aufmuntern und
anregen koͤnne, als wenn man ſelbſt ſchon in
gewiſſen Jahren ſich wieder zum Schuͤler
erklaͤrte, und in einem Alter worin man ſehr
ſchwer neue Fertigkeiten erlangt, dennoch
durch Eifer und Anhaltſamkeit, juͤngern von
der Natur mehr beguͤnſtigten den Rang ab¬
zulaufen ſuche.
Durch dieſe Neigung zum Clavierſpielen
ward Pfeil auf die Inſtrumente ſelbſt ge¬
fuͤhrt, und indem er ſich die beſten zu ver¬
ſchaffen hoffte, kam er in Verhaͤltniſſe mit
Friderici in Gera, deſſen Inſtrumente
weit und breit beruͤhmt waren. Er nahm ei¬
ne Anzahl davon in Commiſſion, und hatte
nun die Freude, nicht nur etwa einen Fluͤgel,
ſondern mehrere in ſeiner Wohnung aufge¬
ſtellt zu ſehen, ſich darauf zu uͤben und hoͤ¬
ren zu laſſen.
Auch in unſer Haus brachte die Lebendig¬
keit dieſes Mannes einen groͤßern Muſikbe¬
trieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf
die ſtrittigen Punkte, in einem dauernden
guten Verhaͤltniſſe. Auch fuͤr uns ward ein
großer Fridericiſcher Fluͤgel angeſchafft, den
ich, bey meinem Clavier verweilend, wenig
beruͤhrte, der aber meiner Schweſter zu deſto
groͤßerer Qual gedieh, weil ſie, um das neue
Inſtrument gehoͤrig zu ehren, taͤglich noch
einige Zeit mehr auf ihre Uebungen zu wen¬
den hatte; wobey mein Vater als Aufſeher,
Pfeil aber als Muſterbild und antreibender
Hausfreund, abwechſelnd zur Seite ſtanden.
Eine beſondere Liebhaberey meines Va¬
ters machte uns Kindern viel Unbequemlich¬
keit. Es war naͤmlich die Seidenzucht, von
deren Vortheil, wenn ſie allgemeiner verbrei¬
tet wuͤrde, er einen großen Begriff hatte.
Einige Bekanntſchaften in Hanau, wo man
die Zucht der Wuͤrmer ſehr ſorgfaͤltig betrieb,
gaben ihm die naͤchſte Veranlaſſung. Von
dorther wurden ihm zu rechter Zeit die Eyer
geſendet; und ſobald die Maulbeerbaͤume ge¬
nugſames Laub zeigten, ließ man ſie aus¬
ſchluͤpfen, und wartete der kaum ſichtbaren
Geſchoͤpfe mit großer Sorgfalt. In einem
Manſardzimmer waren Tiſche und Geſtelle
mit Brettern aufgeſchlagen, um ihnen mehr
Raum und Unterhalt zu bereiten: denn ſie
wuchſen ſchnell, und waren nach der letzten
Haͤutung ſo heißhunrgig, daß man kaum
Blaͤtter genug herbeyſchaffen konnte, ſie zu
naͤhren; ja ſie mußten Tag und Nacht ge¬
fuͤttert werden, weil eben alles darauf an¬
kommt, daß ſie der Nahrung ja nicht zu ei¬
ner Zeit ermangeln, wo die große und wun¬
derſame Veraͤnderung in ihnen vorgehen ſoll.
War die Witterung guͤnſtig, ſo konnte man
freylich dieſes Geſchaͤft als eine luſtige Unter¬
haltung anſehen; trat aber Kaͤlte ein, daß
die Maulbeerbaͤume litten, ſo machte es
große Noth. Noch unangenehmer aber war
es, wenn in der letzten Epoche Regen ein¬
fiel: denn dieſe Geſchoͤpfe koͤnnen die Feuch¬
tigkeit gar nicht vertragen; und ſo mußten
die benetzten Blaͤtter ſorgfaͤltig abgewiſcht und
getrocknet werden, welches denn doch nicht
immer ſo genau geſchehen konnte, und aus
dieſer oder vielleicht auch einer andern Ur¬
ſache kamen mancherley Krankheiten unter
die Heerde, wodurch die armen Creaturen
zu Tauſenden hingerafft wurden. Die dar¬
aus entſtehende Faͤulniß erregte einen wirk¬
lich peſtartigen Geruch, und da man die
Todten und Kranken wegſchaffen und von
den Geſunden abſondern mußte, um nur ei¬
nige zu retten; ſo war es in der That ein
aͤußerſt beſchwerliches und widerliches Ge¬
ſchaͤft, das uns Kindern manche boͤſe Stunde
verurſachte.
Nachdem wir nun eines Jahrs die ſchoͤn¬
ſten Fruͤhlings- und Sommerwochen mit
Wartung der Seidenwuͤrmer hingebracht,
mußten wir dem Vater in einem andern Ge¬
ſchaͤft beyſtehen, das, obgleich einfacher, uns
dennoch nicht weniger beſchwerlich ward. Die
roͤmiſchen Proſpecte naͤmlich, welche in dem
alten Hauſe, in ſchwarze Staͤbe oben und
unten eingefaßt, an den Waͤnden mehrere
Jahre gehangen hatten, waren durch Licht,
Staub und Rauch ſehr vergilbt, und durch
die Fliegen nicht wenig unſcheinbar geworden.
War nun eine ſolche Unreinlichkeit in dem
neuen Hauſe nicht zulaͤſſig, ſo hatten dieſe
Bilder fuͤr meinen Vater auch durch ſeine
laͤngere Entferntheit von den vorgeſtellten Ge¬
genden an Werth gewonnen. Denn im An¬
fange dienen uns dergleichen Abbildungen
die erſt kurz vorher empfangenen Eindruͤcke
aufzufriſchen und zu beleben. Sie ſcheinen
uns gering gegen dieſe und meiſtens nur ein
trauriges Surrogat. Verliſcht hingegen das
Andenken der Urgeſtalten immer mehr und
mehr, ſo treten die Nachbildungen unver¬
merkt an ihre Stelle, ſie werden uns ſo
theuer als es jene waren, und was wir An¬
fangs misgeachtet, erwirbt ſich nunmehr
unſre Schaͤtzung und Neigung. So geht es
mit allen Abbildungen, beſonders auch mit
Portraͤten. Nicht leicht iſt Jemand mit
dem Conterfey eines Gegenwaͤrtigen zufrie¬
den, und wie erwuͤnſcht iſt uns jeder Schat¬
tenriß eines Abweſenden oder gar Abge¬
ſchiedenen.
Genug, in dieſem Gefuͤhl ſeiner bisheri¬
gen Verſchwendung wollte mein Vater jene
Kupferſtiche ſoviel wie moͤglich wieder herge¬
ſtellt wiſſen. Daß dieſes durch Bleichen
moͤglich ſey, war bekannt; und dieſe bey
großen Blaͤttern immer bedenkliche Operation
wurde unter ziemlich unguͤnſtigen Localumſtaͤn¬
den vorgenommen. Denn die großen Bret¬
ter, worauf die angerauchten Kupfer befeuch¬
tet und der Sonne ausgeſtellt wurden, ſtan¬
den vor Manſardfenſtern in den Dachrinnen
an das Dach gelehnt, und waren daher man¬
chen Unfaͤllen ausgeſetzt. Dabey war die
Hauptſache, daß das Papier niemals aus¬
trocknen durfte, ſondern immer feucht gehal¬
ten werden mußte. Dieſe Obliegenheit hatte
ich und meine Schweſter, wobey uns denn
wegen der Langenweile und Ungeduld, wegen
der Aufmerkſamkeit die uns keine Zerſtreuung
zuließ, ein ſonſt ſo ſehr erwuͤnſchter Muͤßig¬
gang zur hoͤchſten Qual gereichte. Die Sache
ward gleichwohl durchgeſetzt, und der Buch¬
binder, der jedes Blatt auf ſtarkes Papier
aufzog, that ſein beſtes, die hier und da
durch unſre Fahrlaͤſſigkeit zerriſſenen Raͤnder
auszugleichen und herzuſtellen. Die ſaͤmtli¬
chen Blaͤtter wurden in einen Band zuſam¬
mengefaßt und waren fuͤr dießmal gerettet.
Damit es uns Kindern aber ja nicht an
dem Allerley des Lebens und Lernens fehlen
moͤchte, ſo mußte ſich gerade um dieſe Zeit
ein engliſcher Sprachmeiſter melden, welcher
ſich anheiſchig machte, innerhalb vier Wo¬
chen, einen Jeden der nicht ganz roh in Spra¬
chen ſey, die engliſche zu lehren und ihn ſo
weit zu bringen, daß er ſich mit einigem Fleiß
weiter helfen koͤnne. Er nahm ein maͤßiges
Honorar; die Anzahl der Schuͤler in einer
Stunde war ihm gleichguͤltig. Mein Vater
entſchloß ſich auf der Stelle den Verſuch zu
machen, und nahm mit mir und meiner Schwe¬
ſter bey dem expediten Meiſter Lection. Die
Stunden wurden treulich gehalten, am Re¬
petiren fehlte es auch nicht; man ließ die
vier Wochen uͤber eher einige andere Uebun¬
gen liegen; der Lehrer ſchied von uns und
wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er ſich
laͤnger in der Stadt aufhielt und viele Kun¬
den fand, ſo kam er von Zeit zu Zeit nach¬
zuſehen und nachzuhelfen, dankbar, daß wir
unter die erſten gehoͤrten, welche Zutrauen zu
ihm gehabt, und ſtolz, uns den uͤbrigen als
Muſter anfuͤhren zu koͤnnen.
In Gefolg von dieſem hegte mein Vater
eine neue Sorgfalt, daß auch das Engliſche
huͤbſch in der Reihe der uͤbrigen Sprach¬
beſchaͤftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß
es mir immer laͤſtiger wurde, bald aus dieſer
bald aus jener Grammatik oder Beyſpiel¬
ſammlung, bald aus dieſem oder jenem Autor
den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und
ſo meinen Antheil an den Gegenſtaͤnden zugleich
mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher
auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun,
und erfand einen Roman von ſechs bis ſieben
Geſchwiſtern, die von einander entfernt und
in der Welt zerſtreut ſich wechſelſeitig Nach¬
richt von ihren Zuſtaͤnden und Empfindungen
mittheilen. Der aͤlteſte Bruder giebt in gutem
Deutſch Bericht von allerley Gegenſtaͤnden
und Ereigniſſen ſeiner Reiſe. Die Schweſter,
in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬
ter Puncten und in kurzen Saͤtzen, unge¬
faͤhr wie nachher Siegwart geſchrieben wur¬
de, erwiedert bald ihm, bald den andern
Geſchwiſtern, was ſie theils von haͤusli¬
chen Verhaͤltniſſen, theils von Herzensangele¬
genheiten zu erzaͤhlen hat. Ein Bruder ſtu¬
dirt Theologie und ſchreibt ein ſehr foͤrm¬
liches Latein, dem er manchmal ein grie¬
chiſches Poſtſcript hinzufuͤgt. Einem folgen¬
den in Hamburg als Handlungsdiener ange¬
ſtellt, ward natuͤrlich die engliſche Correſpon¬
denz zu Theil, ſo wie einem juͤngern der ſich
in Marſeille aufhielt, die franzoͤſiſche. Zum
Italiaͤniſchen fand ſich ein Muſikus auf ſeinem
erſten Ausflug in die Welt, und der juͤngſte,
eine Art von naſeweiſem Neſtquackelchen, hat¬
te, da ihm die uͤbrigen Sprachen abgeſchnit¬
ten waren, ſich aufs Judendeutſch gelegt, und
brachte durch ſeine ſchrecklichen Chiffern die
uͤbrigen in Verzweiflung, und die Aeltern
uͤber den guten Einfall zum Lachen.
Fuͤr dieſe wunderliche Form ſuchte ich mir
einigen Gehalt, indem ich die Geographie
der Gegenden, wo meine Geſchoͤpfe ſich auf¬
hielten, ſtudirte, und zu jenen trockenen Loca¬
lilaͤten allerley Menſchlichkeiten hinzu erfand,
die mit dem Character der Perſonen und ih¬
rer Beſchaͤftigung einige Verwandtſchaft hatten.
Auf dieſe Weiſe wurden meine Exercitien¬
buͤcher viel voluminoͤſer; der Vater war zu¬
friedener, und ich ward eher gewahr was mir
an eigenem Vorrath und an Fertigkeiten ab¬
ging.
Wie nun dergleichen Dinge, wenn ſie ein¬
mal im Gang ſind, kein Ende und keine
Graͤnzen haben, ſo ging es auch hier: denn
indem ich mir das barocke Judendeutſch zu¬
zueignen und es eben ſo gut zu ſchreiben
ſuchte, als ich es leſen konnte, fand ich bald,
daß mir die Kenntniß des Hebraͤiſchen fehlte,
wovon ſich das moderne verdorbene und ver¬
zerrte allein ableiten und mit einiger Sicher¬
heit behandeln ließ. Ich eroͤffnete daher mei¬
nem Vater die Nothwendigkeit, Hebraͤiſch zu
lernen, und betrieb ſehr lebhaft ſeine Einwilli¬
gung: denn ich hatte noch eine hoͤhern Zweck.
Ueberall hoͤrte ich ſagen, daß zum Verſtaͤndniß
des alten Teſtaments ſo wie des neuen die
Grundſprachen noͤthig waͤren. Das letzte las
ich ganz bequem, weil die ſogenannten Evan¬
gelien und Epiſteln, damit es ja auch Sonn¬
tags nicht an Uebung fehle, nach der Kirche
recitirt, uͤberſetzt und einigermaßen erklaͤrt
werden mußten. Eben ſo dachte ich es nun
auch mit dem alten Teſtamente zu halten,
das mir wegen ſeiner Eigenthuͤmlichkeit ganz
beſonders von jeher zugeſagt hatte.
Mein Vater, der nicht gern etwas halb
that, beſchloß den Rector unſeres Gymna¬
ſiums, Doctor Albrecht, um Privatſtunden
zu erſuchen, die er mir woͤchentlich ſo lange
geben ſollte, bis ich von einer ſo einfachen
Sprache das Noͤthigſte gefaßt haͤtte; denn er
hoffte, ſie werde, wo nicht ſo ſchnell doch
wenigſtens in doppelter Zeit als die engliſche,
ſich abthun laſſen.
Der Rector Albrecht war eine der ori¬
ginalſten Figuren von der Welt, klein, nicht
l. 19
dick aber breit, unfoͤrmlich ohne verwachſen
zu ſeyn, kurz ein Aeſop mit Chorrock und
Peruͤcke. Sein uͤber-ſiebzigjaͤhriges Geſicht
war durchaus zu einem ſarkaſtiſchen Laͤcheln
verzogen, wobey ſeine Augen immer groß
blieben, und obgleich roth doch immer leuch¬
tend und geiſtreich waren. Er wohnte in
dem alten Kloſter zu den Barfuͤßern, dem
Sitz des Gymnaſiums. Ich hatte ſchon als
Kind, meine Aeltern begleitend, ihn manch¬
mal beſucht, und die langen dunklen Gaͤnge,
die in Viſitenzimmer verwandelten Capellen,
das unterbrochne treppen- und winkelhafte Lo¬
cal mit ſchaurigem Behagen durchſtrichen.
Ohne mir unbequem zu ſeyn, examinirte er
mich ſo oft er mich ſah, und lobte und er¬
munterte mich. Eines Tages, bey der Trans¬
location nach oͤffentlichem Examen, ſah er mich
als einen auswaͤrtigen Zuſchauer, waͤhrend er
die ſilbernen ſilbernen praemia virtutis diligentiae
austheilte, nicht weit von ſeinem Catheder
ſtehen. Ich mochte gar ſehnlich nach dem
Beutelchen blicken, aus welchem er die Schau¬
muͤnzen hervorzog; er winkte mir, trat eine
Stufe herunter und reichte mir einen ſolchen
Silberling. Meine Freude war groß, obgleich
Andre dieſe einem Nicht-Schulknaben gewaͤhrte
Gabe außer aller Ordnung fanden. Allein dar¬
an war dem guten Alten wenig gelegen, der
uͤberhaupt den Sonderling und zwar in einer
auffallenden Weiſe ſpielte. Er hatte als Schul¬
mann einen ſehr guten Ruf und verſtand ſein
Handwerk, ob ihm gleich das Alter ſolches aus¬
zuuͤben nicht mehr ganz geſtattete. Aber bey¬
nahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit
fuͤhlte er ſich durch aͤußere Umſtaͤnde gehindert,
und wie ich ſchon fruͤher wußte, war er weder
mit dem Conſiſtorium, noch den Scholarchen,
noch den Geiſtlichen, noch auch den Lehrern
zufrieden. Seinem Naturell, das ſich zum
Aufpaſſen auf Fehler und Maͤngel und zur
Satire hinneigte ließ er ſowohl in Pro¬
grammen als in oͤffentlichen Reden freyen Lauf,
und wie Lucian faſt der einzige Schriftſteller
19 *
war, den er las und ſchaͤtzte, ſo wuͤrzte er
alles was er ſagte und ſchrieb, mit beizenden
Ingredienzien.
Gluͤcklicherweiſe fuͤr diejenigen mit wel¬
chen er unzufrieden war, ging er niemals
direct zu Werke, ſondern ſchraubte nur mit
Bezuͤgen, Anſpielungen, claſſiſchen Stellen
und bibliſchen Spruͤchen auf die Maͤngel
hin, die er zu ruͤgen gedachte. Dabey war
ſein muͤndlicher Vortrag (er las ſeine Reden
jederzeit ab) unangenehm, unverſtaͤndlich, und
uͤber alles dieſes manchmal durch einen Hu¬
ſten, oͤfters aber durch ein hohles bauchſchuͤt¬
terndes Lachen unterbrochen, womit er die
beißenden Stellen anzukuͤndigen und zu be¬
gleiten pflegte. Dieſen ſeltſamen Mann fand
ich mild und willig, als ich anfing meine
Stunden bey ihm zu nehmen. Ich ging
nun taͤglich Abends um ſechs Uhr zu ihm,
und fuͤhlte immer ein heimliches Behagen,
wenn ſich die Klingelthuͤre hinter mir ſchloß,
und ich nun den langen duͤſtern Kloſtergang
durchzuwandeln hatte. Wir ſaßen in ſeiner
Bibliothek an einem mit Wachstuch beſchlage¬
nen Tiſche; ein ſehr durchleſener Lucian kam
nie von ſeiner Seite.
Ohngeachtet alles Wohlwollens gelangte
ich doch nicht ohne Einſtand zur Sache:
denn mein Lehrer konnte gewiſſe ſpoͤttiſche
Anmerkungen, und was es denn mit dem
Hebraͤiſchen eigentlich ſolle, nicht unterdruͤcken.
Ich verſchwieg ihm die Abſicht auf das Ju¬
dendeutſch, und ſprach von beſſerem Ver¬
ſtaͤndniß des Grundtextes. Darauf laͤchelte
er und meynte, ich ſolle ſchon zufrieden ſeyn,
wenn ich nur leſen lernte. Dieß verdroß
mich im Stillen, und ich nahm alle meine
Aufmerkſamkeit zuſammen, als es an die
Buchſtaben kam. Ich fand ein Alphabet das
ohngefaͤhr dem griechiſchen zur Seite ging,
deſſen Geſtalten faßlich, deſſen Benennungen
mir zum groͤßten Theil nicht fremd waren.
Ich hatte dieß alles ſehr bald begriffen und
behalten, und dachte es ſollte nun ans Leſen
gehen. Daß dieſes von der rechten zur lin
ken Seite geſchehe, war mir wohl bewußt.
Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer
von kleinen Buchſtaͤbchen und Zeichen hervor,
von Puncten und Strichelchen aller Art,
welche eigentlich die Vocale vorſtellen ſollten,
woruͤber ich mich um ſo mehr verwunderte,
als ſich in dem groͤßern Alphabete offenbar
Vocale befanden, und die uͤbrigen nur unter
fremden Benennungen verborgen zu ſeyn ſchie¬
nen. Auch ward gelehrt, daß die juͤdiſche
Nation, ſo lange ſie gebluͤht, wirklich ſich
mit jenen erſten Zeichen begnuͤgt und keine
andere Art zu ſchreiben und zu leſen gekannt
habe. Ich waͤre nun gar zu gern auf die¬
ſem alterthuͤmlichen, wie mir ſchien bequeme¬
ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬
klaͤrte etwas ſtreng: man muͤſſe nach der
Grammatik verfahren wie ſie einmal beliebt
und verfaßt worden. Das Leſen ohne dieſe
Puncte und Striche ſey eine ſehr ſchwere
Aufgabe, und koͤnne nur von Gelehrten und
den geuͤbteſten geleiſtet werden. Ich mußte
mich alſo bequemen auch dieſe kleinen Merk¬
zeichen kennen zu lernen; aber die Sache
ward mir immer verworrner. Nun ſollten
einige der erſten groͤßern Urzeichen an ihrer
Stelle gar nichts gelten, damit ihre kleinen
Nachgebornen doch ja nicht umſonſt daſtehen
moͤchten. Dann ſollten ſie einmal wieder ei¬
nen leiſen Hauch, dann einen mehr oder we¬
niger harten Kehllaut andeuten, bald gar
nur als Stuͤtze und Widerlage dienen. Zu¬
letzt aber, wenn man ſich alles wohl gemerkt
zu haben glaubte, wurden einige der großen
ſowohl als der kleinen Perſonagen in den
Ruheſtand verſetzt, ſo daß das Auge immer
ſehr viel und die Lippe ſehr wenig zu thun
hatte.
Indem ich nun dasjenige was mir dem
Inhalt nach ſchon bekannt war, in einem
fremden kauderwelſchen Idiom herſtottern
ſollte, wobey mir denn ein gewiſſes Naͤſeln
und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht
wenig empfohlen wurde; ſo kam ich gewiſſer¬
maßen von der Sache ganz ab, und amuͤ¬
ſirte mich auf eine kindiſche Weiſe an den
ſeltſamen Namen dieſer gehaͤuften Zeichen.
Da waren Kaiſer, Koͤnige und Herzoge, die
als Accente hie und da dominirend, mich
nicht wenig unterhielten. Aber auch dieſe
ſchalen Spaͤße verloren bald ihren Reiz.
Doch wurde ich dadurch ſchadlos gehalten,
daß mir beym Leſen, Ueberſetzen, Wiederho¬
len, Auswendiglernen der Inhalt des Buchs
um ſo lebhafter entgegentrat, und dieſer war
es eigentlich, uͤber welchen ich von meinem
alten Herrn Aufklaͤrung verlangte. Denn
ſchon vorher waren mir die Widerſpruͤche
der Ueberlieferung mit dem Wirklichen und
Moͤglichen ſehr auffallend geweſen, und ich
hatte meine Hauslehrer durch die Sonne,
die zu Gibeon, und den Mond, der im
Thal Ajalon ſtill ſtand, in manche Noth
verſetzt; gewiſſer anderer Unwahrſcheinlichkei¬
ten und Incongruenzen nicht zu gedenken.
Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem
ich mich, um von dem Hebraͤiſchen Meiſter
zu werden, mit dem alten Teſtament aus¬
ſchließlich beſchaͤftigte, und ſolches nicht mehr
in Luthers Ueberſetzung, ſondern in der woͤrt¬
lichen beygedruckten Verſion des Sebaſtian
Schmidt, den mir mein Vater ſogleich an¬
geſchafft hatte, durchſtudirte. Hier fingen
unſere Stunden leider an, was die Sprach¬
uͤbungen betrifft, luͤckenhaft zu werden. Le¬
ſen, Exponiren, Grammatik, Aufſchreiben und
Herſagen von Woͤrtern dauerte ſelten eine
voͤllige halbe Stunde: denn ich fing ſogleich
an auf den Sinn der Sache loszugehen,
und ob wir gleich noch in dem erſten Buche
Moſis befangen waren, mancherley Dinge
zur Sprache zu bringen, welche mir aus den
ſpaͤtern Buͤchern im Sinne lagen. Anfangs
ſuchte der gute Alte mich von ſolchen Ab¬
ſchweifungen zuruͤckzufuͤhren; zuletzt aber ſchien
es ihn ſelbſt zu unterhalten. Er kam nach
ſeiner Art nicht aus dem Huſten und Lachen,
und wiewohl er ſich ſehr huͤthete mir eine
Auskunft zu geben, die ihn haͤtte compromit¬
tiren koͤnnen, ſo ließ meine Zudringlichkeit
doch nicht nach; ja da mir mehr daran gele¬
gen war, meine Zweifel vorzubringen als
die Aufloͤſung derſelben zu erfahren, ſo wurde
ich immer lebhafter und kuͤhner, wozu er
mich durch ſein Betragen zu berechtigen ſchien.
Uebrigens konnte ich nichts aus ihm bringen,
als daß er ein uͤber das andre Mal mit
ſeinem bauchſchuͤtternden Lachen ausrief: „Er
naͤrriſcher Kerl! Er naͤrriſcher Junge!“
Indeſſen mochte ihm meine, die Bibel
nach allen Seiten durchkreuzende, kindiſche
Lebhaftigkeit doch ziemlich ernſthaft und eini¬
ger Nachhuͤlfe werth geſchienen haben. Er
verwies mich daher nach einiger Zeit auf das
große engliſche Bibelwerk, welches in ſeiner
Bibliothek bereit ſtand, und in welchem die
Auslegung ſchwerer und bedenklicher Stellen
auf eine verſtaͤndige und kluge Weiſe unter¬
nommen war. Die Ueberſetzung hatte durch
die großen Bemuͤhungen deutſcher Gottesge¬
lehrten Vorzuͤge vor dem Original erhalten.
Die verſchiedenen Meynungen waren ange¬
fuͤhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung
verſucht, wobey die Wuͤrde des Buchs, der
Grund der Religion und der Menſchenver¬
ſtand einigermaßen neben einander beſtehen
konnten. So oft ich nun gegen Ende der
Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬
feln auftrat, ſo oft deutete er auf das Re¬
poſitorium; ich holte mir den Band, er
ließ mich leſen, blaͤtterte in ſeinem Lucian,
und wenn ich uͤber das Buch meine Anmer¬
kungen machte, war ſein gewoͤhnliches Lachen
alles wodurch er meinen Scharfſinn erwie¬
derte. In den langen Sommertagen ließ
er mich ſitzen ſo lange ich leſen konnte, manch¬
mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis
er mir erlaubte einen Band nach dem andern
mit nach Hauſe zu nehmen.
Der Menſch mag ſich wenden wohin er
will, er mag unternehmen was es auch ſey,
ſtets wird er auf jenen Weg wieder zuruͤck¬
kehren, den ihm die Natur einmal vorge¬
zeichnet hat. So erging es auch mir im
gegenwaͤrtigen Falle. Die Bemuͤhungen um
die Sprache, um den Inhalt der heiligen
Schriften ſelbſt, endigten zuletzt damit, daß
von jenem ſchoͤnen und viel geprieſenen Lande,
ſeiner Umgebung und Nachbarſchaft, ſo wie
von den Voͤlkern und Ereigniſſen, welche je¬
nen Fleck der Erde durch Jahrtauſende hin¬
durch verherrlichten, eine lebhaftere Vorſtel¬
lung in meiner Einbildungskraft hervorging.
Dieſer kleine Raum ſollte den Urſprung
und das Wachsthum des Menſchengeſchlechts
ſehen; von dorther ſollten die erſten und ein¬
zigſten Nachrichten der Urgeſchichte zu uns
gelangen, und ein ſolches Local ſollte zugleich
ſo einfach und faßlich, als mannigfaltig und
zu den wunderſamſten Wanderungen und An¬
ſiedelungen geeignet, vor unſerer Einbildungs¬
kraft liegen. Hier, zwiſchen vier benannten
Fluͤſſen, war aus der ganzen zu bewohnen¬
den Erde ein kleiner hoͤchſt anmuthiger Raum
dem jugendlichen Menſchen ausgeſondert.
Hier ſollte er ſeine erſten Faͤhigkeiten entwi¬
ckeln, und hier ſollte ihn zugleich das Loos
treffen, das ſeiner ganzen Nachkommenſchaft
beſchieden war, ſeine Ruhe zu verlieren, in¬
dem er nach Erkenntniß ſtrebte. Das Para¬
dies war verſcherzt; die Menſchen mehrten
und verſchlimmerten ſich; die an die Unarten
dieſes Geſchlechts noch nicht gewohnten Elo¬
him wurden ungeduldig und vernichteten es
von Grund aus. Nur wenige wurden aus
der allgemeinen Ueberſchwemmung gerettet;
und kaum hatte ſich dieſe graͤuliche Flut ver¬
laufen, als der bekannte vaterlaͤndiſche Bo¬
den ſchon wieder vor den Blicken der dank¬
baren Geretteten lag. Zwey Fluͤſſe von vie¬
ren, Euphrat und Tigris, floſſen noch in ih¬
ren Betten. Der Name des erſten blieb;
den andern ſchien ſein Lauf zu bezeichnen.
Genauere Spuren des Paradieſes waͤren nach
einer ſo großen Umwaͤlzung nicht zu fordern
geweſen. Das erneute Menſchengeſchlecht
ging von hier zum zweyten Mal aus; es
fand Gelegenheit ſich auf alle Arten zu naͤh¬
ren und zu beſchaͤftigen, am meiſten aber
große Heerden zahmer Geſchoͤpfe um ſich zu
verſammlen und mit ihnen nach allen Seiten
hinzuziehen.
Dieſe Lebensweiſe, ſo wie die Vermehrung
der Staͤmme, noͤthigte die Voͤlker bald ſich
von einander zu entfernen. Sie konnten ſich
ſogleich nicht entſchließen ihre Verwandte und
Freunde fuͤr immer fahren zu laſſen; ſie ka¬
men auf den Gedanken einen hohen Thurm
zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den
Weg wieder zuruͤck weiſen ſollte. Aber dieſer
Verſuch mislang wie jenes erſte Beſtreben,
Sie ſollten nicht zugleich gluͤcklich und klug,
zahlreich und einig ſeyn. Die Elohim ver¬
wirrten ſie, der Bau unterblieb, die Men¬
ſchen zerſtreuten ſich; die Welt war bevoͤl¬
kert, aber entzweyt.
Unſer Blick, unſer Antheil bleibt aber
noch immer an dieſe Gegenden geheftet. End¬
lich geht abermals ein Stammvater von hier
aus, der ſo gluͤcklich iſt, ſeinen Nachkommen
einen entſchiedenen Character aufzupraͤgen,
und ſie dadurch fuͤr ewige Zeiten zu einer
großen, und bey allem Gluͤcks- und Orts-
Wechſel zuſammenhaltenden Nation zu ver¬
einigen.
Vom Euphrat aus, nicht ohne goͤttlichen
Fingerzeig, wandert Abraham gegen Weſten.
Die Wuͤſte ſetzt ſeinem Zug kein entſchiedenes
Hinderniß entgegen; er gelangt an den Jor¬
dan, zieht uͤber den Fluß und verbreitet ſich
in den ſchoͤnen mittaͤgigen Gegenden von Pa¬
laͤſtina. Dieſes Land war ſchon fruͤher in
Beſitz genommen und ziemlich bewohnt.
Berge, nicht allzu hoch aber ſteinig und un¬
fruchtbar, waren von vielen bewaͤſſerten, dem
Anbau guͤnſtigen Thaͤlern durchſchnitten.
Staͤdte, Flecken, einzelne Anſiedelungen lagen
zerſtreut auf der Flaͤche, auf Abhaͤngen des
großen Thals, deſſen Waſſer ſich im Jordan
ſammlen. So bewohnt, ſo bebaut war das
Land, aber die Welt noch groß genug, und
die Menſchen nicht auf den Grad ſorgfaͤltig,
beduͤrfnißvoll und thaͤtig, um ſich gleich aller
ihrer Umgebungen zu bemaͤchtigen. Zwiſchen
jenen Beſitzungen erſtreckten ſich große Raͤume,
in welchen weidende Zuͤge ſich bequem hin
und her bewegen konnten. In ſolchen Raͤu¬
men haͤlt ſich Abraham auf, ſein Bruder Lot
iſt bey ihm; aber ſie koͤnnen nicht lange an
ſolchen Orten verbleiben. Eben jene Verfaſ¬
ſung des Landes, deſſen Bevoͤlkerung bald zu¬
bald abnimmt, und deſſen Erzeugniſſe ſich
niemals mit dem Beduͤrfniß im Gleichgewicht
erhalten, bringt unverſehens eine Hungers¬
noth hervor, und der Eingewanderte leidet
mit dem Einheimiſchen, dem er durch ſeine
zufaͤllige Gegenwart die eigne Nahrung ver¬
kuͤmmert hat. Die beyden chaldaͤiſchen Bruͤ¬
der ziehen nach Aegypten, und ſo iſt uns
der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige
tauſend Jahre die bedeutendſten Begebenhei¬
ten der Welt vorgehen ſollten. Vom Tigris
zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil ſehen
wir die Erde bevoͤlkert, und in dieſem Raume
einen bekannten, den Goͤttern geliebten, uns
ſchon werth gewordnen Mann mit Heerden
und Guͤtern hin und wieder ziehen und ſie
in kurzer Zeit aufs reichlichſte vermehren.
Die Bruͤder kommen zuruͤck; allein gewitzigt
durch die ausgeſtandene Noth, faſſen ſie den
Entſchluß ſich von einander zu trennen. Beyde
verweilen zwar im mittaͤgigen Canaan; aber
indem Abraham zu Hebron gegen dem Hain
Mamre bleibt, zieht ſich Lot nach dem Thale
I. 20
Siddim, das, wenn unſere Einbildungskraft
kuͤhn genug iſt, dem Jordan einen unterir¬
diſchen Ausfluß zu geben, um an der Stelle
des gegenwaͤrtigen Aſphaltſees einen trocknen
Boden zu gewinnen, uns als ein zweytes
Paradies erſcheinen kann und muß; um ſo
mehr, weil die Bewohner und Umwohner
deſſelben als Weichlinge und Frevler beruͤch¬
tigt, uns dadurch auf ein bequemes und uͤp¬
piges Leben ſchließen laſſen. Lot wohnt un¬
ter ihnen, jedoch abgeſondert.
Aber Hebron und der Hain Mamre er¬
ſcheinen uns als die wichtige Staͤtte, wo der
Herr mit Abraham ſpricht und ihm alles
Land verheißt, ſo weit ſein Blick nur in vier
Weltgegenden reichen mag. Aus dieſen ſtil¬
len Bezirken, von dieſen Hirtenvoͤlkern, die
mit den Himmliſchen umgehen duͤrfen, ſie
als Gaͤſte bewirthen und manche Zwieſprache
mit ihnen halten, werden wir genoͤthigt den
Blick abermals gegen Oſten zu wenden, und
an die Verfaſſung der Nebenwelt zu denken,
die im Ganzen wohl der einzelnen Verfaſ¬
ſung von Canaan gleichen mochte.
Familien halten zuſammen; ſie vereinigen
ſich, und die Lebensart der Staͤmme wird
durch das Local beſtimmt, das ſie ſich zu¬
geeignet haben oder zueignen. Auf den Ge¬
birgen, die ihr Waſſer nach dem Tigris hin¬
unterſenden, finden wir kriegeriſche Voͤlker,
die ſchon ſehr fruͤhe auf jene Welteroberer
und Weltbeherrſcher hindeuten, und in einem
fuͤr jene Zeiten ungeheuren Feldzug uns ein
Vorſpiel kuͤnftiger Großthaten geben. Kedor
Laomor, Koͤnig von Elam, wirkt ſchon maͤch¬
tig auf Verbuͤndete. Er herrſcht lange Zeit:
den ſchon zwoͤlf Jahre vor Abrahams An¬
kunft in Canaan hatte er bis an den Jordan
die Voͤlker zinsbar gemacht. Sie waren
endlich abgefallen, und die Verbuͤndeten ruͤ¬
ſten ſich zum Kriege. Wir finden ſie unver¬
muthet auf einem Wege, auf dem wahr¬
20 *
ſcheinlich auch Abraham nach Canaan ge¬
langte. Die Voͤlker an der linken und un¬
tern Seite des Jordan werden bezwungen.
Kedor Laomor richtet ſeinen Zug ſuͤdwaͤrts
nach den Voͤlkern der Wuͤſte, ſodann ſich
nordwaͤrts wendend ſchlaͤgt er die Amalekiter,
und als er auch die Amoriter uͤberwunden,
gelangt er nach Canaan, uͤberfaͤllt die Koͤnige
des Thals Siddim, ſchlaͤgt und zerſtreut ſie,
und zieht mit großer Beute den Jordan auf¬
waͤrts, um ſeinen Siegerzug bis gegen den
Libanon auszudehnen.
Unter den Gefangenen, Beraubten, mit
ihrer Habe Fortgeſchleppten befindet ſich auch
Lot, der das Schickſal des Landes theilt,
worin er als Gaſt ſich befindet. Abraham
vernimmt es, und hier ſehen wir ſogleich den
Erzvater als Krieger und Helden. Er rafft
ſeine Knechte zuſammen, theilt ſie in Hau¬
fen, faͤllt auf den beſchwerlichen Beutetroß,
verwirrt die Sieghaften, die im Ruͤcken kei¬
nen Feind mehr vermuthen konnten, und
bringt ſeinen Bruder und deſſen Habe nebſt
Manchem von der Habe der uͤberwundenen
Koͤnige zuruͤck. Durch dieſen kurzen Kriegs¬
zug nimmt Abraham gleichſam von dem Lande
Beſitz. Den Einwohnern erſcheint er als
Beſchuͤtzer, als Retter, und durch ſeine Unei¬
genuͤtzigkeit als Koͤnig. Dankbar empfangen
ihn die Koͤnige des Thals, ſegnend Melchiſe¬
dek der Koͤnig und Prieſter.
Nun werden die Weiſſagungen einer un¬
endlichen Nachkommenſchaft erneut, ja ſie
gehen immer mehr ins Weite. Vom Waſſer
des Euphrat bis zum Fluß Aegyptens werden
ihm die ſaͤmmtlichen Landſtrecken verſprochen;
aber noch ſieht es mit ſeinen unmittelbaren
Leibeserben mißlich aus. Er iſt achtzig Jahr
alt und hat keinen Sohn. Sara, weniger
den Goͤttern vertrauend als er, wird ungedul¬
dig; ſie will nach orientaliſcher Sitte durch
ihre Magd einen Nachkommen haben. Aber
kaum iſt Hagar dem Hausherrn vertraut,
kaum iſt Hoffnung zu einem Sohne; ſo
zeigt ſich der Zwieſpalt im Hauſe. Die Frau
begegnet ihrer eignen Beſchuͤtzten uͤbel genug,
und Hagar flieht, um bey andern Horden
einen beſſern Zuſtand zu finden. Nicht ohne
hoͤheren Wink kehrt ſie zuruͤck, und Ismael
wird geboren.
Abraham iſt nun neun und neunzig Jahr
alt, und die Verheißungen einer zahlreichen
Nachkommenſchaft werden noch immer wie¬
derholt, ſo daß am Ende beyde Gatten ſie
laͤcherlich finden. Und doch wird Sara zuletzt
guter Hoffnung und bringt einen Sohn, dem
der Name Iſaak zu Theil wird.
Auf geſetzmaͤßiger Fortpflanzung des Men¬
ſchengeſchlechts ruht groͤßtentheils die Geſchichte.
Die bedeutendſten Weltbegebenheiten iſt man
bis in die Geheimniſſe der Familien zu ver¬
folgen genoͤthigt; und ſo geben uns auch die
Ehen der Erzvaͤter zu eignen Betrachtungen
Anlaß. Es iſt als ob die Gottheiten, welche
das Schickſal der Menſchen zu leiten beliebten,
die ehelichen Ereigniſſe jeder Art hier gleich¬
ſam im Vorbilde haͤtten darſtellen wollen.
Abraham, ſo lange Jahre mit einer ſchoͤnen,
von Vielen umworbenen Frau in kinderloſer
Ehe, findet ſich in ſeinem hundertſten als
Gatte zweyer Frauen, als Vater zweyer
Soͤhne, und in dieſem Augenblick iſt ſein
Hausfriede geſtoͤrt. Zwey Frauen neben einan¬
der, ſo wie zwey Soͤhne von zwey Muͤttern
gegen einander uͤber, vertragen ſich unmoͤglich.
Derjenige Theil, der durch Geſetze, Herkom¬
men und Meynung weniger beguͤnſtigt iſt,
muß weichen. Abraham muß die Neigung
zu Hagar, zu Ismael aufopfern; beyde wer¬
den entlaſſen und Hagar genoͤthigt, den Weg,
den ſie auf einer freywilligen Flucht einge¬
ſchlagen, nunmehr wider Willen anzutreten,
anfangs, wie es ſcheint, zu des Kindes und
ihrem Untergang; aber der Engel des Herrn,
der ſie fruͤher zuruͤckgewieſen, rettet ſie auch
dießmal, damit Ismael auch zu einem großen
Volk werde, und die unwahrſcheinlichſte aller
Verheißungen ſelbſt uͤber ihre Graͤnzen hinaus
in Erfuͤllung gehe.
Zwey Aeltern in Jahren und ein einziger
ſpaͤtgeborner Sohn: hier ſollte man doch end¬
lich eine haͤusliche Ruhe, ein irdiſches Gluͤck
erwarten! Keineswegs. Die Himmliſchen
bereiten dem Erzvater noch die ſchwerſte
Pruͤfung. Doch von dieſer koͤnnen wir nicht
reden, ohne vorher noch mancherley Betrach¬
tungen anzuſtellen.
Sollte eine natuͤrliche, allgemeine Religion
entſpringen, und ſich eine beſondere, geoffen¬
barte daraus entwickeln, ſo waren die Laͤn¬
der, in denen bisher unſere Einbildungskraft
verweilt, die Lebensweiſe, die Menſchenart
wohl am geſchickteſten dazu; wenigſtens finden
wir nicht, daß in der ganzen Welt ſich etwas
aͤhnlich Guͤnſtiges und Heitres hervorgethan
haͤtte. Schon zur natuͤrlichen Religion, wenn
wir annehmen, daß ſie fruͤher in dem menſch¬
lichen Gemuͤthe entſprungen, gehoͤrt viel Zart¬
heit der Geſinnung: denn ſie ruht auf der
Ueberzeugung einer allgemeinen Vorſehung,
welche die Weltordnung im Ganzen leite.
Eine beſondre Religion, eine von den Goͤt¬
tern dieſem oder jenem Volk geoffenbarte,
fuͤhrt den Glauben an eine beſondre Vorſe¬
hung mit ſich, die das goͤttliche Weſen gewiſ¬
ſen beguͤnſtigten Menſchen, Familien, Staͤm¬
men und Voͤlkern zuſagt. Dieſe ſcheint ſich
ſchwer aus dem Innern des Menſchen zu
entwickeln. Sie verlangt Ueberlieferung, Her¬
kommen, Buͤrgſchaft aus uralter Zeit.
Schoͤn iſt es daher, daß die iſraelitiſche
Ueberlieferung gleich die erſten Maͤnner, welche
dieſer beſondern Vorſehung vertrauen, als
Glaubenshelden darſtellt, welche von jenem
hohen Weſen, dem ſie ſich abhaͤngig erken¬
nen, alle und jede Gebote eben ſo blindlings
befolgen, als ſie ohne zu zweifeln die ſpaͤten
Erfuͤllungen ſeiner Verheißungen abzuwarten
nicht ermuͤden.
So wie eine beſondere, geoffenbarte Reli¬
gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer
mehr von den Goͤttern beguͤnſtigt ſeyn koͤnne
als der andre, ſo entſpringt ſie auch vorzuͤg¬
lich aus der Abſonderung der Zuſtaͤnde. Nahe
verwandt ſchienen ſich die erſten Menſchen,
aber ihre Beſchaͤftigungen trennten ſie bald.
Der Jaͤger war der freyeſte von allen; aus
ihm entwickelte ſich der Krieger und der Herr¬
ſcher. Der Theil der den Acker baute, ſich
der Erde verſchrieb, Wohnungen und Scheu¬
ern auffuͤhrte, um das Erworbene zu erhal¬
ten, konnte ſich ſchon etwas duͤnken, weil
ſein Zuſtand Dauer und Sicherheit verſprach.
Dem Hirten an ſeiner Stelle ſchien der unge¬
meſſenſte Zuſtand ſo wie ein graͤnzenloſer
Beſitz zu Theil geworden. Die Vermehrung
der Heerden ging ins Unendliche, und der
Raum der ſie ernaͤhren ſollte, erweiterte ſich
nach allen Seiten. Dieſe drey Staͤnde ſchei¬
nen ſich gleich anfangs mit Verdruß und
Verachtung angeſehn zu haben; und wie der
Hirte dem Staͤdter ein Graͤuel war, ſo ſon¬
derte er auch ſich wieder von dieſem ab. Die
Jaͤger verlieren ſich aus unſern Augen in die
Gebirge, und kommen nur als Eroberer wie¬
der zum Vorſchein.
Zum Hirtenſtande gehoͤrten die Erzvaͤter.
Ihre Lebensweiſe auf dem Meere der Wuͤſten
und Weiden gab ihren Geſinnungen Breite
und Freyheit, das Gewoͤlbe des Himmels
unter dem ſie wohnten, mit allen ſeinen naͤcht¬
lichen Sternen, ihren Gefuͤhlen Erhabenheit,
und ſie bedurften mehr als der thaͤtige gewandte
Jaͤger, mehr als der ſichre ſorgfaͤltige haus¬
bewohnende Ackersmann, des unerſchuͤtterlichen
Glaubens, daß ein Gott ihnen zur Seite
ziehe, daß er ſie beſuche, an ihnen Antheil
nehme, ſie fuͤhre und rette.
Zu noch einer andern Betrachtung werden
wir genoͤthigt indem wir zur Geſchichtsfolge
uͤbergehen. So menſchlich, ſchoͤn und heiter
auch die Religion der Erzvaͤter erſcheint, ſo
gehen doch Zuͤge von Wildheit und Grau¬
ſamkeit hindurch, aus welcher der Menſch
herankommen, oder worein er wieder verſin¬
ken kann.
Daß der Haß ſich durch das Blut, durch
den Tod des uͤberwundenen Feindes verſoͤhne,
iſt natuͤrlich; daß man auf dem Schlachtfelde
zwiſchen den Reihen der Getoͤdteten einen
Frieden ſchloß, laͤßt ſich wohl denken; daß
man eben ſo durch geſchlachtete Thiere ein
Buͤndniß zu befeſtigen glaubte, fließt aus
dem Vorhergehenden; auch daß man die Goͤt¬
ter, die man doch immer als Partey, als
Widerſacher oder als Beyſtand anſah, durch
Getoͤdtetes herbeyziehen, ſie verſoͤhnen, ſie
gewinnen koͤnne, uͤber dieſe Vorſtellung hat
man ſich gleichfalls nicht zu verwundern.
Bleiben wir aber bey den Opfern ſtehen, und
betrachten die Art, wie ſie in jener Urzeit
dargebracht wurden; ſo finden wir einen ſelt¬
ſamen, fuͤr uns ganz widerlichen Gebrauch,
der wahrſcheinlich auch aus dem Kriege her¬
genommen, dieſen naͤmlich: die geopferten
Thiere jeder Art, und wenn ihrer noch ſo
viel gewidmet wurden, mußten in zwey Haͤlf¬
ten zerhauen, an zwey Seiten gelegt werden,
und in der Straße dazwiſchen befanden ſich
diejenigen, die mit der Gottheit einen Bund
ſchließen wollten.
Wunderbar und ahndungsvoll geht durch
jene ſchoͤne Welt noch ein anderer ſchrecklicher
Zug, daß alles was geweiht, was verlobt
war, ſterben mußte: wahrſcheinlich auch ein
auf den Frieden uͤbergetragener Kriegsgebrauch.
Den Bewohnern einer Stadt, die ſich gewalt¬
ſam wehrt, wird mit einem ſolchen Geluͤbde
gedroht; ſie geht uͤber, durch Sturm oder
ſonſt: man laͤßt nichts am Leben, Maͤnner
keineswegs, und manchmal theilen auch Frauen,
Kinder, ja das Vieh ein gleiches Schickſal.
Uebereilter und aberglaͤubiſcher Weiſe werden,
beſtimmter oder unbeſtimmter, dergleichen
Opfer den Goͤttern verſprochen; und ſo kom¬
men die welche man ſchonen moͤchte, ja ſo
gar die Naͤchſten, die eigenen Kinder, in den
Fall als Suͤhnopfer eines ſolchen Wahnſinns
zu bluten.
In dem ſanften, wahrhaft urvaͤterlichen
Character Abrahams konnte eine ſo barbariſche
Anbetungsweiſe nicht entſpringen; aber die
Goͤtter, welche manchmal, um uns zu verſu¬
chen, jene Eigenſchaften hervorzukehren ſchei¬
nen, die der Menſch ihnen anzudichten geneigt
iſt, befehlen ihm das Ungeheure. Er ſoll
ſeinen Sohn opfern, als Pfand des neuen
Bundes, und wenn es nach dem Herge¬
brachten geht, ihn nicht etwa nur ſchlachten
und verbrennen, ſondern ihn in zwey Stuͤcke
theilen, und zwiſchen ſeinen rauchenden Ein¬
geweiden ſich von den guͤtigen Goͤttern eine
neue Verheißung erwarten. Ohne Zaudern
und blindlings ſchickt Abraham ſich an, den
Befehl zu vollziehen: den Goͤttern iſt der
Wille hinreichend. Nun ſind Abrahams Pruͤ¬
fungen voruͤber: denn weiter konnten ſie nicht
geſteigert werden. Aber Sara ſtirbt, und
dieß giebt Gelegenheit, daß Abraham von
dem Lande Canaan vorbildlich Beſitz nimmt.
Er bedarf eines Grabes, und dieß iſt das
erſte Mal, daß er ſich nach einem Eigenthum
auf dieſer Erde umſieht. Eine zweifache Hoͤh¬
le gegen dem Hain Mamre mag er ſich ſchon
fruͤher ausgeſucht haben. Dieſe kauft er mit
dem daranſtoßenden Acker, und die Form
Rechtens, die er dabey beobachtet, zeigt wie
wichtig ihm dieſer Beſitz iſt. Er war es auch,
mehr als er ſich vielleicht ſelbſt denken konnte:
denn er, ſeine Soͤhne und Enkel ſollten da¬
ſelbſt ruhen, und der naͤchſte Anſpruch auf das
ganze Land, ſo wie die immerwaͤhrende Nei¬
gung ſeiner Nachkommenſchaft ſich hier zu
verſammeln, dadurch am eigentlichſten begruͤn¬
tet werden.
Von nun an gehen die mannigfaltigen Fa¬
milienſcenen abwechſelnd vor ſich. Noch im¬
mer haͤlt ſich Abraham ſtreng abgeſondert von
den Einwohnern, und wenn Iſmael, der Sohn
einer Aegypterinn, auch eine Tochter dieſes
Landes geheiratet hat, ſo ſoll nun Iſaak ſich
mit einer Blutsfreundinn, einer Ebenbuͤrti¬
gen vermaͤhlen.
Abraham ſendet ſeinen Knecht nach Meſo¬
potamien zu den Verwandten, die er dort zu¬
ruͤckgelaſſen. Der kluge Eleaſar kommt uner¬
kannt an, und um die rechte Braut nach Hau¬
ſe zu bringen, pruͤft er die Dienſtfertigkeit
der Maͤdchen am Brunnen. Er verlangt zu
trinken fuͤr ſich, und ungebeten traͤnkt Rebec¬
ca auch ſeine Kameele. Er beſchenkt ſie, er
freyet um ſie, die ihm nicht verſagt wird.
So fuͤhrt er ſie in das Haus ſeines Herrn, und
ſie wird Iſaak angetraut. Auch hier muß
die Nachkommenſchaft lange Zeit erwartet wer¬
den. Erſt nach einigen Pruͤfungsjahren wird
Rebecca geſegnet, und derſelbe Zwieſpalt, der
in Abrahams Doppelehe von zwey Muͤttern
entſtand, entſpringt hier von einer. Zwey
Knaben von entgegengeſetztem Sinne balgen
ſich ſchon unter dem Herzen der Mutter. Sie
treten ans Licht: der aͤltere lebhaft und maͤchtig,
der juͤngere zart und klug; jener wird des Va¬
ters, dieſer der Mutter Liebling. Der Streit
um den Vorrang, der ſchon bey der Geburt
beginnt, ſetzt ſich immer fort. Eſau iſt ruhig
und gleichguͤltig uͤber die Erſtgeburt, die ihm
das Schickſal zugetheilt; Jakob vergißt nicht,
daß ihn ſein Bruder zuruͤckgedraͤngt. Aufmerk¬
ſam auf jede Gelegenheit den erwuͤnſchten
Vortheil zu gewinnen, handelt er ſeinem Bru¬
der das Recht der Erſtgeburt ab, und bevor¬
l. 21
theilt ihn um des Vaters Segen. Eſau er¬
grimmt und ſchwoͤrt dem Bruder den Tod,
Jakob entflieht, um in dem Lande ſeiner Vor¬
fahren ſein Gluͤck zu verſuchen.
Nun, zum erſten Mal in einer ſo edlen Fa¬
milie erſcheint ein Glied, das kein Bedenken
traͤgt, durch Klugheit und Liſt die Vortheile zu
erlangen, welche Natur und Zuſtaͤnde ihm ver¬
ſagten. Es iſt oft genug bemerkt und ausge¬
ſprochen worden, daß die heiligen Schriften
uns jene Erzvaͤter und andere von Gott be¬
guͤnſtigte Maͤnner keineswegs als Tugendbilder
aufſtellen wollen. Auch ſie ſind Menſchen von
den verſchiedenſten Charactern, mit mancherley
Maͤngeln und Gebrechen; aber eine Haupt¬
eigenſchaft darf ſolchen Maͤnnern nach dem
Herzen Gottes nicht fehlen: es iſt der uner¬
ſchuͤtterliche Glaube, daß Gott ſich ihrer und
der Ihrigen beſonders annehme.
Die allgemeine, die natuͤrliche Religion
bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die
Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬
des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬
ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns
faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung
dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch
den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt,
manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch
gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen.
Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬
ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬
ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines
Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬
zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den
Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn
muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus
zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine
ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬
gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum
Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen,
das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter
Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit
jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird.
21 *
Auch in dieſem Glauben tritt Jakob ſei¬
nen Zug an, und wenn er durch Liſt und
Betrug unſere Neigung nicht erworben hat,
ſo gewinnt er ſie durch die dauernde und un¬
verbruͤchliche Liebe zu Rahel, um die er
ſelbſt aus dem Stegreife wirbt, wie Eleaſar
fuͤr ſeinen Vater um Rebecca geworben hatte.
In ihm ſollte ſich die Verheißung eines un¬
ermeßlichen Volkes zuerſt vollkommen entfal¬
ten; er ſollte viele Soͤhne um ſich ſehen,
aber auch durch ſie und ihre Muͤtter manches
Herzeleid erleben.
Sieben Jahre dient er um die Geliebte,
ohne Ungeduld und ohne Wanken. Sein
Schwiegervater, ihm gleich an Liſt, geſinnt
wie er, um jedes Mittel zum Zweck fuͤr
rechtmaͤßig zu halten, betriegt ihn, vergilt
ihm was er an ſeinem Bruder gethan: Ja¬
kob findet eine Gattinn, die er nicht liebt,
in ſeinen Armen. Zwar, um ihn zu beſaͤnf¬
tigen, giebt Laban nach kurzer Zeit ihm die
geliebte dazu, aber unter der Bedingung
ſieben neuer Dienſtjahre; und ſo entſpringt
nun Verdruß aus Verdruß. Die nicht ge¬
liebte Gattinn iſt fruchtbar, die geliebte
bringt keine Kinder; dieſe will wie Sara
durch eine Magd Mutter werden, jene mis¬
goͤnnt ihr auch dieſen Vortheil. Auch ſie
fuͤhrt ihrem Gatten eine Magd zu, und nun
iſt der gute Erzvater der geplagteſte Mann
von der Welt: Vier Frauen, Kinder von
dreyen, und keins von der geliebten! End¬
lich wird auch dieſe begluͤckt, und Joſeph
kommt zur Welt, ein Spaͤtling der leiden¬
ſchaftlichſten Liebe. Jakobs vierzehn Dienſt¬
jahre ſind um; aber Laban will in ihm den
erſten treuſten Knecht nicht entbehren. Sie
ſchließen neue Bedingungen und theilen ſich
in die Heerden. Laban behaͤlt die von wei¬
ßer Farbe, als die der Mehrzahl; die ſchaͤk¬
kigen, gleichſam nur den Ausſchuß, laͤßt ſich
Jakob gefallen. Dieſer weiß aber auch hier
ſeinen Vortheil zu wahren, und wie er durch
ein ſchlechtes Gericht die Erſtgeburt, und
durch eine Vermummung den vaͤterlichen Se¬
gen gewonnen, ſo verſteht er nun durch
Kunſt und Sympathie den beſten und groͤ߬
ten Theil der Heerde ſich zuzueignen, und
wird auch von dieſer Seite der wahrhaft
wuͤrdige Stammvater des Volkes Iſrael und
ein Muſterbild fuͤr ſeine Nachkommen. La¬
ban und die Seinigen bemerken wo nicht das
Kunſtſtuͤck doch den Erfolg. Es giebt Ver¬
druß; Jakob flieht mit allen den Seinigen,
mit aller Habe, und entkommt dem nachſe¬
tzenden Laban theils durch Gluͤck, theils durch
Liſt. Nun ſoll ihm Rahel noch einen Sohn
ſchenken; ſie ſtirbt aber in der Geburt: der
Schmerzenſohn Benjamin uͤberlebt ſie, aber
noch groͤßern Schmerz ſoll der Altvater bey
dem anſcheinenden Verluſt ſeines Sohnes
Joſeph empfinden.
Vielleicht moͤchte Jemand fragen, warum
ich dieſe allgemein bekannten, ſo oft wieder¬
holten und ausgelegten Geſchichten hier aber¬
mals umſtaͤndlich vortrage. Dieſem duͤrfte
zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬
dere Weiſe darzuſtellen wuͤßte, wie ich bey
meinem zerſtreuten Leben, bey meinem zer¬
ſtuͤckelten Lernen, dennoch meinen Geiſt,
meine Gefuͤhle auf einen Punct zu einer
ſtillen Wirkung verſammelte; weil ich auf
keine andere Weiſe den Frieden zu ſchildern
vermoͤchte, der mich umgab, wenn es auch
draußen noch ſo wild und wunderlich herging.
Wenn eine ſtets geſchaͤftige Einbildungskraft,
wovon jenes Maͤhrchen ein Zeugniß ablegen
mag, mich bald da bald dorthin fuͤhrte,
wenn das Gemiſch von Fabel und Geſchichte,
Mythologie und Religion mich zu verwirren
drohte; ſo fluͤchtete ich gern nach jenen mor¬
genlaͤndiſchen Gegenden, ich verſenkte mich in
die erſten Buͤcher Moſis, und fand mich
dort unter den ausgebreiteten Hirtenſtaͤmmen
zugleich in der groͤßten Einſamkeit und in
der groͤßten Geſellſchaft.
Dieſe Familienauftritte, ehe ſie ſich in
eine Geſchichte des iſraelitiſchen Volks verlie¬
ren ſollten, laſſen uns nun zum Schluß noch
eine Geſtalt ſehen, an der ſich beſonders die
Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen
gar artig ſchmeicheln kann: Joſeph, das
Kind der leidenſchaftlichſten ehelichen Liebe.
Ruhig erſcheint er uns und klar, und pro¬
phezeyt ſich ſelbſt die Vorzuͤge, die ihn uͤber
ſeine Familie erheben ſollten. Durch ſeine
Geſchwiſter ins Ungluͤck geſtoßen, bleibt er
ſtandhaft und rechtlich in der Sklaverey, wi¬
derſteht den gefaͤhrlichſten Verſuchungen, ret¬
tet ſich durch Weiſſagung, und wird zu ho¬
hen Ehren nach Verdienſt erhoben. Erſt
zeigt er ſich einem großen Koͤnigreiche, ſo¬
dann den Seinigen huͤlfreich und nuͤtzlich.
Er gleicht ſeinem Urvater Abraham an Ruhe
und Großheit, ſeinem Großvater Iſaak an
Stille und Ergebenheit. Den von ſeinem
Vater ihm angeſtammten Gewerbſinn uͤbt er
im Großen: es ſind nicht mehr Heerden, die
man einem Schwiegervater, die man fuͤr ſich
ſelbſt gewinnt, es ſind Voͤlker mit allen ih¬
ren Beſitzungen, die man fuͤr einen Koͤnig
einzuhandlen verſteht. Hoͤchſt anmuthig iſt
dieſe natuͤrliche Erzaͤhlung, nur erſcheint ſie
zu kurz, und man fuͤhlt ſich berufen, ſie ins
Einzelne auszumalen.
Ein ſolches Ausmalen bibliſcher, nur im
Umriß angegebener Charactere und Begeben¬
heiten war den Deutſchen nicht mehr fremd.
Die Perſonen des alten und neuen Teſta¬
ments hatten durch Klopſtock ein zartes und
gefuͤhlvolles Weſen gewonnen, das dem Kna¬
ben ſo wie vielen ſeiner Zeitgenoſſen hoͤchlich
zuſagte. Von den Bodmeriſchen Arbeiten die¬
ſer Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber
Daniel in der Loͤwengrube, von Mo¬
ſer, machte große Wirkung auf das junge Ge¬
muͤth. Hier gelangt ein wohldenkender Ge¬
ſchaͤfts- und Hofmann durch mancherley Truͤb¬
ſale zu hohen Ehren, und ſeine Froͤmmigkeit,
durch die man ihn zu verderben drohte,
ward fruͤher und ſpaͤter ſein Schild und ſeine
Waffe. Die Geſchichte Joſephs zu bearbei¬
ten war mir lange ſchon wuͤnſchenswerth ge¬
weſen; allein ich konnte mit der Form nicht
zurecht kommen, beſonders da mir keine Vers¬
art gelaͤufig war, die zu einer ſolchen Ar¬
beit gepaßt haͤtte. Aber nun fand ich eine
proſaiſche Behandlung ſehr bequem und legte
mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung.
Nun ſuchte ich die Charactere zu ſondern
und auszumalen, und durch Einſchaltung von
Incidenzien und Epiſoden die alte einfache
Geſchichte zu einem neuen und ſelbſtaͤndigen
Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was
freylich die Jugend nicht bedenken kann, daß
hiezu ein Gehalt noͤthig ſey, und daß dieſer
uns nur durch das Gewahrwerden der Er¬
fahrung ſelbſt entſpringen koͤnne. Genug, ich
vergegenwaͤrtigte mir alle Begebenheiten bis
ins kleinſte Detail, und erzaͤhlte ſie mir der
Reihe nach auf das genauſte.
Was mir dieſe Arbeit ſehr erleichterte,
war ein Umſtand, der dieſes Werk und uͤber¬
haupt meine Autorſchaft hoͤchſt voluminoͤs zu
machen drohte. Ein junger Mann von vie¬
len Faͤhigkeiten, der aber durch Anſtrengung
und Duͤnkel bloͤdſinnig geworden war, wohnte
als Muͤndel in meines Vaters Hauſe, lebte
ruhig mit der Familie und war ſehr ſtill und
in ſich gekehrt, und wenn man ihn auf ſeine
gewohnte Weiſe verfahren ließ, zufrieden und
gefaͤllig. Dieſer hatte ſeine academiſchen
Hefte mit großer Sorgfalt geſchrieben, und
ſich eine fluͤchtige leſerliche Hand erworben.
Er beſchaͤftigte ſich am liebſten mit Schreiben,
und ſah es gern, wenn man ihm etwas zu
copiren gab; noch lieber aber, wenn man
ihm dictirte, weil er ſich alsdann in ſeine
gluͤcklichen academiſchen Jahre verſetzt fuͤhlte.
Meinem Vater, der keine expedite Hand
ſchrieb, und deſſen deutſche Schrift klein und
zittrig war, konnte nichts erwuͤnſchter ſeyn,
und er pflegte daher, bey Beſorgung eigner
ſowohl als fremder Geſchaͤfte, dieſem jungen
Manne gewoͤhnlich einige Stunden des Tags
zu dictiren. Ich fand es nicht minder be¬
quem, in der Zwiſchenzeit alles was mir
fluͤchtig durch den Kopf ging von einer frem¬
den Hand auf dem Papier fixirt zu ſehen,
und meine Erfindungs- und Nachahmungs¬
gabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffaſſens
und Aufbewahrens.
Ein ſo großes Werk als jenes bibliſche
proſaiſch - epiſche Gedicht hatte ich noch nicht
unternommen. Es war eben eine ziemlich
ruhige Zeit, und nichts rief meine Einbil¬
dungskraft aus Palaͤſtina und Aegypten zu¬
ruͤck. So quoll mein Manuſkript taͤglich
um ſo mehr auf, als das Gedicht ſtrecken¬
weiſe, wie ich es mir ſelbſt gleichſam in die
Luft erzaͤhlte, auf dem Papier ſtand, und
nur wenige Blaͤtter von Zeit zu Zeit umge¬
ſchrieben zu werden brauchten.
Als das Werk fertig war: denn es kam
zu meiner eignen Verwunderung wirklich zu
Stande; bedachte ich, daß von den vorigen
Jahren mancherley Gedichte vorhanden ſeyen,
die mir auch jetzt nicht verwerflich ſchienen,
welche in ein Format mit Joſeph zuſammen¬
geſchrieben, einen ganz artigen Quartband
ausmachen wuͤrden, dem man den Titel ver¬
miſchte Gedichte geben koͤnnte; welches wir
ſehr wohl gefiel, weil ich dadurch im Stillen
bekannte und beruͤhmte Autoren nachzuahmen
Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute An¬
zahl ſogenannter anakreontiſcher Gedichte ver¬
fertigt, die mir wegen der Bequemlichkeit
des Sylbenmaßes und der Leichtigkeit des
Inhalts ſehr wohl von der Hand gingen.
Allein dieſe durfte ich nicht wohl aufnehmen,
weil ſie keine Reime hatten, und ich doch
vor allem meinem Vater etwas Angenehmes
zu erzeigen wuͤnſchte. Deſtomehr ſchienen mir
geiſtliche Oden hier am Platz, dergleichen ich
zur Nachahmung des juͤngſten Gerichts
von Elias Schlegel ſehr eifrig verſucht hatte.
Eine zur Feyer der Hoͤllenfahrt Chriſti ge¬
ſchriebene erhielt von meinen Aeltern und
Freunden viel Beyfall, und ſie hatte das
Gluͤck mir ſelbſt noch einige Jahre zu gefal¬
len. Die ſogenannten Texte der ſonntaͤgigen
Kirchenmuſiken, welche jedesmal gedruckt zu
haben waren, ſtudirte ich fleißig. Sie wa¬
ren freylich ſehr ſchwach, und ich durfte wohl
glauben, daß die meinigen, deren ich meh¬
rere nach der vorgeſchriebenen Art verfertigt
hatte, eben ſo gut verdienten componirt und
zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu
werden. Dieſe und mehrere dergleichen hatte
ich ſeit laͤnger als einem Jahre mit eigener
Hand abgeſchrieben, weil ich durch dieſe Pri¬
vatuͤbung von den Vorſchriften des Schreibe¬
meiſters entbunden wurde. Nunmehr aber
ward alles redigirt und in gute Ordnung ge¬
ſtellt, und es bedurfte keines großen Zure¬
dens, um ſolche von jenem ſchreibeluſtigen
jungen Manne reinlich abgeſchrieben zu ſehen.
Ich eilte damit zum Buchbinder, und als
ich gar bald den ſaubern Band meinem Va¬
ter uͤberreichte, munterte er mich mit beſon¬
derm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen ſol¬
chen Quartanten zu liefern; welches er mit
deſto groͤßerer Ueberzeugung that, als ich
das alles nur in ſo genannten Nebenſtunden
geleiſtet hatte.
Noch ein anderer Umſtand vermehrte den
Hang zu dieſen theologiſchen, oder vielmehr
bibliſchen Studien. Der Senior des Mini¬
ſteriums, Johann Philipp Freſenius,
ein ſanfter Mann, von ſchoͤnem gefaͤlligen
Anſehen, welcher von ſeiner Gemeinde ja
von der ganzen Stadt als ein exemplariſcher
Geiſtlicher und guter Canzelredner verehrt
ward, der aber, weil er gegen die Herrnhu¬
ter aufgetreten, bey den abgeſonderten From¬
men nicht im beſten Ruf ſtand, vor der
Menge hingegen ſich durch die Bekehrung
eines bis zum Tode bleſſirten freygeiſtiſchen
Generals beruͤhmt und gleichſam heilig ge¬
macht hatte, dieſer ſtarb, und ſein Nachfol¬
ger Plitt, ein großer ſchoͤner wuͤrdiger
Mann, der jedoch vom Catheder (er war
Profeſſor in Marpurg geweſen) mehr die
Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht
hatte, kuͤndigte ſogleich eine Art von Reli¬
gions-Curſus an, dem er ſeine Predigten in
einem gewiſſen methodiſchen Zuſammenhang
widmen wolle. Schon fruͤher, da ich doch
einmal in die Kirche gehen mußte, hatte ich
mir die Eintheilung gemerkt, und konnte dann
und wann mit ziemlich vollſtaͤndiger Recita¬
tion einer Predigt großthun. Da nun uͤber
den neuen Senior manches fuͤr und wider in
der Gemeine geſprochen wurde, und viele
kein ſonderliches Zutrauen in ſeine angekuͤn¬
digten didactiſchen Predigten ſetzen wollten;
ſo nahm ich mir vor ſorgfaͤltiger nachzuſchrei¬
ben, welches mir um ſo eher gelang, als ich
auf einem zum Hoͤren ſehr bequemen, uͤbri¬
gens aber verborgenen Sitz ſchon geringere
Verſuche gemacht hatte. Ich war hoͤchſt auf¬
merkſam und behend; in dem Augenblick
daß er Amen ſagte, eilte ich aus der Kirche
und wendete ein paar Stunden daran, das
was ich auf dem Papier und im Gedaͤchtniß
fixirt hatte, eilig zu dictiren, ſo daß ich die
geſchriebene Predigt noch vor Tiſche uͤberrei¬
chen konnte. Mein Vater war ſehr glorios
uͤber dieſes Gelingen, und der gute Haus¬
freund, der eben zu Tiſche kam, mußte die
Freude theilen. Dieſer war mir ohnehin
hoͤchſt guͤnſtig, weil ich mir ſeinen Meſſias
ſo zu eigen gemacht hatte, daß ich ihm, bey
meinen oͤftern Beſuchen, um Siegelabdruͤcke
fuͤr meine Wappenſammlung zu holen, große
Stellen davon vortragen konnte, ſo daß ihm
die Thraͤnen in den Augen ſtanden.
I. 22
Den naͤchſten Sonntag ſetzte ich die Ar¬
beit mit gleichem Eifer fort, und weil mich
der Mechanismus derſelben ſogar unterhielt,
ſo dachte ich nicht nach uͤber das was ich
ſchrieb und aufbewahrte. Das erſte Viertel¬
jahr mochten ſich dieſe Bemuͤhungen ziemlich
gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach mei¬
nem Duͤnkel, weder beſondere Aufklaͤrung
uͤber die Bibel ſelbſt, noch eine freyere An¬
ſicht des Dogma's zu finden glaubte: ſo
ſchien mir die kleine Eitelkeit die dabey be¬
friedigt wurde, zu theuer erkauft, als daß
ich mit gleichem Eifer das Geſchaͤft haͤtte
fortſetzen ſollen. Die erſt ſo blaͤtterreichen
Canzelreden wurden immer magerer, und ich
haͤtte zuletzt dieſe Bemuͤhung ganz abgebro¬
chen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund
der Vollſtaͤndigkeit war, mich durch gute
Worte und Verſprechungen dahin gebracht,
daß ich bis auf den letzten Sonntag Trinita¬
tis aushielt, obgleich am Schluſſe kaum et¬
was mehr als der Text, die Propoſition und
die Eintheilung auf kleine Blaͤtter verzeichnet
wurden.
Was das Vollbringen betrifft, darin hatte
mein Vater eine beſondere Hartnaͤckigkeit.
Was einmal unternommen ward, ſollte aus¬
gefuͤhrt werden, und wenn auch inzwiſchen
das Unbequeme, Langweilige, Verdrießliche,
ja Unnuͤtze des Begonnenen ſich deutlich offen¬
barte. Es ſchien, als wenn ihm das Vol¬
bringen der einzige Zweck, das Beharren die
einzige Tugend daͤuchte. Hatten wir in lan¬
gen Winterabenden im Familienkreiſe ein
Buch angefangen vorzuleſen, ſo mußten wir
es auch durchbringen, wenn wir gleich ſaͤmt¬
lich dabey verzweifelten, und er mitunter ſelbſt
der erſte war, der zu gaͤhnen anfing. Ich
erinnere mich noch eines ſolchen Winters, wo
wir Bowers Geſchichte der Paͤbſte ſo
durchzuarbeiten hatten. Es war ein fuͤrchter¬
licher Zuſtand, indem wenig oder nichts was
in jenen kirchlichen Verhaͤltniſſen vorkommt,
22 *
Kinder und junge Leute anſprechen kann.
Indeſſen iſt mir bey aller Unachtſamkeit und
allem Widerwillen doch von jener Vorleſung
ſoviel geblieben, daß ich in ſpaͤteren Zeiten
manches daranzuknuͤpfen im Stande war.
Bey allen dieſen fremdartigen Beſchaͤfti¬
gungen und Arbeiten, die ſo ſchnell auf ein¬
ander folgten, daß man ſich kaum beſinnen
konnte, ob ſie zulaͤſſig und nuͤtzlich waͤren,
verlor mein Vater ſeinen Hauptzweck nicht
aus den Augen. Er ſuchte mein Gedaͤchtniß,
meine Gabe etwas zu faſſen und zu combini¬
ren, auf juriſtiſche Gegenſtaͤnde zu lenken,
und gab mir daher ein kleines Buch, in Ge¬
ſtalt eines Catechismus, von Hopp, nach
Form und Inhalt der Inſtitutionen gearbei¬
tet, in die Haͤnde. Ich lernte Fragen und
Antworten bald auswendig, und konnte ſogut
den Catecheten als den Catechumenen vorſtel¬
len; und wie bey dem damaligen Religions¬
unterricht eine der Hauptuͤbungen war, daß
man auf das behendeſte in der Bibel auf¬
ſchlagen lernte, ſo wurde auch hier eine
gleiche Bekanntſchaft mit dem Corpus Juris
fuͤr noͤthig befunden, worin ich auch bald
auf das vollkommenſte bewandert war. Mein
Vater wollte weiter gehen, und der kleine
Struve ward vorgenommen; aber hier
ging es nicht ſo raſch. Die Form des Bu¬
ches war fuͤr den Anfaͤnger nicht ſo guͤnſtig,
daß er ſich ſelbſt haͤtte aushelfen koͤnnen,
und meines Vaters Art zu dociren nicht ſo
liberal, daß ſie mich angeſprochen haͤtte.
Nicht allein durch die kriegeriſchen Zu¬
ſtaͤnde, in denen wir uns ſeit einigen Jah¬
ren befanden, ſondern auch durch das buͤrger¬
liche Leben ſelbſt, durch Leſen von Geſchich¬
ten und Romanen, war es uns nur allzu
deutlich, daß es ſehr viele Faͤlle gebe, in
welchen die Geſetze ſchweigen und dem Ein¬
zelnen nicht zu Huͤlfe kommen, der dann ſe¬
hen mag, wie er ſich aus der Sache zieht.
Wir waren nun heran gewachſen, und dem
Schlendriane nach ſollten wir auch neben an¬
dern Dingen fechten und reiten lernen, um
uns gelegentlich unſerer Haut zu wehren,
und zu Pferde kein ſchuͤlerhaftes Anſehn zu
haben. Was den erſten Punct betrifft, ſo
war uns eine ſolche Uebung ſehr angenehm:
denn wir hatten uns ſchon laͤngſt Haurapiere
von Haſelſtoͤcken, mit Koͤrben von Weiden
ſauber geflochten, um die Hand zu ſchuͤtzen,
zu verſchaffen gewußt. Nun durften wir
uns wirklich ſtaͤhlerne Klingen zulegen, und
das Geraſſel was wir damit machten, war
ſehr lebhaft.
Zwey Fechtmeiſter befanden ſich in der
Stadt: ein aͤlterer ernſter Deutſcher, der auf
die ſtrenge und tuͤchtige Weiſe zu Werke
ging, und ein Franzoſe, der ſeinen Vortheil
durch avanciren und retiriren, durch leichte
fluͤchtige Stoͤße, welche ſtets mit einigen
Ausrufungen begleitet waren, zu erreichen
ſuchte. Die Meinungen, welche Art die
beſte ſey, waren getheilt. Der kleinen Ge¬
ſellſchaft mit welcher ich Stunde nehmen
ſollte, gab man den Franzoſen, und wir ge¬
woͤhnten uns bald, vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts
zu gehen, auszufallen und uns zuruͤckzuziehen,
und dabey immer in die herkoͤmmlichen Schrey¬
laute auszubrechen. Mehrere von unſern
Bekannten aber hatten ſich zu dem deutſchen
Fechtmeiſter gewendet, und uͤbten gerade das
Gegentheil. Dieſe verſchiedenen Arten eine
ſo wichtige Uebung zu behandeln, die Ueber¬
zeugung eines Jeden, daß ſein Meiſter der
beſſere ſey, brachte wirklich eine Spaltung
unter die jungen Leute, die ohngefaͤhr von
einem Alter waren, und es fehlte wenig, ſo
haͤtten die Fechtſchulen ganz ernſtliche Ge¬
fechte veranlaßt. Denn faſt ward eben ſo
ſehr mit Worten geſtritten als mit der Klinge
gefochten, und um zuletzt der Sache ein
Ende zu machen, ward ein Wettkampf zwi¬
ſchen beyden Meiſtern veranſtaltet, deſſen Er¬
folg ich nicht umſtaͤndlich zu beſchreiben
brauche. Der Deutſche ſtand in ſeiner Poſi¬
tur wie eine Mauer, paßte auf ſeinen Vor¬
theil, und wußte mit Battiren und Legiren
ſeinen Gegner ein uͤber das andre Mal zu
entwaffnen. Dieſer behauptete, das ſey nicht
Raiſon, und fuhr mit ſeiner Beweglichkeit
fort, den Andern in Athem zu ſetzen. Auch
brachte er dem Deutſchen wohl einige Stoͤße
bey, die ihn aber ſelbſt, wenn es Ernſt ge¬
weſen waͤre, in die andre Welt geſchickt
haͤtten.
Im Ganzen ward nichts entſchieden, noch
gebeſſert, nur wendeten ſich einige zu dem
Landsmann, worunter ich auch gehoͤrte. Al¬
lein ich hatte ſchon zu viel von dem erſten
Meiſter angenommen, daher eine ziemliche
Zeit daruͤber hinging, bis der neue mir es
wieder abgewoͤhnen konnte, der uͤberhaupt
mit uns Renegaten weniger als mit ſeinen
Urſchuͤlern zufrieden war.
Mit dem Reiten ging es mir noch ſchlim¬
mer. Zufaͤlligerweiſe ſchickte man mich im
Herbſt auf die Bahn, ſo daß ich in der kuͤh¬
len und feuchten Jahreszeit meinen Anfang
machte. Die pedantiſche Behandlung dieſer
ſchoͤnen Kunſt war mir hoͤchlich zuwider.
Zum erſten und letzten war immer vom Schlie¬
ßen die Rede, und es konnte einem doch Nie¬
mand ſagen, worin denn eigentlich der Schluß
beſtehe, worauf doch alles ankommen ſolle:
denn man fuhr ohne Steigbuͤgel auf dem
Pferde hin und her. Uebrigens ſchien der
Unterricht nur auf Prellerey und Beſchaͤmung
der Scholaren angelegt. Vergaß man die
Kinnkette ein- oder auszuhaͤngen, ließ man
die Gerte fallen oder wohl gar den Hut, jedes
Verſaͤumniß, jedes Ungluͤck mußte mit Geld
gebuͤßt werden, und man ward noch obenein
ausgelacht. Dieß gab mir den allerſchlimm¬
ſten Humor, beſonders da ich den Uebungs¬
ort ſelbſt ganz unertraͤglich fand. Der gar¬
ſtige, große, entweder feuchte oder ſtaubige
Raum, die Kaͤlte, der Modergeruch, alles
zuſammen war mir im hoͤchſten Grade zuwi¬
der; und da der Stallmeiſter den andern,
weil ſie ihn vielleicht durch Fruͤhſtuͤcke und
ſonſtige Gaben, vielleicht auch durch ihre
Geſchicklichkeit beſtachen, immer die beſten
Pferde, mir aber die ſchlechteſten zu reiten
gab, mich auch wohl warten ließ, und mich
wie es ſchien hintanſetzte: ſo brachte ich die
allerverdrießlichſten Stunden uͤber einem Ge¬
ſchaͤft hin, das eigentlich das luſtigſte von
der Welt ſeyn ſollte. Ja der Eindruck von
jener Zeit, von jenen Zuſtaͤnden iſt mir ſo
lebhaft geblieben, daß, ob ich gleich nachher
leidenſchaftlich und verwegen zu reiten gewohnt
war, auch Tage und Wochen lang kaum
vom Pferde kam, daß ich bedeckte Reitbah¬
nen ſorgfaͤltig vermied, und hoͤchſtens nur
wenig Augenblicke darin verweilte. Es kommt
uͤbrigens der Fall oft genug vor, daß wenn
die Anfaͤnge einer abgeſchloſſenen Kunſt uns
uͤberliefert werden ſollen, dieſes auf eine
peinliche und abſchreckende Art geſchieht. Die
Ueberzeugung, wie laͤſtig und ſchaͤdlich dieſes
ſey, hat in ſpaͤtern Zeiten die Erziehungs¬
maxime aufgeſtellt, daß alles der Jugend auf
eine leichte, luſtige und bequeme Art beyge¬
bracht werden muͤſſe; woraus denn aber auch
wieder andere Uebel und Nachtheile entſprun¬
gen ſind.
Mit der Annaͤherung des Fruͤhlings ward
es bey uns auch wieder ruhiger, und wenn
ich mir fruͤher das Anſchauen der Stadt,
ihrer geiſtlichen und weltlichen, oͤffentlichen
und Privat-Gebaͤude zu verſchaffen ſuchte,
und beſonders an dem damals noch vorherr¬
ſchenden Alterthuͤmlichen das groͤßte Vergnuͤ¬
gen fand; ſo war ich nachher bemuͤht, durch
die Lersner'ſche Chronik und durch andre
unter meines Vaters Francofurtenſien befind¬
liche Buͤcher und Hefte, die Perſonen ver¬
gangner Zeiten mir zu vergegenwaͤrtigen; wel¬
ches mir denn auch durch große Aufmerkſam¬
keit auf das Beſondere der Zeiten und Sitten,
und bedeutender Individualitaͤten ganz gut
zu gelingen ſchien.
Unter den alterthuͤmlichen Reſten war mir,
von Kindheit an, der auf dem Bruͤckenthurm
aufgeſteckte Schaͤdel eines Staatsverbrechers
merkwuͤrdig geweſen, der von dreyen oder
vieren, wie die leeren eiſernen Spitzen aus¬
wieſen, ſeit 1616 ſich durch alle Unbilden
der Zeit und Witterung erhalten hatte. So
oft man von Sachſenhauſen nach Frankfurt
zuruͤckkehrte, hatte man den Thurm vor ſich
und der Schaͤdel fiel ins Auge. Ich ließ
mir als Knabe ſchon gern die Geſchichte
dieſer Aufruͤhrer, des Fettmilch und ſeiner
Genoſſen erzaͤhlen, wie ſie mit dem Stadt¬
regiment unzufrieden geweſen, ſich gegen daſ¬
ſelbe empoͤrt, Meuterey angeſponnen, die
Judenſtadt gepluͤndert und graͤßliche Haͤndel
erregt, zuletzt aber gefangen und von kaiſerli¬
chen Abgeordneten zum Tode verurtheilt wor¬
den. Spaͤterhin lag mir daran, die naͤhern
Umſtaͤnde zu erfahren, und was es denn fuͤr
Leute geweſen, zu vernehmen. Als ich nun
aus einem alten, gleichzeitigen, mit Holzſchnit¬
ten verſehenen Buche erfuhr, daß zwar dieſe
Menſchen zum Tode verurtheilt, aber zugleich
auch viele Rathsherrn abgeſetzt worden, weil
mancherley Unordnung und ſehr viel Unver¬
antwortliches im Schwange geweſen; da ich
nun die naͤhern Umſtaͤnde vernahm, wie
alles hergegangen: ſo bedauerte ich die ungluͤck¬
lichen Menſchen, welche man wohl als Opfer,
die einer kuͤnftigen beſſern Verfaſſung gebracht
worden, anſehen duͤrfe; denn von jener Zeit
ſchrieb ſich die Einrichtung her, nach welcher
ſowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus
einem Klubb entſprungene Haus Frauenſtein,
ferner Juriſten, Kaufleute und Handwer¬
ker an einem Regimente Theil nehmen ſoll¬
ten, das durch eine auf venetianiſche Weiſe
verwickelte Ballotage ergaͤnzt, von buͤrger¬
lichen Collegien eingeſchraͤnkt, das Rechte zu
thun berufen war, ohne zu dem Unrechten
ſonderliche Freyheit zu behalten.
Zu den ahndungsvollen Dingen, die
den Knaben und auch wohl den Juͤngling
bedraͤngten, gehoͤrte beſonders der Zuſtand
der Judenſtadt, eigentlich die Judengaſſe
genannt, weil ſie kaum aus etwas mehr als
einer einzigen Straße beſteht, welche in fruͤ¬
hen Zeiten zwiſchen Stadtmauer und Graben
wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt
worden ſeyn. Die Enge, der Schmutz, das
Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen
Sprache, alles zuſammen machte den unan¬
genehmſten Eindruck, wenn man auch nur
am Thore vorbeygehend hineinſah. Es dau¬
erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und
ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuruͤck,
wenn ich einmal den Zudringlichkeiten ſo vie¬
ler etwas zu ſchachern unermuͤdet fordernder
oder anbietender Menſchen entgangen war.
Dabey ſchwebten die alten Maͤhrchen von
Grauſamkeit der Juden gegen die Chriſten¬
kinder, die wir in Gottfrieds Chronik graͤßlich
abgebildet geſehen, duͤſter vor dem jungen
Gemuͤth. Und ob man gleich in der neuern
Zeit beſſer von ihnen dachte, ſo zeugte doch
das große Spott- und Schandgemaͤlde, wel¬
ches unter dem Bruͤckenthurm an einer Bo¬
gen-Wand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich
zu ſehen war, außerordentlich gegen ſie: denn
es war nicht etwa durch einen Privatmuth¬
willen, ſondern aus oͤffentlicher Anſtalt ver¬
fertigt worden.
Indeſſen blieben ſie doch das auserwaͤhlte
Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte
gekommen ſeyn, zum Andenken der aͤlteſten
Zeiten umher. Außerdem waren ſie ja auch
Menſchen, thaͤtig, gefaͤllig, und ſelbſt dem
Eigenſinn, womit ſie an ihren Gebraͤuchen
hingen, konnte man ſeine Achtung nicht ver¬
ſagen. Ueberdieß waren die Maͤdchen huͤbſch,
und mochten es wohl leiden, wenn ein Chri¬
ſtenknabe ihnen am Sabbath auf dem Fiſcher¬
felde begegnend, ſich freundlich und aufmerk¬
ſam bewies. Aeußerſt neugierig war ich
daher, ihre Ceremonien kennen zu lernen.
Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule oͤfters
beſucht, einer Beſchneidung, einer Hochzeit
beygewohnt und von dem Lauberhuͤttenfeſt mir
ein Bild gemacht hatte. Ueberall war ich
wohl aufgenommen, gut bewirthet und zur
Wiederkehr eingeladen: denn es waren Per¬
ſonen von Einfluß, die mich entweder hin¬
fuͤhrten oder empfahlen.
So wurde ich denn als ein junger Bewoh¬
ner einer großen Stadt von einem Gegen¬
ſtand zum andern hin und wieder geworfen,
und es fehlte mitten in der buͤrgerlichen Ruhe
und Sicherheit nicht an graͤßlichen Auftritten.
Bald weckte ein naͤherer oder entfernter
Brand uns aus unſerm haͤuslichen Frieden,
bald ſetzte ein entdecktes großes Verbrechen,
deſſen Unterſuchung und Beſtrafung die Stadt
auf viele Wochen in Unruhe. Wir mußten
Zeugen von verſchiedenen Executionen ſeyn,
und es iſt wohl werth zu gedenken, daß ich
auch bey Verbrennung eines Buchs gegenwaͤr¬
tig geweſen bin. Es war der Verlag eines
franzoͤſiſchen comiſchen Romans, der zwar
den Staat, aber nicht Religion und Sitten
ſchonte. Es hatte wirklich etwas Fuͤrchterli¬
ches, eine Strafe an einem lebloſen Weſen
ausgeuͤbt zu ſehen. Die Ballen platzten im
Feuer, und wurden durch Ofengabeln aus ein¬
ander geſchuͤrt und mit den Flammen mehr
in Beruͤhrung gebracht. Es dauerte nicht
lange, ſo flogen die angebrannten Blaͤtter in
der Luft herum, und die Menge haſchte
begierig darnach. Auch ruhten wir nicht, bis
wir ein Exemplar auftrieben, und es waren
nicht wenige die ſich das verbotne Vergnuͤgen
gleichfalls zu verſchaffen wußten. Ja, wenn
es dem Autor um Publicitaͤt zu thun war,
ſo haͤtte er ſelbſt nicht beſſer dafuͤr ſorgen
koͤnnen.
l. 23
Jedoch auch friedlichere Anlaͤſſe fuͤhrten
mich in der Stadt hin und wieder. Mein
Vater hatte mich fruͤh gewoͤhnt kleine Ge¬
ſchaͤfte fuͤr ihn zu beſorgen. Beſonders trug
er mir auf, die Handwerker die er in Arbeit
ſetzte, zu mahnen, da ſie ihn gewoͤhnlich laͤn¬
ger als billig aufhielten, weil er alles genau
wollte gearbeitet haben und zuletzt bey promp¬
ter Bezahlung die Preiſe zu maͤßigen pflegte.
Ich gelangte dadurch faſt in alle Werkſtaͤtten,
und da es mir angeboren war mich in die
Zuſtaͤnde anderer zu finden, eine jede beſon¬
dere Art des menſchlichen Daſeyns zu fuͤhlen
und mit Gefallen daran Theil zu nehmen;
ſo brachte ich manche vergnuͤgliche Stunde
durch Anlaß ſolcher Auftraͤge zu, lernte eines
Jeden Verfahrungsart kennen, und was die
unerlaͤßlichen Bedingungen dieſer und jener Le¬
bensweiſe fuͤr Freude, fuͤr Leid, Beſchwerliches
und Guͤnſtiges mit ſich fuͤhren. Ich naͤherte
mich dadurch dieſer thaͤtigen, das Untere und
Obere verbindenden Claſſe. Denn wenn an der
einen Seite diejenigen ſtehen, die ſich mit den
einfachen und rohen Erzeugniſſen beſchaͤftigen,
an der andern ſolche, die ſchon etwas Verar¬
beitetes genießen wollen; ſo vermittelt der
Gewerker durch Sinn und Hand, daß jene
beyde etwas von einander empfangen und je¬
der nach ſeiner Art ſeiner Wuͤnſche theilhaft
werden kann. Das Familienweſen eines je¬
den Handswerks, das Geſtalt und Farbe
von der Beſchaͤftigung erhielt, war gleichfalls
der Gegenſtand meiner ſtillen Aufmerkſamkeit,
und ſo entwickelte, ſo beſtaͤrkte ſich in mir
das Gefuͤhl der Gleichheit wo nicht aller
Menſchen, doch aller menſchlichen Zuſtaͤnde,
indem mir das nackte Daſeyn als die Haupt¬
bedingung, das uͤbrige alles aber als gleich¬
guͤltig und zufaͤllig erſchien.
Da mein Vater ſich nicht leicht eine Aus¬
gabe erlaubte, die durch einen augenblickli¬
chen Genuß ſogleich waͤre aufgezehrt worden:
wie ich mich denn kaum erinnre, daß wir
23 *
zuſammen ſpaziren gefahren, und auf einem
Luſtorte etwas verzehrt haͤtten; ſo war er
dagegen nicht karg mit Anſchaffung ſolcher
Dinge, die bey innerm Werth auch einen gu¬
ten aͤußern Schein haben. Niemand konnte
den Frieden mehr wuͤnſchen als er, ob er
gleich in der letzten Zeit vom Kriege nicht
die mindeſte Beſchwerlichkeit empfand. In
dieſen Geſinnungen hatte er meiner Mutter
eine goldne mit Diamanten beſetzte Doſe
verſprochen, welche ſie erhalten ſollte, ſobald
der Friede publicirt wuͤrde. In Hoffnung
dieſes gluͤcklichen Ereigniſſes arbeitete man
ſchon einige Jahre an dieſem Geſchenk. Die
Doſe ſelbſt von ziemlicher Groͤße ward in
Hanau verfertigt: denn mit den dortigen
Goldarbeitern, ſo wie mit den Vorſtehern
der Seidenanſtalt, ſtand mein Vater in gu¬
tem Vernehmen. Mehrere Zeichnungen wur¬
den dazu verfertigt; den Deckel zierte ein
Blumenkorb, uͤber welchem eine Taube mit
dem Oelzweig ſchwebte. Der Raum fuͤr die
Juwelen war gelaſſen, die theils an der
Taube, theils an den Blumen, theils auch
an der Stelle wo man die Doſe zu oͤffnen
pflegt, angebracht werden ſollten. Der Ju¬
welier, dem die voͤllige Ausfuͤhrung nebſt den
dazu noͤthigen Steinen uͤbergeben ward, hieß
Lautenſak und war ein geſchickter muntrer
Mann, der wie mehrere geiſtreiche Kuͤnſtler
ſelten das Nothwendige, gewoͤhnlich aber das
Willkuͤhrliche that, was ihm Vergnuͤgen
machte. Die Juwelen, in der Figur wie ſie
auf dem Doſendeckel angebracht werden ſoll¬
ten, waren zwar bald auf ſchwarzes Wachs
geſetzt und nahmen ſich ganz gut aus; allein
ſie wollten ſich von da gar nicht abloͤſen, um
aufs Gold zu gelangen. Im Anfange ließ
mein Vater die Sache noch ſo anſtehen; als
aber die Hoffnung zum Frieden immer leb¬
hafter wurde, als man zuletzt ſchon die Be¬
dingungen, beſonders die Erhebung des Erz¬
herzogs Joſeph zum roͤmiſchen Koͤnig, ge¬
nauer wiſſen wollte; ſo ward mein Vater
immer ungeduldiger, und ich mußte woͤchent¬
lich ein paarmal, ja zuletzt faſt taͤglich den
ſaumſeligen Kuͤnſtler beſuchen. Durch mein
unablaͤſſiges Quaͤlen und Zureden ruͤckte die
Arbeit, wiewohl langſam genug, vorwaͤrts:
denn weil ſie von der Art war, daß man ſie
bald vornehmen, bald wieder aus den Haͤn¬
den legen konnte, ſo fand ſich immer etwas,
wodurch ſie verdraͤngt und bey Seite geſcho¬
ben wurde.
Die Haupturſache dieſes Benehmens in¬
deß war eine Arbeit, die der Kuͤnſtler fuͤr
eigene Rechnung unternommen hatte. Jeder¬
mann wußte, daß Kaiſer Franz eine große
Neigung zu Juwelen, beſonders auch zu far¬
bigen Steinen hege. Lautenſak hatte eine
anſehnliche Summe, und wie ſich ſpaͤter
fand, groͤßer als ſein Vermoͤgen auf derglei¬
chen Edelſteine verwandt, und daraus einen
Blumenſtrauß zu bilden angefangen, in wel¬
chem jeder Stein nach ſeiner Form und
Farbe guͤnſtig hervortreten und das Ganze
ein Kunſtſtuͤck geben ſollte, werth in dem
Schatzgewoͤlbe eines Kaiſers aufbewahrt zu
ſtehen. Er hatte nach ſeiner zerſtreuten Art
mehrere Jahre daran gearbeitet, und eilte
nun, weil man nach dem bald zu hoffenden
Frieden die Ankunft des Kaiſers zur Kroͤ¬
nung ſeines Sohns in Frankfurt erwartete,
es vollſtaͤndig zu machen und endlich zuſam¬
menzubringen. Meine Luſt dergleichen Ge¬
genſtaͤnde kennen zu lernen, benutzte er ſehr
gewandt, um mich als einen Mahnboten zu
zerſtreuen und von meinem Vorſatz abzulen¬
ken. Er ſuchte mir die Kenntniß dieſer
Steine beyzubringen, machte mich auf ihre
Eigenſchaften, ihren Werth aufmerkſam, ſo
daß ich ſein ganzes Bouquet zuletzt auswen¬
dig wußte, und es eben ſo gut wie er einem
Kunden haͤtte anpreiſend vordemonſtriren koͤn¬
nen. Es iſt mir noch jetzt gegenwaͤrtig, und
ich habe wohl koſtbarere aber nicht anmuthi¬
gere Schau- und Prachtſtuͤcke dieſer Art ge¬
ſehen. Außerdem beſaß er noch eine huͤbſche
Kupferſammlung und andere Kunſtwerke, uͤber
die er ſich gern unterhielt, und ich brachte
viele Stunden nicht ohne Nutzen bey ihm
zu. Endlich, als wirklich der Congreß zu
Hubertsburg ſchon feſtgeſetzt war, that er
aus Liebe zu mir ein uͤbriges, und die Taube
zuſammt den Blumen gelangte am Friedens¬
feſte wirklich in die Haͤnde meiner Mutter.
Manchen aͤhnlichen Auftrag erhielt ich
denn auch, um bey den Malern beſtellte Bil¬
der zu betreiben. Mein Vater hatte bey ſich
den Begriff feſtgeſetzt, und wenig Menſchen
waren davon frey, daß ein Bild auf Holz
gemalt einen großen Vorzug vor einem an¬
dern habe, das nur auf Leinwand aufgetragen
ſey. Gute eichene Breter von jeder Form
zu beſitzen, war deswegen meines Vaters
große Sorgfalt, indem er wohl wußte, daß
die leichtſinnigern Kuͤnſtler ſich gerade in die¬
ſer wichtigen Sache auf den Tiſcher verlie¬
ßen. Die aͤlteſten Bohlen wurden aufgeſucht,
der Tiſcher mußte mit Leimen, Hobeln und
Zurichten derſelben aufs genauſte zu Werke
gehen, und dann blieben ſie Jahre lang in
einem obern Zimmer verwahrt, wo ſie ge¬
nugſam austrocknen konnten. Ein ſolches
koͤſtliches Bret ward dem Maler Junker
anvertraut, der einen verzierten Blumentopf
mit den bedeutendſten Blumen nach der Na¬
tur in ſeiner kuͤnſtlichen und zierlichen Weiſe
darauf darſtellen ſollte. Es war gerade im
Fruͤhling, und ich verſaͤumte nicht, ihm woͤ¬
chentlich einige Mal die ſchoͤnſten Blumen zu
bringen die mir unter die Hand kamen;
welche er denn auch ſogleich einſchaltete, und
das Ganze nach und nach aus dieſen Ele¬
menten auf das treulichſte und fleißigſte zu¬
ſammenbildete. Gelegentlich hatte ich auch
wohl einmal eine Maus gefangen, die ich
ihm brachte, und die er als ein gar ſo zier¬
liches Thier nachzubilden Luſt hatte, auch
ſie wirklich aufs genauſte vorſtellte, wie ſie
am Fuße des Blumentopfes eine Kornaͤhre
benaſcht. Mehr dergleichen unſchuldige Na¬
turgegenſtaͤnde, als Schmetterlinge und Kaͤ¬
fer, wurden herbeygeſchafft und dargeſtellt,
ſo daß zuletzt, was Nachahmung und Aus¬
fuͤhrung betraf, ein hoͤchſt ſchaͤtzbares Bild
beyſammen war.
Ich wunderte mich daher nicht wenig, als
der gute Mann mir eines Tages, da die
Arbeit bald abgeliefert werden ſollte, um¬
ſtaͤndlich eroͤffnete, wie ihm das Bild nicht
mehr gefalle, indem es wohl im Einzelnen
ganz gut gerathen, im Ganzen aber nicht
gut componirt ſey, weil es ſo nach und nach
entſtanden, und er im Anfange das Verſehen
begangen, ſich nicht wenigſtens einen allge¬
meinen Plan fuͤr Licht und Schatten ſo wie
fuͤr Farben zu entwerfen, nach welchem man
die einzelnen Blumen haͤtte einordnen koͤn¬
nen. Er ging mit mir das waͤhrend eines
halben Jahrs vor meinen Augen entſtandene
und mir theilweiſe gefaͤllige Bild umſtaͤndlich
durch, und wußte mich zu meiner Betruͤbniß
vollkommen zu uͤberzeugen. Auch hielt er die
nachgebildete Maus fuͤr einen Mißgriff: denn,
ſagte er, ſolche Thiere haben fuͤr viele Men¬
ſchen etwas Schauderhaftes, und man ſollte
ſie da nicht anbringen, wo man Gefallen
erregen will. Ich hatte nun, wie es demje¬
nigen zu gehen pflegt, der ſich von einem
Vorurtheile geheilt ſieht und ſich viel kluͤger
duͤnkt als er vorher geweſen, eine wahre Ver¬
achtung gegen dieß Kunſtwerk, und ſtimmte
dem Kuͤnſtler voͤllig bey, als er eine andere
Tafel von gleicher Groͤße verfertigen ließ,
worauf er, nach dem Geſchmack den er be¬
ſaß, ein beſſer geformtes Gefaͤß und einen
kunſtreicher geordneten Blumenſtrauß an¬
brachte, auch die lebendigen kleinen Beyweſen
zierlich und erfreulich ſowohl zu waͤhlen als
zu vertheilen wußte. Auch dieſe Tafel malte
er mit der groͤßten Sorgfalt, doch freylich
nur nach jener ſchon abgebildeten, oder aus
dem Gedaͤchtniß, das ihm aber bey einer
ſehr langen und emſigen Praxis gar wohl
zu Huͤlfe kam. Beyde Gemaͤlde waren nun
fertig, und wir hatten eine entſchiedene
Freude an dem letzten, das wirklich kunſtrei¬
cher und mehr in die Augen fiel. Der Va¬
ter ward anſtatt mit einem mit zwey Stuͤ¬
cken uͤberraſcht und ihm die Wahl gelaſſen.
Er billigte unſere Meynung und die Gruͤnde
derſelben, beſonders auch den guten Willen
und die Thaͤtigkeit: entſchied ſich aber, nach¬
dem er beyde Bilder einige Tage betrachtet,
fuͤr das erſte, ohne uͤber dieſe Wahl weiter
viele Worte zu machen. Der Kuͤnſtler aͤrger¬
lich, nahm ſein zweytes wohlgemeintes Bild
zuruͤck, und konnte ſich gegen mich der Be¬
merkung nicht enthalten, daß die gute eichne
Tafel, worauf das erſte gemalt ſtehe, zum
Entſchluß des Vaters gewiß das Ihrige bey¬
getragen habe.
Da ich hier wieder der Malerey gedenke,
ſo tritt in meiner Erinnerung eine große An¬
ſtalt hervor, in der ich viele Zeit zubrachte,
weil ſie und deren Vorſteher mich beſonders
an ſich zog. Es war die große Wachstuchs¬
fabrik, welche der Maler Nothnagel er¬
richtet hatte: ein geſchickter Kuͤnſtler, der
aber ſowohl durch ſein Talent als durch ſeine
Denkweiſe mehr zum Fabrikweſen als zur
Kunſt hinneigte. In einem ſehr großen
Raume von Hoͤfen und Gaͤrten wurden alle
Arten von Wachstuch gefertigt, von dem
rohſten an, das mit der Spatel aufgetragen
wird, und das man zu Ruͤſtwagen und aͤhn¬
lichem Gebrauch benutzte, durch die Tapeten
hindurch, welche mit Formen abgedruckt wur¬
den, bis zu den feineren und feinſten, auf
welchen bald chineſiſche und fantaſtiſche, bald
natuͤrliche Blumen abgebildet, bald Figuren,
bald Landſchaften durch den Pinſel geſchickter
Arbeiter dargeſtellt wurden. Dieſe Mannig¬
faltigkeit, die ins Unendliche ging, ergetzte
mich ſehr. Die Beſchaͤftigung ſo vieler Men¬
ſchen von der gemeinſten Arbeit bis zu ſol¬
chen, denen man einen gewiſſen Kunſtwerth
kaum verſagen konnte, war fuͤr mich hoͤchſt
anziehend. Ich machte Bekanntſchaft mit
dieſer Menge in vielen Zimmern hinter ein¬
ander arbeitenden juͤngern und aͤlteren Maͤn¬
nern, und legte auch wohl ſelbſt mitunter
Hand an. Der Vertrieb dieſer Waare ging
außerordentlich ſtark. Wer damals baute,
oder ein Gebaͤude moͤblirte, wollte fuͤr ſeine
Lebenszeit verſorgt ſeyn, und dieſe Wachs¬
tuchtapeten waren allerdings unverwuͤſtlich.
Nothnagel ſelbſt hatte genug mit Leitung des
Ganzen zu thun, und ſaß in ſeinem Comtoir
umgeben von Factoren und Handlungsdie¬
nern. Die Zeit die ihm uͤbrig blieb, be¬
ſchaͤftigte er ſich mit ſeiner Kunſtſammlung,
die vorzuͤglich aus Kupferſtichen beſtand, mit
denen er, ſo wie mit Gemaͤlden die er beſaß,
auch wohl gelegentlich Handel trieb. Zu¬
gleich hatte er das Radiren lieb gewonnen;
er aͤtzte verſchiedene Blaͤtter und ſetzte dieſen
Kunſtzweig bis in ſeine ſpaͤteſten Jahre fort.
Da ſeine Wohnung nahe am Eſchenhei¬
mer Thore lag, ſo fuͤhrte mich, wenn ich
ihn beſucht hatte, mein Weg gewoͤhnlich zur
Stadt hinaus und zu den Grundſtuͤcken
welche mein Vater vor den Thoren beſaß.
Das eine war ein großer Baumgarten, deſ¬
ſen Boden als Wieſe benutzt wurde, und
worin mein Vater das Nachpflanzen der
Baͤume und was ſonſt zur Erhaltung diente,
ſorgfaͤltig beobachtete, obgleich das Grund¬
ſtuͤck verpachtet war. Noch mehr Beſchaͤfti¬
gung gab ihm ein ſehr gut unterhaltener
Weinberg vor dem Friedberger Thore, wo¬
ſelbſt zwiſchen den Reihen der Weinſtoͤcke,
Spargelreihen mit großer Sorgfalt gepflanzt
und gewartet wurden. Es verging in der
guten Jahrszeit faſt kein Tag, daß nicht
mein Vater ſich hinaus begab, da wir ihn
denn meiſt begleiten durften, und ſo von den
erſten Erzeugniſſen des Fruͤhlings bis zu den
letzten des Herbſtes, Genuß und Freude hat¬
ten. Wir lernten nun auch mit den Garten¬
geſchaͤften umgehen, die weil ſie ſich jaͤhrlich
wiederholten, uns endlich ganz bekannt und
gelaͤufig wurden. Nach mancherley Fruͤchten
des Sommers und Herbſtes war aber doch
zuletzt die Weinleſe das Luſtigſte und am
meiſten Erwuͤnſchte; ja es iſt keine Frage,
daß wie der Wein ſelbſt den Orten und Ge¬
genden, wo er waͤchſt und getrunken wird,
einen freyern Character giebt, ſo auch dieſe
Tage der Weinleſe, indem ſie den Sommer
ſchließen und zugleich den Winter eroͤffnen,
eine unglaubliche Heiterkeit verbreiten. Luſt
und Jubel erſtreckt ſich uͤber eine ganze Ge¬
gend. Des Tages hoͤrt man von allen Ecken
und Enden Jauchzen und Schießen, und des
Nachts verkuͤnden bald da bald dort Raketen
und Leuchtkugeln, daß man noch uͤberall wach
und munter dieſe Feyer gern ſo lange als
moͤglich ausdehnen moͤchte. Die nachherigen
Bemuͤhungen beym Keltern und waͤhrend der
Gaͤhrung im Keller gaben uns auch zu Hauſe
eine heitere Beſchaͤftigung, und ſo kamen wir
gewoͤhnlich in den Winter hinein ohne es
recht gewahr zu werden.
Dieſer laͤndlichen Beſitzungen erfreuten
wir uns im Fruͤhling 1763 um ſo mehr,
als uns der 15te Februar dieſes Jahrs,
durch den Abſchluß des Hubertsburger Frie¬
dens, zum feſtlichen Tage geworden, unter
deſſen gluͤcklichen Folgen der groͤßte Theil
meines Lebens verfließen ſollte. Ehe ich je¬
doch weiter ſchreite, halte ich es fuͤr meine
Schuldigkeit, einiger Maͤnner zu gedenken,
welche einen bedeutenden Einfluß auf meine
Jugend ausgeuͤbt.
Von Olenſchlager, Mitglied des
Hauſes Frauenſtein, Schoͤff und Schwieger¬
ſohn des oben erwaͤhnten Doctor Orth, ein
ſchoͤner, behaglicher, ſanguiniſcher Mann. Er
I. 24
haͤtte in ſeiner burgemeiſterlichen Feſttracht
gar wohl den angeſehnſten franzoͤſiſchen Praͤ¬
laten vorſtellen koͤnnen. Nach ſeinen acade¬
miſchen Studien hatte er ſich in Hof- und
Staatsgeſchaͤften umgethan, und ſeine Reiſen
auch zu dieſen Zwecken eingeleitet. Er hielt
mich beſonders werth und ſprach oft mit mir
von den Dingen, die ihn vorzuͤglich intereſ¬
ſirten. Ich war um ihn, als er eben ſeine
Erlaͤuterung der guͤldnen Bulle ſchrieb;
da er mir denn den Werth und die Wuͤrde
dieſes Documents ſehr deutlich herauszuſetzen
wußte. Auch dadurch wurde meine Einbil¬
dungskraft in jene wilden und unruhigen Zei¬
ten zuruͤckgefuͤhrt, daß ich nicht unterlaſſen
konnte, dasjenige was er mir geſchichtlich er¬
zaͤhlte, gleichſam als gegenwaͤrtig, mit Aus¬
malung der Character und Umſtaͤnde und
manchmal ſogar mimiſch darzuſtellen; woran
er denn große Freude hatte, und durch ſei¬
nen Beyfall mich zur Wiederholung aufregte.
Ich hatte von Kindheit auf die wunder¬
liche Gewohnheit, immer die Anfaͤnge der
Buͤcher und Abtheilungen eines Werks aus¬
wendig zu lernen, zuerſt der fuͤnf Buͤcher
Moſis, ſodann der Aeneide und der Meta¬
morphoſen. So machte ich es nun auch mit
der goldenen Bulle, und reizte meinen Goͤn¬
ner oft zum Laͤcheln, wenn ich ganz ernſt¬
haft unverſehens ausrief: omne regnum in
se divisum desolabitur: nam principes
ejus facti sunt socii furum. Der kluge
Mann ſchuͤttelte laͤchelnd den Kopf und ſagte
bedenklich: was muͤſſen das fuͤr Zeiten gewe¬
ſen ſeyn, in welchen der Kaiſer auf einer
großen Reichsverſammlung ſeinen Fuͤrſten der¬
gleichen Worte ins Geſicht publiciren ließ.
Von Olenſchlager hatte viel Anmuth im
Umgang. Man ſah wenig Geſellſchaft bey
ihm, aber zu einer, geiſtreichen Unterhaltung
war er ſehr geneigt, und er veranlaßte uns
junge Leute von Zeit zu Zeit ein Schauſpiel
24 *
aufzufuͤhren: denn man hielt dafuͤr, daß eine
ſolche Uebung der Jugend beſonders nuͤtzlich
ſey. Wir gaben den Kanut von Schlegel,
worin mir die Rolle des Koͤnigs, meiner
Schweſter die Elfride, und Ulfo dem juͤn¬
gern Sohn des Hauſes zugetheilt wurde.
Sodann wagten wir uns an den Britanni¬
cus, denn wir ſollten nebſt dem Schauſpieler¬
talent auch die Sprache zur Uebung bringen.
Ich erhielt den Nero, meine Schweſter die
Agrippine, und der juͤngere Sohn den Bri¬
tannicus. Wir wurden mehr gelobt als wir
verdienten, und glaubten es noch beſſer ge¬
macht zu haben, als wie wir gelobt wurden.
So ſtand ich mit dieſer Familie in dem be¬
ſten Verhaͤltniß, und bin ihr manches Ver¬
gnuͤgen und eine ſchnellere Entwicklung ſchul¬
dig geworden.
Von Reineck, aus einem altadligen
Hauſe, tuͤchtig, rechtſchaffen, aber ſtarrſinnig,
ein hagrer ſchwarzbrauner Mann, den ich
niemals laͤcheln geſehen. Ihm begegnete das
Ungluͤck, daß ſeine einzige Tochter durch ei¬
nen Hausfreund entfuͤhrt wurde. Er ver¬
folgte ſeinen Schwiegerſohn mit dem heftig¬
ſten Proceß, und weil die Gerichte, in ihrer
Foͤrmlichkeit, ſeiner Rachſucht weder ſchnell
noch ſtark genug willfahren wollten, uͤberwarf
er ſich mit dieſen, und es entſtanden Haͤndel
aus Haͤndeln, Proceſſe aus Proceſſen. Er
zog ſich ganz in ſein Haus und einen daran¬
ſtoßenden Garten zuruͤck, lebte in einer weit¬
laͤuftigen aber traurigen Unterſtube, in die
ſeit vielen Jahren kein Pinſel eines Tuͤn¬
chers, vielleicht kaum der Kehrbeſen einer
Magd gekommen war. Mich konnte er gar
gern leiden, und hatte mir ſeinen juͤngern
Sohn beſonders empfohlen. Seine aͤlteſten
Freunde, die ſich nach ihm zu richten wu߬
ten, ſeine Geſchaͤftsleute, ſeine Sachwalter
ſah er manchmal bey Tiſche, und unterließ
dann niemals auch mich einzuladen. Man
aß ſehr gut bey ihm und trank noch beſſer.
Den Gaͤſten erregte jedoch ein großer, aus
vielen Ritzen rauchender Ofen die aͤrgſte
Pein. Einer der vertrauteſten wagte einmal
dieß zu bemerken, indem er den Hausherrn
fragte: ob er denn ſo eine Unbequemlichkeit
den ganzen Winter aushalten koͤnne. Er
antwortete darauf, als ein zweyter Timon
und Heautontimorumenos: „Wollte Gott,
dieß waͤre das groͤßte Uebel von denen die
mich plagen!“ Nur ſpaͤt ließ er ſich bereden,
Tochter und Enkel wiederzuſehen. Der
Schwiegerſohn durfte ihm nicht wieder vor
Augen.
Auf dieſen ſo braven als ungluͤcklichen
Mann wirkte meine Gegenwart ſehr guͤnſtig:
denn indem er ſich gern mit mir unterhielt,
und mich beſonders von Welt- und Staats¬
verhaͤltniſſen belehrte, ſchien er ſelbſt ſich erleich¬
tert und erheitert zu fuͤhlen. Die wenigen
alten Freunde, die ſich noch um ihn verſam¬
melten, gebrauchten mich daher oft, wenn ſie
ſeinen verdrießlichen Sinn zu mildern und
ihn zu irgend einer Zerſtreuung zu bereden
wuͤnſchten. Wirklich fuhr er nunmehr manch¬
mal mit uns aus, und beſah ſich die Gegend
wieder, auf die er ſo viele Jahre keinen
Blick geworfen hatte. Er gedachte der alten
Beſitzer, erzaͤhlte von ihren Charactern und
Begebenheiten, wo er ſich denn immer ſtreng,
aber doch oͤfters heiter und geiſtreich erwies.
Wir ſuchten ihn nun auch wieder unter andere
Menſchen zu bringen, welches uns aber bey¬
nah uͤbel gerathen waͤre.
Von gleichem, wenn nicht noch von hoͤhe¬
rem Alter als er, war ein Herr von Mala¬
part, ein reicher Mann, der ein ſehr ſchoͤ¬
nes Haus am Roßmarkt beſaß und gute
Einkuͤnfte von Salinen zog. Auch er lebte
ſehr abgeſondert; doch war er Sommers
viel in ſeinem Garten vor dem Bockenheimer
Thore, wo er eine ſehr ſchoͤne Nelkenflor
wartete und pflegte.
Von Reineck war auch ein Nelkenfreund;
die Zeit des Flors war da, und es geſchahen
einige Anregungen, ob man ſich nicht wech¬
ſelſeitig beſuchen wollte. Wir leiteten die
Sache ein und trieben es ſo lange, bis end¬
lich von Reineck ſich entſchloß mit uns einen
Sonntag Nachmittag hinaus zu fahren. Die
Begruͤßung der beyden alten Herren war
ſehr laconiſch, ja blos pantomimiſch, und
man ging mit wahrhaft diplomatiſchem Schritt
an den langen Nelkengeruͤſten hin und her.
Der Flor war wirklich außerordentlich ſchoͤn,
und die beſondern Formen und Farben der
verſchiedenen Blumen, die Vorzuͤge der einen
vor der andern und ihre Seltenheit machten
denn doch zuletzt eine Art von Geſpraͤch aus,
welches ganz freundlich zu werden ſchien;
woruͤber wir andern uns um ſo mehr freuten,
als wir in einer benachbarten Laube den koſt¬
barſten alten Rheinwein in geſchliffenen Fla¬
ſchen, ſchoͤnes Obſt und andre gute Dinge
aufgetiſcht ſahen. Leider aber ſollten wir ſie
nicht genießen. Denn ungluͤcklicherweiſe ſah
von Reineck eine ſehr ſchoͤne Nelke vor ſich,
die aber den Kopf etwas niederſenkte; er griff
daher ſehr zierlich mit dem Zeige- und Mit¬
telfinger vom Stengel herauf gegen den Kelch
und hob die Blume von hinten in die Hoͤhe,
ſo daß er ſie wohl betrachten konnte. Aber
auch dieſe zarte Beruͤhrung verdroß den Beſi¬
tzer. Von Malapart erinnerte, zwar hoͤflich
aber doch ſteif genug und eher etwas ſelbſt¬
gefaͤllig, an das oculis non manibus. Von
Reineck hatte die Blume ſchon losgelaſſen,
fing aber auf jenes Wort gleich Feuer und
ſagte, mit ſeiner gewoͤhnlichen Trockenheit
und Ernſt: Es ſey einem Kenner und Lieb¬
haber wohl gemaͤß, eine Blume auf die
Weiſe zu beruͤhren und zu betrachten; worauf
er denn jenen Geſt wiederholte und ſie noch
einmal zwiſchen die Finger nahm. Die bey¬
derſeitigen Hausfreunde — denn auch von
Malapart hatte einen bey ſich — waren
nun in der groͤßten Verlegenheit. Sie ließen
einen Haſen nach dem andern laufen (dieß
war unſre ſpruͤchwoͤrtliche Redensart, wenn
ein Geſpraͤch ſollte unterbrochen und auf einen
andern Gegenſtand gelenkt werden); allein es
wollte nichts verfangen: die alten Herren
waren ganz ſtumm geworden, und wir fuͤrch¬
teten jeden Augenblick, von Reineck moͤchte
jenen Act wiederholen; da waͤre es denn
um uns alle geſchehn geweſen. Die beyden
Hausfreunde hielten ihre Herren auseinan¬
der, indem ſie ſelbige bald da bald dort
beſchaͤftigten, und das kluͤgſte war, daß wir
endlich aufzubrechen Anſtalt machten; und ſo
mußten wir leider den reizenden Credenztiſch
ungenoſſen mit dem Ruͤcken anſehen.
Hofrath Huisgen, nicht von Frankfurt
gebuͤrtig, reformirter Religion und deswegen
keiner oͤffentlichen Stelle noch auch der Advo¬
catur faͤhig, die er jedoch, weil man ihm als
vortrefflichem Juriſten viel Vertrauen ſchenkte,
unter fremder Signatur ganz gelaſſen ſowohl in
Frankfurt als bey den Reichsgerichten zu fuͤh¬
ren wußte, war wohl ſchon ſechzig Jahr alt,
als ich mit ſeinem Sohne Schreibſtunde hatte
und dadurch ins Haus kam. Seine Geſtalt
war groß, lang ohne hager, breit ohne beleibt
zu ſeyn, Sein Geſicht, nicht allein von den
Blattern entſtellt, ſondern auch des einen
Auges beraubt, ſah man die erſte Zeit nur
mit Apprehenſion. Er trug auf einem kahlen
Haupte immer eine ganz weiße Glockenmuͤtze,
oben mit einem Bande gebunden. Seine
Schlafroͤcke von Kalmank oder Damaſt, waren
durchaus ſehr ſauber. Er bewohnte eine gar
heitre Zimmerflucht auf gleicher Erde an der
Allee, und die Reinlichkeit ſeiner Umgebung
entſprach dieſer Heiterkeit. Die groͤßte Ord¬
nung ſeiner Papiere, Buͤcher, Landcharten
machte einen angenehmen Eindruck. Sein
Sohn, Heinrich Sebaſtian, der ſich
durch verſchiedene Schriften im Kunſtfach
bekannt gemacht, verſprach in ſeiner Jugend
wenig. Gutmuͤthig, aber taͤppiſch, nicht roh,
aber doch geradezu und ohne beſondre Nei¬
gung ſich zu unterrichten, ſuchte er lieber die
Gegenwart des Vaters zu vermeiden, indem
er von der Mutter alles was er wuͤnſchte,
erhalten konnte. Ich hingegen naͤherte mich
dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn
kennen lernte. Da er ſich nur bedeutender
Rechtsfaͤlle annahm, ſo hatte er Zeit genug
ſich auf andre Weiſe zu beſchaͤftigen und zu
unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn
gelebt und ſeine Lehren vernommen; als ich
wohl merken konnte, daß er mit Gott und
der Welt in Oppoſition ſtehe. Eins ſeiner
Lieblingsbuͤcher war Agrippa de vanitate
Scientiarum, das er mir beſonders empfahl,
und mein junges Gehirn dadurch eine Zeit
lang in ziemliche Verwirrung ſetzte. Ich
war im Behagen der Jugend zu einer Art
von Optimismus geneigt, und hatte mich
mit Gott oder den Goͤttern ziemlich wieder
ausgeſoͤhnt: denn durch eine Reihe von Jah¬
ren war ich zu der Erfahrung gekommen, daß
es gegen das Boͤſe manches Gleichgewicht gebe,
daß man ſich von den Uebeln wohl wieder
herſtelle, und daß man ſich aus Gefahren
rette und nicht immer den Hals breche.
Auch was die Menſchen thaten und trieben
ſah ich laͤßlich an, und fand manches Lobens¬
wuͤrdige, womit mein alter Herr keineswegs
zufrieden ſeyn wollte. Ja, als er einmal
mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften
Seite geſchildert hatte, merkte ich ihm an,
daß er noch mit einem bedeutenden Trumpfe
zu ſchließen gedenke. Er druͤckte, wie in
ſolchen Faͤllen ſeine Art war, das blinde linke
Auge ſtark zu, blickte mit dem andern ſcharf
hervor und ſagte mit einer naͤſelnden Stim¬
me: „Auch in Gott entdeck' ich Fehler.“
Mein timoniſcher Mentor war auch Ma¬
thematiker; aber ſeine practiſche Natur trieb
ihn zur Mechanik, ob er gleich nicht ſelbſt
arbeitete. Eine fuͤr damalige Zeiten wenig¬
ſtens wunderſame Uhr, welche neben den Stun¬
den und Tagen auch die Bewegungen von
Sonne und Mond anzeigte, ließ er nach ſei¬
ner Angabe verfertigen. Sonntags fruͤh um
Zehn zog er ſie jedesmal ſelbſt auf, welches er
um ſo gewiſſer thun konnte, als er niemals in
die Kirche ging. Geſellſchaft oder Gaͤſte habe
ich nie bey ihm geſehen. Angezogen und aus
dem Hauſe gehend erinnere ich mir ihn in
zehn Jahren kaum zweymal.
Die verſchiedenen Unterhaltungen mit die¬
ſen Maͤnnern waren nicht unbedeutend, und je¬
der wirkte auf mich nach ſeiner Weiſe. Fuͤr
einen jeden hatte ich ſo viel, oft noch mehr
Aufmerkſamkeit als die eigenen Kinder, und
jeder ſuchte an mir, als an einem geliebten
Sohne, ſein Wohlgefallen zu vermehren, in¬
dem er an mir ſein moraliſches Ebenbild her¬
zuſtellen trachtete. Olenſchlager wollte mich
zum Hofmann, Reineck zum diplomatiſchen
Geſchaͤftsmann bilden, beyde, beſonders letz¬
terer, ſuchten mir Poeſie und Schriftſtelle¬
rey zu verleiben. Huisgen wollte mich zum
Timon ſeiner Art, daben aber zum tuͤchti¬
gen Rechtsgelehrten haben: ein nothwendiges
Handwerk wie er meinte, damit man ſich
und das Seinige gegen das Lumpenpack von
Menſchen regelmaͤßig vertheidigen, einem Un¬
terdruͤckten beyſtehen, und allenfalles einem
Schelmen etwas am Zeuge flicken koͤnne; letz¬
teres jedoch ſey weder beſonders thulich noch
rathſam.
Hielt ich mich gern an der Seite jener
Maͤnner, um ihren Rath, ihren Fingerzeig
zu benutzen, ſo forderten juͤngere, an Alter
mir nur wenig vorausgeſchrittene mich auf zum
unmittelbaren Nacheifern. Ich nenne hier
vor allen andern die Gebruͤder Schloſſer,
und Griesbach. Da ich jedoch mit dieſen
in der Folge in genauere Verbindung trat,
welche viele Jahre ununterbrochen dauerte, ſo
ſage ich gegenwaͤrtig nur ſoviel, daß ſie uns
damals als ausgezeichnet in Sprachen und
andern, die akademiſche Laufbahn eroͤffnenden
Studien geprieſen und zum Muſter aufgeſtellt
wurden, und daß Jedermann die gewiſſe Er¬
wartung hegte, ſie wuͤrden einſt im Staat
und in der Kirche etwas Ungemeines leiſten.
Was mich betrifft, ſo hatte ich auch wohl
im Sinne, etwas Außerordentliches hervor¬
zubringen; worin es aber beſtehen koͤnne,
wollte mir nicht deutlich werden. Wie man
jedoch eher an den Lohn denkt, den man er¬
halten moͤchte, als an das Verdienſt, das
man ſich erwerben ſollte; ſo laͤugne ich nicht,
daß wenn ich an ein wuͤnſchenswerthes Gluͤck
dachte, dieſes mir am reizendſten in der Ge¬
ſtalt des Lorbeerkranzes erſchien, der den
Dichter zu zieren geflochten iſt.
Fuͤnftes Buch.
I. 25
Fuͤr alle Voͤgel giebt es Lockſpeiſen, und
jeder Menſch wird auf ſeine eigene Art ge¬
leitet und verleitet. Natur, Erziehung, Um¬
gebung, Gewohnheit hielten mich von allem
Rohen abgeſondert, und ob ich gleich mit
den untern Volks-Claſſen, beſonders den
Handwerkern, oͤfters in Beruͤhrung kam, ſo
entſtand doch daraus kein naͤheres Verhaͤlt¬
niß. Etwas Ungewoͤhnliches, vielleicht Ge¬
faͤhrliches zu unternehmen, hatte ich zwar
Verwegenheit genug, und fuͤhlte mich wohl
manchmal dazu aufgelegt; allein es mangelte
mir die Handhabe es anzugreifen und zu faſſen.
Indeſſen wurde ich auf eine voͤllig uner¬
wartete Weiſe in Verhaͤltniſſe verwickelt, die
mich ganz nahe an große Gefahr, und we¬
25 *
nigſtens fuͤr eine Zeit lang in Verlegenheit
und Noth brachten. Mein fruͤheres gutes
Verhaͤltniß zu jenem Knaben, den ich oben
Pylades genannt, hatte ſich bis ins Juͤng¬
lingsalter fortgeſetzt. Zwar ſahen wir uns
ſeltner, weil unſre Aeltern nicht zum beſten
mit einander ſtanden; wo wir uns aber tra¬
fen, ſprang immer ſogleich der alte freund¬
ſchaftliche Jubel hervor. Einſt begegneten
wir uns in den Alleen, die zwiſchen dem in¬
nern und aͤußern Sanct - Gallen - Thor einen
ſehr angenehmen Spazirgang darboten. Wir
hatten uns kaum begruͤßt, als er zu mir
ſagte: „Es geht mir mit deinen Verſen noch
immer wie ſonſt. Diejenigen die du mir
neulich mittheilteſt, habe ich einigen luſtigen
Geſellen vorgeleſen, und keiner will glauben,
daß du ſie gemacht habeſt.“ — Laß es gut
ſeyn, verſetzte ich; wir wollen ſie machen,
uns daran ergetzen, und die Andern moͤgen
davon denken und ſagen was ſie wollen.
„Da kommt eben der Unglaͤubige!“ ſagte
mein Freund. — Wir wollen nicht davon
reden, war meine Antwort. Was hilfts,
man bekehrt ſie doch nicht. — „Mit nich¬
ten, ſagte der Freund: ich kann es ihm nicht
ſo hingehen laſſen.“
Nach einer kurzen gleichguͤltigen Unter¬
haltung konnte es der fuͤr mich nur allzu¬
wohlgeſinnte junge Geſell nicht laſſen, und
ſagte mit einiger Empfindlichkeit gegen jenen:
„Hier iſt nun der Freund, der die huͤbſchen
Verſe gemacht hat, und die ihr ihm nicht
zutrauen wollt.“ — Er wird es gewiß nicht
uͤbel nehmen, verſetzte jener: denn es iſt ja
eine Ehre die wir ihm erweiſen, wenn wir
glauben, daß weit mehr Gelehrſamkeit dazu
gehoͤre, ſolche Verſe zu machen, als er bey
ſeiner Jugend beſitzen kann. — Ich erwie¬
derte etwas Gleichguͤltiges; mein Freund aber
fuhr fort: „Es wird nicht viel Muͤhe koſten,
euch zu uͤberzeugen. Gebt ihm irgend ein
Thema auf, und er macht euch ein Gedicht
aus dem Stegereif.“ — Ich ließ es mir
gefallen, wir wurden einig, und der Dritte
fragte mich: ob ich mich wohl getraue, ei¬
nen recht artigen Liebesbrief in Verſen aufzu¬
ſetzen, den ein verſchaͤmtes junges Maͤdchen
an einen Juͤngling ſchriebe, um ihre Nei¬
gung zu offenbaren. — Nichts iſt leichter
als das, verſetzte ich, wenn wir nur ein
Schreibzeug haͤtten. — Jener brachte ſeinen
Taſchencalender hervor, worin ſich weiße
Blaͤtter in Menge befanden, und ich ſetzte
mich auf eine Bank, zu ſchreiben. Sie gin¬
gen indeß auf und ab und ließen mich nicht
aus den Augen. Sogleich faßte ich die Si¬
tuation in den Sinn und dachte mir, wie
artig es ſeyn muͤßte, wenn irgend ein huͤb¬
ſches Kind mir wirklich gewogen waͤre und
es mir in Proſa oder in Verſen entdecken
wollte. Ich begann daher ohne Anſtand
meine Erklaͤrung, und fuͤhrte ſie in einem,
zwiſchen dem Knittelvers und Madrigal
ſchwebenden Sylbenmaße mit moͤglichſter Nai¬
vetaͤt in kurzer Zeit dergeſtalt aus, daß, als
ich dieß Gedichtchen den beyden vorlas, der
Zweifler in Verwunderung und mein Freund
in Entzuͤcken verſetzt wurde. Jenem konnte
ich auf ſein Verlangen das Gedicht um ſo
weniger verweigern, als es in ſeinen Calen¬
der geſchrieben war, und ich das Document
meiner Faͤhigkeiten gern in ſeinen Haͤnden
ſah. Er ſchied unter vielen Verſicherungen
von Bewunderung und Neigung, und wuͤnſchte
nichts mehr als uns oͤfter zu begegnen, und
wir machten aus, bald zuſammen aufs Land
zu gehen.
Unſre Partie kam zu Stande, zu der
ſich noch mehrere junge Leute von jenem
Schlage geſellten. Es waren Menſchen aus
dem mittlern, ja wenn man will, aus dem
niedern Stande, denen es an Kopf nicht
fehlte, und die auch, weil ſie durch die
Schule gelaufen, manche Kenntniß und eine
gewiſſe Bildung hatten. In einer großen
reichen Stadt giebt es vielerley Erwerb¬
zweige. Sie halfen ſich durch, indem ſie
fuͤr die Advocaten ſchrieben, Kinder der ge¬
ringern Claſſe durch Hausunterricht etwas
weiter brachten, als es in Trivialſchulen zu
geſchehen pflegt. Mit erwachſenern Kindern,
welche confirmirt werden ſollten, repetirten
ſie den Religionsunterricht, liefen dann wie¬
der den Maͤklern oder Kaufleuten einige
Wege, und thaten ſich Abends, beſonders
aber an Sonn- Feyertagen, auf eine
frugale Weiſe etwas zu Gute.
Indem ſie nun unterwegs meine Liebes¬
epiſtel auf das beſte herausſtrichen, geſtan¬
den ſie mir, daß ſie einen ſehr luſtigen Ge¬
brauch davon gemacht haͤtten: ſie ſey naͤmlich
mit verſtellter Hand abgeſchrieben, und mit
einigen naͤhern Beziehungen einem eingebilde¬
ten jungen Manne zugeſchoben worden, der
nun in der feſten Ueberzeugung ſtehe, ein
Frauenzimmer, dem er von fern den Hof
gemacht, ſey in ihn aufs aͤußerſte verliebt,
und ſuche Gelegenheit ihm naͤher bekannt zu
werden. Sie vertrauten mir dabey, er
wuͤnſche nichts mehr als ihr auch in Verſen
antworten zu koͤnnen; aber weder bey ihm
noch bey ihnen finde ſich Geſchick dazu, wes¬
halb ſie mich inſtaͤndig baͤten, die gewuͤnſchte
Antwort ſelbſt zu verfaſſen.
Myſtificationen ſind und bleiben eine Un¬
terhaltung fuͤr muͤßige, mehr oder weniger
geiſtreiche Menſchen. Eine laͤßliche Bosheit,
eine ſelbſtgefaͤllige Schadenfreude ſind ein Ge¬
nuß fuͤr diejenigen, die ſich weder mit ſich
ſelbſt beſchaͤftigen, noch nach außen heilſam
wirken koͤnnen. Kein Alter iſt ganz frey
von einem ſolchen Kitzel. Wir hatten uns
in unſern Knabenjahren einander oft ange¬
fuͤhrt; viele Spiele beruhen auf ſolchen My¬
ſtificationen und Attrapen; der gegenwaͤrtige
Scherz ſchien mir nicht weiter zu gehen: ich
willigte ein; ſie theilten mir manches Beſon¬
dere mit, was der Brief enthalten ſollte,
und wir brachten ihn ſchon fertig mit nach
Hauſe.
Kurze Zeit darauf wurde ich durch mei¬
nen Freund dringend eingeladen, an einem
Abendfeſte jener Geſellſchaft Theil zu nehmen.
Der Liebhaber wolle es dießmal ausſtatten,
und verlange dabey ausdruͤcklich, dem Freunde
zu danken, der ſich ſo vortrefflich als poeti¬
ſcher Secretaͤr erwieſen.
Wir kamen ſpaͤt genug zuſammen, die
Mahlzeit war die frugalſte, der Wein trink¬
bar; und was die Unterhaltung betraf, ſo
drehte ſie ſich faſt gaͤnzlich um die Verhoͤh¬
nung des gegenwaͤrtigen, freylich nicht ſehr
aufgeweckten Menſchen, der nach wiederhol¬
ter Leſung des Briefes nicht weit davon war
zu glauben, er habe ihn ſelbſt geſchrieben.
Meine natuͤrliche Gutmuͤthigkeit ließ mich
an einer ſolchen boshaften Verſtellung wenig
Freude finden, und die Wiederholung deſſel¬
ben Thema's eckelte mich bald an. Gewiß,
ich brachte einen verdrießlichen Abend hin,
wenn nicht eine unerwartete Erſcheinung mich
wieder belebt haͤtte. Bey unſerer Ankunft
ſtand bereits der Tiſch reinlich und ordentlich
gedeckt, hinreichender Wein aufgeſtellt; wir
ſetzten uns und blieben allein, ohne Bedie¬
nung noͤthig zu haben. Als es aber doch
zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach
der Magd; allein ſtatt derſelben trat ein
Maͤdchen herein, von ungemeiner, und wenn
man ſie in ihrer Umgebung ſah, von un¬
glaublicher Schoͤnheit. — „Was verlangt
Ihr? ſagte ſie, nachdem ſie auf eine freund¬
liche Weiſe guten Abend geboten: die Magd
iſt krank und zu Bette. Kann ich Euch die¬
nen?“ — Es fehlt an Wein, ſagte der eine.
Wenn du uns ein paar Flaſchen holteſt, ſo
waͤre es ſehr huͤbſch. — Thu es, Gretchen,
ſagte der Andre; es iſt ja nur ein Katzen¬
ſprung. — „Warum nicht!“ verſetzte ſie,
nahm ein paar leere Flaſchen vom Tiſch und
eilte fort. Ihre Geſtalt war von der Ruͤck¬
ſeite faſt noch zierlicher. Das Haͤubchen ſaß
ſo nett auf dem kleinen Kopfe, den ein
ſchlanker Hals gar anmuthig mit Nacken
und Schultern verband. Alles an ihr ſchien
auserleſen, und man konnte der ganzen Ge¬
ſtalt um ſo ruhiger folgen, als die Aufmerk¬
ſamkeit nicht mehr durch die ſtillen treuen
Augen und den lieblichen Mund allein ange¬
zogen und gefeſſelt wurde. Ich machte den
Geſellen Vorwuͤrfe, daß ſie das Kind in der
Nacht allein ausſchickten; ſie lachten mich
aus, und ich war bald getroͤſtet, als ſie
ſchon wiederkam: denn der Schenkwirth
wohnte nur uͤber die Straße. — Setze dich
dafuͤr auch zu uns, ſagte der eine. Sie that
es, aber leider kam ſie nicht neben mich.
Sie trank ein Glas auf unſre Geſundheit
und entfernte ſich bald, indem ſie uns rieth,
nicht gar lange beyſammen zu bleiben und
uͤberhaupt nicht ſo laut zu werden: denn die
Mutter wolle ſich eben zu Bette legen. Es
war nicht ihre Mutter, ſondern die unſerer
Wirthe.
Die Geſtalt dieſes Maͤdchens verfolgte
mich von dem Augenblick an auf allen We¬
gen und Stegen: es war der erſte bleibende
Eindruck, den ein weibliches Weſen auf mich
gemacht hatte; und da ich einen Vorwand
ſie im Hauſe zu ſehen weder finden konnte,
noch ſuchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in
die Kirche und hatte bald ausgeſpuͤrt wo ſie
ſaß; und ſo konnte ich waͤhrend des langen
proteſtantiſchen Gottesdienſtes mich wohl ſatt
an ihr ſehen. Beym Herausgehen getraute
ich mich nicht ſie anzureden, noch weniger ſie
zu begleiten, und war ſchon ſeelig, wenn ſie
mich bemerkt und gegen einen Gruß genickt
zu haben ſchien. Doch ich ſollte das Gluͤck
mich ihr zu naͤhern nicht lange entbehren.
Man hatte jenen Liebenden, deſſen poetiſcher
Secretaͤr ich geworden war, glauben gemacht,
der in ſeinem Namen geſchriebene Brief ſey
wirklich an das Frauenzimmer abgegeben wor¬
den, und zugleich ſeine Erwartung aufs aͤu¬
ßerſte geſpannt, daß nun bald eine Antwort
darauf erfolgen muͤſſe. Auch dieſe ſollte ich
ſchreiben, und die ſchalkiſche Geſellſchaft ließ
mich durch Pylades aufs inſtaͤndigſte erſu¬
chen, allen meinen Witz aufzubieten und alle
meine Kunſt zu verwenden, daß dieſes Stuͤck
recht zierlich und vollkommen werde.
In Hoffnung meine Schoͤne wiederzuſe¬
hen, machte ich mich ſogleich ans Werk, und
dachte mir nun alles was mir hoͤchſt wohlge¬
faͤllig ſeyn wuͤrde, wenn Gretchen es mir
ſchriebe. Ich glaubte alles ſo aus ihrer Ge¬
ſtalt, ihrem Weſen, ihrer Art, ihrem Sinn
herausgeſchrieben zu haben, daß ich mich des
Wunſches nicht enthalten konnte, es moͤchte
wirklich ſo ſeyn, und mich in Entzuͤcken ver¬
lor, nur zu denken, daß etwas Aehnliches von
ihr an mich koͤnnte gerichtet werden. So
myſtificirte ich mich ſelbſt, indem ich meynte
einen andern zum Beſten zu haben, und es
ſollte mir daraus noch manche Freude und
manches Ungemach entſpringen. Als ich
abermals gemahnt wurde, war ich fertig,
verſprach zu kommen und fehlte nicht zur be¬
ſtimmten Stunde. Es war nur einer von
den jungen Leuten zu Hauſe; Gretchen ſaß
am Fenſter und ſpann; die Mutter ging ab
und zu. Der junge Menſch verlangte, daß
ich's ihm vorleſen ſollte; ich that es, und
las nicht ohne Ruͤhrung, indem ich uͤber das
Blatt weg nach dem ſchoͤnen Kinde hin¬
ſchielte, und da ich eine gewiſſe Unruhe ih¬
res Weſens, eine leichte Roͤthe ihrer Wangen
zu bemerken glaubte, druͤckte ich nur beſſer
und lebhafter aus, was ich von ihr zu ver¬
nehmen wuͤnſchte. Der Vetter, der mich oft
durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, er¬
ſuchte mich zuletzt um einige Abaͤnderungen.
Sie betrafen einige Stellen, die freylich
mehr auf Gretchens Zuſtand, als auf den
jenes Frauenzimmers paßten, das von gutem
Hauſe, wohlhabend, in der Stadt bekannt
und angeſehen war. Nachdem der junge
Mann mir die gewuͤnſchten Aenderungen ar¬
ticulirt und ein Schreibzeug herbeygeholt
hatte, ſich aber wegen eines Geſchaͤfts auf
kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der
Wandbank hinter dem großen Tiſche ſitzen,
und probierte die zu machenden Veraͤnderun¬
gen auf der großen, faſt den ganzen Tiſch
einnehmenden Schieferplatte, mit einem Grif¬
fel, der ſtets im Fenſter lag, weil man auf
dieſer Steinflaͤche oft rechnete, ſich mancher¬
ley notirte, ja die Gehenden und Kommen¬
den ſich ſogar Notizen dadurch mittheilten.
Ich hatte eine Zeit lang verſchiedenes ge¬
ſchrieben und wieder ausgeloͤſcht, als ich un¬
geduldig ausrief: es will nicht gehen! —
„Deſto beſſer! ſagte das liebe Maͤdchen, mit
einem geſetzten Tone; ich wuͤnſchte, es ginge
gar nicht. Sie ſollten ſich mit ſolchen Haͤn¬
deln nicht befaſſen.“ — Sie ſtand vom
Spinnrecken auf, und zu mir an den Tiſch
tretend, hielt ſie mir mit viel Verſtand
und Freundlichkeit eine Strafpredigt. „Die
Sache ſcheint ein unſchuldiger Scherz; es iſt
ein Scherz, aber nicht unſchuldig. Ich habe
ſchon mehrere Faͤlle erlebt, wo unſere jungen
Leute wegen eines ſolchen Frevels in große
Verlegenheit kamen.“ — Was ſoll ich aber
thun? verſetzte ich: der Brief iſt geſchrieben,
und ſie verlaſſen ſich drauf, daß ich ihn um¬
aͤndern werde. — „Glauben Sie mir, ver¬
ſetzte ſie, und aͤndern ihn nicht um; ja, neh¬
men Sie ihn zuruͤck, ſtecken Sie ihn ein,
gehen Sie fort und ſuchen die Sache durch
ihren Freund ins Gleiche zu bringen. Ich
will auch ein Woͤrtchen mit drein reden:
denn, ſehen Sie, ſo ein armes Maͤdchen als
ich bin, und abhaͤngig von dieſen Verwand¬
ten, die zwar nichts Boͤſes thun, aber doch
I. 26
oft um der Luſt und des Gewinns willen,
manches Wagehalſige vornehmen, ich habe
widerſtanden und den erſten Brief nicht
abgeſchrieben, wie man von mir verlangte;
ſie haben ihn mit verſtellter Hand copirt,
und ſo moͤgen ſie auch, wenn es nicht an¬
ders iſt, mit dieſem thun. Und Sie, ein
junger Mann aus gutem Hauſe, wohlha¬
bend, unabhaͤngig, warum wollen Sie ſich
zum Werkzeug in einer Sache gebrauchen laſ¬
ſen, aus der gewiß nichts Gutes und viel¬
leicht manches Unangenehme fuͤr Sie ent¬
ſpringen kann?“ — Ich war gluͤcklich ſie in
einer Folge reden zu hoͤren: denn ſonſt gab
ſie nur wenige Worte in das Geſpraͤch.
Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war
nicht Herr von mir ſelbſt, und erwiederte:
Ich bin ſo unabhaͤngig nicht als Sie glau¬
ben, und was hilft mir wohlhabend zu ſeyn,
da mir das Koͤſtlichſte fehlt, was ich wuͤn¬
ſchen duͤrfte.
Sie hatte mein Concept der poetiſchen
Epiſtel vor ſich hingezogen und las es halb
laut, gar hold und anmuthig. „Das iſt
recht huͤbſch, ſagte ſie, indem ſie bey einer
Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade,
daß es nicht zu einem beſſern, zu einem
wahren Gebrauch beſtimmt iſt.“ — Das
waͤre freylich ſehr wuͤnſchenswert, rief ich
aus: wie gluͤcklich muͤßte der ſeyn, der von
einem Maͤdchen, das er unendlich liebt, eine
ſolche Verſicherung ihrer Neigung erhielte! —
„Es gehoͤrt freylich viel dazu, verſetzte ſie,
und doch wird manches moͤglich“ — Zum
Beyſpiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der
Sie kennt, ſchaͤtzt, verehrt und anbetet, Ih¬
nen ein ſolches Blatt vorlegte, und ſie recht
dringend, recht herzlich und freundlich baͤte,
was wuͤrden Sie thun? — Ich ſchob ihr
das Blatt naͤher hin, das ſie ſchon wieder
mir zugeſchoben hatte. Sie laͤchelte, beſann
ſich einen Augenblick, nahm, die Feder und
unterſchrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬
26*
zuͤcken, ſprang auf und wollte ſie umar¬
men. — „Nicht kuͤſſen! ſagte ſie: das iſt
ſo was Gemeines; aber lieben wenn's moͤg¬
lich iſt.“ Ich hatte das Blatt zu mir ge¬
nommen und eingeſteckt. Niemand ſoll es
erhalten, ſagte ich, und die Sache iſt abge¬
than! Sie haben mich gerettet. — „Nun
vollenden Sie die Rettung, rief ſie aus:
und eilen fort, ehe die Andern kommen, und
Sie in Pein und Verlegenheit gerathen.“
Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; ſie
aber bat mich ſo freundlich, indem ſie mit
beyden Haͤnden meine Rechte nahm und lie¬
bevoll druͤckte. Die Thraͤnen waren mir
nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu
ſehen; ich druͤckte mein Geſicht auf ihre
Haͤnde und eilte fort. In meinem Leben
hatte ich mich nicht in einer ſolchen Verwir¬
rung befunden.
Die erſten Liebes-Neigungen einer unver¬
dorbenen Jugend nehmen durchaus eine gei¬
ſtige Wendung. Die Natur ſcheint zu wol¬
len, daß ein Geſchlecht in dem andern das
Gute und Schoͤne ſinnlich gewahr werde.
Und ſo war auch mir durch den Anblick die¬
ſes Maͤdchens, durch meine Neigung zu ihr,
eine neue Welt des Schoͤnen und Vortreffli¬
chen aufgegangen. Ich las meine poetiſche
Epiſtel hundertmal durch, beſchaute die Un¬
terſchrift, kuͤßte ſie, druͤckte ſie an mein Herz
und freute mich dieſes liebenswuͤrdigen Be¬
kenntniſſes. Je mehr ſich aber mein Ent¬
zuͤcken ſteigerte, deſto weher that es mir, ſie
nicht unmittelbar beſuchen, ſie nicht wieder
ſehen und ſprechen zu koͤnnen: denn ich fuͤrch¬
tete die Vorwuͤrfe der Vettern und ihre Zu¬
dringlichkeit. Den guten Pylades, der die
Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬
zutreffen. Ich machte mich daher den naͤch¬
ſten Sonntag auf nach Niederrad, wo¬
hin jene Geſellen gewoͤhnlich zu gehen pfleg¬
ten, und fand ſie auch wirklich. Sehr ver¬
wundert war ich jedoch, da ſie mir, anſtatt
verdrießlich und fremd zu thun, mit frohem
Geſicht entgegen kamen. Der juͤngſte beſon¬
dere war ſehr freundlich, nahm mich bey
der Hand und ſagte: „Ihr habt uns neulich
einen ſchelmiſchen Streich geſpielt, und wir
waren auf Euch recht boͤſe; doch hat uns
Euer Entweichen und das Entwenden der
poetiſchen Epiſtel auf einen guten Gedanken
gebracht, der uns vielleicht ſonſt niemals auf¬
gegangen waͤre. Zur Verſoͤhnung moͤget Ihr
uns heute bewirthen, und dabey ſollt Ihr
erfahren, was es denn iſt, worauf wir
uns etwas einbilden, und was Euch gewiß
auch Freude machen wird.“ Dieſe Anrede
ſetzte mich in nicht geringe Verlegenheit:
denn ich hatte ungefaͤhr ſo viel Geld bey
mir, um mir ſelbſt und einem Freunde et¬
was zu Gute zu thun; aber eine Geſell¬
ſchaft, und beſonders eine ſolche die nicht
immer zur rechten Zeit ihre Graͤnzen fand,
zu gaſtiren, war ich keineswegs eingerichtet;
ja dieſer Antrag verwunderte mich um ſo
mehr, als ſie ſonſt durchaus ſehr ehrenvoll
darauf hielten, daß Jeder nur ſeine Zeche
bezahlte. Sie laͤchelten uͤber meine Verlegen¬
heit, und der Juͤngere fuhr fort: „Laßt uns
erſt in die Laube ſitzen und dann ſollt Ihr
das Weitre erfahren.“ Wir ſaßen, und er
ſagte: „Als Ihr die Liebesepiſtel neulich mit¬
genommen hattet, ſprachen wir die ganze
Sache noch einmal durch und machten die
Betrachtung, daß wir ſo ganz umſonſt, an¬
dern zum Verdruß und uns zur Gefahr, aus
bloßer leidiger Schadenfreude, Euer Talent
misbrauchen, da wir es doch zu unſer aller
Vortheil benutzen koͤnnten. Seht, ich habe
hier eine Beſtellung auf ein Hochzeit-Ge¬
dicht, ſo wie auf ein Leichen-Carmen. Das
zweyte muß gleich fertig ſeyn, das erſte hat
noch acht Tage Zeit. Moͤgt Ihr ſie machen,
welches Euch ein Leichtes iſt, ſo tractirt Ihr
uns zweymal, und wir bleiben auf lange
Zeit Eure Schuldner.“ — Dieſer Vorſchlag
gefiel mir von allen Seiten: denn ich hatte
ſchon von Jugend auf die Gelegenheits-Ge¬
dichte, deren damals in jeder Woche mehrere
circulirten, ja beſonders bey anſehnlichen Ver¬
heiratungen duzzendweiſe zum Vorſchein ka¬
men, mit einem gewiſſen Neid betrachtet,
weil ich ſolche Dinge eben ſo gut ja noch
beſſer zu machen glaubte. Nun ward mir
die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen,
und beſonders, mich gedruckt zu ſehen. Ich
erwies mich nicht abgeneigt. Man machte
mich mit den Perſonalien, mit den Verhaͤlt¬
niſſen der Familie bekannt; ich ging etwas
abſeits, machte meinen Entwurf und fuͤhrte
einige Strophen aus. Da ich mich jedoch
wieder zur Geſellſchaft begab, und der Wein
nicht geſchont wurde; ſo fing das Gedicht an
zu ſtocken, und ich konnte es dieſen Abend
nicht abliefern. „Es hat noch bis Morgen
Abend Zeit, ſagten ſie, und wir wollen Euch
nur geſtehen, das Honorar welches wir fuͤr
das Leichen - Carmen erhalten, reicht hin uns
morgen noch einen luſtigen Abend zu ver¬
ſchaffen. Kommt zu uns: denn es iſt billig,
daß Gretchen auch mit genieße, die uns ei¬
gentlich auf dieſen Einfall gebracht hat.“ —
Meine Freude war unſaͤglich. Auf dem
Heimwege hatte ich nur die noch fehlenden
Strophen im Sinne, ſchrieb das Ganze noch
vor Schlafengehn nieder und den andern
Morgen ſehr ſauber ins Reine. Der Tag
ward mir unendlich lang, und kaum war es
dunkel geworden, ſo fand ich mich wieder in
der kleinen engen Wohnung neben dem aller¬
liebſten Maͤdchen.
Die jungen Leute, mit denen ich auf dieſe
Weiſe immer in naͤhere Verbindung kam, wa¬
ren nicht eigentlich gemeine, aber doch ge¬
woͤhnliche Menſchen. Ihre Thaͤtigkeit war lo¬
benswuͤrdig, und ich hoͤrte ihnen mit Vergnuͤ¬
gen zu, wenn ſie von den vielfachen Mitteln und
Wegen ſprachen, wie man ſich etwas erwerben
koͤnne, auch erzaͤhlten ſie am liebſten von gegen¬
waͤrtig ſehr reichen Leuten, die mit nichts an¬
gefangen. Andere haͤtten als arme Handlungs¬
diener ſich ihren Patronen nothwendig gemacht,
und waͤren endlich zu ihren Schwiegerſoͤhnen
erhoben worden; noch andre haͤtten einen klei¬
nen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen
ſo erweitert und veredelt, daß ſie nun als
reiche Kauf- und Handelsmaͤnner erſchienen.
Beſonders ſollte jungen Leuten, die gut auf
den Beinen waͤren, das Beylaͤufer- und
Maͤklerhandwerk und die Uebernahme von al¬
lerley Auftraͤgen und Beſorgungen fuͤr unbe¬
huͤlfliche Wohlhabende, durchaus ernaͤhrend
und eintraͤglich ſeyn. Wir alle hoͤrten das
gern, und Jeder duͤnkte ſich etwas, wenn er
ſich in dem Augenblick vorſtellte, daß in ihm
ſelbſt ſo viel verhanden ſey, nicht nur um in
der Welt fortzukommen, ſondern ſogar ein
außerordentliches Gluͤck zu machen. Niemand
jedoch ſchien dieß Geſpraͤch ernſtlicher zu fuͤh¬
ren, als Pylades, der zuletzt geſtand, daß
er ein Maͤdchen außerordentlich liebe und
ſich wirklich mit ihr verſprochen habe. Die
Vermoͤgensumſtaͤnde ſeiner Aeltern litten nicht,
daß er auf Akademieen gehe; er habe ſich
aber einer ſchoͤnen Handſchrift, des Rechnens
und der neuern Sprachen befleißigt, und
wolle nun, in Hoffnung auf jenes haͤusliche
Gluͤck, ſein Moͤglichſtes verſuchen. Die Vet¬
tern lobten ihn deshalb, ob ſie gleich das
fruͤhzeitige Verſprechen an ein Maͤdchen nicht
billigen wollten, und ſetzten hinzu, ſie muͤßten
ihn zwar fuͤr einen braven und guten Jun¬
gen anerkennen, hielten ihn aber weder fuͤr
thaͤtig noch fuͤr unternehmend genug, etwas
Außerordentliches zu leiſten. Indem er nun,
zu ſeiner Rechtfertigung, umſtaͤndlich ausein¬
anderſetzte, was er ſich zu leiſten getraue und
wie er es anzufangen gedenke; ſo wurden die
uͤbrigen auch angereizt, und Jeder fing nun
an zu erzaͤhlen, was er ſchon vermoͤge, thue,
treibe, welchen Weg er zuruͤckgelegt und was
er zunaͤchſt vor ſich ſehe. Die Reihe kam
zuletzt an mich. Ich ſollte nun auch meine
Lebensweiſe und Ausſichten darſtellen, und in¬
dem ich mich beſann, ſagte Pylades: „Das
einzige halte ich mir aus, damit wir nicht gar
zu kurz kommen, daß er die aͤußern Vortheile
ſeiner Lage nicht mit in Anrechnung bringe.
Er mag uns lieber ein Maͤhrchen erzaͤhlen,
wie er es anfangen wuͤrde, wenn er in dieſem
Augenblick, ſo wie wir, ganz auf ſich ſelbſt
geſtellt waͤre.“
Gretchen, die bis dieſen Augenblick fort¬
geſponnen hatte, ſtand auf und ſetzte ſich wie
gewoͤhnlich ans Ende des Tiſches. Wir hatten
ſchon einige Flaſchen geleert, und ich fing mit
dem beſten Humor meine hypothetiſche Le¬
bensgeſchichte zu erzaͤhlen an. Zuvoͤrderſt
alſo empfehle ich mich Euch, ſagte ich, daß
Ihr mir die Kundſchaft erhaltet, welche mir
zuzuweiſen Ihr den Anfang gemacht habt.
Wenn Ihr mir nach und nach den Verdienſt
der ſaͤmtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet,
und wir ihn nicht blos verſchmauſen; ſo will
ich ſchon zu etwas kommen. Alsdann muͤßt
Ihr mir nicht uͤbel nehmen, wenn ich auch
in Euer Handwerk pfuſche. Worauf ich ihnen
denn vorerzaͤhlte, was ich mir aus ihren Be¬
ſchaͤftigungen gemerkt hatte, und zu welchen
ich mich allenfalls faͤhig hielt. Ein Jeder
hatte vorher ſein Verdienſt zu Gelde ange¬
ſchlagen, und ich erſuchte ſie, mir auch zu
Fertigung meines Etats behuͤlflich zu ſeyn.
Gretchen hatte alles Bisherige ſehr aufmerk¬
ſam mit angehoͤrt, und zwar in der Stellung
die ſie ſehr gut kleidete, ſie mochte nun zuhoͤ¬
ren oder ſprechen. Sie faßte mit beyden
Haͤnden ihre uͤbereinander geſchlagenen Arme
und legte ſie auf den Rand des Tiſches. So
konnte ſie lange ſitzen, ohne etwas anders als
den Kopf zu bewegen, welches niemals ohne
Anlaß oder Bedeutung geſchah. Sie hatte
manchmal ein Woͤrtchen mit eingeſprochen
und uͤber dieſes und jenes, wenn wir in un¬
ſern Einrichtungen ſtockten, nachgeholfen;
dann war ſie aber wieder ſtill und ruhig wie
gewoͤhnlich. Ich ließ ſie nicht aus den Augen,
und daß ich meinen Plan nicht ohne Bezug
auf ſie gedacht und ausgeſprochen, kann man
ſich leicht denken, und die Neigung zu ihr
gab dem was ich ſagte, einen Anſchein von
Wahrheit und Moͤglichkeit, daß ich mich
ſelbſt einen Augenblick taͤuſchte, mich ſo ab¬
geſondert und huͤlfslos dachte, wie mein
Maͤhrchen mich vorausſetzte, und mich dabey
in der Ausſicht ſie zu beſitzen hoͤchſt gluͤcklich
fuͤhlte. Pylades hatte ſeine Confeſſion mit
der Heirat geendigt, und bey uns andern war
nun auch die Frage, ob wir es in unſern
Planen ſo weit gebracht haͤtten. Ich zweifle
ganz und gar nicht daran, ſagte ich: denn ei¬
gentlich iſt einem Jeden von uns eine Frau
noͤthig, um das im Hauſe zu bewahren und
uns im Ganzen genießen zu laſſen, was
wir von außen auf eine ſo wunderliche Weiſe
zuſammenſtoppeln. Ich machte die Schilde¬
rung von einer Gattinn, wie ich ſie wuͤnſchte,
und es muͤßte ſeltſam zugegangen ſeyn, wenn
ſie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild ge¬
weſen waͤre.
Das Leichen-Carmen war verzehrt, das
Hochzeit-Gedicht ſtand nun auch wohlthaͤtig in
der Naͤhe; ich uͤberwand alle Furcht und Sorge
und wußte, weil ich viel Bekannte hatte, meine
eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Mei¬
nigen zu verbergen. Das liebe Maͤdchen zu
ſehen und neben ihr zu ſeyn, war nun bald
eine unerlaͤßliche Bedingung meines Weſens.
Jene hatten ſich eben ſo an mich gewoͤhnt,
und wir waren faſt taͤglich zuſammen, als
wenn es nicht anders ſeyn koͤnnte. Pylades
hatte indeſſen ſeine Schoͤne auch in das Haus
gebracht, und dieſes Paar verlebte manchen
Abend mit uns. Sie als Brautleute, ob¬
gleich noch ſehr im Keime, verbargen doch
nicht ihre Zaͤrtlichkeit; Gretchens Betragen
gegen mich war nur geſchickt, mich in Ent¬
fernung zu halten. Sie gab Niemanden die
Hand, auch nicht mir; ſie litt keine Beruͤh¬
rung: nur ſetzte ſie ſich manchmal neben mich,
beſonders wenn ich ſchrieb oder vorlas, und
dann legte ſie mir vertraulich den Arm auf
die Schulter, ſah mir ins Buch oder aufs
Blatt; wollte ich mir aber eine aͤhnliche Frey¬
heit gegen ſie herausnehmen, ſo wich ſie und
kam ſobald nicht wieder. Doch wiederholte
ſie oft dieſe Stellung, ſo wie alle ihre Geſten
und Bewegungen ſehr einfoͤrmig waren, aber
immer gleich gehoͤrig, ſchoͤn und reizend. Al¬
lein jene Vertraulichkeit habe ich ſie gegen
Niemanden weiter ausuͤben ſehen.
Eine der unſchuldigſten und zugleich unter¬
haltendſten Luſtpartieen, die ich mit verſchie¬
denen Geſellſchaften junger Leute unternahm,
war, daß wir uns in das Hoͤchſter Markt¬
ſchiff ſetzten, die darin eingepackten ſeltſamen
Paſſagiere beobachteten und uns bald mit
dieſem bald mit jenem, wie uns Luſt oder
Muthwille trieb, ſcherzhaft und neckend ein¬
ließen. Zu Hoͤchſt ſtiegen wir aus, wo zu
gleicher Zeit das Marktſchiff von Mainz ein¬
traf. In einem Gaſthofe fand man eine
gut beſetzte Tafel, wo die Beſſeren der Auf-
und Abfahrenden mit einander ſpeiſten und
alsdann jeder ſeine Fahrt weiter fortſetzte:
denn beyde Schiffe gingen wieder zuruͤck.
Wir fuhren dann jedesmal nach eingenomme¬
nem Mittagseſſen hinauf nach Frankfurt und
hatten in ſehr großer Geſellſchaft die wohl¬
feilſte Waſſerfahrt gemacht, die nur moͤglich
war. Einmal hatte ich auch mit Gretchens
Vettern dieſen Zug unternommen, als am
Tiſch in Hoͤchſt ſich ein junger Mann zu uns
geſellte, der etwas aͤlter als wir ſeyn mochte.
Jene kannten ihn und er ließ ſich mir vor¬
ſtellen. Er hatte in ſeinem Weſen etwas
ſehr Gefaͤlliges, ohne ſonſt ausgezeichnet zu
ſeyn. Von Mainz heraufgekommen fuhr
er nun mit uns nach Frankfurt zuruͤck, und
unterhielt ſich mit mir von allerley Dingen,
welche das innere Stadtweſen, die Aemter
und Stellen betrafen, worin er mir ganz
I. 27
wohl unterrichtet ſchien. Als wir uns trenn¬
ten, empfahl er ſich mir und fuͤgte hinzu:
er wuͤnſche, daß ich gut von ihm denken
moͤge, weil er ſich gelegentlich meiner Empfeh¬
lung zu erfreuen hoffe. Ich wußte nicht was
er damit ſagen wollte, aber die Vettern klaͤr¬
ten mich nach einigen Tagen auf; ſie ſprachen
Gutes von ihm und erſuchten mich um ein
Vorwort bey meinem Großvater, da jetzt
eben eine mittlere Stelle offen ſey, zu welcher
dieſer Freund gern gelangen moͤchte. Ich
entſchuldigte mich anfangs, weil ich mich nie¬
mals in dergleichen Dinge gemiſcht hatte;
allein ſie ſetzten mir ſo lange zu, bis ich mich
es zu thun entſchloß. Hatte ich doch ſchon
manchmal bemerkt, daß bey ſolchen Aemter¬
vergebungen, welche leider oft als Gnaden¬
ſachen betrachtet werden, die Vorſprache der
Großmutter oder einer Tante nicht ohne
Wirkung geweſen. Ich war ſoweit herange¬
wachſen, um mir auch einigen Einfluß anzu¬
maßen. Deshalb uͤberwand ich, meinen Freun¬
den zu lieb, welche ſich auf alle Weiſe fuͤr
eine ſolche Gefaͤlligkeit verbunden erklaͤrten,
die Schuͤchternheit eines Enkels, und uͤber¬
nahm es, ein Bittſchreiben das mir einge¬
haͤndigt wurde, zu uͤberreichen.
Eines Sonntags nach Tiſche, als der
Großvater in ſeinem Garten beſchaͤftigt war,
um ſo mehr als der Herbſt herannahte, und
ich ihm allenthalben behuͤlflich zu ſeyn ſuchte,
ruͤckte ich nach einigem Zoͤgern mit meinem
Anliegen und dem Bittſchreiben hervor. Er
ſah es an und fragte mich, ob ich den jungen
Menſchen kenne. Ich erzaͤhlte ihm im Allge¬
meinen was zu ſagen war, und er ließ es
dabey bewenden. „Wenn er Verdienſt und
ſonſt ein gutes Zeugniß hat, ſo will ich ihm
um ſeinet- und deinetwillen guͤnstig ſeyn.“
Mehr ſagte er nicht, und ich erfuhr lange
nichts von der Sache.
27 *
Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß
Gretchen nicht mehr ſpann, und ſich dagegen
mit Naͤhen beſchaͤftigte und zwar mit ſehr
feiner Arbeit, welches mich um ſo mehr
wunderte, da die Tage ſchon abgenommen
hatten und der Winter herankam. Ich dachte
daruͤber nicht weiter nach, nur beunruhigte
es mich, daß ich ſie einige Mal des Morgens
nicht wie ſonſt zu Hauſe fand, und ohne
Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo ſie
hingegangen ſey. Doch ſollte ich eines Tages
ſehr wunderlich uͤberraſcht werden. Meine
Schweſter, die ſich zu einem Balle vorberei¬
tete, bat mich ihr bey einer Galanterie-
Haͤndlerinn ſogenannte italiaͤniſche Blumen
zu holen. Sie wurden in Kloͤſtern gemacht,
waren klein und niedlich. Myrten beſonders,
Zwergroͤslein und dergleichen fielen gar ſchoͤn
und natuͤrlich aus. Ich that ihr die Liebe
und ging in den Laden, in welchem ich ſchon
oͤfter mit ihr geweſen war. Kaum war ich
hineingetreten und hatte die Eigenthuͤmerinn
begruͤßt, als ich im Fenſter ein Frauenzimmer
ſitzen ſah, das mir unter einem Spitzenhaͤub¬
chen gar jung und huͤbſch, und unter einer
ſeidnen Mantille ſehr wohl gebaut ſchien.
Ich konnte leicht an ihr eine Gehuͤlfinn erken¬
nen, denn ſie war beſchaͤftigt, Band und
Federn auf ein Huͤtchen zu ſtecken. Die Putz¬
haͤndlerinn zeigte mir den langen Kaſten mit
einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich
beſah ſie, und blickte, indem ich waͤhlte,
wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenſter:
aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich
eine unglaubliche Aehnlichkeit mit Gretchen
gewahr wurde, ja zuletzt mich uͤberzeugen
mußte, es ſey Gretchen ſelbſt. Auch blieb
mir kein Zweifel uͤbrig, als ſie mir mit den
Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich
unſre Bekanntſchaft nicht verrathen ſollte.
Nun brachte ich mit Waͤhlen und Verwerfen
die Putzhaͤndlerinn in Verzweiflung, mehr
als ein Frauenzimmer ſelbſt haͤtte thun koͤn¬
nen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn
ich war aufs aͤußerſte verwirrt, und zugleich
liebte ich mein Zaudern, weil es mich in der
Naͤhe des Kindes hielt, deſſen Maske mich
verdroß, und das mir doch in dieſer Maske
reizender vorkam als jemals. Endlich mochte
die Putzhaͤndlerinn alle Geduld verlieren, und
ſuchte mir eigenhaͤndig einen ganzen Pappen¬
kaſten voll Blumen aus, den ich meiner
Schweſter vorſtellen und ſie ſelbſt ſollte waͤh¬
len laſſen. So wurde ich zum Laden gleich¬
ſam hinausgetrieben, indem ſie den Kaſten
durch ihr Maͤdchen vorausſchickte.
Kaum war ich zu Hauſe angekommen,
als mein Vater mich berufen ließ und mir
die Eroͤffnung that, es ſey nun ganz gewiß,
daß der Erzherzog Joſeph zum roͤmiſchen
Koͤnig gewaͤhlt und gekroͤnt werden ſolle.
Ein ſo hoͤchſt bedeutendes Ereigniß muͤſſe
man nicht unvorbereitet erwarten, und etwa
nur gaffend und ſtaunend an ſich vorbey gehen
laſſen. Er wolle daher die Wahl- und Kroͤ¬
nungsdiarien der beyden letzten Kroͤnungen
mit mir durchgehen, nicht weniger die letzten
Wahlcapitulationen, um alsdann zu bemer¬
ken, was fuͤr neue Bedingungen man im
gegenwaͤrtigen Falle hinzufuͤgen werde. Die
Diarien wurden aufgeſchlagen, und wir beſchaͤf¬
tigten uns den ganzen Tag damit bis tief
in die Nacht, indeſſen mir das huͤbſche Maͤd¬
chen, bald in ihrem alten Hauskleide, bald
in ihrem neuen Coſtum, immer zwiſchen den
hoͤchſten Gegenſtaͤnden des heiligen roͤmiſchen
Reichs hin und wieder ſchwebte. Fuͤr dieſen
Abend war es unmoͤglich ſie zu ſehen, und
ich durchwachte eine ſehr unruhige Nacht.
Das geſtrige Studium wurde den andern
Tag eifrig fortgeſetzt, und nur gegen Abend
machte ich es moͤglich, meine Schoͤne zu beſu¬
chen, die ich wieder in ihrem gewoͤhnlichen
Hauskleide fand. Sie laͤchelte, indem ſie
mich anſah, aber ich getraute mich nicht vor
den andern etwas zu erwaͤhnen. Als die
ganze Geſellſchaft wieder ruhig zuſammenſaß.
fing ſie an und ſagte: „Es iſt unbillig, daß
Ihr unſerm Freunde nicht vertrauet was in
dieſen Tagen von uns beſchloſſen worden.“
Sie fuhr darauf fort zu erzaͤhlen, daß nach
unſrer neulichen Unterhaltung, wo die Rede
war, wie ein Jeder ſich in der Welt wolle
geltend machen, auch unter ihnen zur Sprache
gekommen, auf welche Art ein weibliches
Weſen ſeine Talente und Arbeiten ſteigern
und ſeine Zeit vortheilhaft anwenden koͤnne.
Darauf habe der Vetter vorgeſchlagen, ſie
ſolle es bey einer Putzmacherinn verſuchen,
die jetzt eben eine Gehuͤlfinn brauche. Man
ſey mit der Frau einig geworden, ſie gehe
taͤglich ſo viele Stunden hin, werde gut
gelohnt; nur muͤſſe ſie dort, um des Anſtands
willen, ſich zu einem gewiſſen Anputz beque¬
men, den ſie aber jederzeit zuruͤcklaſſe, weil
er zu ihrem uͤbrigen Leben und Weſen ſich
gar nicht ſchicken wolle. Durch dieſe Erklaͤ¬
rung war ich zwar beruhigt, nur wollte es
mir nicht recht gefallen, das huͤbſche Kind
in einem oͤffentlichen Laden und an einem Orte
zu wiſſen, wo die galante Welt gelegentlich
ihren Sammelplatz hatte. Doch ließ ich mir
nichts merken, und ſuchte meine eiferſuͤchtige
Sorge im Stillen bey mir zu verarbeiten.
Hierzu goͤnnte mir der juͤngere Vetter nicht
lange Zeit, der alsbald wieder mit dem Auf¬
trag zu einem Gelegenheits-Gedicht hervor¬
trat, mir die Perſonalien erzaͤhlte und ſogleich
verlangte, daß ich mich zur Erfindung und
Dispoſition des Gedichtes anſchicken moͤchte.
Er hatte ſchon einige Mal uͤber die Behand¬
lung einer ſolchen Aufgabe mit mir geſprochen,
und wie ich in ſolchen Faͤllen ſehr redſelig
war, gar leicht von mir erlangt, daß ich
ihm, was an dieſen Dingen rhetoriſch iſt,
umſtaͤndlich auslegte, ihm einen Begriff von
der Sache gab und meine eigenen und fremden
Arbeiten dieſer Art als Beyſpiele benutzte.
Der junge Menſch war ein guter Kopf,
obgleich ohne Spur von poetiſcher Ader,
und nun ging er ſo ſehr ins Einzelne und
wollte von allem Rechenſchaft haben, daß
ich mit der Bemerkung laut ward: Sieht es
doch aus, als wolltet Ihr mir ins Handwerk
greifen und mir die Kundſchaft entziehen. —
„Ich will es nicht laͤugnen, ſagte jener laͤchelnd:
denn ich thue Euch dadurch keinen Schaden.
Wie lange wird's waͤhren, ſo geht Ihr auf
die Akademie, und bis dahin laßt mich noch
immer etwas bey Euch profitiren.“ — Herz¬
lich gern, verſetzte ich, und munterte ihn
auf, ſelbſt eine Dispoſition zu machen, ein
Sylbenmaß nach dem Character des Gegen¬
ſtandes zu waͤhlen, und was etwa ſonst noch
noͤthig ſcheinen mochte. Er ging mit Ernſt
an die Sache; aber es wollte nicht gluͤcken.
Ich mußte zuletzt immer daran ſo viel umſchrei¬
ben, daß ich es leichter und beſſer von vorn
herein ſelbſt geleiſtet haͤtte. Dieſes Lehren
und Lernen jedoch, dieſes Mittheilen, dieſe
Wechſelarbeit gab uns eine gute Unterhaltung;
Gretchen, nahm Theil daran und hatte man¬
chen artigen Einfall, ſo daß wir alle vergnuͤgt,
ja man darf ſagen gluͤcklich waren. Sie
arbeitete des Tags bey der Putzmacherinn;
Abends kamen wir gewoͤhnlich zuſammen,
und unſre Zufriedenheit ward ſelbſt dadurch
nicht geſtoͤrt, daß es mit den Beſtellungen
zu Gelegenheits-Gedichten endlich nicht recht
mehr fortwollte. Schmerzlich jedoch empfan¬
den wir es, daß uns eins einmal mit Pro¬
teſt zuruͤckkam, weil es dem Beſteller nicht
gefiel. Indeß troͤſteten wir uns, weil wir
es gerade fuͤr unſere beſte Arbeit hielten,
und jenen fuͤr einen ſchlechten Kenner erklaͤ¬
ren durften. Der Vetter, der ein fuͤr alle¬
mal etwas lernen wollte, veranlaßte nunmehr
fingirte Aufgaben, bey deren Aufloͤſung wir
uns zwar noch immer gut genug unterhiel¬
ten, aber freylich, da ſie nichts einbrachten,
unſre kleinen Gelage viel maͤßiger einrichten
mußten.
Mit jenem großen ſtaatsrechtlichen Ge¬
genſtande, der Wahl und Kroͤnung eines roͤ¬
miſchen Koͤnigs, wollte es nun immer mehr
Ernſt werden. Der anfaͤnglich auf Augsburg
im October 1763 ausgeſchriebene churfuͤrſt¬
liche Collegialtag ward nun nach Frankfurt
verlegt, und ſowohl zu Ende dieſes Jahrs
als zu Anfang des folgenden regten ſich die
Vorbereitungen, welche dieſes wichtige Ge¬
ſchaͤft einleiten ſollten. Den Anfang machte
ein von uns noch nie geſehener Aufzug.
Eine unſerer Kanzleyperſonen zu Pferde, von
vier gleichfalls berittnen Trompetern begleitet
und von einer Fußwache umgeben, verlas
mit lauter und vernehmlicher Stimme an al¬
len Ecken der Stadt ein weitlaͤuftiges Edict,
das uns von dem Bevorſtehenden benachrich¬
tigte, und den Buͤrgern ein geziemendes und
den Umſtaͤnden angemeſſenes Betragen ein¬
ſchaͤrfte. Bey Rath wurden große Ueberle¬
gungen gepflogen, und es dauerte nicht lange,
ſo zeigte ſich der Reichs-Quartiermeiſter vom
Erbmarſchall abgeſendet, um die Wohnungen
der Geſandten und ihres Gefolges nach al¬
tem Herkommen anzuordnen und zu bezeich¬
nen. Unſer Haus lag im churpfaͤlziſchen
Sprengel, und wir hatten uns einer neuen,
obgleich erfreulichern Einquartierung zu verſe¬
hen. Der mittlere Stock, welchen ehmals
Graf Thorane inne gehabt, wurde einem
churpfaͤlziſchen Cavalier eingeraͤumt, und da
Baron von Koͤnigsthal, Nuͤrnbergiſcher
Geſchaͤftstraͤger, den oberen Stock eingenom¬
men hatte, ſo waren wir noch mehr als zur
Zeit der Franzoſen zuſammengedraͤngt. Die¬
ſes diente mir zu einem neuen Vorwand au¬
ßer dem Hauſe zu ſeyn, und die meiſte Zeit
des Tages auf der Straße zuzubringen, um
das was oͤffentlich zu ſehen war, ins Auge
zu faſſen.
Nachdem uns die vorhergegangene Veraͤn¬
derung und Einrichtung der Zimmer auf dem
Rathhauſe ſehenswerth geſchienen, nachdem
die Ankunft der Geſandten eines nach dem
andern und ihre erſte ſolenne Geſamt-Auf¬
fahrt den 6ten Februar ſtatt gefunden; ſo be¬
wunderten wir nachher die Ankunft der kai¬
ſerlichen Commiſſarien und deren Auffahrt,
ebenfalls auf den Roͤmer, welche mit großem
Pomp geſchah. Die wuͤrdige Perſoͤnlichkeit
des Fuͤrſten von Lichtenſtein machte einen
guten Eindruck; doch wollten Kenner behaup¬
ten, die praͤchtigen Livreen ſeyen ſchon einmal
bey einer andern Gelegenheit gebraucht wor¬
den, und auch dieſe Wahl und Kroͤnung
werde ſchwerlich an Glanz jener von Carl
dem ſiebenten gleich kommen. Wir juͤngern
ließen uns das gefallen was wir vor Augen
hatten, uns daͤuchte alles ſehr gut und man¬
ches ſetzte uns in Erſtaunen.
Der Wahl-Convent war endlich auf den
3ten Maͤrz anberaumt. Nun kam die Stadt
durch neue Foͤrmlichkeiten in Bewegung, und
die wechſelſeitigen Ceremonielbeſuche der Ge¬
ſandten hielten uns immer auf den Beinen.
Auch mußten wir genau aufpaſſen, weil wir
nicht nur gaffen, ſondern alles wohl bemer¬
ken ſollten, um zu Hauſe gehoͤrig Rechen¬
ſchaft zu geben, ja manchen kleinen Aufſatz
auszufertigen, woruͤber ſich mein Vater und
Herr von Koͤnigsthal, theils zu unſerer Ue¬
bung theils zu eigner Notiz, beredet hatten.
Und wirklich gereichte mir dieß zu beſondrem
Vortheil, indem ich uͤber das Aeußerliche ſo
ziemlich ein lebendiges Wahl- und Kroͤnungs¬
diarium vorſtellen konnte.
Die Perſoͤnlichkeiten der Abgeordneten,
welche auf mich einen bleibenden Eindruck ge¬
macht haben, waren zunaͤchſt die des chur¬
mainziſchen erſten Bothſchafters, Barons von
Erthal, nachmaligen Churfuͤrſten. Ohne
irgend etwas Auffallendes in der Geſtalt zu
haben, wollte er mir in ſeinem ſchwarzen,
mit Spitzen beſetzten Talar immer gar wohl¬
gefallen. Der zweyte Bothſchafter, Baron
von Groſchlag, war ein wohlgebauter, im
Aeußern bequem aber hoͤchſt anſtaͤndig ſich be¬
tragender Weltmann. Er machte uͤberhaupt
einen ſehr behaglichen Eindruck. Fuͤrſt
Eſterhazy, der boͤhmiſche Geſandte, war
nicht groß aber wohlgebaut, lebhaft und zu¬
gleich vornehm anſtaͤndig, ohne Stolz und
Kaͤlte. Ich hatte eine beſondre Neigung zu
ihm, weil er mich an den Marſchall von
Broglio erinnerte. Doch verſchwand gewiſ¬
ſermaßen die Geſtalt und Wuͤrde dieſer treff¬
lichen Perſonen uͤber dem Vorurtheil, das
man fuͤr den Brandenburgiſchen Geſandten,
Baron von Plotho, gefaßt hatte. Dieſer
Mann, der durch eine gewiſſe Spaͤrlichkeit
ſowohl in eigner Kleidung als in Livreen
und Equipagen ſich auszeichnete, war vom
ſiebenjaͤhrigen Kriege her als diplomatiſcher
Held beruͤhmt, hatte zu Regensburg den
Notarius April, der ihm die gegen ſeinen
Koͤnig ergangene Achtserklaͤrung von einigen
Zeugen begleitet zu inſinuiren gedachte, mit
der lakoniſchen Gegenrede: Was! Er inſinui¬
ren? die Treppe hinuntergeworfen oder wer¬
fen laſſen. Das erſte glaubten wir, weil es
uns beſſer gefiel, und wir es auch dem klei¬
nen, gedrungnen, mit ſchwarzen Feueraugen
hin und wieder blickenden Manne gar wohl
zutrauten. Aller Augen waren auf ihn ge¬
richtet, beſonders wo er ausſtieg. Es ent¬
ſtand jederzeit eine Art von frohem Ziſcheln,
und wenig fehlte, daß man ihm applaudirt,
Vivat oder Bravo zugerufen haͤtte. So
hoch ſtand der Koͤnig, und alles was ihm
mit Leib und Seele ergeben war, in der
Gunſt der Menge, unter der ſich außer den
Frankfurtern, ſchon Deutſche aus allen Ge¬
genden befanden.
Einerſeits hatte ich an dieſen Dingen
manche Luſt: weil alles was vorging, es
mochte ſeyn von welcher Art es wollte, doch
immer eine gewiſſe Deutung verbarg, irgend
ein innres Verhaͤltniß anzeigte, und ſolche
ſymboliſche Ceremonien das durch ſo viele
Pergamente, Papiere und Buͤcher beynah
I. 28
verſchuͤttete deutſche Reich wieder fuͤr einen
Augenblick lebendig darſtellten; andrerſeits
aber konnte ich mir ein geheimes Misfallen
nicht verbergen, wenn ich nun zu Hauſe dei
innern Verhandlungen zum Behuf meines
Vaters abſchreiben und dabey bemerken mußte,
daß hier mehrere Gewalten einander gegen¬
uͤber ſtanden, die ſich das Gleichgewicht hiel¬
ten, und nur in ſofern einig waren, als
ſie den neuen Regenten noch mehr als den
alten zu beſchraͤnken gedachten; daß Jeder¬
mann ſich nur in ſofern ſeines Einfluſſes
freute, als er ſeine Privilegien zu erhalten
und zu erweitern, und ſeine Unabhaͤngigkeit
mehr zu ſichern hoffte. Ja man war die߬
mal noch aufmerkſamer als ſonſt, weil man
ſich vor Joſeph dem zweyten, vor ſeiner
Heftigkeit und ſeinen vermuthlichen Planen,
zu fuͤrchten anfing.
Bey meinem Großvater und den uͤbrigen
Rathsverwandten, deren Haͤuſer ich zu beſu¬
chen pflegte, war es auch keine gute Zeit:
denn ſie hatten ſo viel mit Einholen der
vornehmen Gaͤſte, mit Becomplimentiren,
mit Ueberreichung von Geſchenken zu thun.
Nicht weniger hatte der Magiſtrat im Gan¬
zen wie im Einzelnen ſich immer zu wehren,
zu widerſtehn und zu proteſtiren, weil bey
ſolchen Gelegenheiten ihm Jedermann etwas
abzwacken oder aufbuͤrden will, und ihm we¬
nige von denen die er anſpricht, beyſtehen
oder zu Huͤlfe kommen. Genug, mir trat
alles nunmehr lebhaft vor Augen, was ich
in der Lersnerſchen Chronik von aͤhnlichen
Vorfaͤllen bey aͤhnlichen Gelegenheiten, mit
Bewunderung der Geduld und Ausdauer je¬
ner guten Rathsmaͤnner, geleſen hatte.
Mancher Verdruß entſpringt auch daher,
daß ſich die Stadt nach und nach mit noͤthi¬
gen und unnoͤthigen Perſonen anfuͤllt. Ver¬
gebens werden die Hoͤfe von Seiten der
Stadt an die Vorſchriften der freylich veral¬
28 *
teten goldnen Bulle erinnert. Nicht allein
die zum Geſchaͤft Verordneten und ihre Be¬
gleiter, ſondern manche Standes- und andre
Perſonen, die aus Neugier oder zu Privat¬
zwecken herankommen, ſtehen unter Protec¬
tion, und die Frage: wer eigentlich einquar¬
tiert wird und wer ſelbſt ſich eine Wohnung
miethen, ſoll? iſt nicht immer ſogleich entſchie¬
den. Das Getuͤmmel waͤchſt, und ſelbſt
diejenigen die nichts dabey zu leiſten oder zu
verantworten haben, fangen an ſich unbehag¬
lich zu fuͤhlen.
Selbſt wir jungen Leute, die wir das
alles wohl mit anſehen konnten, fanden doch
immer nicht genug Befriedigung fuͤr unſere
Augen, fuͤr unſre Einbildungskraft. Die
ſpaniſchen Mantelkleider, die großen Feder¬
huͤte der Geſandten und hie und da noch ei¬
niges andere, gaben wohl ein aͤcht alterthuͤm¬
liches Anſehen; manches dagegen war wieder
ſo halb neu oder ganz modern, daß uͤberall
nur ein buntes unbefriedigendes, oͤfter ſogar
geſchmackloſes Weſen hervortrat. Sehr gluͤck¬
lich machte es uns daher, zu vernehmen,
daß wegen der Herreiſe des Kaiſers und des
kuͤnftigen Koͤnigs große Anſtalten gemacht
wurden, daß die churfuͤrſtlichen Collegial-
Handlungen, bey welchen die letzte Wahlcapi¬
tulation zum Grunde lag, eifrig vorwaͤrts
gingen, und daß der Wahltag auf den 27ten
Maͤrz feſtgeſetzt ſey. Nun ward an die
Herbeyſchaffung der Reichsinſignien von Nuͤrn¬
berg und Aachen gedacht, und man erwartete
zunaͤchſt den Einzug des Churfuͤrſten von
Mainz, waͤhrend mit ſeiner Geſandtſchaft die
Irrungen wegen der Quartiere immer fort¬
dauerten.
Indeſſen betrieb ich meine Canzelliſten-
Arbeit zu Hauſe ſehr lebhaft, und wurde da¬
bey freylich mancherley kleinliche Monita ge¬
wahr, die von vielen Seiten einliefen, und
bey der neuen Capitulation beruͤckſichtigt wer¬
den ſollten. Jeder Stand wollte in dieſem
Document ſeine Gerechtſame gewahrt und
ſein Anſehen vermehrt wiſſen. Gar viele
ſolcher Bemerkungen und Wuͤnſche wurden
jedoch bey Seite geſchoben; vieles blieb wie
es geweſen war: gleichwohl erhielten die Mo¬
nenten die buͤndigſten Verſicherungen, daß ih¬
nen jene Uebergehung keineswegs zum Praͤju¬
diz gereichen ſolle.
Sehr vielen und beſchwerlichen Geſchaͤf¬
ten mußte ſich indeſſen das Reichsmarſchall¬
amt unterziehen: die Maſſe der Fremden
wuchs, es wurde immer ſchwieriger ſie unter¬
zubringen. Ueber die Graͤnzen der verſchie¬
denen churfuͤrſtlichen Bezirke war man nicht
einig. Der Magiſtrat wollte von den Buͤr¬
gern die Laſten abhalten, zu denen ſie nicht
verpflichtet ſchienen, und ſo gab es, bey Tag
und bey Nacht, ſtuͤndlich Beſchwerden, Re¬
curſe, Streit und Mishelligkeiten.
Der Einzug des Churfuͤrſten von Mainz
erfolgte den 21ten Maͤrz. Hier fing nun
das Canoniren an, mit dem wir auf lange
Zeit mehrmals betaͤubt werden ſollten. Wich¬
tig in der Reihe der Ceremonien war dieſe
Feſtlichkeit: denn alle die Maͤnner, die wir
bisher auftreten ſahen, waren, ſo hoch ſie
auch ſtanden, doch immer nur Untergeord¬
nete; hier aber erſchien ein Souverain, ein
ſelbſtaͤndiger Fuͤrſt, der erſte nach dem Kaiſer,
von einem großen ſeiner wuͤrdigen Gefolge
eingefuͤhrt und begleitet. Von dem Pompe
dieſes Einzugs wuͤrde ich hier manches zu er¬
zaͤhlen haben, wenn ich nicht ſpaͤter wieder
darauf zuruͤckzukommen gedaͤchte, und zwar
bey einer Gelegenheit, die Niemand leicht
errathen ſollte.
An demſelben Tage naͤmlich kam Lavater,
auf ſeinem Ruͤckwege von Berlin nach Hauſe
begriffen, durch Frankfurt, und ſah dieſe
Feyerlichkelt mit an. Ob nun gleich ſolche
weltliche Aeußerlichkeiten fuͤr ihn nicht den
mindeſten Werth hatten, ſo mochte doch die¬
ſer Zug mit ſeiner Pracht und allem Bey¬
weſen deutlich in ſeine ſehr lebhafte Einbil¬
dungskraft ſich eingedruckt haben: denn nach
mehreren Jahren, als mir dieſer vorzuͤgliche,
aber eigene Mann eine poetiſche Paraphraſe,
ich glaube der Offenbarung Sanct Johannis,
mittheilte, fand ich den Einzug des Anti¬
chriſt Schritt vor Schritt, Geſtalt vor Ge¬
ſtalt, Umſtand vor Umſtand, dem Einzug des
Churfuͤrſten von Mainz in Frankfurt nachge¬
bildet, dergeſtalt daß ſogar die Quaſten an
den Koͤpfen der Iſabell-Pferde nicht fehl¬
ten. Es wird ſich mehr davon ſagen laſſen,
wenn ich zur Epoche jener wunderlichen Dich¬
tungsart gelange, durch welche man die alt-
und neuteſtamentlichen Mythen dem An¬
ſchauen und Gefuͤhl naͤher zu bringen glaubte,
wenn man ſie voͤllig ins Moderne traveſtirte,
und ihnen aus dem gegenwaͤrtigen Leben, es
ſey nun gemeiner oder vornehmer, ein Ge¬
wand umhinge. Wie dieſe Behandlungsart
ſich nach und nach beliebt gemacht, davon
muß gleichfalls kuͤnftig die Rede ſeyn; doch
bemerke ich hier ſoviel, daß ſie weiter als
durch Lavater und ſeine Nacheiferer wohl
nicht getrieben worden, indem einer derſelben
die heiligen drey Koͤnige, wie ſie zu Bethle¬
hem einreiten, ſo modern ſchilderte, daß die
Fuͤrſten und Herren, welche Lavatern zu be¬
ſuchen pflegten, perſoͤnlich darin nicht zu ver¬
kennen waren.
Wir laſſen alſo fuͤr dießmal den Chur¬
fuͤrſten Emmerich Joſeph ſo zu ſagen
incognito im Compoſtell eintreffen, und wen¬
den uns zu Gretchen, die ich, eben als die
Volksmenge ſich verlief, von Pylades und
ſeiner Schoͤnen begleitet (denn dieſe drey
ſchienen nun unzertrennlich zu ſeyn) im Ge¬
tuͤmmel erblickte. Wir hatten uns kaum er¬
reicht und begruͤßt, als ſchon ausgemacht war,
daß wir dieſen Abend zuſammen zubringen woll¬
ten, und ich fand mich bey Zeiten ein. Die
gewoͤhnliche Geſellſchaft war beyſammen, und
Jedes hatte etwas zu erzaͤhlen, zu ſagen, zu
bemerken; wie denn dem einen dieß, dem an¬
dern jenes am meiſten aufgefallen war. „Eure
Reden, ſagte Gretchen zuletzt, machen mich
faſt noch verworrner als die Begebenheiten
dieſer Tage ſelbſt. Was ich geſehen, kann
ich nicht zuſammenreimen, und moͤchte von
manchem gar zu gern wiſſen, wie es ſich ver¬
haͤlt.“ Ich verſetzte, daß es mir ein Leichtes
ſey, ihr dieſen Dienſt zu erzeigen. Sie ſolle
nur ſagen, wofuͤr ſie ſich eigentlich intereſſire.
Dieß that ſie, und indem ich ihr einiges
erklaͤren wollte, fand ſichs, daß es beſſer waͤre
in der Ordnung zu verfahren. Ich verglich
nicht unſchicklich dieſe Feyerlichkeiten und Func¬
tionen mit einem Schauſpiel, wo der Vorhang
nach Belieben heruntergelaſſen wuͤrde, indeſſen
die Schauſpieler fortſpielten, dann werde er
wieder aufgezogen und der Zuſchauer koͤnne an
jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Theil
nehmen. Weil ich nun ſehr redſelig war, wenn
man mich gewaͤhren ließ; ſo erzaͤhlte ich alles
von Anfang an bis auf den heutigen Tag,
in der beſten Ordnung, und verſaͤumte nicht,
um meinen Vortrag anſchaulicher zu machen,
mich des vorhandenen Griffels und der großen
Schiefer-Platte zu bedienen. Nur durch einige
Fragen und Rechthabereyen der andern wenig
geſtoͤrt, brachte ich meinen Vortrag zu allge¬
meiner Zufriedenheit ans Ende, indem mich
Gretchen durch ihre fortgeſetzte Aufmerkſam¬
keit hoͤchlich ermuntert hatte. Sie dankte
mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Aus¬
druck, alle diejenigen, die von den Sachen
dieſer Welt unterrichtet ſeyen und wuͤßten
wie dieſes und jenes zugehe und was es zu
bedeuten habe. Sie wuͤnſchte ſich ein Knabe
zu ſeyn, und wußte mit vieler Freundlichkeit
anzuerkennen, daß ſie mir ſchon manche Be¬
lehrung ſchuldig geworden. „Wenn ich ein
Knabe waͤre, ſagte ſie, ſo wollten wir auf
Univerſitaͤten zuſammen etwas rechtes lernen.“
Das Geſpraͤch ward in der Art fortgefuͤhrt,
ſie ſetzte ſich beſtimmt vor, Unterricht im
Franzoͤſiſchen zu nehmen, deſſen Unerlaͤßlichkeit
ſie im Laden der Putzhaͤndlerinn wohl gewahr
worden. Ich fragte ſie, warum ſie nicht mehr
dorthin gehe: denn in der letzten Zeit, da ich
des Abends nicht viel abkommen konnte, war
ich manchmal bey Tage, ihr zu Gefallen, am
Laden vorbey gegangen, um ſie nur einen
Augenblick zu ſehen. Sie erklaͤrte mir, daß
ſie in dieſer unruhigen Zeit ſich dort nicht
haͤtte ausſetzen wollen. Befaͤnde ſich die Stadt
wieder in ihrem vorigen Zuſtande, ſo denke
ſie auch wieder hinzugehen.
Nun war von dem naͤchſt bevorſtehenden
Wahltag die Rede. Was und wie es vor¬
gehe, wußte ich weitlaͤuftig zu erzaͤhlen, und
meine Demonſtration durch umſtaͤndliche Zeich¬
nungen auf der Tafel zu unterſtuͤtzen; wie
ich denn den Raum des Conclave mit ſeinen
Altaͤren, Thronen, Seſſeln und Sitzen voll¬
kommen gegenwaͤrtig hatte. — Wir ſchieden
zu rechter Zeit und mit ſonderlichem Wohlbe¬
hagen.
Denn einem jungen Paare, das von der
Natur einigermaßen harmoniſch gebildet iſt,
kann nichts zu einer ſchoͤnern Vereinigung ge¬
reichen, als wenn das Maͤdchen lehrbegierig
und der Juͤngling lehrhaft iſt. Es entſteht
daraus ein ſo gruͤndliches als angenehmes Ver¬
haͤltniß. Sie erblickt in ihm den Schoͤpfer ih¬
res geiſtigen Daſeyns, und er in ihr ein Ge¬
ſchoͤpf, das nicht der Natur, dem Zufall, oder
einem einſeitigen Wollen, ſondern einem bey¬
derſeitigen Willen ſeine Vollendung verdankt;
und dieſe Wechſelwirkung iſt ſo ſuͤß, daß
wir uns nicht wundern duͤrfen, wenn ſeit
dem alten und neuen Abelard, aus einem
ſolchen Zuſammentreffen zweyer Weſen, die ge¬
waltſamſten Leidenſchaften und ſo viel Gluͤck
als Ungluͤck entſprungen ſind.
Gleich den naͤchſten Tag war große Bewe¬
gung in der Stadt, wegen der Viſiten und
Gegenviſiten, welche nunmehr mit dem groͤßten
Ceremoniel abgeſtattet wurden. Was mich
aber als einen Frankfurter Buͤrger beſonders
intereſſirte und zu vielen Betrachtungen ver¬
anlaßte, war die Ablegung des Sicherheits-
Eides, den der Rath, das Militaͤr, die Buͤr¬
gerſchaft, nicht etwa durch Repraͤſentanten,
ſondern perſoͤnlich und in Maſſe leiſteten:
erſt auf dem großen Roͤmerſaale der Magi¬
ſtrat und die Stabsoffiziere, dann auf dem
großen Platze, dem Roͤmerberg, die ſaͤmt¬
liche Buͤrgerſchaft nach ihren verſchiedenen
Graden, Abſtufungen und Quartieren, und
zuletzt das uͤbrige Militaͤr. Hier konnte man
das ganze Gemein-Weſen mit einem Blick
uͤberſchauen, verſammlet zu dem ehrenvollen
Zweck, dem Haupt und den Gliedern des
Reichs Sicherheit, und bey dem bevorſtehen¬
den großen Werke unverbruͤchliche Ruhe anzu¬
geloben. Nun waren auch Chur-Trier und
Chur-Koͤlln in Perſon angekommen. Am
Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬
den aus der Stadt gewieſen, die Thore
ſind geſchloſſen, die Juden in ihrer Gaſſe
eingeſperrt, und der Frankfurter Buͤrger duͤnkt
ſich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer
ſo großen Feyerlichkeit bleiben darf.
Bisher war alles noch ziemlich modern
hergegangen: die hoͤchſten und hohen Per¬
ſonen bewegten ſich nur in Kutſchen hin und
wieder; nun aber ſollten wir ſie, nach uralter
Weiſe, zu Pferde ſehen. Der Zulauf und
das Gedraͤnge war außerordentlich. Ich
wußte mich in dem Roͤmer, den ich wie
eine Maus den heimiſchen Kornboden genau
kannte, ſo lange herumzuſchmiegen, bis ich
an den Haupteingang gelangte, vor welchem
die Churfuͤrſten und Geſandten, die zuerſt
in Prachtkutſchen herangefahren und ſich oben
verſammlet hatten, nunmehr zu Pferde ſtei¬
gen ſollten. Die ſtattlichſten, wohlzugeritte¬
nen Roſſe waren mit reich geſtickten Waldrap¬
pen uͤberhangen und auf alle Weiſe ge¬
ſchmuͤckt. Churfuͤrſt Emmerich Joſeph, ein
ſchoͤner behaglicher Mann, nahm ſich zu
Pferde gut aus. Der beyden andern erin¬
nere ich mich weniger, als nur uͤberhaupt,
daß uns dieſe rothen mit Hermelin ausge¬
ſchlagenen Fuͤrſtenmaͤntel, die wir ſonſt nur
auf Gemaͤlden zu ſehen gewohnt waren, un¬
ter freyem Himmel ſehr romantiſch vorka¬
men. Auch die Bothſchafter der abweſenden
weltlichen Churfuͤrſten in ihren goldſtoffnen,
mit Gold uͤberſtickten, mit goldnen Spitzen-
Treſſen reich beſetzten ſpaniſchen Kleidern tha¬
ten unſern Augen wohl; beſonders wehten die
großen Federn von den alterthuͤmlich aufge¬
krempten Huͤten aufs praͤchtigſte. Was mir
aber gar nicht dabey gefallen wollte, waren
die kurzen modernen Beinkleider, die wei߬
ſeidenen Struͤmpfe und modiſchen Schuhe.
Wir haͤtten Halbſtiefelchen, ſo golden als
man gewollt, Sandalen oder dergleichen ge¬
wuͤnſcht, um nur ein etwas conſequenteres
Coſtum zu erblicken.
Im Betragen unterſchied ſich auch hier
der Geſandte von Plotho wieder vor allen
andern. Er zeigte ſich lebhaft und munter,
und ſchien vor der ganzen Ceremonie nicht
ſonderlichen Reſpect zu haben. Denn als ſein
Vordermann, ein aͤltlicher Herr, ſich nicht
ſogleich aufs Pferd ſchwingen konnte, und
er deshalb eine Weile an dem großen Ein¬
gang warten mußte, enthielt er ſich des La¬
chens nicht, bis ſein Pferd auch vorgefuͤhrt
wurde, auf welches er ſich denn ſehr behend
hinaufſchwang und von uns abermals als ein
wuͤrdiger Abgeſandter Friedrichs des zweyten
bewundert wurde.
Nun war fuͤr uns der Vorhang wieder
gefallen. Ich hatte mich zwar in die Kirche
zu draͤngen geſucht; allein es fand ſich auch
dort mehr Unbequemlichkeit als Luſt. Die
l. 29
Waͤhlenden hatten ſich ins Allerheiligſte zu¬
ruͤckgezogen, in welchem weitlaͤuftige Ceremo¬
nien die Stelle einer bedaͤchtigen Wahluͤberle¬
gung vertraten. Nach langem Harren, Draͤn¬
gen und Wogen vernahm denn zuletzt das
Volk den Namen Joſephs des zweyten, der
zum roͤmiſchen Koͤnig ausgerufen wurde.
Der Zudrang der Fremden in die Stadt
ward nun immer ſtaͤrker. Alles fuhr und
ging in Galakleidern, ſo daß man zuletzt nur
die ganz goldenen Anzuͤge bemerkenswerth fand.
Kaiſer und Koͤnig waren ſchon in Heuſen¬
ſtamm, einem graͤflich Schoͤnborniſchen Schloſ¬
ſe, angelangt und wurden dort herkoͤmmlich
begruͤßt und willkommen geheißen; die Stadt
aber feyerte dieſe wichtige Epoche durch geiſt¬
liche Feſte ſaͤmtlicher Religionen, durch Hoch¬
aͤmter und Predigten, und von weltlicher Sei¬
te, zu Begleitung des Te-Deum, durch un¬
ablaͤſſiges Canoniren.
Haͤtte man alle dieſe oͤffentlichen Feyer¬
lichkeiten von Anfang bis hieher als ein uͤber¬
legtes Kunſtwerk angeſehen, ſo wuͤrde man
nicht viel daran auszuſetzen gefunden haben.
Alles war gut vorbereitet; ſachte fingen die
oͤffentlichen Auftritte an und wurden immer
bedeutender; die Menſchen wuchſen an Zahl,
die Perſonen an Wuͤrde, ihre Umgebungen
wie ſie ſelbſt an Pracht, und ſo ſtieg es mit
jedem Tage, ſo daß zuletzt auch ein vorberei¬
tetes gefaßtes Auge in Verwirrung gerieth.
Der Einzug des Churfuͤrſten von Mainz,
welchen ausfuͤhrlicher zu beſchreiben wir abge¬
lehnt, war praͤchtig und impoſant genug,
um in der Einbildungskraft eines vorzuͤglichen
Mannes die Ankunft eines großen geweiſſag¬
ten Weltherrſchers zu bedeuten. Auch wir
waren dadurch nicht wenig geblendet worden.
Nun aber ſpannte ſich unſere Erwartung aufs
hoͤchſte, als es hieß, der Kaiſer und der
kuͤnftige Koͤnig naͤherten ſich der Stadt.
29 *
In einiger Entfernung von Sachſenhauſen
war ein Zelt errichtet, in welchem der ganze
Magiſtrat ſich aufhielt, um dem Oberhaupte
des Reichs die gehoͤrige Verehrung zu bezei¬
gen und die Stadt-Schluͤſſel anzubieten.
Weiter hinaus, auf einer ſchoͤnen geraͤumi¬
gen Ebene, ſtand ein anderes, ein Pracht¬
gezelt, wohin ſich die ſaͤmtlichen Churfuͤr¬
ſten und Wahlbotſchafter zum Empfang der
Majeſtaͤten verfuͤgten, indeſſen ihr Gefolge
ſich den ganzen Weg entlang erſtreckte, um
nach und nach, wie die Reihe an ſie kaͤme,
ſich wieder gegen die Stadt in Bewegung
zu ſetzen und gehoͤrig in den Zug einzutreten.
Nunmehr fuhr der Kaiſer bey dem Zelt an,
betrat ſolches, und nach ehrfurchtsvollem
Empfange beurlaubten ſich die Churfuͤrſten
und Geſandten, um ordnungsgemaͤß dem
hoͤchſten Herrſcher den Weg zu bahnen.
Wir andern, die wir in der Stadt geblie¬
ben, um dieſe Pracht innerhalb der Mauern
und Straßen noch mehr zu bewundern, als
es auf freyem Felde haͤtte geſchehen koͤnnen,
wir waren durch das von der Buͤrgerſchaft
in den Gaſſen aufgeſtellte Spalier, durch
den Zudrang des Volks, durch mancherley
dabey vorkommende Spaͤße und Unſchicklich¬
keiten einſtweilen gar wohl unterhalten, bis
uns das Gelaͤute der Glocken und der Cano¬
nendonner die unmittelbare Naͤhe des Herr¬
ſchers ankuͤndigten. Was einem Frankfurter
beſonders wohlthun mußte, war, daß bey
dieſer Gelegenheit, bey der Gegenwart ſo
vieler Souveraͤne und ihrer Repraͤſentanten,
die Reichsſtadt Frankfurt auch als ein kleiner
Souveraͤn erſchien: denn ihr Stallmeiſter
eroͤffnete den Zug, Reitpferde mit Wappen¬
decken, worauf der weiße Adler im rothen
Felde ſich gar gut ausnahm, folgten ihm,
Bediente und Offizianten, Pauker und Trom¬
peter, Deputirte des Raths, von Rathsbe¬
dienten in der Stadtlivree zu Fuße begleitet.
Hieran ſchloſſen ſich die drey Compagnien
der Buͤrger-Cavallerie, ſehr wohl beritten,
dieſelbigen die wir von Jugend auf bey Ein¬
holung des Geleits und andern oͤffentlichen
Gelegenheiten gekannt hatten. Wir erfreuten
uns an dem Mitgefuͤhl dieſer Ehre, und
an dem Hunderttauſend-Theilchen einer
Souveraͤnetaͤt, welche gegenwaͤrtig in ihrem
vollen Glanz erſchien. Die verſchiedenen
Gefolge des Reichs-Erbmarſchalls und der
von den ſechs weltlichen Churfuͤrſten abgeord¬
neten Wahlgeſandten zogen ſodann ſchritt¬
weiſe daher. Keins derſelben beſtand aus
weniger denn zwanzig Bedienten und zwey
Staatswagen; bey einigen aus einer noch
groͤßern Anzahl. Das Gefolge der geiſtlichen
Churfuͤrſten war nun immer im Steigen; die
Bedienten und Hausoffizianten ſchienen unzaͤh¬
lig, Chur-Coͤln und Chur-Trier hatten uͤber
zwanzig Staatswagen, Chur-Mainz allein
eben ſo viel. Die Dienerſchaft zu Pferde
und zu Fuß war durchaus aufs praͤchtigſte
gekleidet, die Herren in den Equipagen, geiſt¬
liche und weltliche, hatten es auch nicht feh¬
len laſſen, reich und ehrwuͤrdig angethan,
und geſchmuͤckt mit allen Ordenszeichen, zu
erſcheinen. Das Gefolg der kaiſerlichen Ma¬
jeſtaͤt uͤbertraf nunmehr wie billig die uͤbri¬
gen. Die Bereiter, die Handpferde, die
Reitzeuge, Schabracken und Decken zogen
aller Augen auf ſich, und ſechzehn ſechsſpaͤn¬
nige Galawaͤgen der kaiſerlichen Cammerher¬
ren, Geheimenraͤthe, des Ober-Caͤmmerers,
Ober-Hofmeiſters, Ober-Stallmeiſters be¬
schloſſen mit großem Prunk dieſe Abtheilung
des Zugs, welche, ungeachtet ihrer Pracht und
Ausdehnung, doch nur der Vortrab ſeyn ſollte.
Nun aber concentrirte ſich die Reihe,
indem ſich Wuͤrde und Pracht ſteigerten,
immer mehr. Denn unter einer ausgewaͤhl¬
ten Begleitung eigener Haus-Dienerſchaft,
die meiſten zu Fuß, wenige zu Pferde, erſchie¬
nen die Wahlbotſchafter ſo wie die Churfuͤr¬
ſten in Perſon, nach aufſteigender Ordnung,
jeder in einem praͤchtigen Staatswagen. Un¬
mittelbar hinter Chur-Mainz kuͤndigten zehn
kaiſerliche Laufer, ein und vierzig Lakeyen
und acht Heiducken die Majeſtaͤten ſelbſt an.
Der praͤchtigſte Staatswagen, auch im Ruͤcken
mit einem ganzen Spiegelglas verſehen mit
Malerey, Lackirung, Schnitzwerk und Ver¬
goldung ausgeziert, mit rothem geſtickten
Sammt obenher und inwendig bezogen, ließ
uns ganz bequem Kaiſer und Koͤnig, die
laͤngſt erwuͤnſchten Haͤupter, in aller ihrer
Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug
einen weiten Umweg gefuͤhrt, theils aus
Nothwendigkeit, damit er ſich nur entfalten
koͤnne, theils um ihn der großen Menge
Menſchen ſichtbar zu machen. Er war durch
Sachſenhauſen, uͤber die Bruͤcke, die Fahr¬
gaſſe, ſodann die Zeile hinunter gegangen,
und wendete ſich nach der innern Stadt durch
die Catharinenpforte, ein ehmaliges Thor,
und ſeit Erweiterung der Stadt, ein offner
Durchgang. Hier hatte man gluͤcklich bedacht,
daß die aͤußere Herrlichkeit der Welt, ſeit einer
Reihe von Jahren, ſich immer mehr in die
Hoͤhe und Breite ausgedehnt. Man hatte
gemeſſen und gefunden, daß durch dieſen Thor¬
weg, durch welchen ſo mancher Fuͤrſt und
Kaiſer aus und eingezogen, der jetzige kaiſer¬
liche Staatswagen, ohne mit ſeinem Schnitz¬
werk und andern Aeußerlichkeiten anzuſtoßen,
nicht hindurchkommen koͤnne. Man berath¬
ſchlagte, und zu Vermeidung eines unbequemen
Umwegs, entſchloß man ſich das Pflaſter
aufzuheben, und eine ſanfte Ab- und Auf¬
fahrt zu veranſtalten. In eben dem Sinne
hatte man auch alle Wetterdaͤcher der Laͤden
und Buden in den Straßen ausgehoben, da¬
mit weder die Krone, noch der Adler, noch die
Genien Anſtoß und Schaden nehmen moͤchten.
So ſehr wir auch, als dieſes koſtbare
Gefaͤß mit ſo koſtbarem Inhalt ſich uns
naͤherte, auf die hohen Perſonen unſere
Augen gerichtet hatten, ſo konnten wir doch
nicht umhin, unſern Blick auf die herrlichen
Pferde, das Geſchirr und deſſen Poſament-
Schmuck zu wenden; beſonders aber fielen
uns die wunderlichen, beyde auf den Pferden
ſitzenden, Kutſcher und Vorreiter auf. Sie
ſahen wie aus einer andern Nation, ja wie
aus einer andern Welt, in langen ſchwarz-
und gelbſammtnen Roͤcken und Kappen mit
großen Federbuͤſchen, nach kaiſerlicher Hof¬
ſitte. Nun draͤngte ſich ſo viel zuſammen,
daß man wenig mehr unterſcheiden konnte.
Die Schweizergarde zu beyden Seiten des
Wagens, der Erbmarſchall, das ſaͤchſiſche
Schwerd aufwaͤrts in der rechten Hand hal¬
tend, die Feldmarſchaͤlle als Anfuͤhrer der
kaiſerlichen Garden hinter dem Wagen rei¬
tend, die kaiſerlichen Edelknaben in Maſſe
und endlich die Hatſchiergarde ſelbſt, in
ſchwarzſammtnen Fluͤgelroͤcken, alle Naͤhte
reich mit Gold galonirt, darunter rothe Leib¬
roͤcke und lederfarbne Camiſole, gleichfalls
reich mit Gold beſetzt. Man kam vor lauter
Sehen, Deuten und Hinweiſen gar nicht zu
ſich ſelbſt, ſo daß die nicht minder praͤchtig
gekleideten Leibgarden der Churfuͤrſten kaum
beachtet wurden; ja wir haͤtten uns vielleicht
von den Fenſtern zuruͤckgezogen, wenn wir
nicht noch unſern Magiſtrat, der in funfzehn
zweyſpaͤnnigen Kutſchen den Zug beſchloß,
und beſonders in der letzten den Rathsſchrei¬
ber mit den Stadtſchluͤſſeln auf rothſammtenem
Kiſſen haͤtten in Augenſchein nehmen wollen.
Daß unſere Stadtgrenadier-Compagnie das
Ende deckte, daͤuchte uns auch ehrenvoll genug,
und wir fuͤhlten uns als Deutſche und als
Frankfurter von dieſem Ehrentag doppelt und
hoͤchlich erbaut.
Wir hatten in einem Hauſe Platz genom¬
men, wo der Aufzug, wenn er aus dem Dom
zuruͤckkam, ebenfalls wieder an uns vorbey
mußte. Des Gottesdienſtes, der Muſik, der
Ceremonien und Feyerlichkeiten, der Anreden
und Antworten, der Vortraͤge und Vorleſungen
waren in Kirche, Chor und Conclave ſo viel,
bis es zur Beſchwoͤrung der Wahlcapitulation
kam, daß wir Zeit genug hatten, eine vortreff¬
liche Collation einzunehmen, und auf die Ge¬
ſundheit des alten und jungen Herrſchers
manche Flaſche zu leeren. Das Geſpraͤch
verlor ſich indeß, wie es bey ſolchen Gelegen¬
heiten zu gehen pflegt, in die vergangene Zeit,
und es fehlte nicht an bejahrten Perſonen,
welche jener vor der gegenwaͤrtigen den Vorzug
gaben, wenigſtens in Abſicht auf ein gewiſſes
menſchliches Intereſſe und einer leidenſchaft¬
lichen Theilnahme, welche dabey vorgewaltet.
Bey Franz des erſten Kroͤnung war noch nicht
alles ſo ausgemacht, wie gegenwaͤrtig; der Frie¬
de war noch nicht abgeſchloſſen, Frankreich,
Chur-Brandenburg und Chur-Pfalz widerſetz¬
ten ſich der Wahl; die Truppen des kuͤnftigen
Kaiſers ſtanden bey Heidelberg, wo er ſein
Hauptquartier hatte, und faſt waͤren die von
Aachen heraufkommenden Reichs-Inſignien von
den Pfaͤlzern weggenommen worden. Indeſ¬
ſen unterhandelte man doch, und nahm von
beyden Seiten die Sache nicht aufs ſtrengſte.
Maria Thereſia ſelbſt, obgleich in geſegneten
Umſtaͤnden, kommt, um die endlich durchgeſetzte
Kroͤnung ihres Gemahls in Perſon zu ſehen.
Sie traf in Aſchaffenburg ein und beſtieg eine
Jacht, um ſich nach Frankfurt zu begeben.
Franz, von Heidelberg aus, denkt ſeiner Ge¬
mahlin zu begegnen, allein er kommt zu ſpaͤt,
ſie iſt ſchon abgefahren. Ungekannt wirft er
ſich in einen kleinen Nachen, eilt ihr nach,
erreicht ihr Schiff, und das liebende Paar er¬
freut ſich dieſer uͤberraſchenden Zuſammenkunft.
Das Maͤhrchen davon verbreitet ſich ſogleich,
und alle Welt nimmt Theil an dieſem zaͤrt¬
lichen mit Kindern reich geſegneten Ehepaar,
das ſeit ſeiner Verbindung ſo unzertrennlich
geweſen, daß ſie ſchon einmal auf einer Rei¬
ſe von Wien nach Florenz zuſammen an der
Venetianiſchen Graͤnze Quarantaͤne halten
muͤſſen. Maria Thereſia wird in der Stadt
mit Jubel bewillkommt, ſie betritt den Gaſt¬
hof zum roͤmiſchen Kaiſer, indeſſen auf der
Bornheimer Heide das große Zelt, zum Em¬
pfang ihres Gemahls, errichtet iſt. Dort fin¬
det ſich von den geiſtlichen Churfuͤrſten nur
Mainz allein, von den Abgeordneten der welt¬
lichen nur Sachſen, Boͤhmen und Hannover.
Der Einzug beginnt, und was ihm an Voll¬
ſtaͤndigkeit und Pracht abgehen mag, erſetzt
reichlich die Gegenwart einer ſchoͤnen Frau.
Sie ſteht auf dem Balcon des wohlgelegnen
Hauſes und begruͤßt mit Vivatruf und Haͤn¬
deklatſchen ihren Gemahl; das Volk ſtimmt
ein, zum groͤßten Enthuſiasmus aufgeregt.
Da die Großen nun auch einmal Menſchen
ſind, ſo denkt ſie der Buͤrger, wenn er ſie
lieben will, als ſeines Gleichen, und das
kann er am fuͤglichſten, wenn er ſie als lie¬
bende Gatten, als zaͤrtliche Aeltern, als an¬
haͤngliche Geſchwiſter, als treue Freunde ſich
vorſtellen darf. Man hatte damals alles
Gute gewuͤnſcht und prophezeyt und heute ſah
man es erfuͤllt an dem erſtgebornen Sohne,
dem Jedermann wegen ſeiner ſchoͤnen Juͤng¬
lingsgeſtalt geneigt war, und auf den die
Welt, bey den hohen Eigenſchaften die er an¬
kuͤndigte, die groͤßten Hoffnungen ſetzte.
Wir hatten uns ganz in die Vergang¬
genheit und Zukunft verloren, als einige her¬
eintretende Freunde uns wieder in die Gegen¬
wart zuruͤckriefen. Sie waren von denen
die den Werth einer Neuigkeit einſehen, und
ſich deswegen beeilen ſie zuerſt zu verkuͤndigen.
Sie wußten auch einen ſchoͤnen menſchlichen Zug
dieſer hohen Perſonen zu erzaͤhlen, die wir ſo
eben in dem groͤßten Prunk vorbeyziehen ge¬
ſehn. Es war naͤmlich verabredet worden,
daß unterwegs, zwiſchen Heuſenſtamm und je¬
nem großen Gezelte, Kaiſer und Koͤnig den
Landgrafen von Darmſtadt im Wald antref¬
fen ſollten. Dieſer alte, dem Grabe ſich naͤ¬
hernde Fuͤrſt wollte noch einmal den Herrn
ſehen, dem er in fruͤherer Zeit ſich gewidmet.
Beyde mochten ſich jenes Tages erinnern, als
der Landgraf das Decret der Churfuͤrſten, das
Franzen zum Kaiſer erwaͤhlte, nach Heidelberg
uͤberbrachte, und die erhaltenen koſtbaren Ge¬
ſchenke mit Betheurung einer unverbruͤchlichen
Anhaͤnglichkeit erwiederte. Dieſe hohen Per¬
ſonen ſtanden in einem Tannicht, und der Land¬
graf vor Alter ſchwach, hielt ſich an eine
Fichte, um das Geſpraͤch noch laͤnger fortſe¬
tzen zu koͤnnen, das von beyden Theilen nicht
ohne Ruͤhrung geſchah. Der Platz ward
nachher auf eine unſchuldige Weiſe bezeichnet,
und wir jungen Leute ſind einige Mal hinge¬
wandert.
So hatten wir mehrere Stunden mit Er¬
innerung des Alten, mit Erwaͤgung des
Neuen hingebracht, als der Zug abermals,
jedoch abgekuͤrzt und gedraͤngter, vor unſern
Augen vorbeywogte; und wir konnten das
Einzelne naͤher beobachten, bemerken und uns
fuͤr die Zukunft einpraͤgen.
Von dem Augenblick an war die Stadt
in ununterbrochener Bewegung: denn bis Alle
und Jede, denen es zukommt und von denen
es gefordert wird, den hoͤchſten Haͤuptern ihre
Aufwartung gemacht und ſich einzeln denſelben
dargeſtellt hatten, war des Hin- und Wieder¬
ziehens kein Ende, und man konnte den Hof¬
ſtaat eines jeden der hohen Gegenwaͤrtigen
ganz bequem im Einzelnen wiederholen.
Nun kamen auch die Reichs-Inſignien
heran. Damit es aber auch hier nicht an
hergebrachten Haͤndeln fehlen moͤge, ſo mu߬
ten ſie auf freyem Felde den halben Tag bis
in die ſpaͤte Nacht zubringen, wegen einer
Territorial - und Geleitsſtreitigkeit zwiſchen
Chur-Mainz und der Stadt. Die letzte
gab nach, die Mainziſchen geleiteten die In¬
ſignien bis an den Schlagbaum, und ſomit
war die Sache fuͤr dießmal abgethan.
I. 30
In dieſen Tagen kam ich nicht zu mir
ſelbſt. Zu Hauſe gab es zu ſchreiben und zu
copiren; ſehen wollte und ſollte man alles, und
ſo ging der Maͤrz zu Ende, deſſen zweyte
Haͤlfte fuͤr uns ſo feſtreich geweſen war. Von
dem was zuletzt vorgegangen und was am
Kroͤnungstag zu erwarten ſey, hatte ich
Gretchen eine treuliche und ausfuͤhrliche Be¬
lehrung verſprochen. Der große Tag nahte
heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es
ihr ſagen wollte, als was eigentlich zu ſagen
ſey; ich verarbeitete alles was mir unter die
Augen und unter die Canzleyfeder kam, nur
geſchwind zu dieſem naͤchſten und einzigen Ge¬
brauch. Endlich erreichte ich noch eines Abends
ziemlich ſpaͤt ihre Wohnung, und that mir
ſchon im voraus nicht wenig darauf zu Gute,
wie mein dießmaliger Vortrag noch viel beſ¬
ſer als der erſte unvorbereitete gelingen ſollte.
Allein gar oft bringt uns ſelbſt, und andern
durch uns, ein augenblicklicher Anlaß mehr
Freude als der entſchiedenſte Vorſatz nicht ge¬
waͤhren kann. Zwar fand ich ziemlich dieſelbe
Geſellſchaft, allein es waren einige Unbekann¬
te darunter. Sie ſetzten ſich hin zu ſpielen;
nur Gretchen und der juͤngere Vetter hielten
ſich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe
Maͤdchen aͤußerte gar anmuthig ihr Behagen,
daß ſie, als eine Fremde, am Wahltage fuͤr
eine Buͤrgerinn gegolten habe, und ihr dieſes
einzige Schauſpiel zu Theil geworden ſey.
Sie dankte mir aufs verbindlichſte, daß ich
fuͤr ſie zu ſorgen gewußt, und ihr zeither durch
Pylades allerley Einlaͤſſe mittels Billette, An¬
weiſungen, Freunde und Vorſprache zu ver¬
ſchaffen die Aufmerkſamkeit gehabt.
Von den Reichs-Kleinodien hoͤrte ſie gern
erzaͤhlen. Ich verſprach ihr, daß wir dieſe wo
moͤglich zuſammen ſehen wollten. Sie machte
einige ſcherzhafte Anmerkungen, als ſie erfuhr,
daß man Gewaͤnder und Krone dem jungen Koͤ¬
nig anprobirt habe. Ich wußte, wo ſie den
30 *
Feyerlichkeiten des Kroͤnungstages zuſehen
wuͤrde, und machte ſie aufmerkſam auf alles
was bevorſtand, und was beſonders von ihrem
Platze genau beobachtet werden konnte.
So vergaßen wir an die Zeit zu denken;
es war ſchon uͤber Mitternacht geworden, und
ich fand, daß ich ungluͤcklicherweiſe den Haus¬
ſchluͤſſel nicht bey mir hatte. Ohne das groͤßte
Aufſehen zu erregen konnte ich nicht ins Haus.
Ich theilte ihr meine Verlegenheit mit. „Am
Ende, ſagte ſie, iſt es das Beſte, die Ge¬
ſellſchaft bleibt beyſammen.“ Die Vettern und
jene Fremden hatten ſchon den Gedanken ge¬
habt, weil man nicht wußte, wo man dieſe
fuͤr die Nacht unterbringen ſollte. Die Sache
war bald entſchieden; Gretchen ging um Caf¬
fee zu kochen, nachdem ſie, weil die Lichter
auszubrennen drohten, eine große meſſingene
Familienlampe mit Docht und Oel verſehen
und angezuͤndet hereingebracht hatte.
Der Caffee diente fuͤr einige Stunden zur
Ermunterung; nach und nach aber ermattete
das Spiel, das Geſpraͤch ging aus; die
Mutter ſchlief im großen Seſſel; die Fremden
von der Reiſe muͤde, nickten da und dort,
Pylades und ſeine Schoͤne ſaßen in einer Ecke.
Sie hatte ihren Kopf auf ſeine Schulter ge¬
legt und ſchlief; auch er wachte nicht lange.
Der juͤngere Vetter, gegen uns uͤber am Schie¬
fertiſche ſitzend, hatte ſeine Arme vor ſich
uͤbereinandergeſchlagen und ſchlief mit auf¬
liegendem Geſichte. Ich ſaß in der Fenſter¬
ecke hinter dem Tiſche und Gretchen neben
mir. Wir unterhielten uns leiſe; aber endlich
uͤbermannte auch ſie der Schlaf, ſie lehnte
ihr Koͤpfchen an meine Schulter und war
gleich eingeſchlummert. So ſaß ich nun al¬
lein, wachend, in der wunderlichſten Lage, in
der auch mich der freundliche Bruder des
Todes zu beruhigen wußte. Ich ſchlief ein,
und als ich wieder erwachte, war es ſchon
heller Tag. Gretchen ſtand vor dem Spiegel
und ruͤckte ihr Haͤubchen zurechte; ſie war
liebenswuͤrdiger als je, und druͤckte mir als
ich ſchied gar herzlich die Haͤnde. Ich ſchlich
durch einen Umweg nach unſerm Hauſe: denn
an der Seite, nach dem kleinen Hirſchgraben
zu, hatte ſich mein Vater in der Mauer ein
kleines Guckfenſter, nicht ohne Widerſpruch
des Nachbarn, angelegt. Dieſe Seite vermie¬
den wir, wenn wir nach Hauſe kommend von
ihm nicht bemerkt ſeyn wollten. Meine Mut¬
ter, deren Vermittelung uns immer zu Gute
kam, hatte meine Abweſenheit des Morgens
beym Thee durch ein fruͤhzeitiges Ausgehen
meiner zu beſchoͤnigen geſucht, und ich empfand
alſo von dieſer unſchuldigen Nacht keine un¬
angenehmen Folgen.
Ueberhaupt und im Ganzen genommen
machte dieſe unendlich mannigfaltige Welt,
die mich umgab, auf mich nur ſehr einfachen
Eindruck. Ich hatte kein Intereſſe als das
Aeußere der Gegenſtaͤnde genau zu bemerken,
kein Geſchaͤft als das mir mein Vater und
Herr von Koͤnigsthal auftrugen, wodurch ich
freylich den innern Gang der Dinge gewahr
ward. Ich hatte keine Neigung als zu
Gretchen, und keine andre Abſicht als nur
alles recht gut zu ſehen und zu faſſen, um
es mit ihr wiederholen und ihr erklaͤren zu
koͤnnen. Ja ich beſchrieb oft, indem ein ſol¬
cher Zug vorbey ging, dieſen Zug halb laut
vor mir ſelbſt, um mich alles Einzelnen zu
verſichern, und dieſer Aufmerkſamkeit und
Genauigkeit wegen von meiner Schoͤnen
gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe
betrachtete ich den Beyfall und die Aner¬
kennung der Anderen.
Zwar ward ich manchen hohen und vor¬
nehmen Perſonen vorgeſtellt; aber theils
hatte Niemand Zeit ſich um andere zu bekuͤm¬
mern, und theils wiſſen auch Aeltere nicht
gleich, wie ſie ſich mit einem jungen Menſchen
unterhalten und ihn pruͤfen ſollen. Ich von
meiner Seite war auch nicht ſonderlich geſchickt
mich den Leuten bequem darzuſtellen. Gewoͤhn¬
lich erwarb ich ihre Gunſt, aber nicht ihren
Beyfall. Was mich beſchaͤftigte, war mir
vollkommen gegenwaͤrtig; aber ich fragte
nicht, ob es auch andern gemaͤß ſeyn koͤnne.
Ich war meiſt zu lebhaft oder zu ſtill, und
ſchien entweder zudringlich oder ſtoͤckig, je
nachdem die Menſchen mich anzogen oder
abſtießen; und ſo wurde ich zwar fuͤr hoff¬
nungsvoll gehalten, aber dabey fuͤr wunder¬
lich erklaͤrt.
Der Kroͤnungstag brach endlich an, den
3ten April 1764; das Wetter war guͤnſtig
und alle Menſchen in Bewegung. Man hatte
mir nebſt mehrern Verwandten und Freunden,
in dem Roͤmer ſelbſt, in einer der obern
Etagen, einen guten Platz angewieſen, wo
wir das Ganze vollkommen uͤberſehen konn¬
ten. Mit dem Fruͤhſten begaben wir uns an
Ort und Stelle, und beſchauten nunmehr
von oben, wie in der Vogelperſpective, die
Anſtalten die wir Tags vorher in naͤheren
Augenſchein genommen hatten. Da war der
neuerrichtete Springbrunnen mit zwey großen
Kufen rechts und links, in welche der Dop¬
peladler auf dem Staͤnder, weißen Wein huͤ¬
ben und rothen Wein druͤben aus ſeinen zwey
Schnaͤbeln ausgießen ſollte. Aufgeſchuͤttet
zu einem Haufen lag dort der Haber, hier
ſtand die große Bretterhuͤtte, in der man
ſchon einige Tage den ganzen fetten Ochſen
an einem ungeheuren Spieße bey Kohlenfeuer
braten und ſchmoren ſah. Alle Zugaͤnge, die
vom Roͤmer aus dahin, und von andern
Straßen nach dem Roͤmer fuͤhren, waren zu
beyden Seiten durch Schranken und Wachen
geſichert. Der große Platz fuͤllte ſich nach
und nach, und das Wogen und Draͤngen
ward immer ſtaͤrker und bewegter, weil die
Menge wo moͤglich immer nach der Gegend
hinſtrebte, wo ein neuer Auftritt erſchien
und etwas Beſonderes angekuͤndigt wurde.
Bey alle dem herrſchte eine ziemliche
Stille, und als die Sturmglocke gelaͤutet
wurde, ſchien das ganze Volk von Schauer
und Erſtaunen ergriffen. Was nun zuerſt
die Aufmerkſamkeit aller die von oben herab
den Platz uͤberſehen konnten, erregte, war
der Zug, in welchem die Herren von Aachen
und Nuͤrnberg die Reichs-Kleinodien nach dem
Dome brachten. Dieſe hatten als Schutzhei¬
ligthuͤmer den erſten Platz im Wagen einge¬
nommen, und die Deputirten ſaßen vor ihnen
in anſtaͤndiger Verehrung auf dem Ruͤckſitz.
Nunmehr begeben ſich die drey Churfuͤrſten
in den Dom. Nach Ueberreichung der Inſig¬
nien an Chur-Mainz werden Krone und
Schwerd ſogleich nach dem kaiſerlichen Quar¬
tier gebracht. Die weiteren Anſtalten und
mancherley Ceremoniel beſchaͤftigen mittler¬
weile die Hauptperſonen ſo wie die Zuſchauer
in der Kirche, wie wir andern Unterrichteten
uns wohl denken konnten.
Vor unſern Augen fuhren indeſſen die
Geſandten auf den Roͤmer, aus welchem
der Baldachin von Unteroffizieren in das
kaiſerliche Quartier getragen wird. Sogleich
beſteigt der Erbmarſchall Graf von Pappen¬
heim ſein Pferd; ein ſehr ſchoͤner ſchlankge¬
bildeter Herr, den die ſpaniſche Tracht, das
reiche Wams, der goldne Mantel, der hohe
Federhut und die geſtraͤhlten fliegenden Haare
ſehr wohl kleideten. Er ſetzt ſich in Bewe¬
gung, und unter dem Gelaͤute aller Glocken
folgen ihm zu Pferde die Geſandten nach
dem kaiſerlichen Quartier in noch groͤßerer
Pracht als am Wahltage. Dort haͤtte
man auch ſeyn moͤgen, wie man ſich an
dieſem Tage durchaus zu vervielfaͤltigen
wuͤnſchte. Wir erzaͤhlten einander indeſſen
was dort vorgehe. Nun zieht der Kaiſer
ſeinen Hausornat an, ſagten wir, eine neue
Bekleidung nach dem Muſter der alten caro¬
lingiſchen verfertigt. Die Erbaͤmter erhalten
die Reichs-Inſignien und ſetzen ſich damit
zu Pferde. Der Kaiſer im Ornat, der
roͤmiſche Koͤnig im ſpaniſchen Habit, beſtei¬
gen gleichfalls ihre Roſſe, und indem dieſes
geſchieht, hat ſie uns der vorausgeſchrittene
unendliche Zug bereits angemeldet.
Das Auge war ſchon ermuͤdet durch die
Menge der reichgekleideten Dienerſchaft und
der uͤbrigen Behoͤrden, durch den ſtattlich
einher wandelnden Adel; und als nunmehr
die Wahlbotſchafter, die Erbaͤmter und zuletzt
unter dem reichgeſtickten, von zwoͤlf Schoͤffen
und Rathsherrn getragenen Baldachin, der
Kaiſer in romantiſcher Kleidung, zur Linken,
etwas hinter ihm, ſein Sohn in ſpaniſcher
Tracht, langſam auf praͤchtig geſchmuͤckten
Pferden einherſchwebten, war das Auge
nicht mehr ſich ſelbſt genug. Man haͤtte
gewuͤnſcht durch eine Zauberformel die Erſchei¬
nung nur einen Augenblick zu feſſeln; aber
die Herrlichkeit zog unaufhaltſam vorbey,
und den kaum verlaſſenen Raum erfuͤllte
ſogleich wieder das hereinwogende Volk.
Nun aber entſtand ein neues Gedraͤnge:
denn es mußte ein anderer Zugang, von dem
Markte her, nach der Roͤmerthuͤre eroͤffnet
und ein Bretterweg aufgebruͤckt werden, wel¬
chen der aus dem Dom zuruͤckkehrende Zug
beſchreiten ſollte.
Was in dem Dome vorgegangen, die
unendlichen Ceremonien, welche die Salbung,
die Kroͤnung, den Ritterſchlag vorbereiten
und begleiten, alles dieſes ließen wir uns in
der Folge gar gern von denen erzaͤhlen, die
manches andere aufgeopfert hatten, um in
der Kirche gegenwaͤrtig zu ſeyn.
Wir andern verzehrten mittlerweile auf
unſern Plaͤtzen eine frugale Mahlzeit: denn
wir mußten an dem feſtlichſten Tage den wir
erlebten, mit kalter Kuͤche vorlieb nehmen.
Dagegen aber war der beſte und aͤlteſte Wein
aus allen Familienkellern herangebracht worden,
ſo daß wir von dieſer Seite wenigſtens dieß
alterthuͤmliche Feſt alterthuͤmlich feyerten.
Auf dem Platze war jetzt das Sehens¬
wuͤrdigſte die fertig gewordene und mit roth-
gelb- und weißem Tuch uͤberlegte Bruͤcke,
und wir ſollten den Kaiſer, den wir zuerſt
im Wagen, dann zu Pferde ſitzend angeſtaunt,
nun auch zu Fuße wandelnd bewundern; und
ſonderbar genug, auf das letzte freuten wir
uns am meiſten; denn uns daͤuchte dieſe
Weiſe ſich darzuſtellen ſo wie die natuͤrlichſte,
ſo auch die wuͤrdigſte.
Aeltere Perſonen, welche der Kroͤnung
Franz des erſten beygewohnt, erzaͤhlten: Maria
Thereſia, uͤber die Maßen ſchoͤn, habe jener
Feyerlichkeit an einem Balconfenſter des Hauſes
Frauenſtein, gleich neben dem Roͤmer, zuge¬
ſehen. Als nun ihr Gemahl in der ſeltſamen
Verkleidung aus dem Dome zuruͤckgekommen,
und ſich ihr ſo zu ſagen als ein Geſpenſt
Carls des großen dargeſtellt, habe er wie
zum Scherz beyde Haͤnde erhoben und ihr
den Reichsapfel, den Scepter und die wun¬
derſamen Handſchuh hingewieſen, woruͤber
ſie in ein unendliches Lachen ausgebrochen;
welches dem ganzen zuſchauenden Volke zur
groͤßten Freude und Erbauung gedient, indem
es darin das gute und natuͤrliche Ehgatten-
Verhaͤltniß des allerhoͤchſten Paares der
Chriſtenheit mit Augen zu ſehen gewuͤrdiget
worden. Als aber die Kaiſerinn, ihren
Gemahl zu begruͤßen, das Schnupftuch
geſchwungen und ihm ſelbſt ein lautes Vivat
zugerufen, ſey der Enthuſiasmus und der
Jubel des Volks aufs hoͤchſte geſtiegen, ſo
daß das Freudengeſchrey gar kein Ende finden
koͤnnen.
Nun verkuͤndigte der Glockenſchall und
nun die Vorderſten des langen Zuges, welche
uͤber die bunte Bruͤcke ganz ſachte einherſchrit¬
ten, daß alles gethan ſey. Die Aufmerkſam¬
keit war groͤßer denn je, der Zug deutlicher
als vorher, beſonders fuͤr uns, da er jetzt
gerade nach uns zu ging. Wir ſahen ihn ſo
wie den ganzen volkserfuͤllten Platz beynah im
Grundriß. Nur zu ſehr draͤngte ſich am Ende
die Pracht: denn die Geſandten, die Erbaͤm¬
ter, Kaiſer und Koͤnig unter dem Baldachin,
die drey geiſtlichen Churfuͤrſten die ſich anſchloſ¬
ſen, die ſchwarz gekleideten Schoͤffen und
Rathsherren, der goldgeſtickte Himmel, alles
ſchien nur eine Maſſe zu ſeyn, die nur von
Einem Willen bewegt, praͤchtig harmoniſch,
und ſo eben unter dem Gelaͤute der Glocken
aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges
uns entgegenſtrahlte.
Eine politiſch religioſe Feyerlichkeit hat
einen unendlichen Reiz. Wir ſehen die irdi¬
ſche Majeſtaͤt vor Augen, umgeben von allen
Symbolen ihrer Macht; aber indem ſie ſich
vor der himmliſchen beugt, bringt ſie uns
die Gemeinſchaft beyder vor die Sinne.
Denn auch der Einzelne vermag ſeine Ver¬
wandtſchaft mit der Gottheit nur dadurch
zu bethaͤtigen, daß er ſich unterwirft und
anbetet.
Der von dem Markt her ertoͤnende Jubel
verbreitete ſich nun auch uͤber den großen
Platz, und ein ungeſtuͤmes Vivat erſcholl aus
tauſend und aber tauſend Kehlen, und gewiß
auch aus den Herzen. Denn dieſes große
Feſt ſollte ja das Pfand eines dauerhaften
Friedens werden, der auch wirklich lange
Jahre hindurch Deutſchland begluͤckte.
Mehrere Tage vorher war durch oͤffent¬
lichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder
die Bruͤcke, noch der Adler uͤber dem Brun¬
nen, Preis gegeben, und alſo nicht vom
Volke wie ſonſt angelaſtet werden ſolle. Es
geſchah dieß, um manches bey, ſolchem Anſtuͤr¬
I. 31
men unvermeidliche Ungluͤck zu verhuͤten.
Allein um doch einigermaßen dem Genius
des Poͤbels zu opfern, gingen eigens beſtellte
Perſonen hinter dem Zuge her, loͤſ'ten das
Tuch von der Bruͤcke, wickelten es banen¬
weiſe zuſammen und warfen es in die Luft.
Hiedurch entſtand nun zwar kein Ungluͤck,
aber ein laͤcherliches Unheil: denn das Tuch
entrollte ſich in der Luft und bedeckte, wie
es niederfiel, eine groͤßere oder geringere
Anzahl Menſchen. Diejenigen nun welche
die Enden faßten und ſolche an ſich zogen,
riſſen alle die Mittleren zu Boden, umhuͤll¬
ten und aͤngſtigten ſie ſo lange, bis ſie ſich
durchgeriſſen oder durchgeſchnitten, und jeder
nach ſeiner Weiſe einen Zipfel dieſes, durch
die Fußtritte der Majeſtaͤten geheiligten Gewe¬
bes davongetragen hatte.
Dieſer wilden Beluſtigung ſah ich nicht
lange zu, ſondern eilte von meinem hohen
Standorte durch allerley Treppchen und Gaͤnge
hinunter an die große Roͤmerſtiege, wo die
aus der Ferne angeſtaunte ſo vornehme als
herrliche Maſſe heraufwallen ſollte. Das
Gedraͤng war nicht groß, weil die Zugaͤnge
des Rathhauſes wohl beſetzt waren, und ich
kam gluͤcklich unmittelbar oben an das eiſerne
Gelaͤnder. Nun ſtiegen die Hauptperſonen
an mir voruͤber, indem das Gefolge in den
untern Gewoͤlbgaͤngen zuruͤckblieb, und ich
konnte ſie auf der dreymal gebrochnen Treppe
von allen Seiten und zuletzt ganz in der Naͤ¬
he betrachten.
Endlich kamen auch die beyden Maje¬
ſtaͤten herauf. Vater und Sohn waren wie
Menaͤchmen uͤberein gekleidet. Des Kaiſers
Hausornat von purpurfarbner Seide, mit
Perlen und Steinen reich geziert, ſo wie Kro¬
ne, Scepter und Reichsapfel, fielen wohl in
die Augen: denn alles war neu daran, und
die Nachahmung des Alterthums geſchmackvoll.
So bewegte er ſich auch in ſeinem Anzuge
31 *
ganz bequem, und ſein treuherzig wuͤrdiges
Geſicht gab zugleich den Kaiſer und den Va¬
ter zu erkennen. Der junge Koͤnig hingegen
ſchleppte ſich in den ungeheuren Gewandſtuͤ¬
cken mit den Kleinodien Carls des großen, wie
in einer Verkleidung einher, ſo daß er ſelbſt,
von Zeit zu Zeit ſeinen Vater anſehend, ſich des
Laͤchelns nicht enthalten konnte. Die Krone,
welche man ſehr hatte fuͤttern muͤſſen, ſtand
wie ein uͤbergreifendes Dach vom Kopf ab.
Die Dalmatica, die Stola, ſo gut ſie auch
angepaßt und eingenaͤht worden, gewaͤhrte doch
keinswegs ein vortheilhaftes Ausſehen. Scep¬
ter und Reichsapfel ſetzten in Verwunderung;
aber man konnte ſich nicht laͤugnen, daß man
lieber eine maͤchtige, dem Anzuge gewachſene
Geſtalt, um der guͤnſtigern Wirkung willen,
damit bekleidet und ausgeſchmuͤckt geſehen
haͤtte.
Kaum waren die Pforten des großen
Saales hinter dieſen Geſtalten wieder geſchloſ¬
ſen, ſo eilte ich auf meinen vorigen Platz,
der von andern bereits eingenommen nur
mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde.
Es war eben die rechte Zeit, daß ich von
meinem Fenſter wieder Beſitz nahm: denn
das Merkwuͤrdigſte was oͤffentlich zu erblicken
war, ſollte eben vorgehen. Alles Volk hatte
ſich gegen den Roͤmer zu gewendet, und ein
abermaliges Vivatſchreyen gab uns zu erken¬
nen, daß Kaiſer und Koͤnig an dem Balcon¬
fenſter des großen Saales in ihrem Ornate
ſich dem Volke zeigten. Aber ſie ſollten nicht
allein zum Schauſpiel dienen, ſondern vor ih¬
ren Augen ſollte ein ſeltſames Schauſpiel vor¬
gehen. Vor allen ſchwang ſich nun der ſchoͤne
ſchlanke Erbmarſchall auf ſein Roß; er hatte
das Schwerd abgelegt, in ſeiner Rechten hielt
er ein ſilbernes gehenkeltes Gemaͤß, und ein
Streichblech in der Linken. So ritt er in
den Schranken auf den großen Haferhaufen
zu, ſprengte hinein, ſchoͤpfte das Gefaͤß uͤber¬
voll, ſtrich es ab und trug es mit großem
Anſtande wieder zuruͤck. Der kaiſerliche Mar¬
ſtall war nunmehr verſorgt. Der Erbcaͤm¬
merer ritt ſodann gleichfalls auf jene Gegend
zu und brachte ein Handbecken nebſt Gießfaß
und Handquele zuruͤck. Unterhaltender aber
fuͤr die Zuſchauer war der Erbtruchſeß, der
ein Stuͤck von dem gebratnen Ochſen zu holen
kam. Auch er ritt mit einer ſilbernen Schuͤſ¬
ſel durch die Schranken bis zu der großen
Bretterkuͤche, und kam bald mit verdecktem
Gericht wieder hervor, um ſeinen Weg nach
dem Roͤmer zu nehmen. Die Reihe traf nun
den Erbſchenken, der zu dem Springbrunnen
ritt und Wein holte. So war nun auch die
kaiſerliche Tafel beſtellt, und aller Augen war¬
teten auf den Erbſchatzmeiſter, der das Geld
auswerfen ſollte. Auch er beſtieg ein ſchoͤnes
Roß, dem zu beyden Seiten des Sattels an¬
ſtatt der Piſtolenhalftern ein paar praͤchtige,
mit dem churpfaͤlziſchen Wappen geſtickte
Beutel befeſtigt hingen. Kaum hatte er ſich
in Bewegung geſetzt, als er in dieſe Taſchen
griff und rechts und links Gold- und Silber¬
muͤnzen freygebig ausſtreute, welche jedes¬
mal in der Luft als ein metallner Regen
gar luſtig glaͤnzten. Tauſend Haͤnde zappel¬
ten augenblicklich in der Hoͤhe, um die Gaben
aufzufangen; kaum aber waren die Muͤnzen
niedergefallen, ſo wuͤhlte die Maſſe in ſich ſelbſt
gegen den Boden und rang gewaltig um die
Stuͤcke, welche zur Erde mochten gekommen
ſeyn. Da nun dieſe Bewegung von beyden
Seiten ſich immer wiederholte, wie der Geber
vorwaͤrts ritt, ſo war es fuͤr die Zuſchauer
ein ſehr beluſtigender Anblick. Zum Schluſ¬
ſe ging es am allerlebhafteſten her, als er die
Beutel ſelbſt auswarf, und ein Jeder noch
dieſen hoͤchſten Preis zu erhaſchen trachtete.
Die Majeſtaͤten hatten ſich vom Balcon
zuruͤckgezogen, und nun ſollte dem Poͤbel aber¬
mals ein Opfer gebracht werden, der in ſol¬
chen Faͤllen lieber die Gaben rauben als ſie
gelaſſen und dankbar empfangen will. In
rohern und derberen Zeiten herrſchte der Ge¬
brauch, den Hafer, gleich nachdem der Erbmar¬
ſchall das Theil weggenommen, den Spring¬
brunnen, nachdem der Erbſchenk, die Kuͤche,
nachdem der Erbtruchſeß ſein Amt verrichtet,
auf der Stelle Preis zu geben. Dießmal
aber hielt man, um alles Ungluͤck zu verhuͤ¬
ten, ſo viel es ſich thun ließ, Ordnung und
Maß. Doch fielen die alten ſchadenfrohen
Spaͤße wieder vor, daß wenn einer einen
Sack Hafer aufgepackt hatte, der andre ihm
ein Loch hineinſchnilt, und was dergleichen
Artigkeiten mehr waren. Um den gebratnen
Ochſen aber wurde dießmal wie ſonſt ein ern¬
ſterer Kampf gefuͤhrt. Man konnte ſich den¬
ſelben nur in Maſſe ſtreitig machen. Zwey
Innungen, die Metzger und Weinſchroͤter,
hatten ſich hergebrachtermaßen wieder ſo po¬
ſtirt, daß einer von beyden dieſer ungeheure
Braten zu Theil werden mußte. Die Metz¬
ger glaubten das groͤßte Recht an einen Och¬
ſen zu haben, den ſie unzerſtuͤckt in die Kuͤche
geliefert; die Weinſchroͤter dagegen machten
Anſpruch, weil die Kuͤche in der Naͤhe ih¬
res zunftmaͤßigen Aufenthalts erbaut war,
und weil ſie das letztemal obgeſiegt hatten;
wie denn aus dem vergitterten Giebelfenſter
ihres Zunft- und Verſammlungshauſes die
Hoͤrner jenes erbeuteten Stiers als Sieges¬
zeichen hervorſtarrend zu ſehen waren. Beyde
zahlreichen Innungen hatten ſehr kraͤftige und
tuͤchtige Mitglieder; wer aber dießmal den
Sieg davon getragen, iſt mir nicht mehr er¬
innerlich.
Wie nun aber eine Feyerlichkeit dieſer
Art mit etwas Gefaͤhrlichem und Schreck¬
haften ſchließen ſoll, ſo war es wirklich ein
fuͤrchterlicher Augenblick, als die bretterne
Kuͤche ſelbſt Preis gemacht wurde. Das
Dach derſelben wimmelte ſogleich von Men¬
ſchen, ohne daß man wußte wie ſie hinauf¬
gekommen; die Bretter wurden losgeriſſen
und heruntergeſtuͤrzt, ſo daß man, beſonders
in der Ferne, denken mußte, ein jedes werde
ein paar der Zudringenden todtſchlagen. In
einem Nu war die Huͤtte abgedeckt, und
einzelne Menſchen hingen an Sparren und
Balken, um auch dieſe aus den Fugen zu
reißen; ja manche ſchwebten noch oben herum,
als ſchon unten die Pfoſten abgeſaͤgt waren,
das Gerippe hin- und wiederſchwankte und
jaͤhen Einſturz drohte. Zarte Perſonen wand¬
ten die Augen hinweg, und Jedermann er¬
wartete ſich ein großes Ungluͤck; allein man
hoͤrte nicht einmal von irgend einer Beſchaͤ¬
digung, und alles war, obgleich heftig und
gewaltſam, doch gluͤcklich voruͤbergegangen.
Jedermann wußte nun, daß Kaiſer und
Koͤnig aus dem Cabinett, wohin ſie vom
Balcon abgetreten, ſich wieder hervorbegeben
und in dem großen Roͤmerſaale ſpeiſen wuͤr¬
den. Man hatte die Anſtalten dazu Tages
vorher bewundern koͤnnen, und mein ſehnlich¬
ſter Wunſch war, heute wo moͤglich nur
einen Blick hinein zu thun. Ich begab mich
daher auf gewohnten Pfaden wieder an die
große Treppe, welcher die Thuͤre des Saals
gerade gegenuͤber ſteht. Hier ſtaunte ich nun
die vornehmen Perſonen an, welche ſich heute
als Diener des Reichsoberhauptes bekannten.
Vier und vierzig Grafen, die Speiſen aus
der Kuͤche herantragend, zogen an mir vor¬
bey, alle praͤchtig gekleidet, ſo daß der Con¬
traſt ihres Anſtandes mit der Handlung fuͤr
einen Knaben wohl ſinnverwirrend ſeyn
konnte. Das Gedraͤnge war nicht groß, doch
wegen des kleinen Raums merklich genug.
Die Saalthuͤre war bewacht, indeß gingen
die Befugten haͤufig aus und ein. Ich erblickte
einen Pfaͤlziſchen Hausoffizianten, den ich
anredete, ob er mich nicht mit hinein bringen
koͤnne. Er beſann ſich nicht lange, gab mir
eins der ſilbernen Gefaͤße, die er eben trug,
welches er um ſo eher konnte, als ich ſauber
gekleidet war; und ſo gelangte ich denn in
das Heiligthum. Das Pfaͤlziſche Buͤffet ſtand
links, unmittelbar an der Thuͤre, und mit
einigen Schritten befand ich mich auf der
Erhoͤhung deſſelben hinter den Schranken.
Am andern Ende des Saals, unmittelbar
an den Fenſtern, ſaßen auf Thronſtufen
erhoͤht, unter Baldachinen, Kaiſer und Koͤnig
in ihren Ornaten; Krone und Zepter aber
lagen auf goldnen Kiſſen ruͤckwaͤrts in einiger
Entfernung. Die drey geiſtlichen Churfuͤrſten
hatten, ihre Buͤffette hinter ſich, auf einzel¬
nen Eſtraden Platz genommen: Chur-Mainz
den Majeſtaͤten gegenuͤber, Chur-Trier zur
Rechten und Chur-Coͤln zur Linken. Dieſer
obere Theil des Saals war wuͤrdig und
erfreulich anzuſehen, und erregte die Bemer¬
kung, daß die Geiſtlichkeit ſich ſo lange als
moͤglich mit dem Herrſcher halten mag. Dage¬
gen ließen die zwar praͤchtig aufgeputzten aber
herrenleeren Buͤffette und Tiſche der ſaͤmt¬
lichen weltlichen Churfuͤrſten an das Misver¬
haͤltniß denken, welches zwiſchen ihnen und
dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte
allmaͤhlich entſtanden war. Die Geſandten
derſelben hatten ſich ſchon entfernt, um in
einem Seitenzimmer zu ſpeiſen; und wenn
dadurch der groͤßte Theil des Saales ein
geſpenſterhaftes Anſehn bekam, daß ſo viele
unſichtbare Gaͤſte auf das praͤchtigſte bedient
wurden; ſo war eine große unbeſetzte Tafel
in der Mitte noch betruͤbter anzuſehen: denn
hier ſtanden auch ſo viele Couverte leer, weil
alle die, welche allenfalls ein Recht hatten
ſich daran zu ſetzen, Anſtands halber, um
an dem groͤßten Ehrentage ihrer Ehre nichts
zu vergeben, ausblieben, wenn ſie ſich auch
dermalen in der Stadt befanden.
Viele Betrachtungen anzuſtellen erlaubten
mir weder meine Jahre noch das Gedraͤng
der Gegenwart. Ich bemuͤhte mich alles
moͤglichſt ins Auge zu faſſen, und wie der
Nachtiſch aufgetragen wurde, da die Geſand¬
ten, um ihren Hof zu machen, wieder herein¬
traten, ſuchte ich das Freye, und wußte mich
bey guten Freunden in der Nachbarſchaft
nach dem heutigen Halbfaſten wieder zu erqui¬
cken und zu den Illuminationen des Abends
vorzubereiten.
Dieſen glaͤnzenden Abend gedachte ich auf
eine gemuͤthliche Weiſe zu feyern: denn ich
hatte mit Gretchen, mit Pylades und der
Seinigen abgeredet, daß wir uns zur naͤchti¬
gen Stunde irgendwo treffen wollten. Schon
leuchtete die Stadt an allen Ecken und Enden,
als ich meine Geliebten antraf. Ich reichte
Gretchen den Arm, wir zogen von einem
Quartier zum andern, und befanden uns
zuſammen ſehr gluͤcklich. Die Vettern waren
anfangs auch bey der Geſellſchaft, verloren
ſich aber nachher unter der Maſſe des Volks.
Vor den Haͤuſern einiger Geſandten, wo
man praͤchtige Illuminationen angebracht hatte,
(die churpfaͤlziſche zeichnete ſich vorzuͤglich aus,)
war es ſo hell wie es am Tage nur ſeyn
kann. Um nicht erkannt zu werden, hatte
ich mich einigermaßen vermummt, und Gret¬
chen fand es nicht uͤbel. Wir bewunderten
die verſchiedenen glaͤnzenden Darſtellungen und
die feenmaͤßigen Flammengebaͤude, womit
immer ein Geſandter den andern zu uͤberbie¬
ten gedacht hatte. Die Anſtalt des Fuͤrſten
Eſterhazy jedoch uͤbertraf alle die uͤbrigen.
Unſere kleine Geſellſchaft war von der Erfin¬
dung und Ausfuͤhrung entzuͤckt, und wir
wollten eben das Einzelne recht genießen, als
uns die Vettern wieder begegneten und von
der herrlichen Erleuchtung ſprachen, womit
der Brandenburgiſche Geſandte ſein Quartier
ausgeſchmuͤckt habe. Wir ließen uns nicht
verdrießen, den weiten Weg von dem Ro߬
markte bis zum Saalhof zu machen, fanden
aber, daß man uns auf eine frevle Weiſe zum
Beſten gehabt hatte.
Der Saalhof iſt nach dem Main zu ein
regelmaͤßiges und anſehnliches Gebaͤude, deſ¬
ſen nach der Stadt gerichteter Theil aber
uralt, unregelmaͤßig und unſcheinbar. Kleine,
weder in Form noch Groͤße uͤbereinſtimmende,
noch auf eine Linie, noch in gleicher Entfer¬
nung geſetzte Fenſter, unſymmetriſch angebrachte
Thore und Thuͤren, ein meiſt in Kramlaͤden
verwandeltes Untergeſchoß bilden eine verwor¬
rene Außenſeite, die von Niemand jemals
betrachtet wird. Hier war man nun der
zufaͤlligen, unregelmaͤßigen, unzuſammenhaͤn¬
genden Architektur gefolgt, und hatte jedes
Fenſter, jede Thuͤre, jede Oeffnung fuͤr ſich
mit Lampen umgeben, wie man es allenfalls
bey einem wohlgebauten Hauſe thun kann,
wodurch aber hier die ſchlechteſte und misge¬
bildetſte aller Façaden ganz unglaublich in
das hellſte Licht geſetzt wurde. Hatte man
ſich nun hieran, wie etwa an den Spaͤßen
des Pagliaſſo ergetzt, obgleich nicht ohne
Bedenklichkeiten, weil Jedermann etwas Vor¬
ſaͤtzliches darin erkennen mußte; wie man
denn ſchon vorher uͤber das ſonſtige aͤußre
Benehmen des uͤbrigens ſehr geſchaͤtzten Plo¬
tho gloſſirt, und da man ihm nun einmal
gewogen war, auch den Schalk in ihm bewun¬
dert hatte, der ſich uͤber alles Ceremoniell
wie ſein Koͤnig hinauszuſetzen pflege: ſo
ging man doch lieber in das Eſterhazyſche
Feenreich wieder zuruͤck.
Dieſer hohe Bothſchafter hatte, dieſen
Tag zu ehren, ſein unguͤnſtig gelegenes Quar¬
tier ganz uͤbergangen, und dafuͤr die große
Lindenesplanade am Roßmarkt, vorn mit
einem farbig erleuchteten Portal, im Hinter¬
grund aber mit einem wohl noch praͤchtigern
Proſpecte verzieren laſſen. Die ganze Ein¬
faſſung bezeichneten Lampen. Zwiſchen den
Baͤumen ſtanden Licht-Pyramiden und Kugeln
auf durchſcheinenden Piedeſtalen; von einem
Baum zum andern zogen ſich leuchtende
Guirlanden, an welchen Haͤngeleuchter ſchweb¬
l. 32
ten. An mehreren Orten vertheilte man
Brod und Wuͤrſte unter das Volk und ließ
es an Wein nicht fehlen.
Hier gingen wir nun zu Vieren aneinan¬
dergeſchloſſen hoͤchſt behaglich auf und ab, und
ich an Gretchens Seite daͤuchte mir wirklich
in jenen gluͤcklichen Gefilden Elyſiums zu
wandeln, wo man die cryſtallnen Gefaͤße vom
Baume bricht, die ſich mit dem gewuͤnſchten
Wein ſogleich fuͤllen, und wo man Fruͤchte
ſchuͤttelt, die ſich in jede beliebige Speiſe
verwandeln. Ein ſolches Beduͤrfniß fuͤhlten
wir denn zuletzt auch, und geleitet von Pyla¬
des fanden wir ein ganz artig eingerichtetes
Speiſehaus; und da wir keine Gaͤſte weiter
antrafen, indem alles auf den Straßen
umherzog, ließen wir es uns um ſo wohler
ſeyn, und verbrachten den groͤßten Theil der
Nacht im Gefuͤhl von Freundſchaft, Liebe und
Neigung auf das heiterſte und gluͤcklichſte.
Als ich Gretchen bis an ihre Thuͤre begleitet
hatte, kuͤßte ſie mich auf die Stirn. Es
war das erſte und letzte Mal, daß ſie mir
dieſe Gunſt erwies: denn leider ſollte ich ſie
nicht wiederſehen.
Den andern Morgen lag ich noch im
Bette, als meine Mutter verſtoͤrt und aͤngſt¬
lich hereintrat. Man konnte es ihr gar
leicht anſehen, wenn ſie ſich irgend bedraͤngt
fuͤhlte. — „Steh auf, ſagte ſie, und mache
dich auf etwas Unangenehmes gefaßt. Es
iſt herausgekommen, daß du ſehr ſchlechte
Geſellſchaft beſuchſt und dich in die gefaͤhr¬
lichſten und ſchlimmſten Haͤndel verwickelt
haſt. Der Vater iſt außer ſich, und wir
haben nur ſoviel von ihm erlangt, daß er
die Sache durch einen Dritten unterſuchen
will. Bleib auf deinem Zimmer und erwarte
was bevorſteht. Der Rath Schneider wird
zu dir kommen; er hat ſowohl vom Vater
als von der Obrigkeit den Auftrag: denn
32 *
die Sache iſt ſchon anhaͤngig und kann eine
ſehr boͤſe Wendung nehmen.“
Ich ſah wohl, daß man die Sache viel
ſchlimmer nahm als ſie war; doch fuͤhlte ich
mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur
das eigentliche Verhaͤltniß entdeckt werden ſoll¬
te. Der alte Meſſianiſche Freund trat endlich
herein, die Thraͤnen ſtanden ihm in den Au¬
gen; er faßte mich beym Arm und ſagte: „Es
thut mir herzlich Leid, daß ich in ſolcher An¬
gelegenheit zu Ihnen komme. Ich haͤtte nicht
gedacht, daß Sie ſich ſo weit verirren koͤnnten.
Aber was thut nicht ſchlechte Geſellſchaft und
boͤſes Beyſpiel; und ſo kann ein junger un¬
erfahrner Menſch Schritt vor Schritt bis
zum Verbrechen gefuͤhrt werden.“ — Ich
bin mir keines Verbrechens bewußt, verſetzte
ich darauf, ſo wenig als ſchlechte Geſellſchaft
beſucht zu haben. — „Es iſt jetzt nicht von
einer Vertheidigung die Rede, fiel er mir ins
Wort, ſondern von einer Unterſuchung, und
Ihrerſeits von einem aufrichtigen Bekennt¬
niß.“ — Was verlangen Sie zu wiſſen? ſagte
ich dagegen. Er ſetzte ſich und zog ein Blatt
hervor und fing zu fragen an: „Haben Sie
nicht den N. N. Ihrem Großvater als einen
Clienten zu einer *** Stelle empfohlen?“ Ich
antwortete: ja. — „Wo haben Sie ihn ken¬
nen gelernt?“ — Auf Spaziergaͤngen. —
„In welcher Geſellſchaft?“ — Ich ſtutzte:
denn ich wollte nicht gern meine Freunde ver¬
rathen. — „Das Verſchweigen wird nichts
helfen, fuhr er fort: denn es iſt alles ſchon
genugſam bekannt.“ — Was iſt denn be¬
kannt? ſagte ich. — „Daß Ihnen dieſer
Menſch durch andere ſeines Gleichen iſt vor¬
gefuͤhrt worden und zwar durch ***“. Hier
nannte er die Namen von drey Perſonen,
die ich niemals geſehen noch gekannt hatte;
welches ich dem Fragenden denn auch ſogleich
erklaͤrte. — „Sie wollen, fuhr jener fort,
dieſe Menſchen nicht kennen, und haben doch
mit ihnen oͤftre Zuſammenkuͤnfte gehabt!“ —
Auch nicht die geringſte, verſetzte ich: denn
wie geſagt, außer dem erſten, kenne ich kei¬
nen und habe auch den niemals in einem
Hauſe geſehen. — „Sind Sie nicht oft in der
* * * Straße geweſen?“ — Niemals, ver¬
ſetzte ich. Dieß war nicht ganz der Wahr¬
heit gemaͤß. Ich hatte Pylades einmal zu
ſeiner Geliebten begleitet, die in der Straße
wohnte; wir waren aber zur Hinterthuͤre
hereingegangen und im Gartenhauſe geblieben.
Daher glaubte ich mir die Ausflucht erlauben
zu koͤnnen, in der Straße ſelbſt nicht gewe¬
ſen zu ſeyn.
Der gute Mann that noch mehr Fragen,
die ich alle verneinen konnte: denn es war mir
von alle dem, was er zu wiſſen verlangte,
nichts bekannt. Endlich ſchien er verdrießlich
zu werden und ſagte: „Sie belohnen mein
Vertrauen und meinen guten Willen ſehr
ſchlecht; ich komme, um Sie zu retten. Sie
koͤnnen nicht laͤugnen, daß Sie fuͤr dieſe Leute
ſelbſt oder fuͤr ihre Mitſchuldigen Briefe ver¬
faßt, Aufſaͤtze gemacht und ſo zu ihren ſchlech¬
ten Streichen behuͤlflich geweſen. Ich kom¬
me, um Sie zu retten: denn es iſt von nichts
Geringerem als nachgemachten Handſchriften,
falſchen Teſtamenten, untergeſchobnen Schuld¬
ſcheinen und aͤhnlichen Dingen die Rede.
Ich komme nicht allein als Hausfreund;
ich komme im Namen und auf Befehl der
Obrigkeit, die in Betracht Ihrer Familie und
Ihrer Jugend, Sie und einige andre Juͤng¬
linge verſchonen will, die gleich Ihnen ins Netz
gelockt worden.“ — Es war mir auffallend,
daß unter den Perſonen die er nannte, ſich
gerade die nicht fanden, mit denen ich Um¬
gang gepflogen. Die Verhaͤltniſſe trafen
nicht zuſammen, aber ſie beruͤhrten ſich, und
ich konnte noch immer hoffen, meine jungen
Freunde zu ſchonen. Allein der wackre
Mann ward immer dringender. Ich konnte
nicht laͤugnen, daß ich manche Naͤchte ſpaͤt
nach Hauſe gekommen war, daß ich mir ei¬
nen Hausſchluͤſſel zu verſchaffen gewußt, daß
ich mit Perſonen von geringem Stand und
verdaͤchtigem Ausſehen, an Luſtorten mehr als
einmal bemerkt worden, daß Maͤdchen mit
in die Sache verwickelt ſeyen; genug, alles
ſchien entdeckt bis auf die Namen. Dieß
gab mir Muth, ſtandhaft im Schweigen zu
ſeyn. — „Laſſen Sie mich, ſagte der brave
Freund, nicht von Ihnen weggehen. Die
Sache leidet keinen Aufſchub; unmittelbar
nach mir wird ein andrer kommen, der Ih¬
nen nicht ſoviel Spielraum laͤßt. Verſchlim¬
mern Sie die ohnehin boͤſe Sache nicht durch
Ihre Hartnaͤckigkeit.“
Nun ſtellte ich mir die guten Vettern,
und Gretchen beſonders, recht lebhaft vor; ich
ſah ſie gefangen, verhoͤrt, beſtraft, geſchmaͤht,
und mir fuhr wie ein Blitz durch die Seele,
daß die Vettern denn doch, ob ſie gleich ge¬
gen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, ſich in
ſo boͤſe Haͤndel konnten eingelaſſen haben,
wenigſtens der aͤlteſte, der mir niemals recht
gefallen wollte, der immer ſpaͤter nach Hauſe
kam und wenig Heiters zu erzaͤhlen wußte.
Noch immer hielt ich mein Bekenntniß zuruͤck.
— Ich bin mir, ſagte ich, perſoͤnlich nichts
Boͤſes bewußt, und kann von der Seite ganz
ruhig ſeyn; aber es waͤre nicht unmoͤglich,
daß diejenigen mit denen ich umgegangen bin,
ſich einer verwegnen oder geſetzwidrigen Hand¬
lung ſchuldig gemacht haͤtten. Man mag ſie
ſuchen, man mag ſie finden, ſie uͤberfuͤhren
und beſtrafen, ich habe mir bisher nichts
vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts
verſchulden, die ſich freundlich und gut ge¬
gen mich benommen haben. — Er ließ
mich nicht ausreden, ſondern rief mit einiger
Bewegung: „Ja man wird ſie finden. In
drey Haͤuſern kamen dieſe Boͤſewichter zuſam¬
men. (Er nannte die Straßen, er bezeich¬
nete die Haͤuſer, und zum Ungluͤck befand ſich
auch das darunter, wohin ich zu gehen pfleg¬
te.) Das erſte Neſt iſt ſchon ausgehoben,
fuhr er fort, und in dieſem Augenblick werden
es die beyden andern. In wenig Stunden
wird alles im Klaren ſeyn. Entziehen Sie
ſich, durch ein redliches Bekenntniß, einer ge¬
richtlichen Unterſuchung, einer Confrontation
und wie die garſtigen Dinge alle heißen.“
— Das Haus war genannt und bezeichnet.
Nun hielt ich alles Schweigen fuͤr unnuͤtz;
ja, bey der Unſchuld unſrer Zuſammenkuͤnfte,
konnte ich hoffen, jenen noch mehr als mir
nuͤtzlich zu ſeyn. — Setzen Sie ſich, rief ich
aus, und holte ihn von der Thuͤre zuruͤck:
ich will Ihnen alles erzaͤhlen, und zugleich mir
und Ihnen das Herz erleichtern: nur das
Eine bitte ich, von nun an keine Zweifel in
meine Wahrhaftigkeit.
Ich erzaͤhlte nun dem Freunde den ganzen
Hergang der Sache, anfangs ruhig und ge¬
faßt; doch jemehr ich mir die Perſonen, Ge¬
genſtaͤnde, Begebenheiten ins Gedaͤchtniß rief
und vergegenwaͤrtigte, und ſo manche un¬
ſchuldige Freude, ſo manchen heitern Genuß
gleichſam vor einem Criminalgericht deponi¬
ren ſollte, deſtomehr wuchs die ſchmerzlichſte
Empfindung, ſo daß ich zuletzt in Thraͤnen
ausbrach und mich einer unbaͤndigen Leiden¬
ſchaft uͤberließ. Der Hausfreund, welcher
hoffte, daß eben jetzt das rechte Geheim¬
niß auf dem Wege ſeyn moͤchte ſich zu offen¬
baren (denn er hielt meinen Schmerz fuͤr
ein Symptom, daß ich im Begriff ſtehe
mit Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen)
ſuchte mich, da ihm an der Entdeckung alles
gelegen war, aufs beſte zu beruhigen; welches
ihm zwar nur zum Theil gelang, aber doch
inſofern, daß ich meine Geſchichte nothduͤrftig
auserzaͤhlen konnte. Er war, obgleich zufrie¬
den uͤber die Unſchuld der Vorgaͤnge, doch
noch einigermaßen zweifelhaft, und erließ neue
Fragen an mich, die mich abermals aufregten
und in Schmerz und Wuth verſetzten. Ich ver¬
ſicherte endlich, daß ich nichts weiter zu ſagen
habe, und wohl wiſſe, daß ich nichts zu fuͤrch¬
ten brauche: denn ich ſey unſchuldig, von gutem
Hauſe und wohl empfohlen; aber jene koͤnnten
eben ſo unſchuldig ſeyn, ohne daß man ſie da¬
fuͤr anerkenne oder ſonſt beguͤnſtige. Ich er¬
klaͤrte zugleich, daß wenn man jene nicht wie
mich ſchonen, ihren Thorheiten nachſehen, und
ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur
im mindeſten hart und unrecht geſchehe, ſo
wuͤrde ich mir ein Leids anthun, und daran
ſolle mich Niemand hindern. Auch hieruͤber
ſuchte mich der Freund zu beruhigen; aber ich
traute ihm nicht, und war, als er mich zu¬
letzt verließ, in der entſetzlichſten Lage. Ich
machte mir nun doch Vorwuͤrfe, die Sache
erzaͤhlt und alle die Verhaͤltniſſe ans Licht ge¬
bracht zu haben. Ich ſah voraus, daß man
die kindlichen Handlungen, die jugendlichen
Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders
auslegen wuͤrde, und daß ich vielleicht den
guten Pylades mit in dieſen Handel verwi¬
ckeln und ſehr ungluͤcklich machen koͤnnte.
Alle dieſe Vorſtellungen draͤngten ſich lebhaft
hintereinander vor meiner Seele, ſchaͤrften
und ſpornten meinen Schmerz, ſo daß ich
mir vor Jammer nicht zu helfen wußte, mich
die Laͤnge lang auf die Erde warf, und den
Fußboden mit meinen Thraͤnen benetzte.
Ich weiß nicht, wie lange ich mochte
gelegen haben, als meine Schweſter herein¬
trat, uͤber meine Gebaͤrde erſchrak und al¬
les moͤgliche that mich aufzurichten. Sie er¬
zaͤhlte mir, daß eine Magiſtratsperſon unten
beym Vater die Ruͤckkunft des Hausfreundes
erwartet, und nachdem ſie ſich eine Zeit
lang eingeſchloſſen gehalten, ſeyen die beyden
Herren weggegangen, und haͤtten untereinan¬
der ſehr zufrieden, ja mit Lachen geredet,
und ſie glaube die Worte verſtanden zu haben:
es iſt recht gut, die Sache hat nichts zu
bedeuten. — „Freylich, fuhr ich auf, hat
die Sache nichts zu bedeuten, fuͤr mich, fuͤr
uns: denn ich habe nichts verbrochen, und
wenn ich es haͤtte, ſo wuͤrde man mir durch¬
zuhelfen wiſſen; aber jene, jene, rief ich aus,
wer wird ihnen beyſtehn!“ — Meine Schwe¬
ſter ſuchte mich umſtaͤndlich mit dem Argu¬
mente zu troͤſten, daß wenn man die Vorneh¬
meren retten wolle, man auch uͤber die Fehler
der Geringern einen Schleyer werfen muͤſſe.
Das alles half nichts. Sie war kaum weg¬
gegangen, als ich mich wieder meinem Schmerz
uͤberließ, und ſowohl die Bilder meiner Nei¬
gung und Leidenſchaft als auch des gegenwaͤr¬
tigen und moͤglichen Ungluͤcks immer wechſels¬
weiſe hervorrief. Ich erzaͤhlte mir Maͤhrchen
auf Maͤhrchen, ſah nur Ungluͤck auf Ungluͤck,
und ließ es beſonders daran nicht fehlen,
Gretchen und mich recht elend zu machen.
Der Hausfreund hatte mir geboten auf
meinem Zimmer zu bleiben und mit Niemand
mein Geſchaͤft zu pflegen, außer den Unſri¬
gen. Es war mir ganz recht, denn ich befand
mich am liebſten allein. Meine Mutter und
Schweſter beſuchten mich von Zeit zu Zeit,
und ermangelten nicht mir mit allerley gutem
Troſt auf das kraͤftigſte beyzuſtehen; ja ſie
kamen ſogar ſchon den zweyten Tag, im
Namen des nun beſſer unterrichteten Vaters
mir eine voͤllige Amneſtie anzubieten, die ich
zwar dankbar annahm, allein den Antrag,
daß ich mit ihm ausgehen und die Reichs¬
inſignien, welche man nunmehr den Neugie¬
rigen vorzeigte, beſchauen ſollte, hartnaͤckig
ablehnte, und verſicherte, daß ich weder von
der Welt, noch von dem roͤmiſchen Reiche
etwas weiter wiſſen wolle, bis mir bekannt
geworden, wie jener verdrießliche Handel,
der fuͤr mich weiter keine Folgen haben wuͤrde,
fuͤr meine armen Bekannten ausgegangen.
Sie wußten hieruͤber ſelbſt nichts zu ſagen
und ließen mich allein. Doch machte man
die folgenden Tage noch einige Verſuche,
mich aus dem Hauſe und zur Theilnahme
an den oͤffentlichen Feyerlichkeiten zu bewegen.
Vergebens! weder der große Galatag, noch
was bey Gelegenheit ſo vieler Standeserhoͤ¬
hungen vorfiel, noch die oͤffentliche Tafel des
Kaiſers und Koͤnigs, nichts konnte mich ruͤh¬
ren. Der Churfuͤrſt von Pfalz mochte kom¬
men um den beyden Majeſtaͤten aufzuwarten,
dieſe mochten die Churfuͤrſten beſuchen, man
mochte zur letzten churfuͤrſtlichen Sitzung zu¬
ſammen fahren, um die ruͤckſtaͤndigen Puncte
zu erledigen und den Churverein zu erneuern,
nichts konnte mich aus meiner leidenſchaftli¬
chen Einſamkeit hervorrufen. Ich ließ am
Dankfeſte die Glocken laͤuten, den Kaiſer ſich
in die Kapuzinerkirche begeben, die Churfuͤr¬
ſten und den Kaiſer abreiſen, ohne deshalb
einen Schritt von meinem Zimmer zu thun.
Das letzte Canoniren, ſo unmaͤßig es auch
ſeyn mochte, regte mich nicht auf, und wie
der Pulverdampf ſich verzog und der Schall
verhallte, ſo war auch alle dieſe Herrlichkeit
vor meiner Seele weggeſchwunden.
Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als
im Wiederkaͤuen meines Elends und in der
tauſendfachen imaginaͤren Vervielfaͤltigung deſ¬
ſelben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine
Poeſie und Rhetorik hatten ſich auf dieſen
kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade
durch dieſe Lebensgewalt, Leib und Seele in
eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In
dieſem traurigen Zuſtande kam mir nichts
mehr wuͤnſchenswerth, nichts begehrenswerth
mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein
unendliches Verlangen, zu wiſſen wie es mei¬
nen armen Freunden und Geliebten ergehe,
was ſich bey naͤherer Unterſuchung ergeben,
in wiefern ſie mit in jene Verbrechen verwi¬
ckelt oder unſchuldig moͤchten erfunden ſeyn.
Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬
tigſte umſtaͤndlich aus, und ließ es nicht feh¬
len ſie fuͤr unſchuldig und recht ungluͤcklich
zu halten. Bald wuͤnſchte ich mich von die¬
ſer Ungewißheit befreyt zu ſehen, und ſchrieb
heftig drohende Briefe an den Hausfreund,
daß er mir den weitern Gang der Sache
nicht vorenthalten ſolle. Bald zerriß ich ſie
I. 33
wieder, aus Furcht mein Ungluͤck recht deut¬
lich zu erfahren und des phantaſtiſchen Troſtes
zu entbehren, mit dem ich mich bis jetzt wech¬
ſelsweiſe gequaͤlt und aufgerichtet hatte.
So verbrachte ich Tag und Nacht in
großer Unruhe, in Raſen und Ermattung,
ſo daß ich mich zuletzt gluͤcklich fuͤhlte, als
eine koͤrperliche Krankheit mit ziemlicher Hef¬
tigkeit eintrat, wobey man den Arzt zu Huͤlfe
rufen und darauf denken mußte, mich auf
alle Weiſe zu beruhigen. Man glaubte es
im Allgemeinen thun zu koͤnnen, indem man
mir heilig verſicherte, daß alle in jene Schuld
mehr oder weniger verwickelte mit der groͤ߬
ten Schonung behandelt worden, daß meine
naͤchſten Freunde, ſo gut wie ganz ſchuldlos,
mit einem leichten Verweiſe entlaſſen worden,
und daß Gretchen ſich aus der Stadt entfernt
habe und wieder in ihre Heimat gezogen ſey.
Mit dem letztern zauderte man am laͤngſten,
und ich nahm es auch nicht zum beſten auf:
denn ich konnte darin keine freywillige Abreiſe,
ſondern nur eine ſchmaͤhliche Verbannung ent¬
decken. Mein koͤrperlicher und geiſtiger Zuſtand
verbeſſerte ſich dadurch nicht: die Noth ging
nun erſt recht an, und ich hatte Zeit genug
mir den ſeltſamſten Roman von traurigen
Ereigniſſen und einer unvermeidlich tragiſchen
Cataſtrophe ſelbſtquaͤleriſch auszumalen.