Schach von Wuthenow .
Schach von Wuthenow .
Erzählung
aus der Zeit des Regiments Gensdarmes
von
Theodor Fontane .
Leipzig
Verlag von Wilhelm Friedrich
K. Hofbuchhändler .
1883 .
Inhalt .
1. Kapitel : Im Salon der Frau von Carayon 1
2. Kapitel : „ Die Weihe der Kraft “ 12
3. Kapitel : Bei Sala Tarone 22
4. Kapitel : In Tempelhof 34
5. Kapitel : Victoire v. Carayon an Liſette v. Perbandt 61
6. Kapitel : Bei Prinz Louis 68
7. Kapitel : Ein neuer Gaſt 81
8. Kapitel : Schach und Victoire 98
9. Kapitel : Schach zieht ſich zurück 111
10. Kapitel : „ Es muß etwas geſchehn “ 117
11. Kapitel : Die Schlittenfahrt 126
12. Kapitel : Schach bei Frau von Carayon 131
13. Kapitel : „ Le choix du Schach “ 139
14. Kapitel : In Wuthenow am See 151
15. Kapitel : Die Schachs und die Carayons 171
Seite
16. Kapitel : Frau von Carayon und der alte Köckritz 181
17. Kapitel : Schach in Charlottenburg 194
18. Kapitel : Fata Morgana 203
19. Kapitel : Die Hochzeit 210
20. Kapitel : Bülow an Sander 219
21. Kapitel : Victoire von Schach an Liſette von Perbandt 224
1. Kapitel .
Im Salon der Frau v. Carayon .
I n dem Salon der in der Behrenſtraße woh¬
nenden Frau v. Carayon und ihrer Tochter
Victoire waren an ihrem gewöhnlichen Em¬
pfangsabend einige Freunde verſammelt , aber freilich
wenige nur , da die große Hitze des Tages auch die
treueſten Anhänger des Zirkels ins Freie gelockt hatte .
Von den Offizieren des Regiments Gensdarmes , die
ſelten an einem dieſer Abende fehlten , war nur einer
erſchienen , ein Herr v. Alvensleben , und hatte neben
der ſchönen Frau vom Hauſe Platz genommen unter
gleichzeitigem ſcherzhaftem Bedauern darüber , daß gerade
der fehle , dem dieſer Platz in Wahrheit gebühre .
Beiden gegenüber , an der der Mitte des Zimmers
zugekehrten Tiſchſeite , ſaßen zwei Herren in Civil , die ,
1
ſeit wenig Wochen erſt heimiſch in dieſem Kreiſe , ſich
nichtsdeſtoweniger bereits eine dominierende Stellung
innerhalb desſelben errungen hatten . Am entſchieden¬
ſten der um einige Jahre jüngere von beiden , ein
ehemaliger Stabskapitän , der , nach einem abenteuern¬
den Leben in England und den Unionsſtaaten in
die Heimat zurückgekehrt , allgemein als das Haupt
jener militäriſchen Frondeurs angeſehen wurde , die
damals die politiſche Meinung der Hauptſtadt machten ,
beziehungsweiſe terroriſierten . Sein Name war
v. Bülow . Nonchalance gehörte mit zur Genialität ,
und ſo focht er denn , beide Füße weit vorgeſtreckt
und die linke Hand in der Hoſentaſche , mit ſeiner
Rechten in der Luft umher , um durch lebhafte Geſti¬
kulationen ſeinem Kathedervortrage Nachdruck zu geben .
Er konnte , wie ſeine Freunde ſagten , nur ſprechen um
Vortrag zu halten , und — er ſprach eigentlich immer .
Der ſtarke Herr neben ihm war der Verleger ſeiner
Schriften , Herr Daniel Sander , im Übrigen aber ſein
vollkommener Widerpart , wenigſtens in allem was
Erſcheinung anging . Ein ſchwarzer Vollbart um¬
rahmte ſein Geſicht , das ebenſoviel Behagen wie
Sarkasmus ausdrückte , während ihm der in der Taille
knapp anſchließende Rock von niederländiſchem Tuche
ſein Embonpoint zuſammenſchnürte . Was den Gegen¬
ſatz vollendete , war die feinſte weiße Wäſche , worin
Bülow keineswegs excellierte .
Das Geſpräch , das eben geführt wurde , ſchien
ſich um die kurz vorher beendete Haugwitzſche Miſſion
zu drehen , die , nach Bülows Anſicht , nicht nur ein
wünſchenswertes Einvernehmen zwiſchen Preußen und
Frankreich wieder hergeſtellt , ſondern uns auch den
Beſitz von Hannover noch als „ Morgengabe “ mit ein¬
getragen habe . Frau v. Carayon aber bemängelte
dieſe „ Morgengabe “ , weil man nicht gut geben
oder verſchenken könne , was man nicht habe , bei wel¬
chem Worte die bis dahin unbemerkt am Theetiſch
beſchäftigt geweſene Tochter Victoire der Mutter einen
zärtlichen Blick zuwarf , während Alvensleben der
ſchönen Frau die Hand küßte .
„ Ihrer Zuſtimmung , lieber Alvensleben , “ nahm
Frau v. Carayon das Wort , „ war ich ſicher . Aber
ſehen Sie , wie minos- und rhadamantusartig unſer
Freund Bülow daſitzt . Er brütet mal wieder Sturm ,
Victoire , reiche Herrn v. Bülow von den Karlsbader
Oblaten . Es iſt , glaub' ich , das Einzige , was er
von Öeſterreich gelten läßt . Inzwiſchen unterhält
uns Herr Sander von unſeren Fortſchritten in der
neuen Provinz . Ich fürchte nur , daß ſie nicht groß
ſind . “
„ Oder ſagen wir lieber , gar nicht exiſtieren , “ er¬
widerte Sander . „ Alles was zum welfiſchen Löwen
oder zum ſpringenden Roß hält , will ſich nicht preu¬
ßiſch regieren laſſen . Und ich verdenk es Keinem .
1*
Für die Polen reichten wir allenfalls aus . Aber die
Hannoveraner ſind feine Leute . “
„ Ja , das ſind ſie , “ beſtätigte Frau v. Carayon ,
während ſie gleich danach hinzufügte : „ Vielleicht auch
etwas hochmütig . “
„ Etwas ! “ lachte Bülow . „ O , meine Gnädigſte ,
wer doch allzeit einer ähnlichen Milde begegnete .
Glauben Sie mir , ich kenne die Hannoveraner ſeit
lange , hab ihnen in meiner Altmärker-Eigenſchaft ſo
zu ſagen von Jugend auf über den Zaun gekuckt , und
darf Ihnen danach verſichern , daß alles das , was mir
England ſo zuwider macht , in dieſem welfiſchen Stamm¬
lande doppelt anzutreffen iſt . Ich gönn' ihnen des¬
halb die Zuchtrute , die wir ihnen bringen . Unſere
preußiſche Wirtſchaft iſt erbärmlich , und Mirabeau
hatte Recht , den geprieſenen Staat Friedrichs des
Großen mit einer Frucht zu vergleichen , die ſchon faul
ſei , bevor ſie noch reif geworden , aber faul oder nicht ,
Eines haben wir wenigſtens : ein Gefühl davon ,
daß die Welt in dieſen letzten funfzehn Jahren einen
Schritt vorwärts gemacht hat , und daß ſich die großen
Geſchicke derſelben nicht notwendig zwiſchen Nuthe und
Notte vollziehen müſſen . In Hannover aber glaubt man
immer noch an eine Spezialaufgabe Kalenbergs und
der Lüneburger Haide . Nomen et omen . Es iſt
der Sitz der Stagnation , eine Brutſtätte der Vor¬
urteile . Wir wiſſen wenigſtens , daß wir nichts tau¬
gen , und in dieſer Erkenntnis iſt die Möglichkeit der
Beſſerung gegeben . Im Einzelnen bleiben wir hinter
ihnen zurück , zugegeben , aber im Ganzen ſind wir
ihnen voraus , und darin ſteckt ein Anſpruch und ein
Recht , die wir geltend machen müſſen . Daß wir , trotz
Sander , in Polen eigentlich geſcheitert ſind , beweiſt nichts ;
der Staat ſtrengte ſich nicht an und hielt ſeine Steuer¬
einnehmer gerade für gut genug , um die Kultur nach
Oſten zu tragen . In ſoweit mit Recht , als ſelbſt ein
Steuereinnehmer die Ordnung vertritt , wenn auch
freilich von der unangenehmen Seite . “
Victoire , die von dem Augenblick an , wo Polen
mit ins Geſpräch gezogen worden war , ihren Platz am
Theetiſch aufgegeben hatte , drohte jetzt zu dem Sprecher
hinüber und ſagte : „ Sie müſſen wiſſen , Herr v. Bülow ,
daß ich die Polen liebe , ſogar de tout mon coeur . “
Und dabei beugte ſie ſich aus dem Schatten in den
Lichtſchein der Lampe vor , in deſſen Helle man jetzt
deutlich erkennen konnte , daß ihr feines Profil , das
einſt dem der Mutter geglichen haben mochte , durch
zahlreiche Blatternarben aber um ſeine frühere Schön¬
heit gekommen war .
Jeder mußt' es ſehen , und der Einzige , der es
nicht ſah , oder , wenn er es ſah , als abſolut gleich¬
giltig betrachtete , war Bülow . Er wiederholte nur :
„ o ja , die Polen . Es ſind die beſten Mazurkatänzer ,
und darum lieben Sie ſie . “
„ Nicht doch . Ich liebe ſie , weil ſie ritterlich und
unglücklich ſind . “
„ Auch das . Es läßt ſich dergleichen ſagen . Und
um dies ihr Unglück könnte man ſie beinah beneiden ,
denn es trägt ihnen die Sympathien aller Damen¬
herzen ein . In Fraueneroberungen haben ſie , von
alter Zeit her , die glänzendſte Kriegsgeſchichte . “
„ Und wer rettete . . “
„ Sie kennen meine ketzeriſchen Anſichten über
Rettungen . Und nun gar Wien ! Es wurde gerettet .
Allerdings . Aber wozu ? Meine Phantaſie ſchwelgt
ordentlich in der Vorſtellung , eine Favoritſultanin in
der Krypta der Kapuziner ſtehen zu ſehen . Vielleicht
da , wo jetzt Maria Thereſia ſteht . Etwas vom
Islam iſt bei dieſen Hahndel- und Faſahndelmännern
immer zu Hauſe geweſen , und Europa hätt' ein
bischen mehr von Serail- oder Haremwirtſchaft ohne
großen Schaden ertragen . . “
Ein eintretender Diener meldete den Rittmeiſter
v. Schach , und ein Schimmer freudiger Über¬
raſchung überflog beide Damen , als der Ange¬
meldete gleich darnach eintrat . Er küßte der Frau
v. Carayon die Hand , verneigte ſich gegen Victoire ,
und begrüßte dann Alvensleben mit Herzlichkeit , Bülow
und Sander aber mit Zurückhaltung .
„ Ich fürchte , Herrn v. Bülow unterbrochen zu
haben . . . “
„ Ein allerdings unvermeidlicher Fall , “ antwortete
Sander und rückte ſeinen Stuhl zur Seite . Man
lachte , Bülow ſelbſt ſtimmte mit ein , und nur an
Schachs mehr als gewöhnlicher Zurückhaltung ließ
ſich erkennen , daß er entweder unter dem Eindruck
eines ihm perſönlich unangenehmen Ereigniſſes oder
aber einer politiſch unerfreulichen Nachricht in den
Salon eingetreten ſein müſſe .
„ Was bringen Sie , lieber Schach ? Sie ſind
präokkupiert . Sind neue Stürme . . . “
„ Nicht das , gnädigſte Frau , nicht das . Ich
komme von der Gräfin Haugwitz , bei der ich um
ſo häufiger verweile , je mehr ich mich von dem Grafen
und ſeiner Politik zurückziehe . Die Gräfin weiß es
und billigt mein Benehmen . Eben begannen wir ein
Geſpräch , als ſich draußen vor dem Palais eine Volks¬
maſſe zu ſammeln begann , erſt Hunderte , dann Tau¬
ſende . Dabei wuchs der Lärm und zuletzt ward ein
Stein geworfen und flog an dem Tiſch vorbei , daran
wir ſaßen . Ein Haar breit und die Gräfin wurde
getroffen . Wovon ſie aber wirklich getroffen wurde ,
das waren die Worte , die Verwünſchungen , die her¬
aufklangen . Endlich erſchien der Graf ſelbſt . Er
war vollkommen gefaßt und verleugnete keinen Augen¬
blick den Kavalier . Es währte jedoch lang' , eh' die
Straße geſäubert werden konnte . Sind wir bereits
dahin gekommen ? Emeute , Krawall . Und das im
Lande Preußen , unter den Augen Seiner Majeſtät . “
„ Und ſpeziell uns wird man für dieſe Ge¬
ſchehniſſe verantwortlich machen , “ unterbrach Alvensleben ,
„ſpeziell uns von den Gensdarmes . Man weiß , daß
wir dieſe Liebedienerei gegen Frankreich mißbilligen ,
von der wir ſchließlich nichts haben als geſtohlene
Provinzen . Alle Welt weiß , wie wir dazu ſtehen ,
auch bei Hofe weiß mans , und man wird nicht
ſäumen , uns dieſe Zuſammenrottung in die Schuh zu
ſchieben . “
„ Ein Anblick für Götter , “ ſagte Sander . „ Das
Regiment Gensdarmes unter Anklage von Hochver¬
rat und Krawall . “
„ Und nicht mit Unrecht , “ fuhr Bülow in jetzt
wirklicher Erregung dazwiſchen . „ Nicht mit Unrecht ,
ſag' ich . Und das witzeln Sie nicht fort , Sander .
Warum führen die Herren , die jeden Tag klüger ſein
wollen , als der König und ſeine Miniſter , warum
führen ſie dieſe Sprache ? Warum politiſieren ſie ?
Ob eine Truppe politiſieren darf , ſtehe dahin , aber
wenn ſie politiſiert , ſo politiſiere ſie wenigſtens rich¬
tig . Endlich ſind wir jetzt auf dem rechten Weg ,
endlich ſtehen wir da , wo wir von Anfang an hätten
ſtehen ſollen , endlich hat Seine Majeſtät den Vor¬
ſtellungen der Vernunft Gehör gegeben und was ge¬
ſchieht ? Unſere Herren Offiziere , deren drittes Wort
der König und ihre Loyalität iſt , und denen doch
immer nur wohl wird , wenn es nach Rußland und
Juchten und recht wenig nach Freiheit riecht , unſere Herren
Offiziere , ſag' ich , gefallen ſich plötzlich in einer ebenſo
naiven wie gefährlichen Oppoſitionsluſt , und fordern
durch ihr keckes Thun und ihre noch keckeren Worte
den Zorn des kaum beſänftigten Imperators heraus .
Dergleichen verpflanzt ſich dann leicht auf die Gaſſe .
Die Herren vom Regiment Gensdarmes werden frei¬
lich den Stein nicht ſelber heben , der ſchließlich bis
an den Theetiſch der Gräfin fliegt , aber ſie ſind doch
die moraliſchen Urheber dieſes Krawalles , ſie haben
die Stimmung dazu gemacht . “
„ Nein , dieſe Stimmung war da . “
„ Gut. Vielleicht war ſie da . Aber wenn ſie
da war , ſo galt es , ſie zu bekämpfen , nicht aber ſie
zu nähren . Nähren wir ſie , ſo beſchleunigen wir
unſern Untergang . Der Kaiſer wartet nur auf eine
Gelegenheit , wir ſind mit vielen Poſten in ſein Schuld¬
buch eingetragen , und zählt er erſt die Summe , ſo
ſind wir verloren . “
„ Glaubs nicht , “ antwortete Schach . „ Ich ver¬
mag Ihnen nicht zu folgen , Herr v. Bülow . “
„ Was ich beklage . “
„ Ich deſto weniger . Es trifft ſich bequem für
Sie , daß Sie mich und meine Kameraden über Lan¬
des- und Königstreue belehren und aufklären dürfen ,
denn die Grundſätze , zu denen Sie ſich bekennen , ſind
momentan obenauf . Wir ſtehen jetzt nach Ihrem Wunſch
und allerhöchſtem Willen am Tiſche Frankreichs und
leſen die Broſamen auf , die von des Kaiſers Tiſche
fallen . Aber auf wie lange ? Der Staat Friedrichs
des Großen muß ſich wieder auf ſich ſelbſt beſinnen . “
„ So ers nur thäte , “ replizierte Bülow . „ Aber
das verſäumt er eben . Iſt dies Schwanken , dies
immer noch halbe Stehen zu Rußland und Öſter¬
reich , das uns dem Empereur entfremdet , iſt das
Fridericianiſche Politik ? Ich frage Sie ? “
„ Sie mißverſtehen mich . “
„ So bitt ich , mich aus dem Mißverſtändnis zu
reißen . “
„ Was ich wenigſtens verſuchen will . . Übrigens
wollen Sie mich mißverſtehen , Herr v. Bülow .
Ich bekämpfe nicht das franzöſiſche Bündnis , weil es
ein Bündnis iſt , auch nicht deshalb , weil es nach
Art aller Bündniſſe darauf aus iſt , unſere Kraft zu
dieſem oder jenem Zweck zu doublieren . O , nein ;
wie könnt' ich ? Allianzen ſind Mittel , deren jede
Politik bedarf ; auch der große König hat ſich dieſer
Mittel bedient und innerhalb dieſer Mittel beſtändig
gewechſelt . Aber nicht gewechſelt hat er in ſeinem
Endzweck . Dieſer war unverrückt : ein ſtarkes und
ſelbſtändiges Preußen . Und nun frag' ich Sie , Herr
v. Bülow , iſt das , was uns Graf Haugwitz heim¬
gebracht hat , und was ſich Ihrer Zuſtimmung ſo
ſehr erfreut , iſt das ein ſtarkes und ſelbſtändiges
Preußen ? Sie haben mich gefragt , nun frag ich
Sie . “
2. Kapitel .
„ Die Weihe der Kraft . “
B ülow , deſſen Züge den Ausdruck einer äußer¬
ſten Überheblichkeit anzunehmen begannen ,
wollte replizieren , aber Frau v. Carayon
unterbrach und ſagte : „ Lernen wir etwas aus der
Politik unſerer Tage : wo nicht Friede ſein kann , da
ſei wenigſtens Waffenſtillſtand . Auch hier . . Und
nun raten Sie , lieber Alvensleben , wer heute hier
war , uns ſeinen Beſuch zu machen ? Eine Berühmt¬
heit . Und von der Rahel Lewin uns zugewieſen . “
„ Alſo der Prinz , “ ſagte Alvensleben .
„ O nein , berühmter , oder doch wenigſtens tages¬
berühmter . Der Prinz iſt eine etablierte Celebrität ,
und Celebritäten , die zehn Jahre gedauert haben ,
ſind keine mehr . . Ich will Ihnen übrigens zu Hilfe
kommen , es geht ins Litterariſche hinüber , und ſo
möcht' ich denn auch annehmen , daß uns Herr Sander
das Rätſel löſen wird . “
„ Ich will es wenigſtens verſuchen , gnädigſte Frau ,
wobei mir Ihr Zutrauen vielleicht eine gewiſſe Weihe¬
kraft , oder ſagen wirs lieber rund heraus , eine gewiſſe
,Weihe der Kraft ' verleihen wird . “
„ O vorzüglich . Ja , Zacharias Werner war hier .
Leider waren wir aus , und ſo ſind wir denn um den
uns zugedachten Beſuch gekommen . Ich hab es ſehr
bedauert . “
„ Sie ſollten ſich umgekehrt beglückwünſchen , einer
Enttäuſchung entgangen zu ſein “ nahm Bülow das Wort .
„Es iſt ſelten , daß die Dichter der Vorſtellung entſprechen ,
die wir uns von ihnen machen . Wir erwarten einen Olym¬
pier , einen Nektar- und Ambroſia- und ſehen ſtatt
deſſen einen Gourmand einen Putenbraten verzehren ;
wir erwarten Mitteilungen aus ſeiner geheimſten
Zwieſprach mit den Göttern und hören ihn von
ſeinem letzten Orden erzählen oder wohl gar die aller¬
gnädigſten Worte zitieren , die Sereniſſimus über das
jüngſte Kind ſeiner Muſe geäußert hat . Vielleicht
auch Sereniſſima , was immer das denkbar Albernſte
bedeutet “ .
„ Aber doch ſchließlich nichts Alberneres , als das
Urteil ſolcher , die den Vorzug haben , in einem
Stall oder einer Scheune geboren zu ſein , “ ſagte
Schach ſpitz .
„ Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern , mein ſehr
verehrter Herr v. Schach , auch auf dieſem Gebiete
widerſprechen . Der Unterſchied , den Sie bezweifeln ,
iſt wenigſtens nach meinen Erfahrungen thatſächlich
vorhanden , und zwar , wie Sie mir zu wiederholen
geſtatten wollen , zu Nicht -Gunſten von Sereniſſimus .
In der Welt der kleinen Leute ſteht das Urteil an
und für ſich nicht höher , aber die verlegene Beſcheiden¬
heit , darin ſichs kleidet und das ſtotternde Schlechte-
Gewiſſen , womit es zu Tage tritt , haben allemal
etwas Verſöhnendes . Und nun ſpricht der Fürſt !
Er iſt der Geſetzgeber ſeines Landes in all und jedem ,
in Großem und Kleinem , alſo natürlich auch in Äſthe¬
ticis . Wer über Leben und Tod entſcheidet , ſollte
der nicht auch über ein Gedichtchen entſcheiden können ?
Ah , bah ! Er mag ſprechen was er will , es ſind
immer Tafeln direkt vom Sinai . Ich habe ſolche
zehn Gebote mehr als einmal verkünden hören , und
weiß ſeitdem was es heißt : regarder dans le Néant . “
„ Und doch ſtimm' ich der Mama bei , “ bemerkte
Victoire , der daran lag das Geſpräch auf ſeinen An¬
fang , auf das Stück und ſeinen Dichter alſo zurückzuführen .
„ Es wäre mir wirklich eine Freude geweſen , den
‚ tagesberühmten Herrn ‘ , wie Mama ihn einſchränkend
genannt hat , kennen zu lernen . Sie vergeſſen , Herr
von Bülow , daß wir Frauen ſind , und daß wir als
ſolche ein Recht haben , neugierig zu ſein . An einer
Berühmtheit wenig Gefallen zu finden , iſt ſchließlich
immer noch beſſer , als ſie garnicht geſehen zu haben . “
„ Und wir werden ihn in der That nicht mehr
ſehen , in aller Beſtimmtheit nicht , “ fügte Frau v. Ca¬
rayon hinzu . „ Er verläßt Berlin in den nächſten
Tagen ſchon und war überhaupt nur hier , um den
erſten Proben ſeines Stückes beizuwohnen . “
„ Was alſo heißt “ warf Alvensleben , ein „ daß
an der Aufführung ſelbſt nicht länger mehr zu
zweifeln iſt . “
„ Ich glaube , nein . Man hat den Hof dafür zu
gewinnen oder wenigſtens alle beigebrachten Bedenken
niederzuſchlagen gewußt . “
„ Was ich unbegreiflich finde , “ fuhr Alvensleben
fort . „ Ich habe das Stück geleſen . Er will Luther
verherrlichen , und der Pferdefuß des Jeſuitismus guckt
überall unter dem ſchwarzen Doktormantel hervor .
Am rätſelhafteſten aber iſt es mir , daß ſich Iffland
dafür intereſſiert , Iffland ein Freimaurer . “
„ Woraus ich einfach ſchließen möchte , daß er die
Hauptrolle hat , “ erwiderte Sander . „ Unſere Prinzipien
dauern gerade ſo lauge lange , bis ſie mit unſern Leiden¬
ſchaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten und ziehen
dann jedesmal den kürzeren . Er wird den Luther
ſpielen wollen . Und das entſcheidet . “
„ Ich bekenne , daß es mir widerſtrebt , “ ſagte Vic¬
toire , „ die Geſtalt Luthers auf der Bühne zu ſehen .
Oder geh' ich darin zu weit ? “
Es war Alvensleben , an den ſich die Frage ge¬
richtet hatte . „ Zu weit ? O , meine teuerſte Victoire ,
gewiß nicht . Sie ſprechen mir ganz aus dem Herzen .
Es ſind meine früheſten Erinnerungen , daß ich in
unſerer Dorfkirche ſaß , und mein alter Vater neben
mir , der alle Geſangbuchsverſe mitſang . Und links
neben dem Altar , da hing unſer Martin Luther in
ganzer Figur , die Bibel im Arm , die Rechte darauf
gelegt , ein lebensvolles Bild , und ſah zu mir herüber .
Ich darf ſagen , daß dies ernſte Mannesgeſicht an
manchem Sonntage beſſer und eindringlicher zu mir
gepredigt hat als unſer alter Kluckhuhn , der zwar
dieſelben hohen Backenknochen und dieſelben weißen
Päffchen hatte wie der Reformator , aber auch weiter
nichts . Und dieſen Gottesmann , nach dem wir uns
nennen und unterſcheiden , und zu dem ich nie anders
als in Ehrfurcht und Andacht aufgeſchaut habe , den
will ich nicht aus den Kouliſſen oder aus einer Hinter¬
thür treten ſehen . Auch nicht , wenn Iffland ihn giebt ,
den ich übrigens ſchätze , nicht blos als Künſtler , ſon¬
dern auch als Mann von Grundſätzen und guter
preußiſcher Geſinnung . “
„ Pectus facit oratorem , “ verſicherte Sander und
Victoire jubelte . Bülow aber , der nicht gern neue
Götter neben ſich duldete , warf ſich in ſeinen Stuhl
zurück und ſagte , während er ſein Kinn und ſeinen
Spitzbart ſtrich : „ Es wird Sie nicht überraſchen , mich
im Diſſens zu finden . “
„ O , gewiß nicht , “ lachte Sander .
„ Nur dagegen möcht' ich mich verwahren , als ob
ich durch einen ſolchen Diſſens irgendwie den Anwalt
dieſes pfäffiſchen Zacharias Werner zu machen gedächte ,
der mir in ſeinen myſtiſch-romantiſchen Tendenzen ein¬
fach zuwider iſt . Ich bin Niemandes Anwalt . . . . “
„ Auch nicht Luthers ? “ fragte Schach ironiſch .
„ Auch nicht Luthers ! “
„ Ein Glück , daß er deſſen entbehren kann ..... “
„ Aber auf wie lange ? “ fuhr Bülow ſich auf¬
richtend fort . „ Glauben Sie mir , Herr v. Schach ,
auch er iſt in der Decadence , wie ſo viel anderes mit
ihm , und über ein Kleines wird keine Generalanwalt¬
ſchaft der Welt ihn halten können . “
„ Ich habe Napoleon von einer , Epiſode Preußen ‘
ſprechen hören , “ erwiderte Schach . „ Wollen uns die
Herren Neuerer , und Herr v. Bülow an ihrer Spitze ,
vielleicht auch mit einer ‚ Epiſode Luther ‘ beglücken ? “
„ Es iſt ſo . Sie treffen es . Übrigens ſind nicht
wir es , die dies Epiſodentum ſchaffen wollen . Der¬
gleichen ſchafft nicht der Einzelne , die Geſchichte ſchafft
es . Und dabei wird ſich ein wunderbarer Zuſammen¬
hang zwiſchen der Epiſode Preußen und der Epiſode
2
Luther herausſtellen . Es heißt auch da wieder :
‚ Sage mir , mit wem Du umgehſt , und ich will
Dir ſagen , wer Du biſt . ‘ Ich bekenne , daß
ich die Tage Preußens gezählt glaube , und , wenn
der Mantel fällt , muß der Herzog nach . ‘ Ich über¬
laſſ' es Ihnen , die Rollen dabei zu verteilen . Die
Zuſammenhänge zwiſchen Staat und Kirche werden
nicht genugſam gewürdigt ; jeder Staat iſt in ge¬
wiſſem Sinne zugleich auch ein Kirchenſtaat ; er
ſchließt eine Ehe mit der Kirche , und ſoll dieſe Ehe
glücklich ſein , ſo müſſen beide zu einander paſſen . In
Preußen paſſen ſie zu einander . Und warum ? Weil
beide gleich dürftig angelegt , gleich eng geraten ſind .
Es ſind Kleinexiſtenzen , beide beſtimmt in etwas
Größerem auf- oder unterzugehen . Und zwar bald .
Hannibal ante portas . “
„ Ich glaubte Sie dahin verſtanden zu haben , “
erwiderte Schach , „ daß uns Graf Haugwitz nicht den
Untergang , wohl aber die Rettung und den Frieden
gebracht habe . “
„ Das hat er . Aber er kann unſer Geſchick nicht
wenden , wenigſtens auf die Dauer nicht . Dies Ge¬
ſchick heißt Einverleibung in das Univerſelle . Der
nationale wie der konfeſſionelle Standpunkt ſind
hinſchwindende Dinge , vor allem aber iſt es der
preußiſche Standpunkt und ſein alter ego der lutheriſche .
Beide ſind künſtliche Größen . Ich frage , was be¬
deuten ſie ? welche Miſſionen erfüllen ſie ? Sie ziehen
Wechſel aufeinander , ſie ſind ſich gegenſeitig Zweck
und Aufgabe , das iſt alles . Und das ſoll eine Welt¬
rolle ſein ! Was hat Preußen der Welt geleiſtet ?
Was find' ich , wenn ich nachrechne ? Die Großen
Blauen König Friedrich Wilhelms I . , den eiſernen
Ladeſtock , den Zopf , und jene wundervolle Moral ,
die den Satz erfunden hat , ‚ ich hab' ihn an die
Krippe gebunden , warum hat er nicht gefreſſen ? ‘ “
„ Gut , gut . Aber Luther . . “
„ Nun wohl denn , es geht eine Sage , daß mit
dem Manne von Wittenberg die Freiheit in die Welt
gekommen ſei , und beſchränkte Hiſtoriker haben es dem
norddeutſchen Volke ſo lange verſichert , bis mans
geglaubt hat . Aber was hat er denn in Wahrheit
in die Welt gebracht ? Unduldſamkeit und Hexen¬
prozeſſe , Nüchternheit und Langeweile . Das iſt kein
Kitt für Jahrtauſende . Jener Weltmonarchie , der
nur noch die letzte Spitze fehlt , wird auch eine Welt¬
kirche folgen , denn wie die kleinen Dinge ſich finden
und im Zuſammenhange ſtehen , ſo die großen noch
viel mehr . Ich werde mir den Bühnen-Luther nicht
anſehen , weil er mir in dieſes Herren Zacharias
Werner Verzerrung einfach ein Ding iſt , das mich
ärgert ; aber ihn nicht anſehen , weil es Anſtoß gebe ,
weil es Entheiligung ſei , das iſt mehr als ich
faſſen kann . “
2*
„ Und wir , lieber Bülow , “ unterbrach Frau
v. Carayon , „ wir werden ihn uns anſehen , trotzdem
es uns Anſtoß giebt . Victoire hat Recht , und wenn
bei Iffland die Eitelkeit ſtärker ſein darf als das
Prinzip , ſo bei uns die Neugier . Ich hoffe , Herr
v. Schach und Sie , lieber Alvensleben , werden uns
begleiten . Übrigens ſind ein paar der eingelegten
Lieder nicht übel . Wir erhielten ſie geſtern . Victoire ,
Du könnteſt uns das ein' oder andere davon ſingen . “
„ Ich habe ſie kaum durchgeſpielt . “
„ O , dann bitt' ich um ſo mehr , “ bemerkte Schach .
„Alle Salonvirtuoſität iſt mir verhaßt . Aber was
ich in der Kunſt liebe , das iſt ein ſolches poetiſches
Suchen und Tappen . “
Bülow lächelte vor ſich hin und ſchien ſagen zu
wollen : „ Ein jeder nach ſeinen Mitteln . “
Schach aber führte Victoiren an das Klavier , und
dieſe ſang , während er begleitete .
Die Blüte , ſie ſchläft ſo leis und lind
Wohl in der Wiege von Schnee ;
Einlullt ſie der Winter „ Schlaf ein geſchwind
Du blühendes Kind “
Und das Kind es weint und verſchläft ſein Weh
Und hernieder ſteigen aus duftiger Höh
Die Schweſtern und lieben und blühn . .
Eine kleine Pauſe trat ein , und Frau v. Carayon
fragte : „ Nun , Herr Sander , wie beſteht es vor Ihrer
Kritik ? “ „ Es muß ſehr ſchön ſein , “ antwortete dieſer .
„Ich verſteh es nicht . Aber hören wir weiter . Die
Blüte , die vorläufig noch ſchläft , wird doch wohl mal
erwachen . “
Und kommt der Mai dann wieder ſo lind ,
Dann bricht er die Wiege von Schnee ,
Er ſchüttelt die Blüte „ Wach ‘ auf geſchwind
Du welkendes Kind . “
Und es hebt die Äuglein , es thut ihm weh
Und ſteigt hinauf in die leuchtende Höh
Wo ſtrahlend die Brüderlein blühn .
Ein lebhafter Beifall blieb nicht aus . Aber er
galt ausſchließlich Victoiren und der Kompoſition , und
als ſchließlich auch der Text an die Reihe kam , be¬
kannte ſich Alles zu Sanders ketzeriſchen Anſichten .
Nur Bülow ſchwieg . Er hatte , wie die meiſten
mit Staatenuntergang beſchäftigten Frondeurs , auch
ſeine ſchwachen Seiten , und eine davon war durch
das Lied getroffen worden . An dem halbumwölkten
Himmel draußen funkelten ein paar Sterne , die
Mondſichel ſtand dazwiſchen , und er wiederholte ,
während er durch die Scheiben der hohen Balkonthür
hinaufblickte : „ wo ſtrahlend die Brüderlein blühn . “
Wider Wiſſen und Willen , war er ein Kind
ſeiner Zeit , und romantiſierte .
Noch ein zweites und drittes Lied wurde ge¬
ſungen , aber das Urteil blieb dasſelbe . Dann trennte
man ſich zu nicht allzu ſpäter Stunde .
3. Kapitel .
Bei Sala Tarone .
D ie Turmuhren auf dem Gensdarmenmarkt
ſchlugen elf , als die Gäſte der Frau
v. Carayon auf die Behrenſtraße hinaus¬
traten und nach links einbiegend auf die Linden zu¬
ſchritten . Der Mond hatte ſich verſchleiert , und die
Regenfeuchte , die bereits in der Luft lag und auf
Wetterumſchlag deutete , that allen wohl . An der Ecke
der Linden empfahl ſich Schach , allerhand Dienſtliches
vorſchützend , während Alvensleben , Bülow und Sander
übereinkamen , noch eine Stunde zu plaudern .
„ Aber wo ? “ fragte Bülow , der im Ganzen nicht
wähleriſch war , aber doch einen Abſcheu gegen Lokale
hatte , darin ihm „ Aufpaſſer und Kellner die Kehle
zuſchnürten . “
„ Aber wo ? “ wiederholte Sander . „ Sieh , das
Gute liegt ſo nah , “ und wies dabei auf einen Eck¬
laden , über dem in mäßig großen Buchſtaben zu leſen
ſtand : Italiener- , Wein- und Delikateſſen-Handlung
von Sala Tarone . Da ſchon geſchloſſen war , klopfte
man an die Hausthür , an deren einer Seite ſich ein
Einſchnitt mit einer Klappe befand . Und wirklich ,
gleich darauf öffnete ſichs von innen , ein Kopf er¬
ſchien am Kuckloch , und als Alvenslebens Uniform
über den Charakter der etwas ſpäten Gäſte beruhigt
hatte , drehte ſich innen der Schlüſſel im Schloß , und
alle drei traten ein . Aber der Luftzug , der ging ,
löſchte den Blaker aus , den der Küfer in Händen
hielt , und nur eine ganz im Hintergrunde , dicht über
der Hofthür ſchweelende Laterne , gab gerade noch
Licht genug , um das Gefährliche der Paſſage kennt¬
lich zu machen .
„ Ich bitte Sie , Bülow , was ſagen Sie zu die¬
ſem Defilé , “ brummte Sander , ſich immer dünner
machend , und wirklich hieß es auf der Hut ſein , denn
in Front der zu beiden Seiten liegenden Öl- und
Weinfäſſer , ſtanden Zitronen- und Apfelſinenkiſten ,
deren Deckel nach vorn hin aufgeklappt waren . „ Ach¬
tung , “ ſagte der Küfer . „ Is hier allens voll Pinnen
und Nägel . Habe mir geſtern erſt einen eingetreten . “
„ Alſo auch ſpaniſche Reiter . . O , Bülow ! In
ſolche Lage bringt einen ein militäriſcher Verlag . “
Dieſer Sanderſche Schmerzensſchrei ſtellte die
Heiterkeit wieder her , und unter Tappen und Taſten
war man endlich bis in Nähe der Hofthür gekommen ,
wo , nach rechts hin , einige der Fäſſer weniger dicht
nebeneinander lagen . Hier zwängte man ſich denn
auch durch , und gelangte mit Hilfe von vier oder
fünf ſteilen Stufen in eine mäßig große Hinterſtube ,
die gelb geſtrichen und halbverblakt und nach Art
aller „ Frühſtücksſtuben “ um Mitternacht am vollſten
war . Überall , an niedrigen Panelen hin , ſtanden
lange , längſt eingeſeſſene Lederſophas , mit kleinen
und großen Tiſchen davor , und nur eine Stelle war
da , wo dieſes Mobiliar fehlte . Hier ſtand vielmehr
ein mit Käſten und Realen überbautes Pult , vor
welchem einer der Repräſentanten der Firma tagaus
tagein auf einem Drehſchemel ritt , und ſeine Befehle
( gewöhnlich nur ein Wort ) in einen unmittelbar neben
dem Pult befindlichen Keller hinunterrief , deſſen
Fallthür immer offen ſtand .
Unſere drei Freunde hatten in einer dem Keller¬
loch ſchräg gegenüber gelegenen Ecke Platz genommen ,
und Sander , der grad lange genug Verleger war ,
um ſich auf lukulliſche Feinheiten zu verſtehen , über¬
flog eben die Wein- und Speiſekarte . Dieſe war in
ruſſiſch Leder gebunden , roch aber nach Hummer .
Es ſchien nicht , daß unſer Lukull gefunden hatte ,
was ihm gefiel ; er ſchob alſo die Karte wieder fort
und ſagte : „ Das Geringſte , was ich von einem ſol¬
chen hundstäglichen April erwarten kann , ſind Mai¬
kräuter , Asperula odorata Linnéi . Denn ich hab
auch Botaniſches verlegt . Von dem Vorhandenſein
friſcher Apfelſinen haben wir uns draußen mit Ge¬
fahr unſeres Lebens überzeugt , und für den Moſel
bürgt uns die Firma . “
Der Herr am Pult rührte ſich nicht , aber man
ſah deutlich , daß er mit ſeinem Rücken zuſtimmte ,
Bülow und Alvensleben thaten desgleichen , und
Sander reſolvierte kurz : „ Alſo Maibowle . “
Das Wort war abſichtlich laut und mit der Be¬
tonung einer Ordre geſprochen worden , und im ſelben
Augenblicke ſcholl es auch ſchon vom Drehſtuhl her in
das Kellerloch hinunter „ Fritz ! “ Ein zunächſt nur mit
halber Figur aus der Verſenkung auftauchender , dicker
und kurzhalſiger Junge , wurde , wie wenn auf eine
Feder gedrückt worden wäre , ſofort ſichtbar , über¬
ſprang dienſteifrig , indem er die Hand aufſetzte , die
letzten zwei , drei Stufen und ſtand im Nu vor San¬
der , den er , allem Anſcheine nach , am beſten kannte .
„ Sagen Sie , Fritz , wie verhält ſich die Firma
Sala Tarone zur Maibowle ? “
„ Gut . Sehr gut . “
„ Aber wir haben erſt April , und ſo ſehr ich im
allgemeinen der Mann der Surrogate bin , ſo haſſ'
ich doch eins : die Toncabohne . Die Toncabohne ge¬
hört in die Schnupftabaksdoſe , nicht in die Mai¬
bowle . Verſtanden ? “
„ Zu dienen , Herr Sander . “
„ Gut denn . Alſo Maikräuter . Und nicht lange
ziehen laſſen . Waldmeiſter iſt nicht Kamillenthee .
Der Moſel , ſagen wir ein Zeltlinger oder ein Braune¬
berger , wird langſam über die Büſchel gegoſſen ; das
genügt . Apfelſinenſchnitten als bloßes Ornament .
Eine Scheibe zuviel macht Kopfweh . Und nicht zu
ſüß , und eine Cliquot extra . Extra , ſag ich . Beſſer
iſt beſſer . “
Damit war die Beſtellung beendet und ehe 10
Minuten um waren , erſchien die Bowle , darauf nicht
mehr als drei oder vier Waldmeiſterblättchen ſchwam¬
men , nur gerade genug , den Beweis der Ächtheit zu
führen .
„ Sehen Sie , Fritz , das gefällt mir . Auf mancher
Maibowle ſchwimmt es wie Entengrütze . Und das
iſt ſchrecklich . Ich denke , wir werden Freunde bleiben .
Und nun grüne Gläſer . “
Alvensleben lachte . „ Grüne ? “
„ Ja . Was ſich dagegen ſagen läßt , lieber Al¬
vensleben , weiß ich und laß es gelten . Es iſt in der
That eine Frage , die mich ſeit länger beſchäftigt , und
die , neben anderen , in die Reihe jener Zwieſpalte ge¬
hört , die ſich , wir mögen es anfangen wie wir wollen ,
durch unſer Leben hinziehen . Die Farbe des Weins
geht verloren , aber die Farbe des Frühlings wird
gewonnen , und mit ihr das feſtliche Geſamtkolorit .
Und dies erſcheint mir als der wichtigere Punkt .
Unſer Eſſen und Trinken , ſo weit es nicht der gemei¬
nen Lebensnotdurft dient , muß mehr und mehr zur
ſymboliſchen Handlung werden , und ich begreife Zeiten
des ſpäteren Mittelalters , in denen der Tafelaufſatz
und die Fruchtſchalen mehr bedeuteten , als das Mahl
ſelbſt . “
„ Wie gut Ihnen das kleidet , Sander , “ lachte
Bülow . „ Und doch dank ich Gott , Ihre Kapaunen¬
rechnung nicht bezahlen zu müſſen . “
„ Die Sie ſchließlich doch bezahlen . “
„ Ah , das erſte Mal , daß ich einen dankbaren
Verleger in Ihnen entdecke . Stoßen wir an . . Aber
alle Welt , da ſteigt ja der lange Noſtitz aus der Ver¬
ſenkung . Sehen Sie , Sander , er nimmt gar kein
Ende . . “
Wirklich , es war Noſtitz , der , unter Benutzung
eines geheimen Eingangs , eben die Kellertreppe hinauf¬
ſtolperte , Noſtitz von den Gensdarmes , der längſte
Lieutenant der Armee , der , trotzdem er aus dem Säch¬
ſiſchen ſtammte , ſeiner 6 Fuß 3 Zoll halber ſo ziem¬
lich ohne Widerrede beim Elite-Regiment Gendarmes
eingeſtellt und mit einem verbliebenen kleinen Reſte
von Antagonismus mittlerweile längſt fertig gewor¬
den war . Ein tollkühner Reiter und ein noch toll¬
kühnerer Kour- und Schuldenmacher , war er ſeit
lang ein Allerbeliebteſter im Regiment , ſo beliebt ,
daß ihn ſich der „ Prinz “ , der kein andrer war als
Prinz Louis , bei Gelegenheit der vorjährigen Mobili¬
ſierung , zum Adjutanten erbeten hatte .
Neugierig , woher er komme , ſtürmte man mit
Fragen auf ihn ein , aber erſt als er ſich in dem Leder¬
ſopha zurecht gerückt hatte , gab er Antwort auf all
das , was man ihn fragte . „ Woher ich komme ?
Warum ich bei den Carayons geſchwänzt habe ? Nun ,
weil ich in Franzöſiſch-Buchholz nachſehen wollte , ob
die Störche ſchon wieder da ſind , ob der Kuckuck
ſchon wieder ſchreit , und ob die Schulmeiſters Toch¬
ter noch ſo lange flachsblonde Flechten hat , wie vo¬
riges Jahr . Ein reizendes Kind . Ich laſſe mir immer
die Kirche von ihr zeigen , und wir ſteigen dann in
den Turm hinauf , weil ich eine Paſſion für alte
Glockeninſchriften habe . Sie glauben gar nicht , was
ſich in ſolchem Turme Alles entziffern läßt . Ich zähle
das zu meinen glücklichſten und lehrreichſten Stunden . “
„ Und eine Blondine , ſagten Sie . Dann freilich
erklärt ſich alles . Denn neben einer Prinzeſſin Flachs¬
haar kann unſer Fräulein Victoire nicht beſtehn . Und
nicht einmal die ſchöne Mama , die ſchön iſt , aber doch
am Ende brünett . Und blond geht immer vor ſchwarz . “
„ Ich möchte das nicht geradezu zum Axiom er¬
heben , “ fuhr Noſtitz fort . „ Es hängt doch alles noch
von Nebenumſtänden ab , die hier freilich ebenfalls zu
Gunſten meiner Freundin ſprechen . Die ſchöne Mama ,
wie Sie ſie nennen , wird 37 , bei welcher Addition
ich wahrſcheinlich galant genug bin , ihr ihre vier
Ehejahre halb ſtatt doppelt zu rechnen . Aber das iſt
Schachs Sache , der über kurz oder lang in der Lage
ſein wird , ihren Taufſchein um ſeine Geheimniſſe zu
befragen . “
„ Wie das ? “ fragte Bülow .
„ Wie das ? “ wiederholte Noſtitz . „ Was doch die
Gelehrten , und wenn es gelehrte Militärs wären , für
ſchlechte Beobachter ſind . Iſt Ihnen denn das Ver¬
hältnis zwiſchen Beiden entgangen ? Ein ziemlich vor¬
geſchrittenes , glaub' ich . C'est le premier pas , qui
coûte . . . “
„ Sie drücken ſich etwas dunkel aus , Noſtitz . “
„ Sonſt nicht gerade mein Fehler . “
„ Ich meinerſeits glaube Sie zu verſtehn , “ unter¬
brach Alvensleben . „ Aber Sie täuſchen ſich , Noſtitz ,
wenn Sie daraus auf eine Partie ſchließen . Schach
iſt eine ſehr eigenartige Natur , die , was man auch an
ihr ausſetzen mag , wenigſtens manche pſychologiſche
Probleme ſtellt . Ich habe beiſpielsweiſe keinen Menſchen
kennen gelernt , bei dem alles ſo ganz und gar auf
das Äſthetiſche zurückzuführen wäre , womit es vielleicht
in einem gewiſſen Zuſammenhange ſteht , daß er über¬
ſpannte Vorſtellungen von Intaktheit und Ehe hat .
Wenigſtens von einer Ehe , wie er ſie zu ſchließen
wünſcht . Und ſo bin ich denn wie von meinem Leben
überzeugt , er wird niemals eine Witwe heiraten , auch
die ſchönſte nicht . Könnt' aber hierüber noch irgend
ein Zweifel ſein , ſo würd' ihn ein Umſtand beſeitigen ,
und dieſer eine Umſtand heißt : „ Victoire . “
„ Wie das ? “
„ Wie ſchon ſo mancher Heiratsplan an einer un¬
repräſentablen Mutter geſcheitert iſt , ſo würd er hier
an einer unrepräſentablen Tochter ſcheitern . Er fühlt
ſich durch ihre mangelnde Schönheit geradezu geniert ,
und erſchrickt vor dem Gedanken , ſeine Normalität ,
wenn ich mich ſo ausdrücken darf , mit ihrer Unnorma¬
lität in irgend welche Verbindung gebracht zu ſehen .
Er iſt krankhaft abhängig , abhängig bis zur Schwäche ,
von dem Urteile der Menſchen , ſpeziell ſeiner Standes¬
genoſſen , und würde ſich jederzeit außer Stande
fühlen , irgend einer Prinzeſſin oder auch nur einer
hochgeſtellten Dame , Victoiren als ſeine Tochter vor¬
zuſtellen . “
„ Möglich . Aber dergleichen läßt ſich vermeiden . “
„ Doch ſchwer . Sie zurückzuſetzen , oder ganz ein¬
fach als Aſchenbrödel zu behandeln , das widerſtreitet
ſeinem feinen Sinn , dazu hat er das Herz zu ſehr
auf dem rechten Fleck . Auch würde Frau v. Carayon
das einfach nicht dulden . Denn ſo gewiß ſie Schach
liebt , ſo gewiß liebt ſie Victoire , ja , ſie liebt dieſe
noch um ein gut Teil mehr . Es iſt ein abſolut
ideales Verhältnis zwiſchen Mutter und Tochter , und
gerade dies Verhältnis iſt es , was mir das Haus ſo
wert gemacht hat und noch macht . “
„ Alſo begraben wir die Partie , “ ſagte Bülow .
„Mir perſönlich zu beſondrer Genugthuung und Freude ,
denn ich ſchwärme für dieſe Frau . Sie hat den
ganzen Zauber des Wahren und Natürlichen , und
ſelbſt ihre Schwächen ſind reizend und liebenswürdig .
Und daneben dieſer Schach ! Er mag ſeine Meriten
haben , meinetwegen , aber mir iſt er nichts als ein
Pedant und Wichtigthuer , und zugleich die Ver¬
körperung jener preußiſchen Beſchränktheit , die nur
drei Glaubensartikel hat : erſtes Hauptſtück „ die Welt
ruht nicht ſichrer auf den Schultern des Atlas , als
der preußiſche Staat auf den Schultern der preußiſchen
Armee “ , zweites Hauptſtück „ der preußiſche Infanterie¬
angriff iſt unwiderſtehlich “ , und drittens und letztens
„eine Schlacht iſt nie verloren , ſo lange das Regiment
Garde du Corps nicht angegriffen hat “ . Oder natür¬
lich auch das Regiment Gensdarmes . Denn ſie ſind
Geſchwiſter , Zwillingsbrüder . Ich verabſcheue ſolche
Redensarten , und der Tag iſt nahe , wo die Welt die
Hohlheit ſolcher Rodomontaden erkennen wird . “
„ Und doch unterſchätzen Sie Schach . Er iſt
immerhin einer unſerer Beſten . “
„ Um ſo ſchlimmer . “
„ Einer unſrer Beſten , ſag ich , und wirklich ein
Guter . Er ſpielt nicht blos den Ritterlichen , er iſt
es auch . Natürlich auf ſeine Weiſe . Jedenfalls trägt
er ein ehrliches Geſicht und keine Maske “ .
„ Alvensleben hat Recht , “ beſtätigte Noſtitz . „ Ich
nicht habeviel für ihn übrig , aber das iſt wahr , alles
an ihm iſt echt , auch ſeine ſteife Vornehmheit , ſo lang¬
weilig und ſo beleidigend ich ſie finde . Und darin
unterſcheidet er ſich von uns . Er iſt immer er ſelbſt ,
gleichviel ob er in den Salon tritt , oder vorm Spiegel
ſteht , oder beim Zubettegehn ſich ſeine ſaffranfarbenen
Nachthandſchuh anzieht . Sander , der ihn nicht liebt
ſoll entſcheiden und das letzte Wort über ihn haben . “
„ Es iſt keine drei Tage , “ hob dieſer an , „ daß ich
in der Haude und Spenerſchen geleſen , der Kaiſer
von Braſilien habe den Heiligen Antonius zum Obriſt¬
lieutenant befördert und ſeinen Kriegsminiſter an¬
gewieſen , beſagtem Heiligen die Löhnung bis auf
Weiteres gut zu ſchreiben . Welche Gutſchreibung mir
einen noch größeren Eindruck gemacht hat , als die
Beförderung . Aber gleichviel . In Tagen derartiger
Ernennungen und Beförderungen , wird es nicht auf¬
fallen , wenn ich die Gefühle dieſer Stunde , zugleich
aber den von mir geforderten Entſcheid und Richter¬
ſpruch , in die Worte zuſammenfaſſe : Seine Majeſtät
der Rittmeiſter von Schach , er lebe hoch . “
„ O , vorzüglich Sander , “ ſagte Bülow , „ damit
haben Sies getroffen . Die ganze Lächerlichkeit auf
einen Schlag . Der kleine Mann in den großen
Stiefeln ! Aber meinetwegen , er lebe ! “
„ Da haben wir denn zum Überfluß auch noch
die Sprache von „ Sr. Majeſtät getreuſter Oppoſition , “
antwortete Sander , und erhob ſich . „ Und nun Fritz ,
die Rechnung . Erlauben die Herren , daß ich das
Geſchäftliche arrangiere . “
„ In beſten Händen , “ ſagte Noſtitz .
Und fünf Minuten ſpäter traten alle wieder ins
Freie . Der Staub wirbelte vom Thor her die Linden
herauf , augenſcheinlich war ein ſtarkes Gewitter im
Anzug , und die erſten großen Tropfen fielen bereits .
„ Hâtez-vous . ‟
Und Jeder folgte der Weiſung und mühte ſich ,
ſo raſch wie möglich und auf nächſtem Wege ſeine
Wohnung zu erreichen .
3
4. Kapitel .
In Tempelhof .
D er nächſte Morgen ſah Frau von Carayon
und Tochter in demſelben Eckzimmer , in
dem ſie den Abend vorher ihre Freunde
bei ſich empfangen hatten . Beide liebten das
Zimmer , und gaben ihm auf Koſten aller andern
den Vorzug . Es hatte drei hohe Fenſter , von
denen die beiden unter einander im rechten Winkel
ſtehenden auf die Behren- und Charlottenſtraße
ſahen , während das dritte , thürartige , das ganze ,
breit abgeſtumpfte Eck einnahm , und auf einen
mit einem vergoldeten Rokoko-Gitter eingefaßten Balkon
hinausführte . Sobald es die Jahreszeit erlaubte ,
ſtand dieſe Balkonthür offen , und geſtattete , von beinah
jeder Stelle des Zimmers aus , einen Blick auf das
benachbarte Straßentreiben , das , der ariſtokratiſchen
Gegend unerachtet , zu mancher Zeit ein beſonders
belebtes war , am meiſten um die Zeit der Frühjahrs¬
paraden , wo nicht blos die berühmten alten Infanterie¬
regimenter der Berliner Garniſon , ſondern , was für
die Carayons wichtiger war , auch die Regimenter
der Garde du Corps und Gensdarmes unter dem
Klang ihrer ſilbernen Trompeten an dem Hauſe
vorüberzogen . Bei ſolcher Gelegenheit ( wo ſich dann
ſelbſtverſtändlich die Augen der Herrn Offiziers zu
dem Balkon hinaufrichteten ) hatte das Eckzimmer erſt
ſeinen eigentlichen Werth , und hätte gegen kein anderes
vertauſcht werden können .
Aber es war auch an ſtillen Tagen ein reizendes
Zimmer , vornehm und gemütlich zugleich . Hier lag
der türkiſche Teppich , der noch die glänzenden , faſt
ein halbes Menſchenalter zurückliegenden Petersburger
Tage des Hauſes Carayon geſehen hatte , hier ſtand
die malachitne Stutzuhr , ein Geſchenk der Kaiſerin
Katharina , und hier paradierte vor allem auch der
große , reich vergoldete Trumeau , der der ſchönen Frau
täglich aufs Neue verſichern mußte , daß ſie noch eine
ſchöne Frau ſei . Victoire ließ zwar keine Gelegenheit
vorübergehn , die Mutter über dieſen wichtigen Punkt
zu beruhigen , aber Frau von Carayon war doch klug
genug , es ſich jeden Morgen durch ihr von ihr ſelbſt
zu kontrolierendes Spiegelbild neu beſtätigen zu laſſen .
3*
Ob ihr Blick in ſolchem Momente zu dem Bilde des
mit einem roten Ordensband in ganzer Figur über
dem Sopha hängenden Herrn v. Carayon hinüber¬
glitt , oder ob ſich ihr ein ſtattlicheres Bild vor die
Seele ſtellte , war für Niemanden zweifelhaft , der die
häuslichen Verhältniſſe nur einigermaßen kannte . Denn
Herr v. Carayon war ein kleiner , ſchwarzer Kolonie¬
franzoſe geweſen , der außer einigen in der Nähe von
Bordeaux lebenden vornehmen Carayons und einer
ihn mit Stolz erfüllenden Zugehörigkeit zur Legation ,
nichts Erhebliches in die Ehe mitgebracht hatte . Am
wenigſten aber männliche Schönheit .
Es ſchlug elf , erſt draußen , dann in dem Eck¬
zimmer , in welchem beide Damen an einem Tapiſſerie¬
rahmen beſchäftigt waren . Die Balkonthür war weit
auf , denn trotz des Regens , der bis an den Morgen
gedauert hatte , ſtand die Sonne ſchon wieder hell am
Himmel und erzeugte ſo ziemlich dieſelbe Schwüle ,
die ſchon den Tag vorher geherrſcht hatte . Victoire
blickte von ihrer Arbeit auf und erkannte den Schach'ſchen
kleinen Groom , der mit Stulpenſtiefeln und zwei
Farben am Hut , von denen ſie zu ſagen liebte , daß
es die Schach'ſchen „ Landesfarben “ ſeien , die Charlotten¬
ſtraße heraufkam .
„ O ſieh nur , “ ſagte Victoire „ da kommt Schachs
kleiner Ned . Und wie wichtig er wieder thut ! Aber
er wird auch zu ſehr verwöhnt , und immer mehr
eine Puppe . Was er nur bringen mag ? “
Ihre Neugier ſollte nicht lange unbefriedigt bleiben .
Schon einen Augenblick ſpäter hörten beide die Klingel
gehn , und ein alter Diener in Gamaſchen , der noch
die vornehmen Petersburger Tage miterlebt hatte , trat
ein , um auf einem ſilbernen Tellerchen ein Billet zu
überreichen . Victoire nahm es . Es war an Frau
von Carayon adreſſiert .
„ An Dich Mama . “
„ Lies nur , “ ſagte dieſe .
„ Nein , Du ſelbſt ; ich hab eine Scheu vor Ge¬
heimniſſen . “
„ Närrin , “ lachte die Mutter und erbrach das
Billet und las : „ Meine gnädigſte Frau . Der Regen
der vorigen Nacht hat nicht nur die Wege gebeſſert ,
ſondern auch die Luft . Alles in allem ein ſo ſchöner
Tag , wie ſie der April uns Hyperboreern nur ſelten
gewährt . Ich werde 4 Uhr mit meinem Wagen vor
Ihrer Wohnung halten , um Sie und Fräulein Victoire
zu einer Spazierfahrt abzuholen . Über das Ziel
erwarte ich Ihre Befehle . Wiſſen Sie doch wie glücklich
ich bin , Ihnen gehorchen zu können . Bitte Beſcheid
durch den Überbringer . Er iſt gerade firm genug im
Deutſchen , um ein „ ja “ oder „ nein “ nicht zu ver¬
wechſeln . Unter Gruß und Empfehlungen an meine
liebe Freundin Victoire ( die zu größerer Sicherheit
vielleicht eine Zeile ſchreibt ) Ihr Schach . “
„ Nun , Victoire , was laſſen wir ſagen . . ? “
„ Aber Du kannſt doch nicht ernſthaft fragen
Mama ? “
„ Nun denn alſo , ja ‘ . “
Victoire hatte ſich mittlerweile bereits an den
Schreibtiſch geſetzt , und ihre Feder kritzelte : „ Herzlichſt
acceptiert , trotzdem die Ziele vorläufig im Dunkeln
bleiben . Aber iſt der Entſcheidungsmoment erſt da ,
ſo wird er uns auch das Richtige wählen laſſen . “
Frau von Carayon las über Victoires Schulter
fort . „ Es klingt ſo vieldeutig , “ ſagte ſie .
„ So will ich ein bloßes Ja ſchreiben , und Du
kontraſignierſt . “
„ Nein ; laß es nur . “
Und Victoire ſchloß das Blatt , und gab es dem
draußen wartendem Groom .
Als ſie vom Flur her in das Zimmer zurück¬
kehrte , fand ſie die Mama nachdenklich . „ Ich liebe
ſolche Pikanterien nicht , und am wenigſten ſolche
Rätſelſätze . “
„ Du dürfteſt ſie auch nicht ſchreiben . Aber ich ?
Ich darf alles . Und nun höre mich . Es muß etwas
geſchehen , Mama . Die Leute reden ſo viel , auch
ſchon zu mir , und da Schach immer noch ſchweigt
und Du nicht ſprechen darfſt , ſo muß ich es thun
ſtatt Eurer und Euch verheiraten . Alles in der Welt
kehrt ſich einmal um . Sonſt verheiraten Mütter ihre
Tochter , hier liegt es anders , und ich verheirate Dich .
Er liebt Dich und Du liebſt ihn . In den Jahren
ſeid ihr gleich , und ihr werdet das ſchönſte Paar ſein ,
das ſeit Menſchengedenken im fränzöſiſchen Dom oder
in der Dreifaltigkeitskirche getraut wurde . Du ſiehſt ,
ich laſſe Dir wenigſtens hinſichtlich der Prediger und
der Kirche die Wahl ; mehr kann ich nicht thun in
dieſer Sache . Daß Du mich mit in die Ehe bringſt ,
iſt nicht gut , aber auch nicht ſchlimm . Wo viel Licht
iſt , iſt viel Schatten . “
Frau von Carayons Auge wurde feucht . „ Ach
meine ſüße Victoire , Du ſiehſt es anders , als es
liegt . Ich will Dich nicht mit Bekenntniſſen über¬
raſchen , und in bloßen Andeutungen zu ſprechen , wie
Du gelegentlich liebſt , widerſtreitet mir . Ich mag
auch nicht philoſophieren . Aber das laß Dir ſagen ,
es liegt alles vorgezeichnet in uns , und was Urſach
ſcheint , iſt meiſt ſchon wieder Wirkung und Folge .
Glaube mir , Deine kleine Hand wird das Band
nicht knüpfen , das Du knüpfen möchteſt . Es geht
nicht , es kann nicht ſein . Ich weiß es beſſer . Und
warum auch ? Zuletzt lieb' ich doch eigentlich nur Dich . “
Ihr Geſpräch wurde durch das Erſcheinen einer
alten Dame , Schweſter des verſtorbenen Herrn
von Carayon , unterbrochen , die jeden Dienſtag ein für
allemal zu Mittag geladen war , und unter „ zu Mit¬
tag “ pünktlicherweiſe zwölf Uhr verſtand , trotzdem
ſie wußte , daß bei den Carayons erſt um drei Uhr
gegeſſen wurde . Tante Marguerite , das war ihr
Name , war noch eine echte Koloniefranzöſin , d. h.
eine alte Dame , die das damalige , ſich faſt ausſchlie߬
lich im Dativ bewegende Berliniſch mit geprüntem
Munde ſprach , das ü dem i vorzog , entweder „ Kür¬
ſchen “ aß , oder in die „ Kürche “ ging , und ihre Rede
ſelbſtverſtändlich mit franzöſiſchen Einſchiebſeln und
Anredefloskeln garnierte . Sauber und altmodiſch
gekleidet , trug ſie Sommer und Winter denſelben
kleinen Seidenmantel , und hatte jene halbe Verwach¬
ſenheit , die damals bei den alten Koloniedamen ſo
allgemein war , daß Victoire einmal als Kind ge¬
fragt hatte : „ Wie kommt es nur , liebe Mama , daß
faſt alle Tanten ſo , ich weiß nicht wie‘ ſind ? “ Und
dabei hatte ſie eine hohe Schulter gemacht . Zu dem
Seidenmantel Tante Margueritens gehörten auch
noch ein Paar ſeidene Handſchuhe , die ſie ganz be¬
ſonders in Ehren hielt , und immer erſt auf dem
oberſten Treppenabſatz anzog . Ihre Mitteilungen ,
an denen ſies nie fehlen ließ , entbehrten all und
jedes Intereſſes , am meiſten aber dann , wenn ſie ,
was ſie ſehr liebte , von hohen und höchſten Perſonen
ſprach . Ihre Spezialität waren die kleinen Prin¬
zeſſinnen der königlichen Familie : la petite princesse
Charlotte , et la petite princesse Alexandrine , die
ſie gelegentlich in den Zimmern einer ihr befreundeten
franzöſiſchen Erzieherin ſah , und mit denen ſie ſich
derartig liiert fühlte , daß , als eines Tages die Bran¬
denburger Thorwache beim Vorüberfahren von la
princesse Alexandrine verſäumt hatte , rechtzeitig
ins Gewehr zu treten und die Trommel zu rühren ,
ſie nicht nur das allgemeine Gefühl der Empörung
teilte , ſondern das Ereignis überhaupt anſah , als ob
Berlin ein Erdbeben gehabt habe .
Das war das Tantchen , das eben eintrat .
Frau von Carayon ging ihr entgegen und hieß
ſie herzlich willkommen , herzlicher als ſonſt wohl ,
und das einfach deshalb , weil durch ihr Erſcheinen
ein Geſpräch unterbrochen worden war , das ſelbſt
fallen zu laſſen , ſie nicht mehr die Kraft gehabt hatte .
Tante Marguerite fühlte ſofort heraus , wie günſtig
heute die Dinge für ſie lagen , und begann denn auch
in demſelben Augenblicke , wo ſie ſich geſetzt und die
Seidenhandſchuh in ihren Pompadour geſteckt hatte ,
ſich dem hohen Adel königlicher Reſidenzien zuzuwen¬
den , diesmal mit Umgehung der „ Allerhöchſten Herr¬
ſchaften “ . Ihre Mitteilungen aus der Adelsſphäre waren
ihren Hofanekdoten in der Regel weit vorzuziehn ,
und hätten ein für allemal paſſieren können , wenn
ſie nicht die Schwäche gehabt hätte , die doch immer¬
hin wichtige Perſonalfrage mit einer äußerſten Ge¬
ringſchätzung zu behandeln . Mit andern Worten ,
ſie verwechſelte beſtändig die Namen , und wenn ſie
von einer Escapade der Baronin Stieglitz erzählte ,
ſo durfte man ſicher ſein , daß ſie die Gräfin Taube
gemeint hatte . Solche Neuigkeiten eröffneten denn
auch das heutige Geſpräch , Neuigkeiten , unter denen
die , „ daß der Rittmeiſter von Schenk vom Regiment
Garde du Corps der Prinzeſſin von Croy eine Sere¬
nade gebracht habe “ die weitaus wichtigſte war , ganz
beſonders als ſich nach einigem Hin- und Herfragen
herausſtellte , daß der Rittmeiſter von Schenk in den
Rittmeiſter von Schach , das Regiment Garde du Corps
in das Regiment Gensdarmes , und die Prinzeſſin
von Croy in die Prinzeſſin von Carolath zu transpo¬
nieren ſei . Solche Richtigſtellungen wurden von
Seiten der Tante jedesmal ohne jede Spur von Ver¬
legenheit entgegengenommen , und ſolche Verlegenheit
kam ihr denn auch heute nicht , als ihr , zum Schluß
ihrer Geſchichte , mitgeteilt wurde , daß der Rittmeiſter
von Schenk alias Schach noch im Laufe dieſes Nach¬
mittags erwartet werde , da man eine Fahrt über
Land mit ihm verabredet habe . Vollkommener Kava¬
lier wie er ſei , werde er ſich ſicherlich freuen , eine
liebe Verwandte des Hauſes an dieſer Ausfahrt mit
teilnehmen zu ſehen . Eine Bemerkung , die von Tante
Marguerite ſehr wohlwollend aufgenommen und von
einem unwillkürlichen Zupfen an ihrem Taftkleide be¬
gleitet wurde .
Um Punkt drei war man zu Tiſche gegangen und
um Punkt vier — l'exactitude est la politesse des
rois , würde Bülow geſagt haben — erſchien eine zu¬
rückgeſchlagene Halbchaiſe vor der Thür in der Behren¬
ſtraße . Schach , der ſelbſt fuhr , wollte die Zügel dem
Groom geben , beide Carayons aber grüßten ſchon
reiſefertig vom Balkon her , und waren im nächſten
Moment mit einer ganzen Ausſtattung von Tüchern ,
Sonnen- und Regenſchirmen unten am Wagenſchlag . Mit
ihnen auch Tante Marguerite , die nunmehr vorgeſtellt
und von Schach mit einer ihm eigentümlichen Miſchung
von Artigkeit und Grandezza begrüßt wurde .
„ Und nun das dunkle Ziel , Fräulein Victoire “ .
„ Nehmen wir Tempelhof , “ ſagte dieſe .
„ Gut gewählt . Nur Pardon , es iſt das undunkelſte
Ziel von der Welt . Namentlich heute . Sonne und
wieder Sonne . “
In raſchem Trabe ging es , die Friedrichsſtraße
hinunter , erſt auf das Rondel und das Halleſche
Thor zu , bis der tiefe Sandweg , der zum Kreuzberg
hinaufführte , zu langſamerem Fahren nötigte . Schach
glaubte ſich entſchuldigen zu müſſen , aber Victoire ,
die rückwärts ſaß und in halber Wendung bequem
mit ihm ſprechen konnte , war , als echtes Stadtkind ,
aufrichtig entzückt über all und jedes , was ſie zu
beiden Seiten des Weges ſah , und wurde nicht müde
Fragen zu ſtellen und ihn durch das Intereſſe , das
ſie zeigte , zu beruhigen . Am meiſten amüſierten ſie
die ſeltſam ausgeſtopften Alt-Weiber-Geſtalten , die
zwiſchen den Sträuchern und Gartenbeeten umher
ſtanden , und entweder eine Strohhutkiepe trugen oder
mit ihren hundert Papilloten im Winde flatterten und
klapperten .
Endlich war man den Abhang hinauf , und über
den feſten Lehmweg hin , der zwiſchen den Pappeln
lief , trabte man jetzt wieder raſcher auf Tempelhof
zu . Neben der Straße ſtiegen Drachen auf , Schwalben
ſchoſſen hin und her , und am Horizonte blitzten die
Kirchthürme der nächſtgelegenen Dörfer .
Tante Marguerite , die , bei dem Winde der ging ,
beſtändig bemüht war , ihren kleinen Mantelkragen in
Ordnung zu halten , übernahm es nichtsdeſtoweniger
den Führer zu machen , und ſetzte dabei beide Cara¬
yonſche Damen ebenſo ſehr durch ihre Namensver¬
wechſelungen , wie durch Entdeckung gar nicht vorhan¬
dener Ähnlichkeiten in Erſtaunen .
„ Sieh , liebe Victoire , dieſer Wülmersdörfer Kürch¬
thürm ! Ähnelt er nicht unſrer Dorotheenſtädtſchen
Kürche ? “
Victoire ſchwieg .
„ Ich meine nicht um ſeiner Spitze , liebe Victoire ,
nein , um ſeinem Corps de Logis . “
Beide Damen erſchraken . Es geſchah aber was
gewöhnlich geſchieht , das nämlich , daß alles das was
die Näherſtehenden in Verlegenheit bringt , von den
Fernerſtehenden entweder überhört oder aber mit
Gleichgiltigkeit aufgenommen wird . Und nun gar
Schach ! Er hatte viel zu lang in der Welt alter
Prinzeſſinnen und Hofdamen gelebt , um noch durch
irgend ein Dummheits- oder Nicht-Bildungszeichen in
ein beſondres Erſtaunen geſetzt werden zu können .
Er lächelte nur , und benutzte das Wort „ Dorotheen¬
ſtädtſche Kirche “ , das gefallen war , um Frau v. Ca¬
rayon zu fragen „ ob ſie ſchon von dem Denkmal
Kenntnis genommen habe , das in ebengenannter Kirche ,
ſeitens des hochſeligen Königs ſeinem Sohne dem
Grafen von der Mark errichtet worden ſei ? “
Mutter und Tochter verneinten . Tante Marguerite
jedoch , die nicht gerne zugeſtand , etwas nicht zu wiſſen
oder wohl gar nicht geſehen zu haben , bemerkte ganz
ins allgemeine hin : „ Ach , der liebe , kleine Prinz .
Daß er ſo früh ſterben mußte . Wie jämmerlich . Und
ähnelte doch ſeiner hochſeligen Frau Mutter um beiden
Augen . “
Einen Augenblick war es , als ob der in ſeinem
Legitimitätsgefühle ſtark verletzte Schach antworten
und den „ von ſeiner hochſeligen Mutter “ gebornen
„lieben kleinen Prinzen “ aufs ſchmählichſte dethroni¬
ſieren wollte , raſch aber überſah er die Lächerlichkeit
ſolcher Idee , wies alſo lieber , um doch wenigſtens
etwas zu thun , auf das eben ſichtbar werdende grüne
Kuppeldach des Charlottenburger Schloſſes hin , und
bog im nächſten Augenblick in die große , mit alten
Linden bepflanzte Dorfgaſſe von Tempelhof ein .
Gleich das zweite Haus war ein Gaſthaus . Er
gab dem Groom die Zügel und ſprang ab , um den
Damen beim Ausſteigen behilflich zu ſein . Aber nur
Frau von Carayon und Victoire nahmen die Hilfe
dankbar an , während Tante Marguerite verbindlich
ablehnte „ weil ſie gefunden habe , daß man ſich auf
ſeinen eigenen Händen immer am beſten verlaſſen
könne “ .
Der ſchöne Tag hatte viele Gäſte hinausgelockt ,
und der von einem Staketenzaun eingefaßte Vorplatz
war denn auch an allen ſeinen Tiſchen beſetzt . Das
gab eine kleine Verlegenheit . Als man aber eben
ſchlüſſig geworden war , in dem Hintergarten , unter
einem halboffenen Kegelbahnhäuschen , den Kaffee zu
nehmen , ward einer der Ecktiſche frei , ſo daß man
in Front des Hauſes , mit dem Blick auf die Dorf¬
ſtraße , verbleiben konnte . Das geſchah denn auch , und
es traf ſich , daß es der hübſcheſte Tiſch war . Aus
ſeiner Mitte wuchs ein Ahorn auf und wenn es auch ,
ein paar Spitzen abgerechnet , ihm vorläufig noch an
allem Laubſchmucke fehlte , ſo ſaßen doch ſchon die
Vögel in ſeinen Zweigen und zwitſcherten . Und nicht
das blos ſah man ; Equipagen hielten in der Mitte der
Dorfſtraße , die Stadtkutſcher plauderten , und Bauern
und Knechte , die mit Pflug und Egge vom Felde herein
kamen , zogen an der Wagenreihe vorüber . Zuletzt
kam eine Heerde , die der Schäferſpitz von rechts und
links her zuſammenhielt , und dazwiſchen hörte man
die Betglocke , die läutete . Denn es war eben die
ſechſte Stunde .
Die Carayons , ſo verwöhnte Stadtkinder ſie
waren , oder vielleicht auch weil ſies waren , enthu¬
ſiasmierten ſich über all und jedes , und jubelten , als
Schach einen Abendſpaziergang in die Tempelhofer
Kirche zur Sprache brachte . Sonnenuntergang ſei
die ſchönſte Stunde . Tante Marguerite freilich , die
ſich „ vor dem unvernünftigen Viehe “ fürchtete , wäre
lieber am Kaffeetiſche zurückgeblieben , als ihr aber der
zu weiterer Beruhigung herbeigerufene Wirt aufs
eindringlichſte verſichert hatte , „ daß ſie ſich um den Bullen
nicht zu fürchten brauche , “ nahm ſie Victoirens Arm
und trat mit dieſer auf die Dorfſtraße hinaus , wäh¬
rend Schach und Frau v. Carayon folgten . Alles ,
was noch an dem Staketenzaune ſaß , ſah ihnen nach .
„ Es iſt nichts ſo fein geſponnen , “ ſagte Frau
v. Carayon und lachte .
Schach ſah ſie fragend an .
„ Ja lieber Freund , ich weiß alles . Und niemand
Geringeres als Tante Marguerite hat uns heute
Mittag davon erzählt . “
„ Wovon ? “
„ Von der Serenade . Die Carolath iſt eine Dame
von Welt , und vor allem eine Fürſtin . Und Sie
wiſſen doch , was Ihnen nachgeſagt wird , , daß Sie
der garſtigſten princesse vor der ſchönſten bougeoise
den Vorzug geben würden . ' Jeder garſtigen Prinzeß
ſag ich . Aber zum Überfluß iſt die Carolath auch
noch ſchön . Un teint de lys et de rose . Sie wer¬
den mich eiferſüchtig machen . “
Schach küßte der ſchönen Frau die Hand . „ Tante
Marguerite hat Ihnen richtig berichtet , und Sie ſollen
nun alles hören . Auch das Kleinſte . Denn , wenn
es mir , wie zugeſtanden , eine Freude gewährt , einen
ſolchen Abend unter meinen Erlebniſſen zu haben , ſo
gewährt es mir doch eine noch größere Freude , mit
meiner ſchönen Freundin darüber plaudern zu können .
Ihre Plaiſanterien , die ſo kritiſch und doch zugleich
ſo voll guten Herzens ſind , machen mir erſt alles
lieb und wert . Lächeln Sie nicht . Ach , daß ich Ihnen
alles ſagen könnte . Theure Joſephine , Sie ſind mir
das Ideal einer Frau : klug und doch ohne Gelehr¬
ſamkeit und Dünkel , espritvoll und doch ohne Moc¬
quanterie . Die Huldigungen , die mein Herz dar¬
bringt , gelten nach wie vor nur Ihnen , Ihnen , der
Liebenswürdigſten und Beſten . Und das iſt Ihr höchſter
Reiz , meine teure Freundin , daß Sie nicht einmal
wiſſen , wie gut Sie ſind und welch ſtille Macht Sie
über mich üben . “
Er hatte faſt mit Bewegung geſpochen , und das
Auge der ſchönen Frau leuchtete , während ihre Hand
in der ſeinen zitterte . Raſch aber nahm ſie den
ſcherzhaften Ton wieder auf und ſagte : „ Wie gut Sie
zu ſprechen verſtehen . Wiſſen Sie wohl , ſo gut ſpricht
man nur aus der Verſchuldung heraus . “
„ Oder aus dem Herzen . Aber laſſen wirs bei
der Verſchuldung , die nach Sühne verlangt . Und zu¬
nächſt nach Beichte . Deshalb kam ich geſtern . Ich
hatte vergeſſen , daß Ihr Empfangsabend war , und
erſchrak faſt , als ich Bülow ſah und dieſen aufgedun¬
ſenen Roturier , den Sander . Wie kommt er nur in
Ihre Geſellſchaft ? “
„ Er iſt der Schatten Bülows . “
„ Ein ſonderbarer Schatten , der dreimal ſchwerer
wiegt als der Gegenſtand , der ihn wirft . Ein wahres
Mammuth . Nur ſeine Frau ſoll ihn noch übertreffen ,
weshalb ich neulich ſpöttiſch erzählen hörte , ‚ Sander ,
wenn er ſeine Brunnenpromenade vorhabe , gehe nur
dreimal um ſeine Frau herum . ‘ Und dieſer Mann
Bülows Schatten ! Wenn Sie lieber ſagten , ſein Sancho
Panſa . . “
„ So nehmen Sie Bülow ſelbſt als Don Quixote ? “
„ Ja , meine Gnädigſte . . Sie wiſſen , daß es
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mir im allgemeinen widerſteht , zu mediſieren , aber
dies iſt au fond nicht mediſieren , iſt eher Schmeichelei .
Der gute Ritter von La Mancha war ein ehrlicher
Enthuſiaſt , und nun frag ich Sie , teuerſte Freundin ,
läßt ſich von Bülow daſſelbe ſagen ? Enthuſiaſt ! Er
iſt ecxentriſch , nichts weiter , und das Feuer , das in
ihm brennt , iſt einfach das einer infernalen Eigenliebe . “
„ Sie verkennen ihn , lieber Schach . Er iſt ver¬
bittert , gewiß ; aber ich fürchte , daß er ein Recht hat ,
es zu ſein . “
„ Wer an krankhafter Überſchätzung leidet , wird
immer tauſend Gründe haben , verbittert zu ſein . Er
zieht von Geſellſchaft zu Geſellſchaft , und predigt die
billigſte der Weisheiten , die Weisheit post festum .
Lächerlich . An allem , was uns das letzte Jahr an
Demütigungen gebracht hat , iſt , wenn man ihn hört ,
nicht der Übermut oder die Kraft unſerer Feinde
ſchuld , o nein , dieſer Kraft würde man mit einer
größeren Kraft unſchwer haben begegnen können , wenn
man ſich unſrer Talente , will alſo ſagen , der Talente
Bülows rechtzeitig verſichert hätte . Das unterließ die
Welt , und daran geht ſie zu Grunde . So geht es
endlos weiter . Darum Ulm und darum Auſterlitz .
Alles hätt ein andres Anſehen gewonnen , ſich anders
zugetragen , wenn dieſem korſiſchen Thron- und Kro¬
nenräuber , dieſem Engel der Finſternis , der ſich Bo¬
naparte nennt , die Lichtgeſtalt Bülows auf dem Schlacht¬
feld entgegengetreten wäre . Mir widerwärtig . Ich
haſſe ſolche Fanfaronaden . Er ſpricht von Braun¬
ſchweig und Hohenlohe wie von lächerlichen Größen ,
ich aber halte zu dem fridericianiſchen Satze , daß die
Welt nicht ſichrer auf den Schultern des Atlas ruht ,
als Preußen auf den Schultern ſeiner Armee . “
Während dieſes Geſpräch zwiſchen Schach und
Frau von Carayon geführt wurde , war das ihnen
voranſchreitende Paar bis an eine Wegſtelle gekommen ,
von der aus ein Fußpfad über ein friſch gepflügtes
Ackerfeld hin ſich abzweigte .
„ Das iſt die Kürche , “ ſagte das Tantchen und
zeigte mit ihrem Paraſol auf ein neugedecktes Turm¬
dach , deſſen Roth aus allerlei Geſtrüpp und Gezweig
hervorſchimmerte . Victoire beſtätigte , was ſich ohne¬
hin nicht beſtreiten ließ , und wandte ſich gleich danach
nach rückwärts , um die Mama durch eine Kopf- und
Handbewegung zu fragen , ob man den hier abzweigen¬
den Fußpfad einſchlagen wolle ? Frau von Carayon
nickte zuſtimmend , und Tante und Nichte ſchritten in
der angedeuteten Richtung weiter . Überall aus dem
braunen Acker ſtiegen Lerchen auf , die hier , noch ehe
die Saat heraus war , ſchon ihr Furchenneſt gebaut
hatten , ganz zuletzt aber kam ein Stück brachliegendes
Feld , das bis an die Kirchhofsmauer lief , und , außer
einer ſpärlichen Grasnarbe , nichts aufwies , als einen
trichterförmigen Tümpel , in dem ein Unkenpaar muſi¬
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zierte , während der Rand des Tümpels in hohen
Binſen ſtand .
„ Sieh , Victoire , das ſind Binſen . “
„ Ja , liebe Tante . “
„ Kannſt Du Dir denken , ma chère , daß , als ich
jung war , die Binſen als kleine Nachtlichter gebraucht
wurden , und auch wirklich ganz ruhig auf einem
Glaſe ſchwammen , wenn man krank war oder auch
bloß nicht ſchlafen konnte . . . “
„ Gewiß , “ ſagte Victoire . „ Jetzt nimmt man
Wachsfädchen , die man zerſchneidet , und in ein Karten¬
ſtückchen ſteckt . “
„ Ganz recht , mein Engelchen . Aber früher waren
es Binſen , des joncs . Und ſie brannten auch . Und
deshalb erzähl' ich es Dir . Denn ſie müſſen doch
ein natürliches Fett gehabt haben , ich möchte ſagen
etwas Kienenes . “
„ Es iſt wohl möglich , “ antwortete Victoire , die
der Tante nie widerſprach , und horchte , während ſie
dies ſagte , nach dem Tümpel hin , in dem das Muſi¬
zieren der Unken immer lauter wurde . Gleich danach
aber ſah ſie , daß ein halberwachſenes Mädchen von der
Kirche her im vollem Lauf auf ſie zukam und mit
einem zottigen weißen Spitz ſich neckte , der bellend
und beißend an der Kleinen empor ſprang . Dabei
warf die Kleine , mitten im Lauf , einen an einem
Strick und einem Klöppel hängenden Kirchenſchlüſſel
in die Luft , und fing ihn ſo geſchickt wieder auf , daß
weder der Schlüſſel noch der Klöppel ihr weh thun
konnte . Zuletzt aber blieb ſie ſtehn und hielt die
linke Hand vor die Augen , weil die niedergehende
Sonne ſie blendete .
„ Biſt Du die Küſterstochter ? “ fragte Victoire .
„ Ja , “ ſagte das Kind .
„ Dann bitte , gieb uns den Schlüſſel oder komm
mit uns und ſchließ uns die Kirche wieder auf . Wir
möchten ſie gerne ſehen , wir und die Herrſchaften da . “
„ Gerne , “ ſagte das Kind und lief wieder vorauf ,
überkletterte die Kirchhofsmauer und verſchwand als¬
bald hinter den Haſelnuß- und Hagebuttenſträuchern ,
die hier ſo reichlich ſtanden , daß ſie , trotzdem ſie noch
kahl waren , eine dichte Hecke bildeten .
Das Tantchen und Victoire folgten ihr und
ſtiegen langſam über verfallene Gräber weg , die der
Frühling noch nirgends mit ſeiner Hand berührt
hatte ; nirgends zeigte ſich ein Blatt , und nur un¬
mittelbar neben der Kirche war eine ſchattig-feuchte
Stelle wie mit Veilchen überdeckt . Victoire bückte
ſich , um haſtig davon zu pflücken , und als Schach
und Frau von Carayon im nächſten Augenblick den
eigentlichen Hauptweg des Kirchhofes heraufkamen ,
ging ihnen Victoire entgegen und gab der Mutter die
Veilchen .
Die Kleine hatte mittlerweile ſchon aufgeſchloſſen
und ſaß wartend auf dem Schwellſtein ; als aber
beide Paare heran waren , erhob ſie ſich raſch und
trat , allen vorauf , in die Kirche , deren Chorſtühle
faſt ſo ſchräg ſtanden , wie die Grabkreuze draußen .
Alles wirkte kümmerlich und zerfallen , der eben ſinkende
Sonnenball aber , der hinter den nach Abend zu
gelegenen Fenſtern ſtand , übergoß die Wände mit einem
rötlichen Schimmer und erneuerte , für Augenblicke
wenigſtens , die längſt blind gewordene Vergoldung
der alten Altarheiligen , die hier noch , aus der
katholiſchen Zeit her , ihr Daſein friſteten . Es konnte
nicht ausbleiben , daß das genferiſch reformierte Tantchen
aufrichtig erſchrak , als ſie dieſer „ Götzen “ anſichtig
wurde , Schach aber , der unter ſeine Liebhabereien
auch die Genealogie zählte , fragte bei der Kleinen
an , ob nicht vielleicht alte Grabſteine da wären ?
„ Einer iſt da , “ ſagte die Kleine . „ Dieſer hier , “
und wies auf ein abgetretenes aber doch noch deut¬
lich erkennbares Steinbild , das aufrecht in einen
Pfeiler , dicht neben dem Altar , eingemauert war . Es
war erſichtlich ein Reiteroberſt .
„ Und wer iſt es ? “ fragte Schach .
„ Ein Tempelritter , “ erwiderte das Kind „ und
hieß der Ritter von Tempelhof . Und dieſen Grab¬
ſtein ließ er ſchon bei Lebzeiten machen , weil er wollte ,
daß er ihm ähnlich werden ſollte . “
Hier nickte das Tantchen zuſtimmend , weil das
Ahnlichkeitsbedürfniß des angeblichen Ritters von
Tempelhof eine verwandte Saite in ihrem Herzen traf .
„ Und er baute dieſe Kirche , “ fuhr die Kleine
fort „ und baute zuletzt auch das Dorf , und nannt es
Tempelhof , weil er ſelber Tempelhof hieß . Und die
Berliner ſagen „ Templow “ . Aber es iſt falſch . “
All das nahmen die Damen in Andacht hin ,
und nur Schach , der neugierig geworden war , fragte
weiter „ ob ſie nicht das ein oder andre noch aus
den Lebzeiten des Ritters wiſſe ? “
„ Nein , aus ſeinen Lebzeiten nicht . Aber nachher . “
Alle horchten auf , am meiſten das ſofort einen
leiſen Gruſel verſpürende Tantchen , die Kleine hin¬
gegen fuhr in ruhigem Tone fort : „ Ob es alles
ſo wahr iſt , wie die Leute ſagen , das weiß ich nicht .
Aber der alte Koſſäthe Maltuſch hat es noch mit
erlebt . “
„ Aber was denn , Kind ? “
„ Er lag hier vor dem Altar über hundert Jahre ,
bis es ihn ärgerte , daß die Bauern und Einſegnungs¬
kinder immer auf ihm herumſtanden , und ihm das
Geſicht abſchurrten , wenn ſie zum Abendmahl gingen .
Und der alte Maltutſch , der jetzt ins 90ſte geht , hat
mir und meinem Vater erzählt , er hab es noch mit
ſeinen eigenen Ohren gehört , daß es mitunter ſo ge¬
poltert und gerollt hätte , wie wenn es drüben über
Schmargendorf donnert . “
„ Wohl möglich . “
„ Aber ſie verſtanden nicht , was das Poltern
und Rollen bedeutete “ fuhr die Kleine fort . „ Und
ſo ging es bis das Jahr , wo der ruſſiſche General ,
deſſen Namen ich immer vergeſſe , hier auf dem Tempel¬
hofer Felde lag . Da kam einen Sonnabend der
vorige Küſter und wollte die Singezahlen wegwiſchen
und neue für den Sonntag anſchreiben . Und nahm
auch ſchon das Kreideſtück . Aber da ſah er mit einem
Male , daß die Zahlen ſchon weggewiſcht und neue
Geſangbuchzahlen und auch die Zahlen von einem
Bibelſpruch , Kapitel und Vers , mit angeſchrieben
waren . Alles altmodiſch und undeutlich , und nur ſo
grade noch zu leſen . Und als ſie nachſchlugen , da
fanden ſie : ‚ Du ſollſt Deinen Todten in Ehren halten
und ihn nicht ſchädigen an ſeinem Antlitz . ‘ Und nun
wußten ſie , wer die Zahlen geſchrieben , und nahmen
den Stein auf , und mauerten ihn in dieſen Pfeiler . “
„ Ich finde doch , “ ſagte Tante Marguerite , die ,
je ſchrecklicher ſie ſich vor Geſpenſtern fürchtete , deſto
lebhafter ihr Vorhandenſein beſtritt , „ ich finde doch ,
die Regierung ſollte mehr gegen dem Aberglauben
thun . “ Und dabei wandte ſie ſich ängſtlich von dem
unheimlichen Steinbild ab , und ging mit Frau
von Carayon , die , was Geſpenſterfurcht anging , mit
dem Tantchen wetteifern konnte , wieder dem Aus¬
gange zu .
Schach folgte mit Victoire , der er den Arm ge¬
reicht hatte .
„ War es wirklich ein Tempelritter ? “ fragte dieſe .
„Meine Tempelritter-Kenntnis beſchränkt ſich freilich
nur auf den einen im ‚ Nathan ,‘ aber wenn unſre
Bühne die Koſtümfrage nicht zu willkürlich behandelt
hat , ſo müſſen die Tempelritter durchaus anders aus¬
geſehen haben . Hab ich Recht ? “
„ Immer Recht , meine liebe Victoire . “ Und der
Ton dieſer Worte traf ihr Herz und zitterte darin
nach , ohne daß ſich Schach deſſen bewußt geweſen
wäre .
„ Wohl . Aber wenn kein Templer , was dann ? “
fragte ſie weiter und ſah ihn zutraulich und doch
verlegen an .
„ Ein Reiteroberſt aus der Zeit des 30jährigen
Krieges . Oder vielleicht auch erſt aus den Tagen
von Fehrbellin . Ich las ſogar ſeinen Namen : Achim
v. Haake . “
„ So halten Sie die ganze Geſchichte für ein
Märchen ? “
„ Nicht eigentlich das , oder wenigſtens nicht in
allem . Es iſt erwieſen , daß wir Templer in dieſem
Lande hatten , und die Kirche hier mit ihren vor¬
gotiſchen Formen mag ſehr wohl bis in jene Templer¬
tage zurückreichen . So viel iſt glaubhaft . “
„ Ich höre ſo gern von dieſem Orden . “
„ Auch ich . Er iſt von der ſtrafenden Hand
Gottes am ſchwerſten heimgeſucht worden und eben
deshalb auch der poetiſchſte und intereſſanteſte . Sie
wiſſen , was ihm vorgeworfen wird : Götzendienſt ,
Verleugnung Chriſti , Laſter aller Art . Und ich fürchte
mit Recht . Aber groß wie ſeine Schuld , ſo groß war
auch ſeine Sühne , ganz deſſen zu geſchweigen , daß
auch hier wieder der unſchuldig Überlebende die
Schuld voraufgegangener Geſchlechter zu büßen hatte .
Das Los und Schickſal aller Erſcheinungen , die ſich ,
auch da noch wo ſie fehlen und irren , dem Alltäglichen
entziehn . Und ſo ſehen wir denn den ſchuldbeladenen
Orden , all ſeiner Unrühmlichkeiten unerachtet , ſchließlich
in einem wiedergewonnenen Glorienſchein zu Grunde
gehen . Es war der Neid , der ihn tötete , der Neid
und der Eigennutz , und ſchuldig oder nicht , mich über¬
wältigt ſeine Größe . “
Victoire lächelte . „ Wer ſie ſo hörte , lieber
Schach , könnte meinen , einen nachgebornen Templer
in Ihnen zu ſehen . Und doch war es ein mönchiſcher
Orden , und mönchiſch war auch ſein Gelübde . Hätten
Sies vermocht als Templer zu leben und zu ſterben ? “
„ Ja . “
„ Vielleicht verlockt durch das Kleid , das noch
kleidſamer war , als die Supra-Weſte der Gensdarmes . “
„ Nicht durch das Kleid , Victoire . Sie verkennen
mich . Glauben Sie mir , es lebt etwas in mir , das
mich vor keinem Gelübde zurückſchrecken läßt . “
„ Um es zu halten ? “
Aber eh er noch antworten konnte , fuhr ſie raſch
in wieder ſcherzhafter werdendem Tone fort : „ Ich
glaube Philipp le Bel hat den Orden auf dem Ge¬
wiſſen . Sonderbar , daß alle hiſtoriſchen Perſonen ,
die den Beinamen des ‚ Schönen ‘ führen , mir un¬
ſympathiſch ſind . Und ich hoffe , nicht aus Neid . Aber
die Schönheit , das muß wahr ſein , macht ſelbſtiſch ,
und wer ſelbſtiſch iſt , iſt undankbar und treulos . “
Schach ſuchte zu widerlegen . Er wußte , daß
ſich Victoirens Worte , ſo ſehr ſie Piquanterien und
Andeutungen liebte , ganz unmöglich gegen ihn ge¬
richtet haben konnten . Und darin traf ers auch . Es
war alles nur jeu d'esprit , eine Nachgiebigkeit
gegen ihren Hang zu philoſophieren . Und doch , alles
was ſie geſagt hatte , ſo gewiß es abſichtslos geſagt
worden war , ſo gewiß war es doch auch aus einer
dunklen Ahnung heraus geſprochen worden .
Als ihr Streit ſchwieg , hatte man den Dorf¬
eingang erreicht , und Schach hielt , um auf Frau
von Carayon und Tante Marguerite , die ſich beide
verſäumt hatten , zu warten .
Als ſie heran waren , bot er der Frau von Carayon
den Arm , und führte dieſe bis an das Gaſthaus
zurück .
Victoire ſah ihnen betroffen nach , und ſann nach
über den Tauſch , den Schach mit keinem Worte der
Entſchuldigung begleitet hatte . „ Was war das ? “ Und
ſie verfärbte ſich , als ſie ſich , aus einem plötzlichen
Argwohn heraus , die ſelbſtgeſtellte Frage beant¬
wortet hatte .
Von einem Wiederplatznehmen vor dem Gaſt¬
hauſe war keine Rede mehr , und man gab es um ſo
leichter und lieber auf , als es inzwiſchen kühl ge¬
worden und der Wind , der den ganzen Tag über
geweht hatte , nach Nordweſten hin umgeſprungen war .
Tante Marguerite bat ſich den Rückſitz aus , „ um
nicht gegen dem Winde zu fahren . “
Niemand widerſprach . So nahm ſie denn den
erbetenen Platz , und während jeder in Schweigen
überdachte , was ihm der Nachmittag gebracht hatte ,
ging es in immer raſcherer Fahrt wieder auf die
Stadt zurück .
Dieſe lage ſchon in Dämmer als man bis an
den Abhang der Kreuzberghöhe gekommen war und
nur die beiden Gensdarmentürme ragten noch mit
ihren Kuppeln aus dem graublauen Nebel empor .
5. Kapitel .
Victoire v. Carayon an Liſette
v. Verbandt .
B erlin , den 3. Ma chère Lisette .
Wie froh war ich , endlich von Dir
zu hören , und ſo Gutes . Nicht als ob
ich es anders erwartet hätte ; wenige Männer hab
ich kennen gelernt , die mir ſo ganz eine Garantie des
Glückes zu bieten ſcheinen , wie der Deinige . Geſund ,
wohlwollend , anſpruchslos , und von jenem ſchönen
Wiſſens- und Bildungsmaß , das ein gleich gefährliches
Zuviel und Zuwenig vermeidet . Wobei ein „ Zuviel “
das vielleicht noch gefährlichere iſt . Denn junge Frauen
ſind nur zu geneigt , die Forderung zu ſtellen „ Du
ſollſt keine andren Götter haben neben mir . “ Ich
ſehe das beinah täglich bei Rombergs , und Marie
weiß es ihrem klugen und liebenswürdigen Gatten
wenig Dank , daß er über Politik und franzöſiſche
Zeitungen die Viſiten und Toiletten vergißt .
Was mir allein eine Sorge machte , war Deine
neue maſuriſche Heimat , ein Stück Land , das ich mir
immer als einen einzigen großen Wald mit hundert
Seen und Sümpfen vorgeſtellt habe . Da dacht ich
denn , dieſe neue Heimat könne Dich leicht in ein
melancholiſches Träumen verſetzen , das dann immer
der Anfang zu Heimweh oder wohl gar zu Trauer
und Thränen iſt . Und davor , ſo hab ich mir ſagen
laſſen , erſchrecken die Männer . Aber ich ſehe zu
meiner herzlichen Freude , daß Du auch dieſer Ge¬
fahr entgangen biſt , und daß die Birken , die Dein
Schloß umſtehn , grüne Pfingſtmaien und keine
Trauerbirken ſind . A propos über das Birkenwaſſer
mußt Du mir gelegentlich ſchreiben . Es gehört zu
den Dingen , die mich immer neugierig gemacht haben ,
und die kennen zu lernen mir bis dieſen Augenblick
verſagt geblieben iſt .
Und nun ſoll ich Dir über uns berichten . Du
frägſt teilnehmend nach all und jedem , und verlangſt
ſogar von Tante Margueritens neueſter Prinzeſſin
und neueſter Namensverwechslung zu hören . Ich
könnte Dir gerade davon erzählen , denn es ſind
keine drei Tage , daß wir ( wenigſtens von dieſen Ver¬
wechslungen ) ein gerüttelt und geſchüttelt Maß gehabt
haben .
Es war auf einer Spazierfahrt , die Herr
von Schach mit uns machte , nach Tempelhof , und zu
der auch das Tantchen aufgefordert werden mußte ,
weil es ihr Tag war . Du weißt , daß wir ſie jeden
Dienſtag als Gaſt in unſrem Hauſe ſehn . Sie war
denn auch mit uns in der „ Kürche “ , wo ſie , beim
Anblick einiger Heiligenbilder aus der katholiſchen
Zeit her , nicht nur beſtändig auf Ausrottung des
Aberglaubens drang , ſondern ſich mit eben dieſem
Anliegen auch regelmäßig an Schach wandte , wie
wenn dieſer im Konſiſtorium ſäße . Und da leg ich
denn ( weil ich nun mal die Tugend oder Untugend
habe , mir alles gleich leibhaftig vorzuſtellen ) während
des Schreibens die Feder hin , um mich erſt herzlich
auszulachen . Au fond freilich iſt es viel weniger
lächerlich , als es im erſten Augenblick erſcheint . Er
hat etwas konſiſtorialrätlich Feierliches , und wenn
mich nicht alles täuſcht , ſo iſt es gerade dies Feier¬
liche , was Bülow ſo ſehr gegen ihn einnimmt . Viel ,
viel mehr als der Unterſchied der Meinungen .
Und beinah klingt es , als ob ich mich in meiner
Schilderung Bülow anſchlöſſe . Wirklich , wüßteſt Dus
nicht beſſer , Du würdeſt dieſer Charakteriſtik unſres
Freundes nicht entnehmen können , wie ſehr ich ihn
ſchätze . Ja , mehr denn je , trotzdem es an manchem
Schmerzlichen nicht fehlt . Aber in meiner Lage lernt
man milde ſein , ſich tröſten , verzeihn . Hätt ich es
nicht gelernt , wie könnt ich leben , ich , die ich ſo
gern lebe ! Eine Schwäche , die ( wie ich einmal ge¬
leſen ) alle diejenigen haben ſollen , von denen man es
am wenigſten begreift .
Aber ich ſprach von manchem Schmerzlichen , und
es drängt mich , Dir davon zu erzählen .
Es war erſt geſtern auf unſrer Spazierfahrt .
Als wir den Gang aus dem Dorf in die Kirche
machten , führte Schach Mama . Nicht zufällig , es war
arrangiert , und zwar durch mich . Ich ließ beide
zurück , weil ich eine Ausſprache ( Du weißt welche )
zwiſchen beiden herbeiführen wollte . Solche ſtillen
Abende , wo man über Feld ſchreitet , und nichts hört
als das Anſchlagen der Abendglocke , heben uns über
kleine Rückſichten fort und machen uns freier . Und
ſind wir erſt das , ſo findet ſich auch das rechte
Wort . Was zwiſchen ihnen geſprochen wurde , weiß
ich nicht , jedenfalls nicht das , was geſprochen werden
ſollte . Zuletzt traten wir in die Kirche , die vom
Abendrot wie durchglüht war , alles gewann Leben ,
und es war unvergeßlich ſchön . Auf dem Heimwege
tauſchte Schach , und führte mich . Er ſprach ſehr
anziehend , und in einem Tone , der mir ebenſo wohl¬
that , als er mich überraſchte . Jedes Wort iſt mir
noch in der Erinnerung geblieben , und giebt mir zu
denken . Aber was geſchah ? Als wir wieder am
Eingange des Dorfes waren , wurd er ſchweigſamer ,
und wartete auf die Mama . Dann bot er ihr den
Arm , und ſo gingen ſie durch das Dorf nach dem
Gaſthauſe zurück , wo die Wagen hielten und viele
Leute verſammelt waren . Es gab mir einen Stich
durchs Herz , denn ich konnte mich des Gedankens
nicht erwehren , daß es ihm peinlich geweſen ſei , mit
mir und an meinem Arm unter den Gäſten zu er¬
ſcheinen . In ſeiner Eitelkeit , von der ich ihn nicht
freiſprechen kann , iſt es ihm unmöglich , ſich über das
Gerede der Leute hinwegzuſetzen , und ein ſpöttiſches
Lächeln verſtimmt ihn auf eine Woche . So ſelbſt¬
bewußt er iſt , ſo ſchwach und abhängig iſt er in dieſem
einen Punkte . Vor niemandem in der Welt , auch
vor der Mama nicht , würd ich ein ſolches Bekennt¬
nis ablegen , aber Dir gegenüber mußt ich es . Hab
ich Unrecht , ſo ſage mir , daß mein Unglück mich mi߬
trauiſch gemacht habe , ſo halte mir eine Strafpredigt
in allerſtrengſten Worten , und ſei verſichert , daß ich
ſie mit dankbarem Auge leſen werde . Denn all ſeiner
Eitelkeit unerachtet , ſchätz ich ihn wie keinen andern .
Es iſt ein Satz , daß Männer nicht eitel ſein dürfen ,
weil Eitelkeit lächerlich mache . Mir ſcheint dies über¬
trieben . Iſt aber der Satz dennoch richtig , ſo be¬
deutet Schach eine Ausnahme . Ich haſſe das Wort
„ ritterlich “ und habe doch kein anderes für ihn . Eines
iſt er vielleicht noch mehr , diskret , imponierend , oder doch
voll natürlichen Anſehns , und ſollte ſich mir das erfüllen ,
5
was ich um der Mama und auch um meinetwillen
wünſche , ſo würd es mir nicht ſchwer werden , mich
in eine Reſpektsſtellung zu ihm hinein zu finden .
Und dazu noch eins . Du haſt ihn nie für ſehr
geſcheidt gehalten , und ich meinerſeits habe nur ſchüchtern
widerſprochen . Er hat aber doch die beſte Geſcheit¬
heit , die mittlere , dazu die des redlichen Mannes . Ich
empfinde dies jedesmal , wenn er ſeine Fehde mit
Bülow führt . So ſehr ihm dieſer überlegen iſt , ſo
ſehr ſteht er doch hinter ihm zurück . Dabei fällt mir
mitunter auf , wie der Groll , der ſich in unſerm
Freunde regt , ihm eine gewiſſe Schlagfertigkeit , ja ,
ſelbſt Esprit verleiht . Geſtern hat er Sander , deſſen
Perſönlichkeit Du kennſt , den Bülowſchen Sancho
Panſa genannt . Die weiteren Schlußfolgerungen er¬
geben ſich von ſelbſt , und ich find es nicht übel .
Sanders Publikationen machen mehr von ſich
reden , denn je ; die Zeit unterſtützt das Intereſſe für
eine lediglich polemiſche Litteratur . Außer von Bülow
ſind auch Aufſätze von Maſſenbach und Phull er¬
ſchienen , die von den Eingeweihten als etwas Beſonderes
und nie Dageweſenes ausgeprieſen werden . Alles
richtet ſich gegen Öſterreich , und beweiſt aufs neue ,
daß wer den Schaden hat , für den Spott nicht ſorgen
darf . Schach iſt empört über dies anmaßliche Beſſer¬
wiſſen , wie ers nennt , und wendet ſich wieder ſeinen
alten Liebhabereien zu , Kupferſtichen und Rennpferden .
Sein kleiner Groom wird immer kleiner . Was bei
den Chineſinnen die kleinen Füße ſind , ſind bei den
Grooms die kleinen Proportionen überhaupt . Ich
meinerſeits verhalte mich ablehnend gegen beide , ganz
beſonders aber gegen die chineſiſch eingeſchnürten Füßchen ,
und bin umgekehrt froh , in einem bequemen Pantoffel
zu ſtecken . Führen , ſchwingen werd ich ihn nie ; das
überlaſſ ich meiner teuren Liſette . Thu es mit der
Milde , die Dir eigen iſt . Empfiehl mich Deinem
teuren Manne , der nur den einen Fehler hat , Dich mir
entführt zu haben . Mama grüßt und küßt ihren
Liebling , ich aber lege Dir den Wunſch ans Herz ,
vergiß in der Fülle des Glücks , die Dir zu Teil
wurde , nicht ganz Deine , wie Du weißt auf ein
bloßes Pflichtteil des Glückes geſetzte Victoire .
5*
6. Kapitel .
Bei Prinz Louis .
A n demſelben Abend , an dem Victoire von Ca¬
rayon ihren Brief an Liſette von Perbandt
ſchrieb , empfing Schach in ſeiner in der
Wilhelmſtraße gelegenen Wohnung ein Einladungs¬
billet von der Hand des Prinzen Louis .
Es lautete :
„ Lieber Schach . Ich bin erſt ſeit drei Tagen hier
im Moabiter Land und dürſte bereits nach Beſuch und
Geſpräch . Eine Viertelmeile von der Hauptſtadt , hat
man ſchon die Hauptſtadt nicht mehr und verlangt
nach ihr . Darf ich für morgen auf Sie rechnen ?
Bülow und ſein verlegeriſcher Anhang haben zugeſagt ,
auch Maſſenbach und Phull . Alſo lauter Oppoſition ,
die mich erquickt , auch wenn ich ſie bekämpfe . Von
Ihrem Regiment werden Sie noch Noſtitz und
Alvensleben treffen . Im Interimsrock und um 5 Uhr .
Ihr Louis , Prinz v. Pr. “
Um die feſtgeſetzte Stunde fuhr Schach , nachdem
er Alvensleben und Noſtitz abgeholt hatte , vor der
prinzlichen Villa vor . Dieſe lag am rechten Flußufer ,
umgeben von Wieſen und Werftweiden , und hatte die
Front , über die Spree fort , auf die Weſtliſière des
Tiergartens . Anfahrt und Aufgang waren von der
Rückſeite her . Eine breite , mit Teppich belegte Treppe
führte bis auf ein Podium und von dieſem auf einen
Vorflur , auf dem die Gäſte vom Prinzen empfangen
wurden . Bülow und Sander waren bereits da , Maſſen¬
bach und Phull dagegen hatten ſich entſchuldigen laſſen .
Schach war es zufrieden , fand ſchon Bülow mehr als
genug , und trug kein Verlangen die Zahl der Genia¬
litätsleute verſtärkt zu ſehen . Es war heller Tag
noch , aber in dem Speiſeſaal , in den ſie von dem
Veſtibul aus eintraten , brannten bereits die Lichter
und waren ( übrigens bei offenſtehenden Fenſtern ) die
Jalouſien geſchloſſen . Zu dieſem künſtlich hergeſtellten
Licht , in das ſich von außen her ein Tagesſchimmer
miſchte , ſtimmte das Feuer , in dem in der Mitte des
Saales befindlichen Kamine . Vor eben dieſem , ihm
den Rücken zukehrend , ſaß der Prinz , und ſah , zwiſchen
den offenſtehenden Jalouſiebrettchen hindurch , auf die
Bäume des Tiergartens .
„ Ich bitte fürlieb zu nehmen , “ begann er , als die
Tafelrunde ſich arrangiert hatte . „ Wir ſind hier auf
dem Lande ; das muß als Entſchuldigung dienen , für
alles was fehlt . , A la guerre , comme à la guerre . ‘
Maſſenbach , unſer Gourmé , muß übrigens etwas der¬
art geahnt , reſpektive gefürchtet haben . Was mich
auch nicht überraſchen würde . Heißt es doch , lieber
Sander , Ihr guter Tiſch habe mehr noch als Ihr guter
Verlag die Freundſchaft zwiſchen ihnen beſiegelt . “
„ Ein Satz , dem ich kaum zu widerſprechen wage ,
Königliche Hoheit . “
„ Und doch müßten Sies eigentlich . Ihr ganzer
Verlag hat keine Spur von jenem , laisser passer ‘ ,
das das Vorrecht , ja , die Pflicht aller geſättigten
Leute iſt . Ihre Genies ( Pardon , Bülow ) ſchreiben
alle wie Hungrige . Meinetwegen . Unſre Paradeleute
geb ich Ihnen Preis , aber daß Sie mir auch die
Öſterreicher ſo ſchlecht behandeln , das mißfällt mir . “
„ Bin ich es , Königliche Hoheit ? Ich , für meine
Perſon , habe nicht die Prätenſion höherer Strategie .
Nebenher freilich , möcht ich , ſo zu ſagen aus meinem
Verlage heraus , die Frage ſtellen dürfen : „ war Ulm
etwas Kluges ? “
„ Ach , mein lieber Sander , was iſt klug ? Wir
Preußen bilden uns beſtändig ein , es zu ſein ; und
wiſſen Sie , was Napoleon über unſre vorjährige
thüringiſche Aufſtellung geſagt hat ? Noſtitz , wieder¬
holen Sies ! . . Er will nicht . Nun , ſo muß ich es
ſelber thun . , Ah , ces Prussiens ‘ hieß es , ‚ ils sont
encore plus stupides , que les Autrichiens ‘ . Da
haben Sie Kritik über unſere vielgeprieſene Klugheit ,
noch dazu Kritik von einer allerberufenſten Seite her .
Und hätt ers damit getroffen , ſo müßten wir uns
ſchließlich zu dem Frieden noch beglückwünſchen , den
uns Haugwitz erſchachert hat . Ja , erſchachert . Er¬
ſchachert , indem er für ein Mitbringſel unſre Ehre
preisgab . Was ſollen wir mit Hannover ? Es iſt der
Brocken , an dem der preußiſche Adler erſticken wird . “
„ Ich habe zu der Schluck- und Verdauungskraft
unſres preußiſchen Adlers ein beſſeres Vertrauen , “ er¬
widerte Bülow . „ Gerade das kann er und verſteht
er von alten Zeiten her . Indeſſen darüber mag
ſich ſtreiten laſſen ; worüber ſich aber nicht ſtreiten
läßt , das iſt der Friede , den uns Haugwitz gebracht
hat . Wir brauchen ihn wie das tägliche Brot und
mußten ihn haben , ſo lieb uns unſer Leben iſt . König¬
liche Hoheit haben freilich einen Haß gegen den armen
Haugwitz , der mich inſoweit überraſcht , als dieſer Lom¬
bard , der doch die Seele des Ganzen iſt , von jeher
Gnade vor Eurer Königl. Hoheit Augen gefunden hat . “
„ Ah , Lombard ! Den Lombard nehm ich nicht
ernſthaft , und ſtell ihm außerdem noch in Rechnung ,
daß er ein halber Franzoſe iſt . Dazu hat er eine
Form des Witzes , die mich entwaffnet . Sie wiſſen
doch , ſein Vater war Friſeur und ſeiner Frau Vater
ein Barbier . Und nun kommt eben dieſe Frau ,
die nicht nur eitel iſt bis zum Närriſchwerden , ſondern
auch noch ſchlechte franzöſiſche Verſe macht , und
fragt ihn , was ſchöner ſei : , L' hirondelle frise la
surface des eaux‘ oder , l' hirondelle rase la sur ¬
face des eaux ? ‘ Und was antwortet er ? ‚ Ich ſehe
keinen Unterſchied , meine Teure ; l'hirondelle frise
huldigt meinem Vater und l'hirondelle rase dem
Deinigen . ‘ In In dieſem Bonmot haben Sie den
ganzen Lombard . Was mich aber perſönlich angeht ,
ſo bekenn ich Ihnen offen , daß ich einer ſo witzigen
Selbſtperſiflage nicht widerſtehen kann . Er iſt ein
Poliſſon , kein Charakter . “
„ Vielleicht , daß ſich ein Gleiches auch von Haug¬
witz ſagen ließe , zum Guten wie zum Schlimmen .
Und wirklich , ich geb Eurer K. Hoheit den Mann
preis . Aber nicht ſeine Politik . Seine Politik iſt
gut , denn ſie rechnet mit gegebenen Größen . Und
Eure K. Hoheit wiſſen das beſſer als ich . Wie ſteht
es denn in Wahrheit mit unſren Kräften ? Wir leben
von der Hand in den Mund und warum ? weil der
Staat Friedrichs des Großen nicht ein Land mit einer
Armee , ſondern eine Armee mit einem Lande iſt . Unſer
Land iſt nur Standquartier und Verpflegungsmagazin .
In ſich ſelber entbehrt es aller großen Reſſourcen .
Siegen wir , ſo geht es ; aber Kriege führen dürfen nur
ſolche Länder , die Niederlagen ertragen können . Das
können wir nicht . Iſt die Armee hin , ſo iſt alles
hin . Und wie ſchnell eine Armee hin ſein kann , das
hat uns Auſterlitz gezeigt . Ein Hauch kann uns töten ,
gerad auch uns . , Er blies , und die Armada zerſtob
in alle vier Winde . ' Afflavit Deus et dissipati
sunt . “
„ Herr v. Bülow , “ unterbrach hier Schach , „ möge
mir eine Bemerkung verzeihn . Er wird doch , denk
ich , in dem Höllenbrodem , der jetzt über die Welt
weht , nicht den Odem Gottes erkennen wollen , nicht
den , der die Armada zerblies . “
„ Doch , Herr v. Schach . Oder glauben Sie
wirklich , daß der Odem Gottes im Spezialdienſte des
Proteſtantismus , oder gar Preußens und ſeiner Armee
ſteht ? “
„ Ich hoffe , ja . “
„ Und ich fürchte , nein . “ Wir haben die , pro¬
preſte Armee ‘ , das iſt alles . Aber mit der , Propre¬
tät ‘ gewinnt man keine Schlachten . Erinnern ſich
Königliche Hoheit der Worte des großen Königs , als
General Lehwald ihm ſeine dreimal geſchlagenen Re¬
gimenter in Parade vorführte ? , Propre Leute ‘ hieß
es . , Da ſeh' Er meine . Sehen aus wie die Gras¬
deibel , aber beißen . ‘ Ich fürchte , wir haben jetzt
zu viel Lehwaldſche Regimenter und zu wenig alten¬
fritzige . Der Geiſt iſt heraus , alles iſt Dreſſur und
Spielerei geworden . Giebt es doch Offiziere , die , der
bloßen Prallheit und Drallheit halber , ihren Uniform¬
rock direkt auf dem Leibe tragen . Alles Unnatur .
Selbſt das Marſchieren- können , dieſe ganz gewöhnliche
Fähigkeit des Menſchen , die Beine zu ſetzen , iſt uns
in dem ewigen Paradeſchritt verloren gegangen . Und
Marſchieren- können iſt jetzt die erſte Bedingung des
Erfolges . Alle modernen Schlachten ſind mit den
Beinen gewonnen worden . “
„ Und mit Gold “ unterbrach hier der Prinz .
„Ihr großer Empereur , lieber Bülow , hat eine Vor¬
liebe für kleine Mittel . Ja , für allerkleinſte . Daß
er lügt , iſt ſicher . Aber er iſt auch ein Meiſter in
der Kunſt der Beſtechung . Und wer hat uns die
Augen darüber geöffnet ? Er ſelber . Leſen Sie , was
er unmittelbar vor der Auſterlitzer Bataille ſagte .
, Soldaten ‘ hieß es , ‚ der Feind wird marſchieren und
unſre Flanke zu gewinnen ſuchen ; bei dieſer Marſch¬
bewegung aber wird er die ſeinige preisgeben . Wir
werden uns auf dieſe ſeine Flanke werfen , und ihn ſchla¬
gen und vernichten . ‘ Und genau ſo verlief die Schlacht .
Es iſt unmöglich , daß er aus der bloßen Aufſtellung
der Öſterreicher auch ſchon ihren Schlachtplan erraten
haben könnte . “
Man ſchwieg . Da dies Schweigen aber dem
lebhaften Prinzen um vieles peinlicher war als
Widerſpruch , ſo wandt er ſich direkt an Bülow und
ſagte : „ Widerlegen Sie mich . “
„ Königliche Hoheit befehlen und ſo gehorch ich denn .
Der Kaiſer wußte genau was geſchehen werde , konnt
es wiſſen , weil er ſich die Frage , was thut hier die
Mittelmäßigkeit ‘ in vorausberechnender Weiſe
nicht blos geſtellt , ſondern auch beantwortet hatte .
Die höchſte Dummheit , wie zuzugeſtehen iſt , entzieht ſich
ebenſo der Berechnung wie die höchſte Klugheit , —
das iſt eine von den großen Seiten der echten und
unverfälſchten Stupidität . Aber jene ‚ Mittelklugen ‘ ,
die gerade klug genug ſind , um von der Luſt ‚ es auch
einmal mit etwas Geiſtreichem zu probieren‘ , an¬
gewandelt zu werden , dieſe Mittelklugen ſind allemal
am leichteſten zu berechnen . Und warum ? Weil ſie
jederzeit nur die Mode mitmachen und heute kopieren ,
was ſie geſtern ſahn . Und das alles wußte der Kaiſer .
Hic haeret . Er hat ſich nie glänzender bewährt , als
in dieſer Auſterlitzer Aktion , auch im Nebenſächlichen
nicht , auch nicht in jenen Impromptus und witzigen
Einfällen auf dem Gebiete des Grauſigen , die ſo recht
eigentlich das Kennzeichen des Genies ſind . “
„ Ein Beiſpiel . “
„ Eines für hundert . Als das Centrum ſchon
durchbrochen war , hatte ſich ein Teil der ruſſiſchen
Garde , vier Bataillone , nach ebenſo viel gefrornen
Teichen hin zurückgezogen , und eine franzöſiſche
Batterie fuhr auf , um mit Kartätſchen in die
Bataillone hineinzufeuern . In dieſem Augenblick er¬
ſchien der Empereur . Er überblickte ſofort das Be¬
ſondere der Lage . ‚ Wozu hier ein ſich Abmühen en
détail ? ‘ Und er befahl mit Vollkugeln auf das Eis
zu ſchießen . Eine Minute ſpäter und das Eis barſt
und brach , und alle vier Bataillone gingen en carré
in die moraſtige Tiefe . Solche vom Moment ein¬
gegebenen Blitze hat nur immer das Genie . Die
Ruſſen werden ſich jetzt vornehmen , es bei nächſter
Gelegenheit ebenſo zu machen , aber wenn Kutuſow auf
Eis wartet , wird er plötzlich in Waſſer oder Feuer
ſtecken . Öſterreichiſch-ruſſiſche Tapferkeit in Ehren , nur
nicht ihr Ingenium . Irgendwo heißt es : ‚ In meinem
Wolfstorniſter , Regt ſich des Teufels Küſter , Ein
Kobold , heißt ‚ Genie ‘ — nun , in dem ruſſiſch¬
öſterreichiſchen Torniſter iſt dieſer ‚ Kobold und Teufels¬
küſter‘ nie und nimmer zu Hauſe geweſen . Und um
dies Manko zu kaſſieren , bedient man ſich der alten ,
elenden Troſtgründe : Beſtechung und Verräterei .
Jedem Beſiegten wird es ſchwer , den Grund ſeiner
Niederlagen an der einzig richtigen Stelle , nämlich
in ſich ſelbſt zu ſuchen , und auch Kaiſer Alexander ,
mein ich , verzichtet auf ein ſolches Nachforſchen am
recht eigentlichſten Platz . “
„ Und wer wollt ihm darüber zürnen ? “ antwortete
Schach . „ Er that das ſeine , ja mehr . Als die Höhe
ſchon verloren und doch andrerſeits die Möglichkeit
einer Wiederherſtellung der Schlacht noch nicht ge¬
ſchwunden war , ging er klingenden Spiels an der
Spitze neuer Regimenter vor ; ſein Pferd ward ihm
unter dem Leibe erſchoſſen , er beſtieg ein zweites ,
und eine halbe Stunde lang ſchwankte die Schlacht .
Wahre Wunder der Tapferkeit wurden verrichtet , und
die Franzoſen ſelbſt haben es in enthuſiaſtiſchen Aus¬
drücken anerkannt . “
Der Prinz , der , bei der vorjährigen Berliner
Anweſenheit des unausgeſetzt als deliciae generis
humani geprieſenen Kaiſers , keinen allzu günſtigen
Eindruck von ihm empfangen hatte , fand es einiger¬
maßen unbequem , den „ liebenswürdigſten der Menſchen “
auch noch zum „ heldiſchſten “ erhoben zu ſehen . Er
lächelte deshalb und ſagte : „ Seine kaiſerliche Majeſtät
in Ehren , ſo ſcheint es mir doch , lieber Schach , als
ob Sie franzöſiſchen Zeitungsberichten mehr Gewicht
beilegten , als ihnen beizulegen iſt . Die Franzoſen
ſind kluge Leute . Je mehr Rühmens ſie von ihrem
Gegner machen , deſto größer wird ihr eigner Ruhm ,
und dabei ſchweig ich noch von allen möglichen
politiſchen Gründen , die jetzt ſicherlich mitſprechen .
‚ Man ſoll ſeinem Feinde goldene Brücken bauen‛ ,
ſagt das Sprichwort , und ſagt es mit Recht , denn ,
wer heute mein Feind war , kann morgen mein
Verbündeter ſein . Und in der That , es ſpukt ſchon
dergleichen , ja , wenn ich recht unterrichtet bin , ſo ver¬
handelt man bereits über eine neue Teilung der Welt ,
will ſagen über die Wiederherſtellung eines morgen¬
ländiſchen und abendländiſchen Kaiſertums . Aber
laſſen wir Dinge , die noch in der Luft ſchweben , und
erklären wir uns das dem Heldenkaiſer geſpendete
Lob lieber einfach aus dem Rechnungsſatze : ‚ wenn
der unterlegene ruſſiſche Mut einen vollen Centner wog ,
ſo wog der ſiegreich franzöſiſche natürlich zwei ‘ “
Schach , der , ſeit Kaiſer Alexanders Beſuch in
Berlin , das Andreaskreuz trug , biß ſich auf die Lippen
und wollte replizieren . Aber Bülow kam ihm zuvor
und bemerkte : „ Gegen , unter dem Leibe erſchoſſene
Kaiſerpferde‘ bin ich überhaupt immer mißtrauiſch . Und
nun gar hier . All dieſe Lobeserhebungen müſſen Seine
Majeſtät ſehr in Verlegenheit gebracht haben , denn es
giebt ihrer zu viele , die das Gegenteil bezeugen können .
Er iſt der ‚ gute Kaiſer ‘ und damit Baſta . “
„ Sie ſprechen das ſo ſpöttiſch , Herr v. Bülow , “
antwortete Schach . „ Und doch frag ich Sie , giebt
es einen ſchöneren Titel ? “
„ O gewiß giebt es den . Ein wirklich großer
Mann wird nicht um ſeiner Güte willen gefeiert und
noch weniger danach benannt . Er wird umgekehrt
ein Gegenſtand beſtändiger Verleumdungen ſein . Denn
das Gemeine , das überall vorherrſcht , liebt nur das ,
was ihm gleicht . Brenkenhof , der , trotz ſeiner Para¬
doxien , mehr geleſen werden ſollte , als er geleſen wird ,
behauptet geradezu , ‚ daß in unſerm Zeitalter die
beſten Menſchen die ſchlechteſte Reputation haben
müßten‘ . Der gute Kaiſer ! Ich bitte Sie . Welche
Augen wohl König Friedrich gemacht haben würde ,
wenn man ihn den ‚ guten Friedrich ‘ genannt hätte . “
„ Bravo , Bülow , “ ſagte der Prinz , und grüßte
mit dem Glaſe hinüber . „ Das iſt mir aus der Seele
geſprochen . “
Aber es hätte dieſes Zuſpruches nicht bedurft .
„ Alle Könige , “ fuhr Bülow in wachſendem Eifer fort ,
„die den Beinamen des ‚ guten ‘ führen , ſind ſolche ,
die das ihnen anvertraute Reich zu Grabe getragen
oder doch bis an den Rand der Revolution gebracht
haben . Der letzte König von Polen war auch ein
ſogenannter ‚ guter ‘ . In der Regel haben ſolche
Fürſtlichkeiten einen großen Harem und einen kleinen
Verſtand . Und geht es in den Krieg , ſo muß irgend
eine Kleopatra mit ihnen , gleichviel mit oder ohne
Schlange . “
„ Sie meinen doch nicht , Herr von Bülow , “ ent¬
gegnete Schach , „ durch Auslaſſungen wie dieſe , den
Kaiſer Alexander charakteriſiert zu haben . “
„ Wenigſtens annähernd . “
„ Da wär ich doch neugierig . “
„ Es iſt zu dieſem Behufe nur nötig , ſich den
letzten Beſuch des Kaiſers in Berlin und Potsdam
zurückzurufen . Um was handelte ſichs ? Nun , an¬
erkanntermaßen um nichts Kleines und Alltägliches ,
um Abſchluß eines Bündniſſes auf Leben und Tod ,
und wirklich , bei Fackellicht trat man in die Gruft
Friedrichs des Großen , um ſich , über dem Sarge
desſelben , eine halbmyſtiſche Blutsfreundſchaft zu¬
zuſchwören . Und was geſchah unmittelbar danach ?
Ehe drei Tage vorüber waren , wußte man , daß
der aus der Gruft Friedrichs des Großen glücklich
wieder ans Tageslicht geſtiegene Kaiſer , die fünf an¬
erkannteſten beautés des Hofes in eben ſo viele
Schönheitskategorien gebracht habe : beauté coquette
und beauté triviaile , beauté céleste und beauté du
diable , und endlich fünftens , beauté , qui inspire
seul du vrai sentiment‘ . Wobei wohl jeden die
Neugier angewandelt haben mag , das Allerhöchſte
‚ vrai sentiment ‘ kennen zu lernen . “
7. Kapitel .
Ein neuer Gaſt .
A ll dieſe Sprünge Bülows hatten die Hei¬
terkeit des Prinzen erregt , der denn auch
eben mit einem ihm bequem liegenden
Capriccio über beauté céleste und beauté du diable
beginnen wollte , als er , vom Korridor her , unter dem
halbzurückgeſchlagenen Portièrenteppich , einen ihm
wohlbekannten kleinen Herrn von unverkennbaren
Künſtlerallüren erſcheinen und gleich danach ein¬
treten ſah .
„ Ah , Duſſek , das iſt brav , “ begrüßte ihn der
Prinz . „ Mieux vaut tard que jamais . Rücken
Sie ein . Hier . Und nun bitt ich alles was an
Süßigkeiten noch da iſt , in den Bereich unſres Künſt¬
lerfreundes bringen zu wollen . Sie finden noch
6
tutti quanti , lieber Duſſek . Keine Einwendungen .
Aber was trinken Sie ? Sie haben die Wahl . Aſti ,
Montefiascone , Tokayer . “
„ Irgend einen Ungar . “
„ Herben ? “
Duſſek lächelte .
„ Thörichte Frage , “ korrigierte ſich der Prinz
und fuhr in geſteigerter guter Laune fort : „ Aber nun ,
Duſſek , erzählen Sie . Theaterleute haben , die Tugend
ſelber ausgenommen , allerlei Tugenden , und unter dieſen
auch die der Mitteilſamkeit . Sie bleiben einem auf
die Frage ‚ was Neues ‛ ſelten eine Antwort ſchuldig . “
„ Und auch heute nicht , Königliche Hoheit , “ ant¬
wortete Duſſek , der , nachdem er genippt hatte , eben ſein
Bärtchen putzte .
„ Nun , ſo laſſen Sie hören . Was ſchwimmt
obenauf ? “
„ Die ganze Stadt iſt in Aufregung . Verſteht
ſich , wenn ich ſage , ‚ die ganze Stadt‛ , ſo mein ich
das Theater . “
„ Das Theater iſt die Stadt . Sie ſind alſo ge¬
rechtfertigt . Und nun weiter . “
„ Königliche Hoheit befehlen . Nun denn , wir
ſind in unſrem Haupt und Führer empfindlich ge¬
kränkt worden und haben denn auch aus eben dieſem
Grunde nicht viel weniger als eine kleine Theater¬
emeute gehabt .
Das alſo , hieß es , ſeien die neuen Zeiten , das ſei
das bürgerliche Regiment , das ſei der Reſpekt vor
den preußiſchen , belles lettres et beaux arts . ‘ Eine
‚ Huldigung der Künſte ‘ laſſe man ſich gefallen , aber
eine Huldigung gegen die Künſte , die ſei ſo fern
wie je . “
„ Lieber Duſſek , “ unterbrach der Prinz , „ Ihre
Reflexionen in Ehren . Aber da Sie gerade von
Kunſt ſprechen , ſo muß ich Sie bitten , die Kunſt
der Retardierung nicht übertreiben zu wollen . Wenn
es alſo möglich iſt , Thatſachen . Um was handelt
es ſich ? “
„ Iffland iſt geſcheitert . Er wird den Orden ,
von dem die Rede war , nicht erhalten . “
Alles lachte , Sander am herzlichſten , und Noſtitz
ſkandierte : „ Parturiunt montes nascetur ridiculus
Aber Duſſek war in wirklicher Erregung , und
dieſe wuchs noch unter der Heiterkeit ſeiner Zuhörer .
Am meiſten verdroß ihn Sander . „ Sie lachen , San¬
der . Und doch trifft es in dieſem Kreiſe nur Sie und
mich . Denn gegen wen anders iſt die Spitze gerichtet ,
als gegen das Bürgertum überhaupt . “
Der Prinz reichte dem Sprecher über den Tiſch
hin die Hand . „ Recht , lieber Duſſek . Ich liebe
ſolch Eintreten . Erzählen Sie . Wie kam es ? “
„ Vor allem ganz unerwartet . Wie ein Blitz aus
6*
heitrem Himmel . Königliche Hoheit wiſſen , daß ſeit
lange von einer Dekorierung die Rede war , und wir
freuten uns , alles Künſtlerneides vergeſſend , als ob
wir den Orden mitempfangen und mittragen ſollten .
In der That , alles ließ ſich gut an , und die ,Weihe
der Kraft ,‘ für deren Aufführung der Hof ſich in¬
tereſſiert , ſollte den Anſtoß und zugleich die ſpezielle
Gelegenheit geben . Iffland iſt Maçon ( auch das
ließ uns hoffen ) , die Loge nahm es energiſch in die
Hand , und die Königin war gewonnen . Und nun
doch geſcheitert . Eine kleine Sache , werden Sie ſagen ;
aber nein , meine Herren , es iſt eine große Sache .
Dergleichen iſt immer der Strohhalm , an dem man
ſieht , woher der Wind weht . Und er weht bei uns
nach wie vor von der alten Seite her . Chi va piano
va sano , ſagt das Sprichwort . Aber im Lande
Preußen heißt es ‚ pianissimo .‘
„ Geſcheitert , ſagten Sie , Duſſek . Aber geſcheitert
woran ? “
„ An dem Einfluß der Hofgeneralität . Ich habe
Rüchels Namen nennen hören . Er hat den Gelehrten
geſpielt und darauf hingewieſen , wie niedrig das
Hiſtrionentum immer und ewig in der Welt geſtanden
habe , mit alleiniger Ausnahme der neroniſchen Zeiten .
Und die könnten doch kein Vorbild ſein . Das half .
Denn welcher allerchriſtlichſte König will Nero ſein
oder auch nur ſeinen Namen hören . Und ſo wiſſen
wir denn , daß die Sache vorläufig ad acta verwieſen
iſt . Die Königin iſt chagriniert , und an dieſem Aller¬
höchſten Chagrin müſſen wir uns vorläufig genügen
laſſen . Neue Zeit und alte Vorurteile . “
„ Lieber Kapellmeiſter , “ ſagte Bülow , „ ich ſehe zu
meinem Bedauern , daß Ihre Reflexionen Ihren
Empfindungen weit vorauf ſind . Übrigens iſt das
das Allgemeine . Sie ſprechen von Vorurteilen , in
denen wir ſtecken , und ſtecken ſelber drin . Sie , ſamt
ihrem ganzen Bürgertum , das keinen neuen freien
Geſellſchaftszuſtand ſchaffen , ſondern ſich nur eitel und
eiferſüchtig in die bevorzugten alten Klaſſen einreihen
will . Aber damit ſchaffen Sies nicht . An die Stelle
der Eiferſüchtelei , die jetzt das Herz unſres dritten
Standes verzehrt , muß eine Gleichgiltigkeit gegen alle
dieſe Kindereien treten , die ſich einfach überlebt haben .
Wer Geſpenſter wirklich ignoriert , für den giebt es
keine mehr , und wer Orden ingnoriert , der arbeitet an
ihrer Ausrottung . Und dadurch an Ausrottung einer
wahren Epidemie . . “
„ Wie Herr von Bülow umgekehrt an Errichtung
eines neuen Königreichs Utopien arbeitet , “ unterbrach
Sander . „ Ich meinerſeits nehme vorläufig an , daß
die Krankheit , von der er ſpricht , in der Richtung von
Oſten nach Weſten immer weiter wachſen , aber nicht
umgekehrt in der Richtung von Weſten nach Oſten
hin abſterben wird . Im Geiſte ſeh ich vielmehr
immer neue Multiplikationen , und das Erblühen einer
Ordens-Flora mit 24 Klaſſen wie das Linnéſche
Syſtem . “
Alle traten auf die Seite Sanders , am ent¬
ſchiedenſten der Prinz . Es müſſe durchaus etwas in
der menſchlichen Natur ſtecken , das , wie beiſpielsweiſe
der Hang zu Schmuck und Putz , ſich auch zu dieſer
Form der Quincaillerie hingezogen fühle . „ Ja , “ ſo
fuhr er fort , „ es giebt kaum einen Grad der Klugheit ,
der davor ſchützt . Sie werden doch alle Kalkreuth
für einen klugen Mann halten , ja mehr , für einen
Mann , der , wie wenige , von dem ‚ Alles iſt eitel ‘
unſres Thuns und Trachtens durchdrungen ſein muß .
Und doch , als er den roten Adler erhielt , während
er den ſchwarzen erwartet hatte , warf er ihn wütend
ins Schubfach und ſchrie : , Da liege , bis du ſchwarz
wirſt . ‘ Eine Farbenänderung , die ſich denn auch
mittlerweiſe vollzogen hat .
„ Es iſt mit Kalkreuth ein eigen Ding , “ erwiderte
Bülow , „ und offen geſtanden , ein andrer unſrer
Generäle , der geſagt haben ſoll : ‚ ich gäbe den ſchwarzen
drum , wenn ich den roten wieder los wäre ,‘ gefällt
mir noch beſſer . Übrigens bin ich minder ſtreng , als
es den Anſchein hat . Es giebt auch Auszeichnungen ,
die nicht als Auszeichnung anſehn zu wollen , einfach
Beſchränktheit oder niedrige Geſinnung wäre . Admiral
Sidney Smith , berühmter Verteidiger von St. Jean
d' Acre und Verächter aller Orden , legte doch Wert
auf ein Schauſtück , das ihm der Biſchof von Acre
mit den Worten überreicht hatte : ‚ Wir empfingen
dieſes Schauſtück aus den Händen König Richards
Coeur de Lion , und geben es , nach ſechshundert
Jahren , einem ſeiner Landsleute zurück , der , helden¬
mütig wie er , unſre Stadt verteidigt hat . ‘ Und
ein Elender und Narr , ſetz ich hinzu , der ſich
einer ſolchen Auszeichnung nicht zu freuen verſteht . “
„ Schätze mich glücklich , ein ſolches Wort aus
Ihrem Munde zu hören , “ erwiderte der Prinz . „ Es
beſtärkt mich in meinen Gefühlen für Sie , lieber
Bülow , und iſt mir , Pardon , ein neuer Beweis , daß
der Teufel nicht halb ſo ſchwarz iſt , als er gemalt
wird . “
Der Prinz wollte weiter ſprechen . Als aber in
eben dieſem Augenblick einer der Diener an ihn heran
trat und ihm zuflüſterte , daß der Rauchtiſch arrangiert
und der Kaffee ſerviert ſei , hob er die Tafel auf ,
und führte ſeine Gäſte , während er Bülows Arm
nahm , auf den an den Eßſaal angebauten Balkon .
Eine große , blau und weiß geſtreifte Marquiſe , deren
Ringe luſtig im Winde klapperten , war ſchon vorher
herabgelaſſen worden , und unter ihren weit nieder¬
hängenden Frangen hinweg , ſah man , flußaufwärts ,
auf die halb im Nebel liegenden Türme der Stadt ,
flußabwärts aber auf die Charlottenburger Park¬
bäume , hinter deren eben ergrünendem Gezweige die
Sonne niederging . Jeder blickte ſchweigend in das
anmutige Landſchaftsbild hinaus , und erſt als die
Dämmrung angebrochen und eine hohe Sinumbralampe
gebracht worden war , nahm man Platz und ſetzte die
holländiſchen Pfeifen in Brand , unter denen jeder
nach Gefallen wählte . Duſſek allein , weil er die
Muſikpaſſion des Prinzen kannte , war phantaſierend
an dem im Eßſaale ſtehenden Flügel zurückgeblieben ,
und ſah nur , wenn er den Kopf zur Seite wandte ,
die jetzt draußen wieder lebhafter plaudernden Tiſch¬
genoſſen und ebenſo die Lichtfunken , die von Zeit zu
Zeit aus ihren Thonpfeifen aufflogen .
Das Geſpräch hatte das Ordensthema nicht
wieder aufgenommen , wohl aber ſich der erſten Ver¬
anlaſſung desſelben , alſo Iffland und dem in Sicht
ſtehenden neuen Schauſpiele zugewandt , bei welcher
Gelegenheit Alvensleben bemerkte , „ daß er einige der
in den Text eingeſtreuten Geſangsſtücke während dieſer
letzten Tage kennen gelernt habe . Gemeinſchaftlich
mit Schach . Und zwar im Salon der liebenswür¬
digen Frau v. Carayon und ihrer Tochter Victoire .
Dieſe habe geſungen und Schach begleitet . “
„ Die Carayons , “ nahm der Prinz das Wort .
„Ich höre keinen Namen jetzt öfter als den . Meine
teure Freundin Pauline , hat mir ſchon früher von beiden
Damen erzählt , und neuerdings auch die Rahel . Alles
vereinigt ſich , mich neugierig zu machen und An¬
knüpfungen zu ſuchen , die ſich , mein ich , unſchwer
werden finden laſſen . Entſinn ich mich doch des
ſchönen Fräuleins vom Maſſowſchen Kinderballe her ,
der , nach Art aller Kinderbälle , des Vorzugs genoß ,
eine ganz beſondre Schauſtellung erwachſener und
voll erblühter Schönheiten zu ſein . Und wenn ich
ſage , , voll erblühter ‘ , ſo ſag ich noch wenig . In der
That , an keinem Ort und zu keiner Zeit hab ich je ſo
ſchöne Dreißigerinnen auftreten ſehen , als auf Kin¬
derbällen . Es iſt , als ob die Nähe der bewußt oder
unbewußt auf Umſturz ſinnenden Jugend , alles , was
heute noch herrſcht , doppelt und dreifach anſpornte ,
ſein Übergewicht geltend zu machen , ein Übergewicht ,
das vielleicht morgen ſchon nicht mehr vorhanden iſt .
Aber gleichviel , meine Herren , es wird ſich ein für
allemal ſagen laſſen , daß Kinderbälle nur für Er¬
wachſene da ſind , und dieſer intereſſanten Erſcheinung
in ihren Urſachen nachzugehen , wäre ſo recht eigentlich ein
Thema für unſren Gentz . Ihr philoſophiſcher Freund
Buchholtz , lieber Sander , iſt mir zu ſolchem Spiele nicht
graziös genug . Übrigens nichts für ungut ; er iſt
Ihr Freund . “
„ Aber doch nicht ſo , “ lachte Sander , „ daß ich
nicht jeden Augenblick bereit wäre , ihn Eurer König¬
lichen Hoheit zu opfern . Und wie mir bei dieſer Ge¬
legenheit geſtattet ſein mag , hinzuzuſetzen , nicht bloß
aus einem allerſpeziellſten , ſondern auch noch aus
einem ganz allgemeinen Grunde . Denn wenn die
Kinderbälle , nach Anſicht und Erfahrung Euer König¬
lichen Hoheit , eigentlich am beſten ohne Kinder be¬
ſtehen , ſo die Freundſchaften am beſten ohne Freunde .
Die Surrogate bedeuten überhaupt alles im Leben ,
und ſind recht eigentlich die letzte Weisheitseſſenz . “
„ Es muß ſehr gut mit Ihnen ſtehn , lieber San¬
der , “ entgegnete der Prinz , „ daß Sie ſich zu ſolchen
Ungeheuerlichkeiten offen bekennen können . Mais
révenons à notre belle Victoire . Sie war unter
den jungen Damen , die durch lebende Bilder das
Feſt damals einleiteten , und ſtellte , wenn mich mein
Gedächtnis nicht trügt , eine Hebe dar , die dem Zeus
eine Schale reichte . Ja , ſo war es , und indem ich
davon ſpreche , tritt mir das Bild wieder deutlich vor
die Seele . Sie war kaum fünfzehn , und von jener
Taille , die jeden Augenblick zu zerbrechen ſcheint .
Aber ſie zerbrechen nie . ‚ Comme un ange ‘ , ſagte
der alte Graf Neale , der neben mir ſtand , und mich
durch eine Begeiſtrung langweilte , die mir einfach als
eine Karrikatur der meinigen erſchien . Es wäre mir
eine Freude , die Bekanntſchaft der Damen erneuern
zu können . “
„ Eure Königliche Hoheit würden das Fräulein
Victoire nicht wieder erkennen , “ ſagte Schach , dem der
Ton , in dem der Prinz ſprach , wenig angenehm war .
„Gleich nach dem Maſſowſchen Balle wurde ſie von
den Blattern befallen , und nur wie durch ein Wun¬
der gerettet . Ein gewiſſer Reiz der Erſcheinung iſt
ihr freilich geblieben , aber es ſind immer nur Mo¬
mente , wo die ſeltene Liebenswürdigkeit ihrer Natur
einen Schönheitsſchleier über ſie wirft , und den
Zauber ihrer früheren Tage wiederherzuſtellen ſcheint . “
„ Alſo restitutio in integrum , “ ſagte Sander .
Alles lachte .
„ Wenn Sie ſo wollen , ja , “ antwortete Schach
in einem ſpitzen Tone , während er ſich ironiſch gegen
Sander verbeugte .
Der Prinz bemerkte die Verſtimmung und wollte
ſie coupieren . „ Es hilft Ihnen nichts , lieber Schach .
Sie ſprechen , als ob Sie mich abſchrecken wollten .
Aber weit gefehlt . Ich bitte Sie , was iſt Schönheit ?
Einer der allervagueſten Begriffe . Muß ich Sie an
die fünf Kategorien erinnern , die wir in erſter Reihe
Sr. Majeſtät dem Kaiſer Alexander und in zweiter
unſrem Freunde Bülow verdanken ? Alles iſt ſchön
und nichts . Ich perſönlich würde der beauté du
diable jederzeit den Vorzug geben , will alſo ſagen
einer Erſcheinungsform , die ſich mit der des ci-devant
ſchönen Fräuleins von Carayon einigermaßen decken
würde . “
„ Königliche Hoheit halten zu Gnaden , “ entgegnete
Noſtitz , „ aber es bleibt mir doch zweifelhaft , ob K. H.
die Kennzeichen der beauté du diable an Fräulein
Victoire wahrnehmen würden . Das Fräulein hat
einen witzig-elegiſchen Ton , was auf den erſten Blick
als ein Widerſpruch erſcheint , und doch keiner iſt ,
unter allen Umſtänden aber als ihr charakteriſtiſcher
Zug gelten kann . Meinen Sie nicht auch , Alvensleben ? “
Alvensleben beſtätigte .
Der Prinz indeſſen , der ein ſich Einbohren in
Fragen über die Maaßen liebte , fuhr , indem er ſich
dieſer Neigung auch heute wieder hingab , immer leb¬
hafter werdend fort : „ Elegiſch “ ſagen Sie , „ witzig¬
elegiſch ; ich wüßte nicht , was einer beauté du diable
beſſer anſtehn könnte . Sie faſſen den Begriff offenbar
zu eng , meine Herren . Alles was Ihnen dabei vor¬
ſchwebt , iſt nur eine Spielart der alleralltäglichſten
Schönheitsform , der beauté coquette : das Näschen
ein wenig mehr geſtubſt , der Teint ein wenig dunkler ,
das Temperament ein wenig raſcher , die Manieren
ein wenig kühner und rückſichtsloſer . Aber damit er¬
ſchöpfen Sie die höhere Form der beauté du diable
keineswegs . Dieſe hat etwas Weltumfaſſendes , das
über eine bloße Teint- und Raſſenfrage weit hinaus¬
geht . Ganz wie die Katholiſche Kirche . Dieſe wie
jene ſind auf ein Innerliches geſtellt , und das Inner¬
liche , das in unſerer Frage den Ausſchlag giebt ,
heißt Energie , Feuer , Leidenſchaft . “
Noſtitz und Sander lächelten und nickten .
„ Ja , meine Herren , ich gehe weiter und wieder¬
hole , was iſt Schönheit ? ‘ Schönheit , bah ! Es kann
nicht nur auf die gewöhnlichen Schönheitsformen ver¬
zichtet werden ihr Fehlen kann ſogar einen allerdirekteſten
Vorzug bedeuten . In der That , lieber Schach , ich habe
wunderbare Niederlagen und noch wunderbarere Siege
geſehn . Es iſt auch in der Liebe wie bei Morgarten
und Sempach , die ſchönen Ritter werden geſchlagen
und die häßlichen Bauern triumphieren . Glauben Sie
mir , das Herz entſcheidet , nur das Herz . Wer liebt ,
wer die Kraft der Liebe hat , iſt auch liebenswürdig ,
und es wäre grauſam , wenn es anders wäre . Gehen
Sie die Reihe der eigenen Erfahrungen durch . Was
iſt alltäglicher , als eine ſchöne Frau durch eine nicht
ſchöne Geliebte verdrängt zu ſehn ! Und nicht etwa
nach dem Satze toujours perdrix . O nein , es hat
dies viel tiefre Zuſammenhänge . Das Langweiligſte
von der Welt iſt die lymphatiſch-phlegmatiſche beauté ,
die beauté par excellence . Sie kränkelt hier , ſie
kränkelt da , ich will nicht ſagen immer und notwendig ,
aber doch in der Mehrzahl der Fälle , während meine
beauté du diable die Trägerin einer allervollkommenſten
Geſundheit iſt , jener Geſundheit , die zuletzt alles be¬
deutet und gleichwertig iſt mit höchſtem Reiz . Und
nun frag ich Sie , meine Herrn , wer hätte mehr davon
als die Natur , die durch die größten und gewaltigſten
Läuterungsprozeſſe wie durch ein Fegefeuer gegangen
iſt . Ein paar Grübchen in der Wange ſind das
Reizendſte von der Welt , das hat ſchon bei den Römern
und Griechen gegolten , und ich bin nicht ungalant und
unlogiſch genug , um einer Grübchen-Vielheit einen Reſpekt
und eine Huldigung zu verſagen , die der Einheit
oder dem Pärchen von Alters her gebührt . Das
paradoxe , le laid c'est le beau‘ hat ſeine voll¬
kommne Berechtigung , und es heißt nichts andres , als
daß ſich hinter dem anſcheinend Häßlichen eine höhere
Form der Schönheit verbirgt . Wäre meine teure
Pauline hier , wie ſies leider nicht iſt , ſie würde mir
zuſtimmen , offen und nachdrücklich , ohne durch perſön¬
liche Schickſale captiviert zu ſein . “
Der Prinz ſchwieg . Es war erſichtlich , daß er
auf einen allſeitigen Ausdruck des Bedauerns wartete ,
Frau Pauline , die gelegentlich die Honneurs des
Hauſes machte , heute nicht anweſend zu ſehn . Als
aber Niemand das Schweigen brach , fuhr er fort :
„ Es fehlen uns die Frauen , und damit dem Wein
und unſrem Leben der Schaum . Ich nehme meinen
Wunſch wieder auf und wiederhole , daß es mich
glücklich machen würde , die Carayon'ſchen Damen in
dem Salon meiner Freundin empfangen zu dürfen .
Ich zähle darauf , daß diejenigen Herren , die dem
Kreiſe der Frau von Carayon angehören , ſich zum Inter¬
preten meiner Wünſche machen . Sie Schach , oder
auch Sie , lieber Alvensleben . “
Beide verneigten ſich .
„ Alles in allem wird es das Beſte ſein , meine
Freundin Pauline nimmt es perſönlich in die Hand .
Ich denke , ſie wird den Carayon'ſchen Damen einen
erſten Beſuch machen , und ich ſehe Stunden eines
angeregteſten geiſtigen Austauſches entgegen . “
Die peinliche Stille , womit auch dieſe Schlu߬
worte hingenommen wurden , würde noch fühlbarer
geweſen ſein , wenn nicht Duſſek in eben dieſem Moment
auf den Balkon hinausgetreten wäre . „ Wie ſchön “ ,
rief er und wies mit der Hand auf den weſtlichen ,
bis hoch hinauf in einem glühgelben Lichte ſtehenden
Horizont .
Alle waren mit ihm an die Brüſtung des Bal¬
kons getreten , und ſahen flußabwärts in den Abend¬
himmel hinein . Vor dem gelben Lichtſtreifen ſtanden
ſchwarz und ſchweigend die hohen Pappeln und ſelbſt
die Schloßkuppel wirkte nur noch als Schattenriß .
Einen jeden der Gäſte berührte dieſe Schönheit .
Am ſchönſten aber war der Anblick zahlloſer Schwäne ,
die , während man in den Abendhimmel ſah , vom
Charlottenburger Park her in langer Reihe heran¬
kamen . Andre lagen ſchon in Front . Es war er¬
ſichtlich , daß die ganze Flottille durch irgend was
bis in die Nähe der Villa gelockt ſein mußte , denn
ſobald ſie die Höhe derſelben erreicht hatte , ſchwenkten
ſie wie militäriſch ein und verlängerten die Front
derer , die hier ſchon ſtill und regungslos und die
Schnäbel unter dem Gefieder verborgen , wie vor
Anker lagen . Nur das Rohr bewegte ſich leis in
ihrem Rücken . So verging eine geraume Zeit . End¬
lich aber erſchien einer in unmittelbarer Nähe des
Balkons , und reckte den Hals , als ob er etwas
ſagen wollte .
„ Wem gilt es ? “ fragte Sander . „ Dem Prinzen
oder Duſſek oder der Sinumbralampe . “
„ Natürlich dem Prinzen , “ antwortete Duſſek .
„ Und warum ? “
„ Weil er nicht blos Prinz iſt , ſondern auch Duſſek
und ‚ sine umbra ‘ . “
Alles lachte ( der Prinz mit ) , während Sander
allerförmlichſt „ zum Hofkapellmeiſter “ gratulierte . „ Und
wenn unſer Freund , “ ſo ſchloß er , „ in Zukunft wieder
Strohalme ſammelt , um an ihnen zu ſehen , „ woher
der Wind weht , “ ſo wird dieſer Wind ihm allemal
aus dem Lande geheiligter Traditionen und nicht mehr
aus dem Lande der Vorurteile zu kommen ſcheinen . “
Als Sander noch ſo ſprach , ſetzte ſich die Schwanen¬
flotille , die wohl durch die Duſſekſche Muſik herbei¬
gelockt ſein mußte , wieder in Bewegung , und ſegelte
flußabwärts , wie ſie bis dahin flußaufwärts gekommen
war . Nur der Schwan , der den Obman gemacht ,
erſchien noch einmal , als ob er ſeinen Dank wieder¬
holen und ſich in ceremoniellſter Weiſe verabſchieden
wolle .
Dann aber nahm auch er die Mitte des Fluſſes , und
folgte den übrigen , deren T ê te ſchon unter dem Schatten
der Parkbäume verſchwunden war .
7
8. Kapitel .
Schach und Victoire .
E s war kurz nach dieſem Diner beim Prin¬
zen , daß in Berlin bekannt wurde , der
König werde noch vor Schluß der Woche
von Potsdam herüberkommen , um auf dem Tempelhofer
Felde eine große Revue zu halten . Die Nachricht
davon weckte diesmal ein mehr als gewöhnliches In¬
tereſſe , weil die geſamte Bevölkerung nicht nur dem
Frieden mißtraute , den Haugwitz mit heimgebracht
hatte , ſondern auch mehr und mehr der Überzeugung
lebte , daß im Letzten immer nur unſre eigene
Kraft auch unſre Sicherheit bez. unſre Rettung ſein
werde . Welch andre Kraft aber hatten wir als die
Armee , die Armee , die , was Erſcheinung und Schu¬
lung anging , immer noch die friedericianiſche war .
In ſolcher Stimmung ſah man dem Revuetage
der ein Sonnabend war , entgegen .
Das Bild , das die Stadt vom frühen Morgen an
darbot , entſprach der Aufregung , die herrſchte . Tauſende
ſtrömten hinaus , und bedeckten vom Halleſchen Thor
an die berganſteigende Straße , zu deren beiden Seiten
ſich die „ Knapphänſe “ , dieſe bekannten Zivilmarketen¬
der , mit ihren Körben und Flaſchen etabliert hatten .
Bald danach erſchienen auch die Equipagen der vor¬
nehmen Welt , unter dieſen die Schachs , die für den
heutigen Tag den Carayonſchen Damen zur Dispo¬
ſition geſtellt worden war . Im ſelben Wagen mit
ihnen befand ſich ein alter Herr v. d. Recke , früher
Offizier , der , als naher Anverwandter Schachs , die
Honneurs und zugleich den militäriſchen Interpreten
machte . Frau v. Carayon trug ein ſtahlgraues Sei¬
denkleid und eine Mantille von gleicher Farbe , während
von Victoirens breitrandigem Italienerhut ein blauer
Schleier im Winde flatterte . Neben dem Kutſcher
ſaß der Groom und erfreute ſich der Huld beider
Damen , ganz beſonders auch der ziemlich willkürlich
accentuierten engliſchen Worte , die Victoire von Zeit
zu Zeit an ihn richtete .
Für elf Uhr war das Eintreffen des Königs
angemeldet worden , aber lange vorher ſchon erſchienen
die zur Revue befohlenen , altberühmten Infanterie¬
regimenter Alt Lariſch , v. Arnim und Möllendorff ,
7*
ihre Janitſcharenmuſik vorauf . Ihnen folgte die
Kavallerie : Garde du Corps , Gensdarmes und Leib¬
huſaren , bis ganz zuletzt in einer immer dicker werdenden
Staubwolke die Sechs- und Zwölfpfünder heran¬
raſſelten und klapperten , die zum Teil ſchon bei Prag
und Leuthen und neuerdings wieder bei Valmy und
Pirmaſens gedonnert hatten . Enthuſiaſtiſcher Jubel
begleitete den Anmarſch , und wahrlich , wer ſie ſo
heranziehen ſah , dem mußte das Herz in patriotiſch
ſtolzer Erregung höher ſchlagen . Auch die Carayons
teilten das allgemeine Gefühl , und nahmen es als
bloße Verſtimmung oder Altersängſtlichkeit , als der
alte Herr v. d. Recke ſich vorbog und mit bewegter
Stimme ſagte : „ Prägen wir uns dieſen Anblick ein ,
meine Damen . Denn glauben Sie der Vorahnung
eines alten Mannes , wir werden dieſe Pracht nicht
wiederſehen . Es iſt die Abſchiedsrevue der friederi¬
cianiſchen Armee . “
Victoire hatte ſich auf dem Tempelhofer Felde
leicht erkältet und blieb in ihrer Wohnung zurück ,
als die Mama gegen Abend ins Schauſpiel fuhr , ein
Vergnügen , das ſie jederzeit geliebt hatte , zu keiner
Zeit aber mehr als damals , wo ſich zu der künſtleriſchen
Anregung auch noch etwas von wohlthuender politiſcher
Emotion geſellte . Wallenſtein , die Jungfrau , Tell ,
erſchienen gelegentlich , am häufigſten aber Holbergs
„ politiſcher Zinngießer “ , der , wie Publikum und
Direktion gemeinſchaftlich fühlen mochten , um ein Er¬
hebliches beſſer als die hohe Schillerſche Muſe zu
lärmenden Demonſtrationen geeignet war .
Victoire war allein . Ihr that die Ruhe wohl ,
und in einen türkiſchen Shawl gehüllt , lag ſie träumend
auf dem Sopha , vor ihr ein Brief , den ſie kurz vor
ihrer Vormittagsausfahrt empfangen und in jenem
Augenblicke nur flüchtig geleſen hatte . Deſto lang¬
ſamer und aufmerkſamer freilich , als ſie von der Revue
wieder zurückgekommen war .
Es war ein Brief von Liſette .
Sie nahm ihn auch jetzt wieder zur Hand , und
las eine Stelle , die ſie ſchon vorher mit einem Blei¬
ſtiftsſtrich bezeichnet hatte : „ .. Du mußt wiſſen , meine
liebe Victoire , daß ich , Pardon für dies offne Ge¬
ſtändnis , mancher Äußerung in Deinem letzten Briefe
keinen vollen Glauben ſchenke . Du ſuchſt Dich und
mich zu täuſchen , wenn Du ſchreibſt , daß Du Dich in
ein Reſpektsverhältnis zu S. hineindenkſt . Er würde
ſelber lächeln , wenn er davon hörte . Daß Du Dich
plötzlich ſo verletzt fühlen , ja , verzeihe , ſo piquiert
werden konnteſt , als er den Arm Deiner Mama nahm ,
verrät Dich , und giebt mir allerlei zu denken , wie
denn auch andres noch , was Du ſpeziell in dieſer
Veranlaſſung ſchreibſt . Ich lerne Dich plötzlich von
einer Seite kennen , von der ich Dich noch nicht kannte ,
von der argwöhniſchen nähmlich . Und nun , meine
teure Victoire , hab ein freundliches Ohr für das ,
was ich Dir in Bezug auf dieſen wichtigen Punkt zu
ſagen habe . Bin ich doch die ältere . Du darfſt Dich
ein für allemal nicht in ein Mißtrauen gegen Perſonen
hineinleben , die durchaus den entgegengeſetzten An¬
ſpruch erheben dürfen . Und zu dieſen Perſonen , mein
ich , gehört Schach . Ich finde , je mehr ich den Fall
überlege , daß Du ganz einfach vor einer Alternative
ſtehſt , und entweder Deine gute Meinung über S. ,
oder aber Dein Mißtrauen gegen ihn fallen laſſen
mußt . Er ſei Kavalier , ſchreibſt Du mir , „ ja , das
Ritterliche , “ fügſt Du hinzu , „ ſei ſo recht eigentlich
ſeine Natur , “ und im ſelben Augenblicke , wo Du dies
ſchreibſt , bezichtigt ihn Dein Argwohn einer Handels¬
weiſe , die , träfe ſie zu , das Unritterlichſte von der
Welt ſein würde . Solche Widerſprüche giebt es nicht .
Man iſt entweder ein Mann von Ehre , oder man iſt
es nicht . Im Übrigen , meine teure Victoire , ſei gutes
Mutes , und halte Dich ein für allemal verſichert , Dir
lügt der Spiegel . Es iſt nur Eines , um deſſent¬
willen wir Frauen leben , wir leben , um uns ein Herz
zu gewinnen , aber wodurch wir es gewinnen , iſt
gleichgiltig . “
Victoire faltete das Blatt wieder zuſammen . „ Es
rät und tröſtet ſich leicht aus einem vollen Beſitz
heraus ; ſie hat alles und nun iſt ſie großmütig .
Arme Worte , die von des Reichen Tiſche fallen . “
Und ſie bedeckte beide Augen mit ihren Händen .
In dieſem Augenblick hörte ſie die Klingel gehen ,
und gleich danach ein zweites Mal , ohne daß jemand
von der Dienerſchaft gekommen wäre . Hatten es Beate
und der alte Jannaſch überhört ? Oder waren ſie fort ?
Eine Neugier überkam ſie . Sie ging alſo leiſe bis an
die Thür und ſah auf den Vorflur hinaus . Es war
Schach . Einen Augenblick ſchwankte ſie , was zu thun
ſei , dann aber öffnete ſie die Glasthür und bat ihn
einzutreten .
„ Sie klingelten ſo leiſe . Beate wird es über¬
hört haben . “
„ Ich komme nur , um nach dem Befinden der
Damen zu fragen . Es war ein prächtiges Parade¬
wetter , kühl und ſonnig , aber der Wind ging doch
ziemlich ſcharf . . “
„ Und Sie ſehen mich unter ſeinen Opfern . Ich
fiebre , nicht gerade heftig , aber wenigſtens ſo , daß
ich daß Theater aufgeben mußte . Der Shawl ( in den
ich bitte , mich wieder einwickeln zu dürfen ) und dieſe
Tiſane , von der Beate wahre Wunder erwartet , wer¬
den mir wahrſcheinlich zuträglicher ſein , als Wallen¬
ſteins Tod . Mama wollte mir anfänglich Geſellſchaft
leiſten . Aber Sie kennen ihre Paſſion für alles ,
was Schauſpiel heißt , und ſo hab ich ſie fortgeſchickt .
Freilich auch aus Selbſtſucht ; denn daß ich es geſtehe ,
mich verlangte nach Ruhe . “
„ Die nun mein Erſcheinen doch wiederum ſtört .
Aber nicht auf lange , nur gerade lange genug , um
mich eines Auftrags zu entledigen , einer Anfrage , mit
der ich übrigens leichtmöglicherweiſe zu ſpät komme ,
wenn Alvensleben ſchon geſprochen haben ſollte . “
„ Was ich nicht glaube , vorausgeſetzt , daß es nicht
Dinge ſind , die Mama für gut befunden hat , ſelbſt
vor mir als Geheimnis zu behandeln “
„ Ein ſehr unwahrſcheinlicher Fall . Denn es iſt
ein Auftrag , der ſich an Mutter und Tochter gleich¬
zeitig richtet . Wir hatten ein Diner beim Prinzen ,
cercle intime , zuletzt natürlich auch Duſſek . Er ſprach
vom Theater ( von was andrem ſollt er ) und brachte
ſogar Bülow zum Schweigen , was vielleicht eine
That war . “
„ Aber Sie mediſieren ja , lieber Schach . “
„ Ich verkehre lange genug im Salon der Frau
v. Carayon , um wenigſtens in den Elementen dieſer
Kunſt unterrichtet zu ſein . “
„ Immer ſchlimmer , immer größere Ketzereien .
Ich werde Sie vor das Großinquiſitoriat der Mama
bringen . Und wenigſtens der Tortur einer Sitten¬
predigt ſollen Sie nicht entgehen . “
„ Ich wüßte keine liebere Strafe . “
„ Sie nehmen es zu leicht . . Aber nun der
Prinz . . “
„ Er will Sie ſehen , beide , Mutter und Tochter .
Frau Pauline , die , wie Sie vielleicht wiſſen , den
Zirkel des Prinzen macht , ſoll Ihnen eine Einladung
überbringen . “
„ Der zu gehorchen , Mutter und Tochter ſich zu
beſondrer Ehre rechnen werden . “
„ Was mich nicht wenig überraſcht . Und Sie
können , meine teure Victoire , dies kaum im Ernſte
geſprochen haben . Der Prinz iſt mir ein gnädger
Herr , und ich lieb ihn de tout mon coeur . Es be¬
darf keiner Worte darüber . Aber er iſt ein Licht mit
einem reichlichen Schatten , oder , wenn Sie mir den
Vergleich geſtatten wollen , ein Licht , das mit einem
Räuber brennt . Alles in allem , er hat den zweifel¬
haften Vorzug ſo vieler Fürſtlichkeiten , in Kriegs- und
in Liebesabenteuern gleich hervorragend zu ſein , oder
es noch runder heraus zu ſagen , er iſt abwechſelnd
ein Helden- und ein Debauchenprinz . Dabei grund¬
ſatzlos und rückſichtslos , ſogar ohne Rückſicht auf den
Schein . Was vielleicht das Allerſchlimmſte iſt . Sie
kennen ſeine Beziehungen zu Frau Pauline ? “
„ Ja . “
„ Und . . . “
„ Ich billige ſie nicht . Aber ſie nicht billigen , iſt
etwas andres als ſie verurteilen . Mama hat mich
gelehrt , mich über derlei Dinge nicht zu kümmern
und zu grämen . Und hat ſie nicht Recht ? Ich frage
Sie , lieber Schach , was würd aus uns , ganz ſpeziell
aus uns zwei Frauen , wenn wir uns innerhalb
unſrer Umgangs- und Geſellſchaftsſphäre zu Sitten¬
richtern aufwerfen und Männlein und Weiblein auf
die Korrektheit ihres Wandels hin prüfen wollten ?
Etwa durch eine Waſſer- und Feuerprobe . Die Ge¬
ſellſchaft iſt ſouverän . Was ſie gelten läßt , gilt , was
ſie verwirft , iſt verwerflich . Außerdem liegt hier alles
exzeptionell . Der Prinz iſt ein Prinz , Frau von
Carayon iſt eine Witwe , und ich . . bin ich . “
„ Und bei dieſem Entſcheide ſoll es bleiben ,
Victoire ? “
„ Ja . Die Götter balancieren . Und wie mir
Liſette Perbandt eben ſchreibt : , wem genommen wird ,
dem wird auch gegeben ‘ . In meinem Falle liegt der
Tauſch etwas ſchmerzlich , und ich wünſchte wohl , ihn
nicht gemacht zu haben . Aber andrerſeits geh ich
nicht blind an dem eingetauſchtem Guten vorüber ,
und freue mich meiner Freiheit . Wovor andre meines
Alters und Geſchlechts erſchrecken , das darf ich . An
dem Abende bei Maſſows , wo man mir zuerſt
huldigte , war ich , ohne mir deſſen bewußt zu ſein ,
eine Sklavin . Oder doch abhängig von hundert
Dingen . Jetzt bin ich frei . “
Schach ſah verwundert auf die Sprecherin .
Manches , was der Prinz über ſie geſagt hatte , ging
ihm durch den Kopf . Waren das Überzeugungen oder
Einfälle ? War es Fieber ? Ihre Wangen hatten ſich
gerötet , und ein aufblitzendes Feuer in ihrem Auge
traf ihn mit dem Ausdruck einer trotzigen Ent¬
ſchloſſenheit . Er verſuchte jedoch ſich in den leichten
Ton , in dem ihr Geſpräch begonnen hatte , zurück¬
zufinden , und ſagte : „ Meine teure Victoire ſcherzt .
Ich möchte wetten , es iſt ein Band Rouſſeau , was
da vor ihr liegt , und ihre Phantaſie geht mit dem
Dichter . “
„ Nein , es iſt nicht Rouſſeau . Es iſt ein anderer ,
der mich mehr intereſſiert . “
„ Uud Und wer , wenn ich neugierig ſein darf ? “
„ Mirabeau . “
„ Und warum mehr ? “
„ Weil er mir näher ſteht . Und das Allerper¬
ſönlichſte beſtimmt immer unſer Urteil . Oder doch faſt
immer . Er iſt mein Gefährte , mein ſpezieller Leidens¬
genoß . Unter Schmeicheleien wuchs er auf . ,Ah ,
das ſchöne Kind ,‘ hieß es tagein , tagaus . Und dann
eines Tags war alles hin , hin wie . . wie . . “
„ Nein , Victoire , Sie ſollen das Wort nicht
ausſprechen . “
„ Ich will es aber , und würde den Namen
meines Gefährten und Leidensgenoſſen zu meinem
eigenen machen , wenn ich es könnte . Victoire
Mirabeau de Carayon , oder ſagen wir Mirabelle
de Carayon , das klingt ſchön und ungezwungen , und
wenn ichs recht überſetze , ſo heißt es Wunderhold . “
Und dabei lachte ſie voll Uebermut und Bitter¬
keit . Aber die Bitterkeit klang vor .
„ Sie dürfen ſo nicht lachen , Victoire , nicht ſo .
Das kleidet Ihnen nicht , das verhäßlicht Sie . Ja ,
werfen Sie nur die Lippen , — verhäßlicht Sie .
Der Prinz hatte doch Recht , als er enthuſiaſtiſch von
Ihnen ſprach . Armes Geſetz der Form und der Farbe .
Was allein gilt , iſt das ewig Eine , daß ſich die Seele
den Körper ſchafft oder ihn durchleuchtet und
verklärt . “
Victoirens Lippen flogen , ihre Sicherheit verließ
ſie , und ein Froſt ſchüttelte ſie . Sie zog den Shawl
höher hinauf , und Schach nahm ihre Hand , die eis¬
kalt war , denn alles Blut drängte nach ihrem Herzen .
„ Victoire , Sie thun ſich Unrecht ; Sie wüten
nutzlos gegen ſich ſelbſt , und ſind um nichts beſſer
als der Schwarzſeher , der nach allem Trüben ſucht
und an Gottes hellem Sonnenlicht vorüber ſieht . Ich
beſchwöre Sie , faſſen Sie ſich und glauben Sie wieder
an Ihr Anrecht auf Leben und Liebe . War ich denn
blind ? In dem bittren Wort , in dem Sie ſich
demütigen wollten , in eben dieſem Worte haben Sies
getroffen , ein für allemal . Alles iſt Märchen und
Wunder an Ihnen ; ja Mirabelle , ja Wunderhold ! “
Ach , das waren die Worte , nach denen ihr Herz
gebangt hatte , während es ſich in Trotz zu waffnen ſuchte .
Und nun hörte ſie ſie willenlos und ſchwieg in
einer ſüßen Betäubung .
Die Zimmeruhr ſchlug neun und die Turmuhr
draußen antwortete . Victoire , die den Schlägen ge¬
folgt war , ſtrich das Haar zurück , und trat ans
Fenſter und ſah auf die Straße .
„ Was erregt Dich ? “
„ Ich meinte , daß ich den Wagen gehört hätte . “
„ Du hörſt zu fein . “
Aber ſie ſchüttelte den Kopf , und im ſelben
Augenblicke fuhr der Wagen der Frau von Carayon vor .
„ Verlaſſen Sie mich . . Bitte . “
„ Bis auf morgen . “
Und ohne zu wiſſen , ob es ihm glücken werde ,
der Begegnung mit Frau von Carayon auszuweichen ,
empfahl er ſich raſch und huſchte durch Vorzimmer
und Korridor .
Alles war ſtill und dunkel unten , und nur von
der Mitte des Hausflurs her , fiel ein Lichtſchimmer
bis in Nähe der oberſten Stufen . Aber das Glück war
ihm hold . Ein breiter Pfeiler , der bis dicht an die
Treppenbrüſtung vorſprang , teilte den ſchmalen Vor¬
flur in zwei Hälften , und hinter dieſen Pfeiler trat
er und wartete .
Victoire ſtand in der Glasthür und empfing
die Mama .
„ Du kommſt ſo früh . Ach , und wie hab ich
Dich erwartet ! “
Schach hörte jedes Wort . „ Erſt die Schuld und
dann die Lüge “ , klang es in ihm . „ Das alte Lied . “
Aber die Spitze ſeiner Worte richtete ſich gegen
ihn und nicht gegen Victoire .
Dann trat er aus ſeinem Verſteck hervor und
ſchritt raſch und geräuſchlos die Treppe hinunter .
9 . Kapitel .
Schach zieht ſich zurück .
B is auf morgen , “ war Schachs Abſchieds¬
wort geweſen , aber er kam nicht . Auch
am zweiten und dritten Tage nicht . Vic¬
toire ſuchte ſichs zurechtzulegen , und wenn es nicht
glücken wollte , nahm ſie Liſettens Brief und las immer
wieder die Stelle , die ſie längſt auswendig wußte .
„ Du darfſt Dich , ein für allemal , nicht in ein Mi߬
trauen gegen Perſonen hineinleben , die durchaus den
entgegengeſetzten Anſpruch erheben dürfen . Und zu
dieſen Perſonen , mein ich , gehört Schach . Ich finde ,
je mehr ich den Fall überlege , daß Du ganz einfach
vor einer Alternative ſtehſt , und entweder Deine gute
Meinung über S. , oder aber Dein Mißtrauen gegen
ihn fallen laſſen mußt . “ Ja , Liſette hatte Recht und
doch blieb ihr eine Furcht im Gemüte . „ Wenn doch
alles nur . . “ Und es übergoß ſie mit Blut .
Endlich am vierten Tage kam er . Aber es traf
ſich , daß ſie kurz vorher in die Stadt gegangen war .
Als ſie zurückkehrte , hörte ſie von ſeinem Beſuch ;
er ſei ſehr liebenswürdig geweſen , habe zwei- , dreimal
nach ihr gefragt , und ein Bouquet für ſie zurückge¬
laſſen . Es waren Veilchen und Roſen , die das
Zimmer mit ihrem Dufte füllten . Victoire , während
ihr die Mama von dem Beſuche vorplauderte , be¬
mühte ſich , einen leichten und übermütigen Ton an¬
zuſchlagen , aber ihr Herz war zu voll von widerſtrei¬
tenden Gefühlen , und ſie zog ſich zurück , um ſich in
zugleich glücklichen und bangen Thränen aus zuweinen .
Inzwiſchen war der Tag herangekommen , wo
die „ Weihe der Kraft “ gegeben weiden ſollte . Schach
ſchickte ſeinen Diener und ließ anfragen , ob die Damen
der Vorſtellung beizuwohnen gedächten ? Es war eine
bloße Form , denn er wußte , daß es ſo ſein werde .
Im Theater waren alle Plätze beſetzt . Schach
ſaß den Carayons gegenüber und grüßte mit großer
Artigkeit . Aber bei dieſem Gruße blieb es , und er
kam nicht in ihre Loge hinüber , eine Zurückhaltung ,
über die Frau von Carayon kaum weniger betroffen
war , als Victoire . Der Streit indeſſen , den das hin¬
ſichtlich des Stücks in zwei Lager geteilte Publikum
führte , war ſo heftig und aufregend , daß beide Damen
ebenfalls mit hingeriſſen wurden und momentan wenig¬
ſtens alles Perſönliche vergaßen . Erſt auf dem Heim¬
wege kehrte die Verwunderung über Schachs Be¬
nehmen zurück .
Am andern Vormittage ließ er ſich melden .
Frau von Carayon war erfreut , Victoire jedoch , die
ſchärfer ſah , empfand ein tiefes Unbehagen . Er hatte
ganz erſichtlich dieſen Tag abgewartet , um einen be¬
quemen Plauderſtoff zu haben und mit Hilfe desſelben
über die Peinlichkeit eines erſten Wiederſehens mit
ihr leichter hinwegzukommen . Er küßte der Frau
von Carayon die Hand und wandte ſich dann gegen
Victoiren , um dieſer ſein Bedauern auszuſprechen , ſie
bei ſeinem letzten Beſuche verfehlt zu haben . Man
entfremde ſich faſt , anſtatt ſich feſter anzugehören .
Er ſprach dies ſo , daß ihr ein Zweifel blieb , ob er
es mit tieferer Bedeutung oder aus bloßer Verlegen¬
heit geſagt habe . Sie ſann darüber nach , aber ehe
ſie zum Abſchluß kommen konnte , wandte ſich das
Geſpräch dem Stücke zu .
„ Wie finden Sies ? “ fragte Frau von Carayon .
„ Ich liebe nicht Komödien , “ antwortete Schach ,
„die fünf Stunden ſpielen . Ich wünſche Vergnügen
oder Erholung im Theater , aber keine Strapaze . “
„ Zugeſtanden . Aber dies iſt etwas Äußerliches ,
und beiläufig ein Mißſtand , dem eheſtens abgeholfen
ſein wird . Iffland ſelbſt iſt mit erheblichen Kürzun¬
8
gen einverſtanden . Ich will Ihr Urteil über das
Stück . “
„ Es hat mich nicht befriedigt . “
„ Und warum nicht ? “
„ Weil es alles auf den Kopf ſtellt . Solchen
Luther hat es Gott ſei Dank nie gegeben , und wenn
ein ſolcher je käme , ſo würd er uns einfach dahin
zurückführen , von wo der echte Luther uns ſeinerzeit
wegführte . Jede Zeile widerſtreitet dem Geiſt und
Jahrhundert der Reformation ; alles iſt Jeſuitismus
oder Myſticismus , und treibt ein unerlaubtes und
beinah kindiſches Spiel mit Wahrheit und Geſchichte .
Nichts paßt . Ich wurde beſtändig an das Bild
Albrecht Dürers erinnert , wo Pilatus mit Piſtolen¬
halftern reitet oder an ein ebenſo bekanntes Altarblatt
in Soeſt , wo ſtatt des Oſterlamms ein weſtfäliſcher
Schinken in der Schüſſel liegt . In dieſem ſein-wol¬
lenden Lutherſtück aber liegt ein allerpfäffichſter Pfaff in
der Schüſſel . Es iſt ein Anachronismus von Anfang
bis Ende . “
„ Gut . Das iſt Luther . Aber ich wiederhole ,
das Stück ? “
„ Luther iſt das Stück . Das andre bedeutet nichts .
Oder ſoll ich mich für Katharina von Bora begeiſtern ,
für eine Nonne , die ſchließlich keine war “ .
Victoire ſenkte den Blick und ihre Hand zitterte .
Schach ſah es , und über ſeinen faux pas erſchreckend ,
ſprach er jetzt haſtig und in ſich überſtürzender Weiſe
von einer Parodie , die vorbereitet werde , von einem
angekündigten Proteſte der lutheriſchen Geiſtlichkeit ,
vom Hofe , von Iffland , vom Dichter ſelbſt , und
ſchloß endlich mit einer übertriebenen Lobpreiſung der
eingelegten Lieder und Kompoſitionen . Er hoffe , daß
Fräulein Victoire noch den Abend in Erinnerung habe ,
wo er dieſe Lieder am Klavier begleiten durfte .
All dies wurde ſehr freundlich geſprochen , aber
ſo freundlich es klang , ſo fremd klang es auch ,
und Victoire hörte mit feinem Ohr heraus , daß es
nicht die Sprache war , die ſie fordern durfte . Sie
war bemüht ihm unbefangen zu antworten , aber es
blieb ein äußerliches Geſpräch bis er ging .
Den Tag nach dieſem Beſuche kam Tante Mar¬
guerite . Sie hatte bei Hofe von dem ſchönen Stücke
gehört , „ das ſo ſchön ſei , wie noch gar keins , “ und
ſo wollte ſies gerne ſehn . Frau von Carayon war ihr
zu Willen , nahm ſie mit in die zweite Vorſtellung ,
und da wirklich ſehr gekürzt worden war , blieb auch
noch Zeit daheim eine halbe Stunde zu plaudern .
„ Nun Tante Marguerite , “ fragte Victoire , „ wie
hat es Dir gefallen ? “
„ Gut , liebe Victoire . Denn es berührt doch den
Hauptpunkt in unſrer gereinigten Kürche . “
„ Welchen meinſt Du , liebe Tante . “
„ Nun den von der chrüſtlichen Ehe . “
8*
Victoire zwang ſich ernſthaft zu bleiben und ſagte
dann : „ Ich dachte , dieſer Hauptpunkt in unſrer Kirche
läge doch noch in etwas andrem , alſo z. B. in der
Lehre vom Abendmahl . “
„ O nein , meine liebe Victoire , das weiß ich
ganz genau . Mit oder ohne Wein , das macht keinen ſo
großen Unterſchied ; aber ob unſre prédicateurs in
einer ſittlich getrauten Ehe leben oder nicht , das ,
mein Engelchen , iſt von einer würklichen importance . “
„ Und ich finde , Tante Marguerite hat ganz Recht , “
ſagte Frau von Carayon .
„ Und das iſt es auch , “ fuhr die gegen alles
Erwarten Belobigte fort , „ was das Stück will , und
was man um ſo deutlicher ſieht , als die Bethmann
würklich eine ſehr hübſche Frau iſt . Oder doch zum
wenigſtens viel hübſcher , als ſie würklich war . Ich meine
die Nonne . Was aber nichts ſchadet , denn er war auch
kein hübſcher Mann , und lange nicht ſo hübſch als er . Ja
werde nur rot , meine liebe Victoire , ſo viel weiß ich auch . “
Frau von Carayon lachte herzlich .
„ Und das muß wahr ſein , unſer Herr Rittmeiſter
von Schach iſt würklich ein ſehr angenehmer Mann ,
und ich denke noch ümmer an Tempelhof und den
aufrechtſtehenden Ritter .. Und wißt Ihr denn , in
Wülmersdorf ſoll auch einer ſein , und auch ebenſo weg¬
geſchubbert . Und von wem ich es habe ? Nun ? Von
la petite Princesse Charlotte . “
10. Kapitel .
„ Es muß etwas geſchehn . “
D ie „ Weihe der Kraft “ wurde nach wie vor
gegeben , und Berlin hörte nicht auf
in zwei Lager geteilt zu ſein . Alles was
myſtiſch-romantiſch war , war für , alles was frei¬
ſinnig war , gegen das Stück . Selbſt im Hauſe
Carayon ſetzte ſich dieſe Fehde fort , und während die
Mama teils um des Hofes , teils um ihrer eignen
„ Gefühle “ willen überſchwänglich mitſchwärmte , fühlte
ſich Victoire von dieſen Sentimentalitäten abgeſtoßen .
Sie fand alles unwahr und unecht , und verſicherte ,
daß Schach in jedem ſeiner Worte Recht gehabt habe .
Dieſer kam jetzt von Zeit zu Zeit , aber doch
immer nur , wenn er ſicher ſein durfte , Victoiren in
Geſellſchaft der Mutter zu treffen . Er bewegte ſich
wieder viel in den „ großen Häuſern “ , und legte , wie
Noſtitz ſpottete , den Radziwills und Carolaths zu ,
was er den Carayons entzog . Auch Alvensleben
ſcherzte darüber , und ſelbſt Victoire verſuchte , den
gleichen Ton zu treffen . Aber ohne daß es ihr
glücken wollte . Sie träumte ſo hin , und nur eigent¬
lich traurig war ſie nicht . Noch weniger unglücklich .
Unter denen , die ſich mit dem Stück , alſo mit
der Tagesfrage beſchäftigten , waren auch die Offiziere
vom Regiment Gensdarmes , obſchon ihnen nicht ein¬
fiel , ſich ernſthaft auf ein Für oder Wider einzu¬
laſſen . Sie ſahen alles ausſchließlich auf ſeine komiſche
Seite hin an , und fanden in der Auflöſung eines Nonnen¬
kloſters , in Katharina von Boras „ neunjähriger Pflege¬
tochter “ und endlich in dem beſtändig Flöte ſpielenden
Luther , einen unerſchöpflichen Stoff für ihren Spott
und Übermut .
Ihr Lieblingsverſammlungsort in jenen Tagen
war die Wachtſtube des Regiments , wo die jüngeren
Kameraden den dienſtthuenden Offizier zu beſuchen
und ſich bis in die Nacht hinein zu divertieren pflegten .
Unter den Geſprächen , die man in Veranlaſſung der
neuen Komödie hier führte , kamen Spöttereien wie
die vorgenannten kaum noch von der Tagesordnung ,
und als einer der Kameraden daran erinnerte , daß
das neuerdings von ſeiner früheren Höhe herabge¬
ſtiegene Regiment eine Art patriotiſche Pflicht habe ,
ſich mal wieder „ als es ſelbſt “ zu zeigen , brach ein
ungeheurer Jubel aus , an deſſen Schluß alle einig waren
„ daß etwas geſchehen müſſe . “ Daß es ſich dabei
lediglich um eine Traveſtie der „ Weihe der Kraft “ ,
etwa durch eine Maskerade , handeln könne , ſtand von
vornherein feſt , und nur über das „ wie “ gingen die
Meinungen noch auseinander . In Folge davon be¬
ſchloß man , ein paar Tage ſpäter eine neue Zu¬
ſammenkunft abzuhalten , in der , nach Anhörung einiger
Vorſchläge , der eigentliche Plan fixiert werden ſollte .
Raſch hatte ſichs herumgeſprochen , und als Tag und
Stunde da waren , waren einige zwanzig Kameraden in
dem vorerwähnten Lokal erſchienen : Itzenplitz , Jürgaß und
Britzke , Billerbeck und Diricke , Graf Haeſeler , Graf
Herzberg , v. Rochow , v. Putlitz , ein Kracht , ein
Klitzing , und nicht zum letzten ein ſchon älterer Lieute¬
nant von Zieten , ein kleines , häßliches und ſäbelbeiniges
Kerlchen , das durch entfernte Vetterſchaft mit dem be¬
rühmten General und beinahe mehr noch durch eine
keck in die Welt hineinkrähende Stimme zu balanciren
wußte , was ihm an ſonſtigen Tugenden abging .
Auch Noſtitz und Alvensleben waren erſchienen . Schach
fehlte .
„ Wer präſidiert ? “ fragte Klitzing .
„ Nur zwei Möglichkeiten , “ antwortete Diricke . „ Der
längſte oder der kürzeſte . Will alſo ſagen , Noſtitz
oder Zieten . “
„ Noſtitz , Noſtitz , “ riefen alle durcheinander , und
der ſo durch Akklamation Gewählte nahm auf einem
ausgebuchteten Gartenſtuhle Platz . Flaſchen und
Gläſer ſtanden die lange Tafel entlang .
„ Rede halten ! Aſſemblée nationale . . “
Noſtitz ließ den Lärm eine Weile dauern , und
klopfte dann erſt mit dem ihm als Zeichen ſeiner
Würde zur Seite liegenden Pallaſch auf den Tiſch .
„ Silentium , Silentium . “
„ Kameraden vom Regiment Gensdarmes , Erben
eines alten Ruhmes auf dem Felde militäriſcher und
geſellſchaftlicher Ehre ( denn wir haben nicht nur der
Schlacht die Richtung , wir haben auch der Geſellſchaft
den Ton gegeben ) , Kameraden , ſag ich , wir ſind
ſchlüſſig geworden : es muß etwas geſchehn ! “
„ Ja , ja . Es muß etwas geſchehn . “
„ Und neu geweiht durch die ,Weihe der Kraft‘ ,
haben wir , dem alten Luther und uns ſelber zu Liebe ,
beſchloſſen , einen Aufzug zu bewerkſtelligen , von dem
die ſpäteſten Geſchlechter noch melden ſollen . Es muß
etwas Großes werden ! Erinnern wir uns , wer nicht
vorſchreitet , der ſchreitet zurück . Ein Aufzug alſo .
So viel ſteht feſt . Aber Weſen und Charakter dieſes
Aufzuges bleibt noch zu fixieren , und zu dieſem Be¬
hufe haben wir uns hier verſammelt . Ich bin bereit ,
Ihre Vorſchläge der Reihe nach entgegen zu nehmen .
Wer Vorſchläge zu machen hat , melde ſich . “
Unter denen , die ſich meldeten , war auch Lieute¬
nant von Zieten .
„ Ich gebe den Lieutenant von Zieten das Wort . “
Dieſer erhob ſich und ſagte , während er ſich leicht
auf der Stuhllehne wiegte : „ Was ich vorzuſchlagen
habe , heißt Schlittenfahrt . “
Alle ſahen einander an , Einige lachten .
„ Im Juli ? “
„ Im Juli , “ wiederholte Zieten . „ Unter den Lin¬
den wird Salz geſtreut , und über dieſen Schnee hin ,
geht unſre Fahrt . Erſt ein paar aufgelöſte Nonnen ;
in dem großen Hauptſchlitten aber , der die Mitte des
Zuges bildet , paradieren Luther und ſein Famu¬
lus , jeder mit einer Flöte , während Katharinchen auf
der Pritſche reitet . Ad libitum mit Fackel oder
Schlittenpeitſche . Vorreiter eröffnen den Zug . Ko¬
ſtüme werden dem Theater entnommen oder ange¬
fertigt . Ich habe geſprochen . “
Ein ungeheurer Lärm antwortete , bis der Ruhe
gebietende Noſtitz endlich durchdrang . „ Ich nehme
dieſen Lärm einfach als Zuſtimmung , und beglück¬
wünſche Kamerad Zieten , mit einem einzigen und erſten
Meiſterſchuß gleich ins Schwarze getroffen zu haben .
Alſo Schlittenfahrt . Angenommen ? “
„ Ja , ja . “
„ So bleibt nur noch Rollenverteilung . Wer giebt
den Luther ? “
„ Schach . “
„ Er wird ablehnen . “
„ Nicht doch , “ krähte Zieten , der gegen den ſchö¬
nen , ihm bei mehr als einer Gelegenheit vorgezogenen
Schach eine Spezialmalice hegte : „ wie kann man Schach
ſo verkennen ! Ich kenn ihn beſſer . Er wird es frei¬
lich eine halbe Stunde lang beklagen , ſich hohe Backen¬
knochen auflegen und ſein Normal-Oval in eine bäuriſche
tête carré verwandeln zu müſſen . Aber ſchließlich
wird er Eitelkeit gegen Eitelkeit ſetzen , und ſeinen Lohn
darin finden , auf 24 Stunden der Held des Tages
zu ſein . “
Ehe Zieten noch ausgeſprochen hatte , war von
der Wache her ein Gefreiter eingetreten , um ein an
Noſtitz adreſſiertes Schreiben abzugeben . “
„ Ah , lupus in fabula . “
„ Von Schach ? “
„ Ja ! “
„ Leſen , leſen ! “
Und Noſtitz erbrach den Brief und las . „ Ich
bitte Sie , lieber Noſtitz , bei der mutmaßlich in eben
dieſem Augenblicke ſtattfindenden Verſammlung unſrer
jungen Offiziere , meinen Vermittler und wenn nötig ,
auch meinen Anwalt machen zu wollen . Ich habe
das Zirkular erhalten , und war anfänglich gewillt zu
kommen . Inzwiſchen aber iſt mir mittgeteilt worden ,
um was es ſich aller Wahrſcheinlichkeit nach handeln
wird , und dieſe Mitteilung hat meinen Entſchluß
geändert . Es iſt Ihnen kein Geheimnis , daß all
das , was man vorhat , meinem Gefühl widerſtreitet ,
und ſo werden Sie ſich mit Leichtigkeit herausrechnen
können , wie viel oder wie wenig ich ( dem ſchon
ein Bühnen -Luther contre coeur war ) für einen
Mummenſchanz-Luther übrig habe . Daß wir dieſen
Mummenſchanz in eine Zeit verlegen , die nicht einmal
eine Faſtnachtsfreiheit in Anſpruch nehmen darf , beſſert
ſicherlich nichts . Jüngeren Kameraden ſoll aber durch
dieſe meine Stellung zur Sache kein Zwang auferlegt
werden , und jedenfalls darf man ſich meiner Diskre¬
tion verſichert halten . Ich bin nicht das Gewiſſen
des Regiments , noch weniger ſein Aufpaſſer . Ihr
Schach . “
„ Ich wußt es , “ ſagte Noſtitz in aller Ruhe , wäh¬
rend er das Schachſche Billet an dem ihm zunächſt
ſtehenden Lichte verbrannte . „ Kamerad Zieten iſt
größer in Vorſchlägen und Phantaſtik , als in Men¬
ſchenkenntnis . Er will mir antworten , ſeh ich , aber
ich kann ihm nicht nachgeben , denn in dieſem Augen¬
blicke heißt es ausſchließlich : wer ſpielt den Luther ? Ich
bringe den Reformator unter den Hammer . Der Meiſt¬
bietende hat ihn . Zum Erſten , Zweiten und zum . . . .
Dritten . Niemand ? So bleibt mir nichts übrig als
Ernennung . Alvensleben , Sie . “
Dieſer ſchüttelte den Kopf . „ Ich ſtehe dazu wie
Schach ; machen Sie das Spiel , ich bin kein Spielver¬
derber , aber ich ſpiele perſönlich nicht mit . Kann nicht und
will nicht . Es ſteckt mir dazu zu viel Katechismus
Lutheri im Leibe . “
Noſtitz wollte nicht gleich nachgeben . „ Alles zu
ſeiner Zeit , “ nahm er das Wort „ und wenn der Ernſt ſeinen
Tag hat , ſo hat der Scherz wenigſtens ſeine Stunde .
Sie nehmen alles zu gewiſſenhaft , zu feierlich , zu pe¬
dantiſch . Auch darin wie Schach . Keinerlei Ding iſt
an ſich gut oder bös . Erinnern Sie ſich , daß wir
den alten Luther nicht verhöhnen wollen , im Gegenteil ,
wir wollen ihn rächen . Was verhöhnt werden ſoll ,
iſt das Stück , iſt die Lutherkarrikatur , iſt der Refor¬
mator in falſchem Licht und an falſcher Stelle . Wir
ſind Strafgericht , Inſtanz aller oberſter Sittlichkeit .
Thuen Sies . Sie dürfen uns nicht im Stiche laſſen
oder es fällt alles in den Brunnen . “
Andere ſprachen in gleichem Sinn . Aber Alvens¬
leben blieb feſt , und eine kleine Verſtimmung ſchwand erſt ,
als ſich unerwartet ( und eben deshalb von allgemeinſtem
Jubel begrüßt ) der junge Graf Herzberg erhob , um
ſich für die Lutherrolle zu melden .
Alles was danach noch zu ordnen war , ordnete
ſich raſch , und ehe zehn Minuten um waren ,
waren bereits die Hauptrollen verteilt : Graf Herzberg
den Luther , Diricke den Famulus , Noſtitz , wegen ſei¬
ner koloſſalen Größe , die Katharina von Bora . Der
Reſt wurd einfach als Nonnenmaterial eingeſchrieben ,
und nur Zieten , dem man ſich beſonders verpflichtet
fühlte , rückte zur Äbtiſſin auf . Er erklärte denn auch
ſofort , auf ſeinem Schlittenſitz ein „ jeu entrieren “ oder
mit dem Kloſtervogt eine Partie Mariage ſpielen zu
wollen . Ein neuer Jubel brach aus , und nachdem noch
in aller Kürze der nächſte Montag für die Maskerade
feſtgeſetzt , alles Ausplaudern aber aufs ſtrengſte ver¬
boten worden war , ſchloß Noſtitz die Sitzung .
In der Thür drehte ſich Diricke noch einmal um ,
und fragte : „ Aber wenns regnet ? “
„ Es darf nicht regnen . “
„ Und was wird aus dem Salz ? “
„ C'est pour les demostiques . “
„ Et pour la canaille , “ ſchloß der jüngſte Cornet .
11. Kapitel .
Die Schlittenfahrt .
S chweigen war gelobt worden , und es blieb
auch wirklich verſchwiegen . Ein vielleicht
einzig daſtehender Fall . Wohl erzählte man
ſich in der Stadt , daß die Gensdarmes „ etwas vor¬
hätten “ und mal wieder über einem jener tollen
Streiche brüteten , um derentwillen ſie vor andern
Regimentern einen Ruf hatten , aber man erfuhr weder
worauf die Tollheit hinauslaufen werde , noch auch
für welchen Tag ſie geplant ſei . Selbſt die Carayon¬
ſchen Damen , an deren letztem Empfangsabende weder
Schach noch Alvensleben erſchienen waren , waren ohne
Mitteilung geblieben , und ſo brach denn die berühmte
„ Sommer-Schlittenfahrt “ über Näher- und Ferner¬
ſtehende gleichmäßig überraſchend herein .
In einem der in der Nähe der Mittel- und
Dorotheenſtraße gelegenen Stallgebäude hatte man
ſich bei Dunkelwerden verſammelt , und ein Dutzend
prachtvoll gekleideter und von Fakelträgern begleiteter
Vorreiter vorauf , ganz alſo wie Zieten es proponiert
hatte , ſchoß man mit dem Glockenſchlage neun an dem
Akademiegebäude vorüber auf die Linden zu , jagte
weiter abwärts erſt in die Wilhelms- , dann aber um¬
kehrend in die Behren- und Charlottenſtraße hinein
und wiederholte dieſe Fahrt um das ebenbezeichnete
Linden-Quarré herum in einer immer geſteigerten Eile .
Als der Zug das erſte Mal an dem Carayonſchen
Hauſe vorüberkam und das Licht der voraufreitenden
Fackeln grell in alle Scheiben der Bel-Etage fiel , eilte
Frau von Carayon , die ſich zufällig allein befand ,
erſchreckt ans Fenſter und ſah auf die Straße hinaus .
Aber ſtatt des Rufes „ Feuer “ , den ſie zu hören er¬
wartete , hörte ſie nur , wie mitten im Winter , ein
Knallen großer Hetz- und Schlittenpeitſchen mit Schellen¬
geläut dazwiſchen , und ehe ſie ſich zurecht zu finden
im Stande war , war alles ſchon wieder vorüber und
ließ ſie verwirrt und fragend und in einer halben
Betäubung zurück . In ſolchem Zuſtande war es , daß
Victoire ſie fand .
„ Um Gotteswillen , Mama , was iſt ? “
Aber ehe Frau von Carayon antworten konnte ,
war die Spitze der Maskerade zum zweiten Male
heran , und Mutter und Tochter , die jetzt raſch und
zu beſſrer Orientierung von ihrem Eckzimmer aus auf
den Balkon hinausgetreten waren , waren von dieſem
Augenblick an nicht länger mehr in Zweifel , was
das Ganze bedeute . Verhöhnung , gleichviel auf wen
und was . Erſt unzüchtige Nonnen , mit einer Hexe
von Aebtiſſin an der Spitze , johlend , trinkend und
Karte ſpielend , und in der Mitte des Zuges ein auf
Rollen laufender und in der Fülle ſeiner Vergoldung
augenſcheinlich als Triumphwagen gedachter Haupt¬
ſchlitten , in dem Luther ſamt Famulus und auf der
Pritſche Katharina von Bora ſaß . An der rieſigen
Geſtalt erkannten ſie Noſtitz . Aber wer war der auf
dem Vorderſitz ? fragte ſich Victoire . Wer verbarg
ſich hinter dieſer Luther-Maske ? War er es ? Nein ,
es war unmöglich . Und doch , auch wenn er es nicht
war , er war doch immer ein Mitſchuldiger in dieſem
widerlichen Spiele , das er gutgeheißen oder wenigſtens
nicht gehindert hatte . Welche verkommne Welt , wie
pietätlos , wie bar aller Schicklichkeit ! Wie ſchaal und
ekel . Ein Gefühl unendlichen Wehs ergriff ſie , das
Schöne verzerrt und das Reine durch den Schlamm
gezogen zu ſehen . Und warum ? Um einen Tag
lang von ſich reden zu machen , um einer kleinlichen
Eitelkeit willen . Und das war die Sphäre , darin ſie
gedacht und gelacht , und gelebt und gewebt , und darin
ſie nach Liebe verlangt , und ach das Schlimmſte von
allem an Liebe geglaubt hatte !
„ Laß uns gehen , “ ſagte ſie , während ſie den Arm
der Mutter nahm , und wandte ſich , um in das
Zimmer zurückzukehren . Aber ehe ſies erreichen konnte ,
wurde ſie wie von einer Ohnmacht überraſcht , und
ſank auf der Schwelle des Balkons nieder .
Die Mama zog die Klingel , Beate kam , und
beide trugen ſie bis an das Sofa , wo ſie gleich da¬
nach von einem heftigen Bruſtkrampfe befallen wurde .
Sie ſchluchzte , richtete ſich auf , ſank wieder in die
Kiſſen , und als die Mutter ihr Stirn und Schläfe
mit kölniſchem Waſſer waſchen wollte , ſtieß ſie ſie
heftig zurück . Aber im nächſten Augenblick riß ſie
der Mama das Flacon aus der Hand und goß es
ſich über Hals und Nacken . „ Ich bin mir zuwider ,
zuwider wie die Welt . In meiner Krankheit damals ,
hab ich Gott um mein Leben gebeten . . Aber wir
ſollen nicht um unſer Leben bitten . . Gott weiß
am beſten , was uns frommt . Und wenn er uns zu
ſich hinaufziehen will , ſo ſollen wir nicht bitten : laß
uns noch . . O , wie ſchmerzlich ich das fühle ! Nun
leb ich . . Aber wie , wie ! “
Frau von Carayon kniete neben dem Sofa nie¬
der und ſprach ihr zu . Denſelben Augenblick aber
ſchoß der Schlittenzug zum dritten Mal an dem
Hauſe vorüber , und wieder war es , als ob ſich ſchwarze
9
phantaſtiſche Geſtalten in dem glühroten Scheine jagten
und haſchten . „ Iſt es nicht wie die Hölle ? “ ſagte
Victoire , während ſie nach dem Schattenſpiel an der
Decke zeigte .
Frau von Carayon ſchickte Beaten , um den Arzt
rufen zu laſſen . In Wahrheit aber lag ihr weniger
an dem Arzt , als an einem Alleinſein und einer Aus¬
ſprache mit dem geliebten Kinde .
„ Was iſt Dir ? Und wie Du nur fliegſt und
zitterſt . Und ſiehſt ſo ſtarr . Ich erkenne meine
heitre Victoire nicht mehr . Überlege , Kind , was iſt
denn geſchehen ? Ein toller Streich mehr , einer unter
vielen , und ich weiß Zeiten , wo Du dieſen Übermut
mehr belacht als beklagt hätteſt . Es iſt etwas andres ,
was Dich quält und drückt ; ich ſeh es ſeit Tagen
ſchon . Aber Du verſchweigſt mirs , Du haſt ein Ge¬
heimnis . Ich beſchwöre Dich , Victoire , ſprich . Du
darfſt es . Es ſei , was es ſei . “
Victoire ſchlang ihren Arm um Frau von Carayons
Hals , und ein Strom von Thränen entquoll ihrem
Auge .
„ Beſte Mutter ! “
Und ſie zog ſie feſter an ſich , und küßte ſie und
beichtete ihr alles .
12. Kapitel .
Schach bei Frau von Garayon .
A m andern Vormittage ſaß Frau von Carayon
am Bette der Tochter und ſagte , während
dieſe zärtlich und mit einem wieder¬
gewonnenen ruhig-glücklichen Ausdruck zu der Mutter
aufblickte : „ Habe Vertrauen , Kind . Ich kenn ihn ſo
lange Zeit . Er iſt ſchwach und eitel nach Art aller
ſchönen Männer , aber von einem nicht gewöhnlichen
Rechtsgefühl und einer untadligen Geſinnung . “
In dieſem Augenblicke wurde Rittmeiſter von
Schach gemeldet , und der alte Jannaſch ſetzte hinzu ,
„ daß er ihn in den Salon geführt habe “ .
Frau von Carayon nickte zuſtimmend .
„ Ich wußte , das er kommen würde , “ ſagte
Victoire .
9*
„ Weil Dus geträumt ? “
„ Nein , nicht geträumt ; ich beobachte nur und
rechne . Seit einiger Zeit weiß ich im voraus , an
welchem Tag und bei welcher Gelegenheit er erſcheinen
wird . Er kommt immer , wenn etwas geſchehen iſt
oder eine Neuigkeit vorliegt , über die ſich bequem
ſprechen läßt . Er geht einer intimen Unterhaltung
mit mir aus dem Wege . So kam er nach der Auf¬
führung des Stücks , und heute kommt er nach der
Aufführung der Schlittenfahrt . Ich bin doch begierig ,
ob er mit dabei war . War ers , ſo ſag ihm , wie
ſehr es mich verletzt hat . Oder ſag es lieber nicht “ .
Frau von Carayon war bewegt . „ Ach , meine
ſüße Victoire , Du biſt zu gut , viel zu gut . Er ver¬
dient es nicht ; keiner . “ Und ſie ſtreichelte die Tochter
und ging über den Korridor fort in den Salon , wo
Schach ihrer wartete .
Dieſer ſchien weniger befangen als ſonſt und
verbeugte ſich ihr die Hand zu küſſen , was ſie freund¬
lich geſchehen ließ . Und doch war ihr Benehmen
verändert . Sie wies mit einem Ceremoniell , das ihr
ſonſt fremd war , auf einen der zur Seite ſtehenden
japaniſchen Stühle , ſchob ſich ein Fußkiſſen heran ,
und nahm ihrerſeits anf auf dem Sofa Platz .
„ Ich komme , nach dem Befinden der Damen zu
fragen und zugleich in Erfahrung zu bringen , ob die
geſtrige Maskerade Gnade vor Ihren Augen gefunden
hat oder nicht . “
„ Offen geſtanden , nein . Ich , für meine Perſon ,
fand es wenig paſſend , und Victoire fühlte ſich beinah
widerwärtig davon berührt . “
„ Ein Gefühl , das ich teile . “
„ So waren Sie nicht mit von der Partie ? “
„ Sicherlich nicht . Und es überraſcht mich , es
noch erſt verſichern zu müſſen . Sie kennen ja meine
Stellung zu dieſer Frage , meine teure Joſephine ,
kennen ſie ſeit jenem Abend , wo wir zuerſt über das
Stück und ſeinen Verfaſſer ſprachen . Was ich damals
äußerte , gilt ebenſo noch heut . Ernſte Dinge fordern
auch eine ernſte Behandlung , und es freut mich auf¬
richtig , Victoiren auf meiner Seite zu ſehen . Iſt ſie
zu Haus ? “
„ Zu Bett . “
„ Ich hoffe nichts Ernſtliches . “
„ Ja und nein . Die Nachwirkungen eines Bruſt-
und Weinkrampfes , von dem ſie geſtern Abend befallen
wurde . “
„ Mutmaßlich infolge dieſer Maskeradentollheit .
Ich beklag es von ganzem Herzen . “
„ Und doch bin ich eben dieſer Tollheit zu Danke
verpflichtet . In dem Degoût über die Mummerei ,
deren Zeuge ſie ſein mußte , löſte ſich ihr die Zunge ;
ſie brach ihr langes Schweigen , und vertraute mir
ein Geheimnis an , ein Geheimnis , das Sie kennen . “
Schach , der ſich doppelt ſchuldig fühlte , war wie
mit Blut übergoſſen .
„ Lieber Schach , “ fuhr Frau von Carayon fort ,
während ſie jetzt ſeine Hand nahm und ihn aus ihren
klugen Augen freundlich aber feſt anſah : „ lieber
Schach , ich bin nicht albern genug , Ihnen eine Szene
zu machen oder gar eine Sittenpredigt zu halten ; zu
den Dingen , die mir am meiſten verhaßt ſind , gehört
auch Tugendſchwätzerei . Ich habe von Jugend auf in
der Welt gelebt , kenne die Welt , und habe manches an
meinem eignen Herzen erfahren . Und wär ich heuch¬
leriſch genug , es vor mir und andern verbergen zu
wollen , wie könnt ich es vor Ihnen ? “
Sie ſchwieg einen Augenblick , während ſie mit
ihrem Battiſttuch ihre Stirn berührte . Dann nahm
ſie das Wort wieder auf und ſetzte hinzu : „ Freilich
es giebt ihrer , und nun gar unter uns Frauen , die
den Spruch von der Linken , die nicht wiſſen ſoll was
die Rechte thut , dahin deuten , daß das Heute nicht
wiſſen ſoll , was das Geſtern that . Oder wohl gar
das Vorgeſtern ! Ich aber gehöre nicht zu dieſen
Virtuoſinnen des Vergeſſens . Ich leugne nichts ,
will es nicht , mag es nicht . Und nun verurteilen Sie
mich , wenn Sie können . “
Er war erſichtlich getroffen , als ſie ſo ſprach , und
ſeine ganze Haltung zeigte , welche Gewalt ſie noch
immer über ihn ausübte .
„ Lieber Schach , “ fuhr ſie fort , „ Sie ſehen , ich
gebe mich Ihrem Urteil preis . Aber wenn ich mich
auch bedingungslos einer jeden Verteidigung oder An¬
waltſchaft für Joſephine von Carayon enthalte , für
Joſephine ( Verzeihung , Sie haben eben ſelbſt den
alten Namen wieder heraufbeſchworen ) ſo darf ich doch
nicht darauf verzichten , der Anwalt der Frau von
Carayon zu ſein , ihres Hauſes und ihres Namens . “
Es ſchien , daß Schach unterbrechen wollte . Sie
ließ es aber nicht zu . „ Noch einen Augenblick . Ich
werde gleich geſagt haben , was ich zu ſagen habe .
Victoire hat mich gebeten , über alles zu ſchweigen ,
nichts zu verraten , auch Ihnen nicht , und nichts zu
verlangen . Zur Sühne für eine halbe Schuld ( und
ich rechne hoch , wenn ich von einer halben Schuld
ſpreche ) will ſie die ganze tragen , auch vor der Welt ,
und will ſich in jenem romantiſchen Zuge , der ihr
eigen iſt , aus ihrem Unglück ein Glück erziehen . Sie
gefällt ſich in dem Hochgefühl des Opfers , in einem
ſüßen Hinſterben für den , den ſie liebt , und für das ,
was ſie lieben wird . Aber ſo ſchwach ich in meiner
Liebe zu Victoire bin , ſo bin ich doch nicht ſchwach
genug , ihr in dieſer Großmutskomödie zu willen zu
ſein . Ich gehöre der Geſellſchaft an , deren Be¬
dingungen ich erfülle , deren Geſetzen ich mich unter¬
werfe ; daraufhin bin ich erzogen , und ich habe nicht
Luſt einer Opfermarotte meiner einzig geliebten Tochter
zur Liebe , meine geſellſchaftliche Stellung mit zum
Opfer zu bringen . Mit andern Worten , ich habe
nicht Luſt ins Kloſter zu gehen oder die dem Irdiſchen
entrückte Säulenheilige zu ſpielen , auch nicht um
Victoirens willen . Und ſo muß ich denn auf Legiti¬
miſierung des Geſchehenen dringen . Dies , mein Herr
Rittmeiſter , war es , was ich Ihnen zu ſagen hatte . “
Schach , der inzwiſchen Gelegenheit gefunden hatte
ſich wieder zu ſammeln , erwiderte , „ daß er wohl wiſſe ,
wie jegliches Ding im Leben ſeine natürliche Konſequenz
habe . Und ſolcher Konſequenz gedenk er ſich nicht
zu entziehen . Wenn ihm das , was er jetzt wiſſe ,
bereits früher bekannt geworden ſei , würd er um eben
die Schritte , die Frau von Cayron jetzt fordere ,
ſeinerſeits aus freien Stücken gebeten haben . Er habe
den Wunſch gehabt , unverheiratet zu bleiben , und von
einer ſolchen langgehegten Vorſtellung Abſchied zu
nehmen , ſchaffe momentan eine gewiſſe Verwirrung .
Aber er fühle mit nicht mindrer Gewißheit , daß er
ſich zu dem Tage zu beglückwünſchen habe , der binnen
kurzem dieſen Wechſel in ſein Leben bringen werde .
Victoire ſei der Mutter Tochter , das ſei die beſte
Gewähr ſeiner Zukunft , die Verheißung eines wirklichen
Glücks . “
All dies wurde ſehr artig und verbindlich ge¬
ſprochen , aber doch zugleich auch mit einer bemerkens¬
werten Kühle .
Dies empfand Frau von Carayon in einer ihr
nicht nur ſchmerzlichen , ſondern ſie geradezu verletzenden
Weiſe ; das , was ſie gehört hatte , war weder die
Sprache der Liebe noch der Schuld , und als Schach
ſchwieg , erwiederte ſie ſpitz : „ Ich bin Ihnen ſehr
dankbar für Ihre Worte , Herr von Schach , ganz be¬
ſonders auch für das , was ſich darin an meine
Perſon richtete . Daß Ihr ‚ ja ‘ rückhaltloſer und un¬
geſuchter hätte klingen können , empfinden Sie wohl
am eignen Herzen . Aber gleichviel , mir genügt das
‚ Ja ‘ . Denn wonach dürſt ich denn am Ende ? Nach
einer Trauung im Dom und einer Galahochzeit .
Ich will mich einmal wieder in gelbem Atlas ſehn ,
der mir kleidet , und haben wir dann erſt unſren
Fackeltanz getanzt und Victoirens Strumpfband zer¬
ſchnitten — denn ein wenig prinzeßlich werden wirs
doch wohl halten müſſen , ſchon um Tante Margueritens
willen — nun ſo geb ich Ihnen charte blanche ,
Sie ſind dann wieder frei , frei wie der Vogel in der
Luft , in Thun und Laſſen , in Haß und Liebe , denn
es iſt dann einfach geſchehen , was geſchehen mußte . “
Schach ſchwieg .
„ Ich nehme vorläufig ein ſtilles Verlöbnis an .
Über alles andre werden wir uns leicht verſtändigen .
Wenn es ſein muß , ſchriftlich . Aber die Kranke
wartet jetzt auf mich , und ſo verzeihen Sie . “
Frau von Carayon erhob ſich und gleich danach
verabſchiedete ſich Schach in aller Förmlichkeit , ohne
daß weiter ein Wort zwiſchen ihnen geſprochen
worden wäre .
13. Kapitel .
„ Le choix du Schach . “
I n beinah offner Gegnerſchaft hatte man
ſich getrennt . Aber es ging alles beſſer ,
als nach dieſer gereizten Unterhaltung er¬
wartet werden konnte , wozu ſehr weſentlich ein Brief
beitrug , deu den Schach andern Tags an Frau von Ca¬
rayon ſchrieb . Er bekannte ſich darin in allem Frei¬
mut ſchuldig , ſchützte , wie ſchon während des Ge¬
ſprächs ſelbſt , Überraſchung und Verwirrung vor , und
traf in all dieſen Erklärungen einen wärmeren Ton ,
eine herzlichere Sprache . Ja , ſein Rechtsgefühl , dem
er ein Genüge thun wollte , ließ ihn vielleicht mehr
ſagen , als zu ſagen gut und klug war . Er ſprach
von ſeiner Liebe zu Vicioiren und vermied abſichtlich
oder zufällig all jene Verſicherungen von Reſpekt und
Wertſchätzung , die ſo bitter wehe thun , wo das ein¬
fache Geſtändnis einer herzlichen Neigung gefordert
wird . Victoire ſog jedes Wort ein , und als die
Mama ſchließlich den Brief aus der Hand legte , ſah dieſe
letztre nicht ohne Bewegung , wie zwei Minuten Glück
ausgereicht hatten , ihrem armen Kinde die Hoffnung ,
und mit dieſer Hoffnung auch die verlorene Friſche
zurückzugeben . Die Kranke ſtrahlte , fühlte ſich wie
geneſen , und Frau von Carayon ſagte : „ wie hübſch
Du biſt , Victoire . “
Schach empfing am ſelben Tage noch ein Ant¬
wortsbillet , das ihm unumwunden die herzliche Freude
ſeiner alten Freundin ausdrückte . Manches Bittre ,
was ſie geſagt habe , mög er vergeſſen ; ſie habe ſich ,
lebhaft wie ſie ſei , hinreißen laſſen . Im Übrigen ſei
noch nichts Ernſtliches und Erhebliches verſäumt , und
wenn , dem Sprichworte nach , aus Freude Leid er¬
blühe , ſo kehre ſichs auch wohl um . Sie ſehe wieder
hell in die Zukunft und hoffe wieder . Was ſie per¬
ſönlich zum Opfer bringe , bringe ſie gern , wenn dies
Opfer die Bedingung für das Glück ihrer Tochter ſei .
Schach , als er das Billet geleſen , wog es hin
und her , und war erſichtlich von einer gemiſchten
Empfindung . Er hatte ſich , als er in ſeinem Briefe
von Victoire ſprach , einem ihr nicht leicht von irgend¬
wem zu verſagenden , freundlich-herzlichen Gefühl über¬
laſſen , und dieſem Gefühle ( deſſen entſann er ſich )
einen beſonders lebhaften Ausdruck gegeben . Aber
das , woran ihn das Billet ſeiner Freundin jetzt aufs
neue gemahnte , das war mehr , das hieß einfach
Hochzeit , Ehe , Worte , deren bloßer Klang ihn von
alter Zeit her erſchreckte . Hochzeit ! Und Hochzeit
mit wem ? Mit einer Schönheit , die , wie der Prinz
ſich auszudrücken beliebt hatte , „ durch ein Fegefeuer
gegangen war . “ „ Aber , “ ſo fuhr er in ſeinem Selbſt¬
geſpräche fort , „ ich ſtehe nicht auf dem Standpunkte
des Prinzen , ich ſchwärme nicht für , Läuterungspro¬
zeſſe ‘ , hinſichtlich deren nicht feſtſteht , ob der Verluſt
nicht größer iſt als der Gewinn , und wenn ich mich
auch perſönlich zu dieſem Standpunkte bekehren könnte ,
ſo bekehr ich doch nicht die Welt . . . Ich bin rettungs¬
los dem Spott und Witz der Kameraden verfallen ,
und das Ridikül einer allerglücklichſten ,Land-Ehe‘ , die
wie das Veilchen im Verborgnen blüht , liegt in einem
wahren Muſterexemplare vor mir . Ich ſehe genau ,
wies kommt : ich quittiere den Dienſt , übernehme wie¬
der Wuthenow , ackre , melioriere , ziehe Raps oder
Rübſen , und befleißige mich einer allerehelichſten Treue .
Welch Leben , welche Zukunft ! An einem Sonntage
Predigt , am andern Evangelium oder Epiſtel , und
dazwiſchen Whiſt en trois , immer mit demſelben
Paſtor . Und dann kommt einmal ein Prinz in die
nächſte Stadt , vielleicht Prinz Louis in Perſon , und
wechſelt die Pferde , während ich erſchienen bin um
am Thor oder am Gaſthof ihm aufzuwarten . Und
er muſtert mich und meinen altmodiſchen Rock , und
frägt mich : ‚ wie mirs gehe ? ‘ Und dabei drückt jede
ſeiner Mienen aus : , O Gott , was doch drei Jahr
aus einem Menſchen machen können . ‘ Drei Jahr . .
Und vielleicht werden es dreißig . “
Er war in ſeinem Zimmer auf und abgegangen ,
und blieb vor einer Spiegelkonſole ſtehn , auf der
der Brief lag , den er während des Sprechens bei¬
ſeite gelegt hatte . Zwei , dreimal hob er ihn auf
und ließ ihn wieder fallen . „ Mein Schickſal . Ja ,
‚ der Moment entſcheidet . ‘ Ich entſinne mich noch ,
ſo ſchrieb ſie damals . Wußte ſie , was kommen würde ?
Wollte ſies ? O pfui , Schach , verunglimpfe nicht
das ſüße Geſchöpf . Alle Schuld liegt bei Dir .
Deine Schuld iſt Dein Schickſal . Und ich will ſie
tragen . “
Er klingelte , gab dem Diener einige Weiſungen ,
und ging zu den Carayons .
Es war , als ob er ſich durch das Selbſtgeſpräch ,
das er geführt , von dem Drucke , der auf ihm laſtete ,
frei gemacht habe . Seine Sprache der alten Freundin
gegenüber war jetzt natürlich , beinah herzlich , und
ohne daß auch nur eine kleinſte Wolke das wieder¬
hergeſtellte Vertrauen der Frau von Carayon getrübt
hätte , beſprachen beide was zu thun ſei . Schach zeigte
ſich einverſtanden mit allem : in einer Woche Ver¬
lobung , und nach drei Wochen die Hochzeit . Un¬
mittelbar nach der Hochzeit aber ſollte das junge Paar
eine Reiſe nach Italien antreten , und nicht vor Ab¬
lauf eines Jahres in die Heimat zurückkehren , Schach
nach der Hauptſtadt , Victoire nach Wuthenow , dem
alten Familiengute , das ihr , von einem früheren Be¬
ſuche her ( als Schachs Mutter noch lebte ) in dank¬
barer und freundlicher Erinnerung war . Und war
auch das Gut inzwiſchen in Pacht gegeben , ſo war
doch nach das Schloß da , ſtand frei zur Verfügung ,
und konnte jeden Augenblick bezogen werden .
Nach Feſtſetzungen wie dieſe , trennte man ſich .
Ein Sonnenſchein lag über dem Hauſe Carayon ,
und Victoire vergaß aller Betrübnis die vorausge¬
gangen war .
Auch Schach legte ſichs zurecht . Italien wieder¬
zuſehen , war ihm ſeit ſeinem erſten , erſt um wenige
Jahre zurückliegenden Aufenthalte daſelbſt , ein brennen¬
der Wunſch geblieben ; der erfüllte ſich nun ; und
kehrten ſie dann zurück , ſo ließ ſich ohne Schwierigkeit
auch aus der geplanten doppelten Wirtſchaftsführung
allerlei Nutzen und Vorteil ziehen . Victoire hing an
Landleben und Stille . Von Zeit zu Zeit nahm er
dann Urlaub und fuhr oder ritt hinüber . Und dann
gingen ſie durch die Felder und plauderten . O , ſie
plauderte ja ſo gut , und war einfach und espritvoll
zugleich . Und nach abermals einem Jahr , oder einem
zweiten und dritten , je nun , da hatte ſichs verblutet ,
da war es tot und vergeſſen . Die Welt vergißt ſo
leicht , und die Geſellſchaft noch leichter . Und dann
hielt man ſeinen Einzug in das Eckhaus am Wilhelms¬
platz und freute ſich beiderſeits der Rückkehr in Ver¬
hältniſſe , die doch ſchließlich nicht blos ſeine , ſondern
auch ihre Heimat bedeuteten . Alles war überſtanden
und das Lebensſchiff an der Klippe des Lächerlichen
nicht geſcheitert .
Armer Schach ! Es war anders in den Sternen
geſchrieben .
Die Woche , die bis zur Verlobungsanzeige ver¬
gehen ſollte , war noch nicht um , als ihm ein Brief
mit voller Titelaufſchrift und einem großen roten
Siegel ins Haus geſchickt wurde . Den erſten Augen¬
blick hielt ers für ein amtliches Schreiben ( vielleicht
eine Beſtallung ) und zögerte mit dem Öffnen , um
die Vorfreude der Erwartung nicht abzukürzen . Aber
woher kam es ? von wem ? Er prüfte neugierig das
Siegel und erkannte nun leicht , daß es überhaupt
kein Siegel , ſondern ein Gemmenabdruck ſei . Son¬
derbar . Und nun erbrach ers und ein Bild fiel ihm
entgegen , eine radierte Skizze mit der Unterſchrift :
Le choix du Schach . Er wiederholte ſich das Wort .
ohne ſich in ihm oder dem Bilde ſelbſt zurecht finden
zu können und empfand nur ganz allgemein und aufs
Unbeſtimmte hin etwas von Angriff und Gefahr .
Und wirklich , als er ſich orientiert hatte , ſah er , daß
ſein erſtes Gefühl ein richtiges geweſen war . Unter
einem Thronhimmel ſaß der perſiſche Schach , er¬
kennbar an ſeiner hohen Lammfellmütze , während an
der unterſten Thronſtufe zwei weibliche Geſtalten
ſtanden und des Augenblicks harrten , wo der von
ſeiner Höhe her kalt und vornehm Dreinſchauende
ſeine Wahl zwiſchen ihnen getroffen haben würde .
Der perſiſche Schach aber war einfach unſer Schach
und zwar in allerfrappanteſter Porträtähnlichkeit ,
während die beiden ihn fragend anblickenden , und um
vieles flüchtiger ſkizzierten Frauenköpfe , wenigſtens
ähnlich genug waren , um Frau von Carayon und
Victoire mit aller Leichtigkeit erkennen zu laſſen . Alſo
nicht mehr und nicht weniger als eine Karrikatur .
Sein Verhältnis zu den Carayons hatte ſich in der
Stadt herumgeſprochen und einer ſeiner Neider und
Gegner , deren er nur zu viele hatte , hatte die Gelegen¬
heit ergriffen , ſeinem boshaften Gelüſt ein Genüge
zu thun .
Schach zitterte vor Scham und Zorn , alles Blut
ſtieg ihm zu Kopf , und es war ihm , als würd er
vom Schlage getroffen .
Einem natürlichen Verlangen nach Luft und Be¬
wegung folgend , oder vielleicht auch von der Ahnung
erfüllt , daß der letzte Pfeil noch nicht abgeſchoſſen ſei ,
nahm er Hut und Degen , um einen Spaziergang zu
10
machen . Begegnungen und Geplauder ſollten ihn
zerſtreuen , ihm ſeine Ruhe wiedergeben . Was
war es denn ſchließlich ? Ein kleinlicher Akt der
Rache .
Die Friſche draußen that ihm wohl ; er atmete
freier und hatte ſeine gute Laune faſt ſchon wieder¬
gewonnen , als er vom Wilhelmsplatz her in die Linden
einbiegend , auf die ſchattigere Seite der Straße hinüber¬
ging , um hier ein paar Bekannte , die des Wegs kamen ,
anzuſprechen . Sie vermieden aber ein Geſpräch und
wurden ſichtlich verlegen . Auch Zieten kam , grüßte
nonchalant und wenn nicht alles täuſchte ſogar mit
hämiſcher Miene . Schach ſah ihm nach , und ſann und
überlegte noch , was die Suffiſance des einen und die
verlegenen Geſichter der andern bedeutet haben mochten ,
als er , einige Hundert Schritte weiter aufwärts , einer
ungewöhnlich großen Menſchenmenge gewahr wurde , die
vor einem kleinen Bilderladen ſtand . Einige lachten ,
andre ſchwatzten , alle jedoch ſchienen zu fragen „ was
es eigentlich ſei ? “ Schach ging im Bogen um die
Zuſchauermenge herum , warf einen Blick über ihre
Köpfe weg , und wußte genug . An dem Mittelfenſter
hing dieſelbe Karrikatur , und der abſichtlich niedrig
normierte Preis war mit Rotſtift groß darunter ge¬
ſchrieben .
Alſo eine Verſchwörung .
Schach hatte nicht die Kraft mehr ſeinen Spazier¬
gang fortzuſetzen , und kehrte in ſeine Wohnung
zurück .
Um Mittag empfing Sander ein Billet von Bülow :
„ Lieber Sander . Eben erhalt ich eine Karrikatur ,
die man auf Schach und die Carayonſchen Damen
gemacht hat . In Zweifel darüber , ob Sie dieſelbe
ſchon kennen , ſchließ ich ſie dieſen Zeilen bei . Bitte ,
ſuchen Sie dem Urſprunge nachzugehn . Sie wiſſen
ja alles , und hören das Berliner Gras wachſen . Ich
meinſeits bin empört . Nicht Schachs halber , der
dieſen ‚ Schach von Perſien ‘ einigermaßen verdient
( denn er iſt wirklich ſo was ) , aber der Carayons
halber . Die liebenswürdige Victoire ! So bloßgeſtellt
zu werden . Alles Schlechte nehmen wir uns von den
Franzoſen an , und an ihrem Guten , wohin auch die
Gentilezza gehört , gehen wir vorüber . Ihr B. “
Sander warf nur einen flüchtigen Blick auf das Bild ,
das er kannte , ſetzte ſich an ſein Pult und antwortete :
„ Mon Général ! Ich brauche dem Urſprunge nicht
nachzugehen , er iſt mir nachgegangen . Vor etwa
vier , fünf Tagen erſchien ein Herr in meinem Kontor
und befragte mich , ob ich mich dazu verſtehen würde ,
den Vertrieb einiger Zeichnungen in die Hand zu
nehmen . Als ich ſah , um was es ſich handelte , lehnt
ich ab . Es waren drei Blätter , darunter auch le
choix du Schach . Der bei mir erſchienene Herr
gerierte ſich als ein Fremder , aber er ſprach , alles
10*
gekünſtelten Radebrechens unerachtet , das Deutſche ſo
gut , daß ich ſeine Fremdheit für bloße Maske halten
mußte . Perſonen aus dem Prinz R.ſchen Kreiſe ,
nehmen Anſtoß an ſeinem Gelieble mit der Prinzeſſin ,
und ſtecken vermutlich dahinter . Irr ich aber in
dieſer Annahme , ſo wird mit einer Art von Sicherheit
auf Kameraden ſeines Regiments zu ſchließen ſein .
Er iſt nichts weniger als beliebt . Wer den Aparten
ſpielt , iſt es nie . Die Sache möchte hingehn , wenn
nicht , wie Sie ſehr richtig hervorheben , die Carayons
mit hineingezogen wären . Um ihret willen beklag
ich den Streich , deſſen Gehäſſigkeit ſich in dieſem einem
Bilde ſchwerlich erſchöpft haben wird . Auch die bei¬
den andern , deren ich Eingangs erwähnte , werden
mutmaßlich folgen . Alles in dieſem anonymen An¬
griff iſt klug berechnet , und klug berechnet iſt auch
der Einfall , das Gift nicht gleich auf einmal zu geben .
Es wird ſeine Wirkung nicht verfehlen , und nur auf
das ‚ wie ‘ haben wir zu warten . Tout à vous . S . “
In der That , die Beſorgnis , die Sander in die¬
ſen Zeilen an Bülow ausgeſprochen hatte , ſollte ſich
nur als zu gerechtfertigt erweiſen . Intermittierend wie
das Fieber , erſchienen in zweitägigen Pauſen auch die
beiden andern Blätter , und wurden , wie das erſte ,
von jedem Vorübergehenden gekauft oder wenigſtens
begafft und beſprochen . Die Frage Schach-Carayon
war über Nacht zu einer cause celèbre geworden ,
trotzdem das neubegierige Publikum nur die Hälfte
wußte . Schach , ſo hieß es , habe ſich von der ſchönen
Mutter ab- und der unſchönen Tochter zugewandt .
Über das Motiv erging man ſich in allerlei Mut¬
maßungen , ohne dabei das Richtige zu treffen .
Schach empfing auch die beiden andern Blätter
unter Kouvert . Das Siegel blieb dasſelbe . Blatt
2 hieß „ La gazza ladra “ oder die „ diebiſche Schach -
Elſter “ , und ſtellte eine Elſter dar , die , zwei Ringe
von ungleichem Werte muſternd , den unſcheinbareren
aus der Schmuckſchale nimmt .
Am weitaus verletzendſten aber berührte das den
Salon der Frau von Carayon als Szenerie nehmende
dritte Blatt . Auf dem Tiſche ſtand ein Schachbrett ,
deſſen Figuren , wie nach einem verloren gegangenen
Spiel und wie um die Niederlage zu beſiegeln , um¬
geworfen waren . Daneben ſaß Victoire , gut getroffen ,
und ihr zu Füßen kniete Schach , wieder in der per¬
ſiſchen Mütze des erſten Bildes . Aber diesmal be¬
zipfelt und eingedrückt . Und darunter ſtand : „ Schach
— matt . “
Der Zweck dieſer wiederholten Angriffe wurde
nur zu gut erreicht . Schach ließ ſich krank melden ,
ſah niemand und bat um Urlaub , der ihm auch um¬
gehend von ſeinem Chef , dem Oberſten von Schwerin ,
gewährt wurde .
So kam es , daß er am ſelben Tag , an dem ,
nach gegenſeitigem Abkommen , ſeine Verlobung mit
Victoire veröffentlicht werden ſollte , Berlin verließ .
Er ging auf ſein Gut , ohne ſich von den Carayons
( deren Haus er all die Zeit über nicht betreten hatte )
verabſchiedet zu haben .
14. Kapitel .
In Wuthenow am See .
E s ſchlug Mitternacht , als Schach in Wuthe¬
now eintraf , an deſſen entgegengeſetzter
Seite das auf einem Hügel erbaute , den
Ruppiner See nach rechts und links hin überblickende
Schloß Wuthenow lag . In den Häuſern und Hütten
war alles längſt in tiefem Schlaf , und nur aus den
Ställen her hörte man noch das Stampfen eines
Pferds oder das halblaute Brüllen einer Kuh .
Schach paſſierte das Dorf und bog am Ausgang
in einen ſchmalen Feldweg ein , der , allmählich an¬
ſteigend , auf den Schloßhügel hinauf führte . Rechts
lagen die Bäume des Außenparks , links eine gemähte
Wieſe , deren Heugeruch die Luft erfüllte . Das Schloß
ſelbſt aber war nichts als ein alter , weißgetünchter
und von einer ſchwarzgeteerten Balkenlage durch¬
zogener Fachwerkbau , dem erſt Schachs Mutter , die
„ verſtorbene Gnädige “ , durch ein Doppeldach , einen
Blitzableiter und eine prächtige , nach dem Muſter von
Sansſouci hergerichtete Terraſſe , das Anſehen aller¬
nüchternſter Tagtäglichkeit genommen hatte . Jetzt
freilich , unter dem Sternenſchein , lag alles da wie
das Schloß im Märchen , und Schach hielt öfters
an und ſah hinauf , augenſcheinlich betroffen von der
Schönheit des Bildes .
Endlich war er oben und ritt auf das Einfahrts¬
thor zu , das ſich in einem flachen Bogen zwiſchen
dem Giebel des Schloſſes und einem danebenſtehenden
Geſindehauſe wölbte . Vom Hof her vernahm er im
ſelben Augenblick ein Bellen und Knurren und hörte ,
wie der Hund wütend aus ſeiner Hütte fuhr und mit
ſeiner Kette nach rechts und links hin an der Holz¬
wandung umherſchrammte .
„ Kuſch Dich , Hektor . “ Und das Tier , die
Stimme ſeines Herrn erkennend , begann jetzt vor
Freude zu heulen und zu winſeln , und abwechſelnd
auf die Hütte hinauf- und wieder hinunterzuſpringen .
Vor dem Geſindehauſe ſtand ein Wallnußbaum
mit weitem Gezweige . Schach ſtieg ab , ſchlang den
Zügel um den Aſt , und klopfte halblaut an einen der
Fenſterläden . Aber erſt als er das zweite Mal ge¬
pocht hatte , wurd es lebendig drinnen , und er hörte
von dem Alkoven her eine halb verſchlafene Stimme :
„ Wat is ? “
„ Ich , Kriſt. “
„ Jott , Mutter , dat 's joa de junge Herr . “
„ Joa , dat is hei . Steih man upp un mach flink . “
Schach hörte jedes Wort und rief gutmütig in
die Stube hinein , während er den nur angelegten
Laden halb öffnete : „ Laß Dir Zeit , Alter . “
Aber der Alte war ſchon aus dem Bette heraus ,
und ſagte nur immer , während er hin und her ſuchte :
„ Glieks , junge Herr , glieks . Man noch en beten “ .
Und wirklich nicht lange , ſo ſah Schach einen
Schwefelfaden brennen , und hörte , daß eine Laternen¬
thür auf- und wieder zugeknipſt wurde . Richtig , ein
erſter Lichtſchein blitzte jetzt durch die Scheiben , und ein
paar Holzpantinen klappten über den Lehmflur hin . Und
nun wurde der Riegel zurückgeſchoben , und Kriſt , der
in aller Eile nichts als ein leinenes Beinkleid übergezogen
hatte , ſtand vor ſeinem jungen Herrn . Er hatte , vor
manchem Jahr und Tag , als der alte „ Gnädge-Herr “
geſtorben war , den durch dieſen Todesfall erledigten
Ehren- und Reſpektstitel auf ſeinen jungen Herrn
übertragen wollen , aber dieſer , der mit Kriſt das
erſte Waſſerhuhn geſchoſſen und die erſte Bootfahrt
über den See gemacht hatte , hatte von dem neuen
Titel nichts wiſſen wollen .
„ Jott , junge Herr , ſunſt ſchrewens doch ümmer
ihrſt , o'r ſchicken uns o'r den kleenen in¬
gliſchen Kierl . Un nu keen Wort nich . Awers ick
wußt' et joa , as de Poggen hüt Oabend mit ehr
Gequoak nich to Enn' koam' künn'n . ‚ Jei , jei , Mutter ,‘
ſeggt ick , ‚dat bedüt ' wat‘ Awers as de Fruenslüd'
ſinn ! Wat ſeggt ſe ? ‚ Wat ſall et bedüden ? ‘ ſeggt
ſe , ‚ Regen bedüt et . Un dat 's man gaud . Denn unſ'
Tüffeln bruken't .‘
„ Ja , ja , “ ſagte Schach , der nur mit halbem Ohr
hingehört hatte , während der Alte die kleine Thür
aufſchloß , die von der Giebelſeite her ins Schloß führte .
„ Ja , ja . Regen iſt gut . Aber geh nur vorauf . “
Kriſt that wie ſein junger Herr ihm geheißen ,
und beide gingen nun einen mit Flieſen gedeckten
ſchmalen Korridor entlang . Erſt in der Mitte ver¬
breiterte ſich dieſer und bildete nach links hin eine
geräumige Treppenhalle , während nach rechts hin eine
mit Goldleiſten und Rokokoverzierungen reich aus¬
gelegte Doppelthür in einen Gartenſalon führte , der
als Wohn- und Empfangszimmer der verſtorbenen
Frau Generalin von Schach , einer ſehr vornehmen
und ſehr ſtolzen alten Dame gedient hatte . Hierher
richteten ſich denn auch die Schritte beider , und als
Kriſt die halb verquollene Thür nicht ohne Müh und
Anſtrengung geöffnet hatte , trat man ein .
Unter dem Vielen , was an Kunſt- und Erinne¬
rungsgegenſtänden in dieſem Gartenſalon umherſtand ,
war auch ein bronzener Dopelleuchter , den Schach
ſelber , vor drei Jahren erſt , von ſeiner italieniſchen
Reiſe mit nach Hauſe gebracht und ſeiner Mutter
verehrt hatte . Dieſen Leuchter nahm jetzt Kriſt vom
Kamin und zündete die beiden Wachslichter an , die
ſeit lange ſchon in den Leuchtertellern ſteckten , und
ihrerzeit der verſtorbenen Gnädigen zum Siegeln ihrer
Briefe gedient hatten . Die Gnädige ſelbſt aber war
erſt ſeit einem Jahre tot , und da Schach , von jener
Zeit an , nicht wieder hier geweſen war , ſo hatte noch
alles den alten Platz . Ein paar kleine Sofas ſtanden
wie früher an den Schmalſeiten einander gegen¬
über , während zwei größere die Mitte der Längswand
einnahmen und nichts als die vergoldete Rokoko-Doppel¬
thür zwiſchen ſich hatten . Auch der runde Roſenholz¬
tiſch ( ein Stolz der Generalin ) und die große Mar¬
morſchale , darin alabaſterne Weintrauben und Orangen
und ein Pinienapfel lagen , ſtanden unverändert an
ihrem Platz . In dem ganzen Zimmer aber , das ſeit
lange nicht gelüftet war , war eine ſtickige Schwüle .
„ Mach ein Fenſter auf , “ ſagte Schach . „ Und
dann gieb mir eine Decke . Die da . “
„ Wullen 's ſich denn hier hen leggen , junge
Herr ? “
„ Ja , Kriſt . Ich habe ſchon ſchlechter gelegen . “
„ Ick weet . Jott , wenn de oll jnädge Herr uns
doa vunn vertellen deih ! Ümmer ſo platſch in'n
Kalkmodder ' rin . Nei , nei , dat wihr nix för mi .
‚ Jott , jnädge Herr‘ ſeggt ick denn ümmer , ‚ ick gloob
de Huut geit em runner ‘ . Awers denn lachte joa de
oll jnädge Herr ümmer , un ſeggte : ‚ Nei , Kriſt , unſ'
Huut ſitt faſt .‘
Während der Alte noch ſo ſprach und vergan¬
gener Zeiten gedachte , griff er zugleich doch nach einem
breiten , aus Rohr geflochtenen Ausklopfer , der in
einer Kaminecke ſtand , und verſuchte damit das eine
Sofa , das ſich Schach als Lagerſtätt ausgewählt
hatte , wenigſtens aus dem Gröbſten herauszubringen .
Aber der dichte Staub , der aufſtieg , zeigte nur das
Vergebliche ſolcher Bemühungen , und Schach ſagte
mit einem Anfluge von guter Laune : „ Störe den
Staub nicht in ſeinem Frieden . “ Und erſt als ers
geſprochen hatte , fiel ihm der Doppelſinn darin auf ,
und er gedachte der Eltern , die drunten in der Dorf¬
kirche in großen Kupferſärgen und mit einem aufge¬
löteten Kruzifix darauf , in der alten Gruft der Fa¬
milie ſtanden .
Aber er hing dem Bilde nicht weiter nach und
warf ſich aufs Sofa . „ Meinem Schimmel gieb ein
Stück Brod und einen Eimer Waſſer ; dann hält er
aus bis morgen . Und nun ſtelle das Licht ans
Fenſter und laß es brennen . . . Nein , nicht da , nicht
ans offene ; an das daneben . Und nun gute Nacht ,
Kriſt . Und ſchließe von außen zu , daß ſie mich nicht
wegtragen . “
„ Ih , ſe wihren doch nich . . “
Und Schach hörte bald danach die Pantinen , wie
ſie den Korridor hinunterklappten . Ehe Kriſt aber die
Giebelthür noch erreicht , und von außen her zuge¬
ſchloſſen haben konnte , legte ſichs ſchon ſchwer und
bleiern auf ſeines Herrn überreiztes Gehirn .
Freilich nicht auf lang . Aller auf ihm laſtenden
Schwere zum Trotz , empfand er deutlich , daß etwas
über ihn hinſumme , ihn ſtreife und kitzle , und als
ein ſich Drehen und Wenden und ſelbſt ein unwill¬
kürliches und halbverſchlafenes Umherſchlagen mit
der Hand nichts helfen wolle , riß er ſich endlich auf
und zwang ſich ins Wachen zurück . Und nun ſah
er , was es war . Die beiden eben verſchweelenden
Lichter , die mit ihrem Qualme die ſchon ſtickige Luft
noch ſtickiger gemacht hatten , hatten allerlei Getier vom
Garten her in das Zimmer gelockt , und nur über
Art und Beſchaffenheit deſſelben war noch ein Zweifel .
Einen Augenblick dacht er an Fledermäuſe ; ſehr bald
aber mußt er ſich überzeugen , daß es einfach rieſige
Motten und Nachtſchmetterlinge waren , die zu ganzen
Dutzenden in dem Saale hin und her flogen , an die
Scheiben ſtießen und vergeblich das offne Fenſter
wieder zu finden ſuchten .
Er raffte nun die Decke zuſammen und ſchlug
mehrmals durch die Luft , um die Störenfriede wieder
hinauszujagen . Aber das unter dieſem Jagen und
Schlagen immer nur ängſtlicher werdende Geziefer ,
ſchien ſich zu verdoppeln , und ſummte nur dichter
und lauter als vorher um ihn herum . An Schlaf
war nicht mehr zu denken , und ſo trat er denn ans
offne Fenſter und ſprang hinaus , um , draußen um¬
hergehend , den Morgen abzuwarten .
Er ſah nach der Uhr . Halb zwei . Die dicht
vor dem Salon gelegene Gartenanlage beſtand aus
einem Rondeel mit Sonnenuhr , um das herum , in
meiſt dreieckigen und von Buchsbaum eingefaßten
Beeten , allerlei Sommerblumen blühten : Reſeda und
Ritterſporn , und Lilien und Levkojen . Man ſah leicht ,
daß eine ordnende Hand hier neuerdings gefehlt hatte ,
trotzdem Kriſt zu ſeinen vielfachen Ämtern auch das
eines Gärtners zählte ; die Zeit indeß , die ſeit dem
Tode der Gnädigen vergangen war , war andrerſeits
eine viel zu kurze noch , um ſchon zu vollſtändiger
Verwilderung geführt zu haben . Alles hatte nur
erſt den Charakter eines wuchernden Blühens ange¬
nommen , und ein ſchwerer und doch zugleich auch
erquicklicher Levkojenduft lag über den Beeten , den
Schach in immer volleren Zügen einſog .
Er umſchritt das Rondeel , einmal , zehnmal , und
balancierte , während er einen Fuß vor den andern
ſetzte , zwiſchen den nur handbreiten Stegen hin . Er
wollte dabei ſeine Geſchicklichkeit proben und die Zeit
mit guter Manier hinter ſich bringen . Aber dieſe
Zeit wollte nicht ſchwinden , und als er wieder nach
der Uhr ſah , war erſt eine Viertelſtunde vergangen .
Er gab nun die Blumen auf und ſchritt auf
einen der beiden Laubengänge zu , die den großen
Parkgarten flankierten und von der Höhe bis faſt an
den Fuß des Schloßhügels herniederſtiegen . An
mancher Stelle waren die Gänge nach obenhin über¬
wachſen , an andern aber offen , und es unterhielt ihn
eine Weile den abwechſelnd zwiſchen Dunkel und Licht
liegenden Raum in Schritten auszumeſſen . Ein paarmal
erweiterte ſich der Gang zu Niſchen und Tempelrun¬
dungen , in denen allerhand Sandſteinfiguren ſtanden :
Götter und Göttinnen , an denen er früher viele hundert¬
male vorübergegangen war , ohne ſich auch nur im ge¬
ringſten um ſie zu kümmern oder ihrer Bedeutung nach¬
zuforſchen ; heut aber blieb er ſtehn und freute ſich be¬
ſonders aller derer , denen die Köpfe fehlten , weil ſie
die dunkelſten und unverſtändlichſten waren , und ſich
am ſchwerſten erraten ließen . Endlich war er den
Laubengang hinunter , ſtieg ihn wieder hinauf und
wieder hinunter , und ſtand nun am Dorfausgang und
hörte daß es zwei ſchlug . Oder bedeuteten die beiden
Schläge halb ? War es halb drei ? Nein , es war
erſt zwei .
Er gab es auf , das Auf und Nieder ſeiner
Promenade noch weiter fortzuſetzen und beſchrieb lieber
einen Halbkreis um den Fuß des Schloßhügels herum ,
bis er in Front des Schloſſes ſelber war . Und nun
ſah er hinauf , und ſah die große Terraſſe , die von
Orangeriekübeln und Cypreſſenpyramiden eingefaßt ,
bis dicht an den See hinunterführte . Nur ein ſchmal
Stück Wieſe lag noch dazwiſchen , und auf eben dieſer
Wieſe ſtand eine uralte Eiche , deren Schatten Schach
jetzt umſchritt , einmal , vielemal , als würd er in ihrem
Bann gehalten . Es war erſichtlich , daß ihn der Kreis ,
in dem er ging , an einen andern Kreis gemahnte ,
denn er murmelte vor ſich hin : könnt' ich heraus !
Das Waſſer , das hier ſo verhältnismäßig nah an
die Schloßterraſſe herantrat , war ein bloßer toter
Arm des Sees , nicht der See ſelbſt . Auf dieſen See
hinauszufahren aber , war in ſeinen Knabenjahren
immer ſeine höchſte Wonne geweſen .
„ Iſt ein Boot da , ſo fahr ich . “ Und er ſchritt
auf den Schilfgürtel zu , der die tief einmündende
Bucht von drei Seilen her einfaßte . Nirgends ſchien
ein Zugang . Schließlich indeß fand er einen über¬
wachſenen Steg , an deſſen Ende das große Sommer¬
boot lag , das ſeine Mama viele Jahre lang benutzt
hatte , wenn ſie nach Karwe hinüberfuhr , um den
Kneſebecks einen Beſuch zu machen . Auch Ruder und
Stangen fanden ſich , während der flache Boden des
Boots , um einen trockenen Fuß zu haben , mit hoch¬
aufgeſchüttetem Binſenſtroh überdeckt war . Schach
ſprang hinein , löſte die Kette vom Pflock und ſtieß
ab . Irgend welche Ruderkünſte zu zeigen , war ihm
vor der Hand noch unmöglich , denn das Waſſer war
ſo ſeicht und ſchmal , daß er bei jedem Schlage das
Schilf getroffen haben würde . Bald aber verbreiterte
ſichs und er konnte nun die Ruder einlegen . Eine
tiefe Stille herrſchte ; der Tag war noch nicht wach ,
und Schach hörte nichts als ein leiſes Wehen und
Rauſchen , und den Ton des Waſſers , das ſich gluckſend
an dem Schilfgürtel brach . Endlich aber war er in
dem großen und eigentlichen See , durch den der Rhin
fließt , und die Stelle , wo der Strom ging , ließ ſich
an einem Gekräuſel der ſonſt ſpiegelglatten Fläche
deutlich erkennen . In dieſe Strömung bog er jetzt
ein , gab dem Boote die rechte Richtung , legte ſich und
die Ruder ins Binſenſtroh , und fühlte ſofort wie das
Treiben und ein leiſes Schaukeln begann .
Immer blaſſer wurden die Sterne , der Himmel
rötete ſich im Oſten und er ſchlief ein .
Als er erwachte , war das mit dem Strom gehende
Boot ſchon weit über die Stelle hinaus , wo der tote
Arm des Sees nach Wuthenow hin abbog . Er nahm
alſo die Ruder wieder in die Hand und legte ſich
mit aller Kraft ein , um aus der Strömung heraus und
an die verpaßte Stelle zurückzukommen , und freute
ſich der Anſtrengung dies ihm koſtete .
11
Der Tag war inzwiſchen angebrochen . Über dem
Firſt des Wuthenower Herrenhauſes hing die Sonne ,
während drüben am andern Ufer die Wolken im Wieder¬
ſchein glühten und die Waldſtreifen ihren Schatten in
den See warfen . Auf dem See ſelbſt aber begann es
ſich zu regen , und ein die Morgenbriſe benutzender Torf¬
kahn glitt mit ausgeſpanntem Segel an Schach vorüber .
Ein Fröſteln überlief dieſen . Aber dies Fröſteln
that ihm wohl , denn er fühlte deutlich , wie der Druck ,
der auf ihm laſtete , ſich dabei minderte . „ Nahm er
es nicht zu ſchwer ? Was war es denn am Ende ?
Bosheit und Übelwollen . Und wer kann ſich dem
entziehn ! Es kommt und geht . Eine Woche noch , und
die Bosheit hat ſich ausgelebt . “ Aber während er ſo
ſich tröſtete , zogen auch wieder andre Bilder herauf ,
und er ſah ſich in einem Kutſchwagen bei den prinz¬
lichen Herrſchaften vorfahren , um ihnen Victoire von
Carayon als ſeine Braut vorzuſtellen . Und er hörte
deutlich , wie die alte Prinzeß Ferdinand ihrer Tochter ,
der ſchönen Radiziwill , zuflüſterte : „ Est-elle riche ? “
„Sans doute . “ „ Ah , je comprends . “
Unter ſo wechſelnden Bildern und Betrachtungen
bog er wieder in die kurz vorher ſo ſtille Bucht ein ,
in deren Schilf jetzt ein buntes und bewegtes Leben
herrſchte . Die darin niſtenden Vögel kreiſchten oder
gurrten , ein paar Kibitze flogen auf , und eine Wild¬
ente , die ſich neugierig umſah , tauchte nieder , als das
Boot plötzlich in Sicht kam . Eine Minute ſpäter ,
und Schach hielt wieder am Steg , ſchlang die Kette
feſt um den Pflock , und ſtieg unter Vermeidung jedes
Umwegs die Terraſſe hinauf , auf deren oberſtem Ab¬
ſatz er Kriſts Frau , der alten Mutter Kreepſchen
begegnete , die ſchon auf war , um ihrer Ziege das
erſte Grünfutter zu bringen .
„ Tag , Mutter Kreepſchen . “
Die Alte ſchrak zuſammen , ihren drinnen im Garten¬
ſalon vermuteten jungen Herrn ( um deſſentwillen ſie
die Hühner nicht aus dem Stall gelaſſen hatte , bloß
damit ihr Gackern ihn nicht im Schlafe ſtören ſollte )
jetzt von der Frontſeite des Schloſſes her auf ſich zu¬
kommen zu ſehn .
„ Jott , junge Herr . Wo kümmens denn her ? “
„ Ich konnte nicht ſchlafen , Mutter Kreepſchen . “
„ Wat wihr denn los ? Hätt et wedder ſpökt ? “
„ Beinah . Mücken und Motten warens . Ich
hatte das Licht brennen laſſen . Und der eine Fenſter¬
flügel war auf . “
„ Awers worümm hebbens denn dat Licht nich
utpuuſt ? Dat weet doch jed-een , wo Licht is , doa
ſinn ook ümmer Gnitzen un Motten . Ick weet nich !
Un mien oll Kreepſch , he woahrd ook ümmer dümm¬
ſcher . Jei , jei . Un nich en Oog to . “
„ Doch , Mutter Kreepſchen . Ich habe geſchlafen ,
im Boot , und ganz gut und ganz feſt . Aber jetzt
11*
frier ich . Und wenns Feuer brennt , dann bringt Ihr
mir wohl was Warmes . Nicht wahr ? ' Ne Suppe
oder 'nen Kaffe . “
„ Jott , et brennt joa all lang , junge Herr ; Füer
is ümmer dat ihrſt . Verſteiht ſich , verſteiht ſich , wat
Warm's . Un ick bring et ook glieks ; man blot de oll
Zick , de geiht för . Se jloben joar nich , junge Herr ,
wie ſchabernakſch ſo 'n oll ' Zick ' is. De weet , as ob
ſe 'ne Uhr in'n Kopp hätt , ob et feif is o'r ſöſſ . Un
wenn't ſöſſ is , denn wohrd ſe falſch . Un kumm ick
denn un will ehr melken , joa , wat jloben ſe woll , wat
ſe denn deiht ? Denn ſtött ſe mi . Un ümmer hier in't
Krüz , dicht bi de Hüft ' . Un worümm ? Wiel ſe weet ,
dat ick doa miene Wehdag' hebben deih . Awers nu
kummen 's man ihrſt in unſ' Stuw , un ſetten ſich en
beten dahl . Mien oll Kreepſch is joa nu groad bie't
Pierd und ſchütt't em wat in . Awers keen Viertel¬
ſtunn mihr , junge Herr , denn hebben's ehren Koffe .
Un ook wat dato . De oll Semmelfru von Herzberg
wihr joa all hier . “
Unter dieſen Worten war Schach in Kreepſchens
gute Stube getreten . Alles darin war ſauber und rein ,
nur die Luft nicht . Ein eigentümlicher Geruch
herrſchte vor , der von einem Pfeffer- und Koriander-
Mixtum herrührte , das die Kreepſchen als Motten¬
vertreibungsmittel in die Sophaecken geſteckt hatte .
Schach öffnete deshalb das Fenſter , kettelte den Haken
ein , und war nun erſt im Stande , ſich all der
Kleinigkeiten zu freun , die die „ gute Stube “ ſchmückten .
Über dem Sopha hingen zwei kleine Kalenderbildchen ,
Anekdoten aus dem Leben des Großen Königs dar¬
ſtellend , „ Du , du “ ſtand unter dem einen , und „ Bon
soir , Messieurs “ unter dem andern . Um die Bilder¬
chen und ihre Goldborte herum hingen zwei dicke
Immortellenkränze mit ſchwarzen und weißen Schleifen
daran , während auf dem kleinen , niedrigen Ofen eine
Vaſe mit Zittergras ſtand . Das Hauptſchmuckſtück
aber war ein Schilderhäuschen mit rotem Dach , in
dem früher , aller Wahrſcheinlichkeit nach , ein Eich¬
kätzchen gehauſt und ſeinen Futterwagen an der Kette
herangezogen hatte . Jetzt war es leer , und der Wagen
hatte ſtille Tage .
Schach war eben mit ſeiner Muſterung fertig ,
als ihm auch ſchon gemeldet wurde : „ daß drüben alles
klar ſei “ .
Und wirklich , als er in den Gartenſalon eintrat ,
der ihm ein Nachtlager ſo beharrlich verweigert hatte ,
war er überraſcht , was Ordnungsſinn und ein paar
freundliche Hände mittlerweile daraus gemacht hatten .
Thür und Fenſter ſtanden auf , die Morgenſonne füllte
den Raum mit Licht und aller Staub war von Tiſch
und Sopha verſchwunden . Einen Augenblick ſpäter
erſchien auch ſchon Kriſts Frau mit dem Kaffe , die
Semmeln in einen Korb gelegt , und als Schach eben
den Deckel von der kleinen Meißner Kanne heben
wollte , klangen vom Dorfe her die Kirchenglocken
herauf .
„ Was iſt denn das ? “ fragte Schach . „ Es kann
ja kaum ſieben ſein . “
„ Juſtement ſieben , junge Herr . “
„ Aber ſonſt war es doch erſt um elf . Und um
zwölfe dann Predigt . “
„ Joa , ſo wihr et . Awers nu nich mihr . Un
ümmer den dritt'n Sünndag is et anners . Twee
Sünndag' , wenn de Radenslebenſche kümmt , denn is't
um twölwen , wiel he joa ihrſt in Radensleben preeſtern
deiht , awers den dritten Sünndag , wenn de oll Rup¬
pinſche röwer kümmt , denn is et all um achten . Un
ümmer . wenn unſ oll Kriwitz von ſine Thurmluk' ut
unſen Ollſchen von dröwen abſtötten ſeiht , denn treckt
he joa ſien Klock . Und dat's ümmer um ſeb'n . “
„ Wie heißt denn jetzt der Ruppinſche ? “
„ Na , wie ſall he heten ? He heet ümmer noch
ſo . Is joa ümmer noch de oll Bienengräber . “
„ Bei dem bin ich ja eingeſegnet . War immer
ein ſehr guter Mann . “
„ Joa , dat is he . Man blot , he hett keene Teihn
mihr , ook nich een' , un nu brummelt un mummelt he
ümmerto , un keen Minſch verſteiht em . “
„ Das iſt gewiß nicht ſo ſchlimm , Mutter Kreepſchen .
Aber die Leute haben immer was auszuſetzen . Und
nun gar erſt die Bauern ! Ich will hingehen und mal
wieder nachſehen , was mir der alte Bienengräber zu
ſagen hat , mir und den andern . Hat er denn noch
in ſeiner Stube das große Hufeiſen , dran ein Zehn¬
pfundgewicht hing ? Das hab ich mir immer angeſehn ,
wenn ich nicht aufpaßte . “
„ Dat woahrd he woll noch hebben . De Jungens
paſſen joa all nich upp . “
Und nun ging ſie , um ihren jungen Herrn nicht
länger zu ſtören , und verſprach ihm ein Geſangbuch
zu bringen .
Schach hatte guten Appetit und ließ ſich die Herz¬
berger Semmeln ſchmecken . Denn ſeit er Berlin ver¬
laſſen , war noch kein Biſſen über ſeine Lippen ge¬
kommen . Endlich aber ſtand er auf , um in die Gar¬
tenthür zu treten und ſah von hier aus über das
Rondeel und die Buchsbaumrabatten und weiter da¬
hinter über die Baumwipfel des Parkes fort , bis ſein
Auge ſchließlich auf einem ſonnenbeſchienenen Storchen¬
paar ausruhte , das unten , am Fuße des Hügels , über
eine mit Ampfer und Ranunkel rot und gelb gemuſterte
Wieſe hinſchritt .
Er verfiel im Anblicke dieſes Bildes in allerlei
Betrachtungen ; aber es läutete gerade zum dritten
Mal , und ſo ging er denn ins Dorf hinunter , um ,
von dem herrſchaftlichen Chorſtuhl aus zu hören , „ was
ihm der alte Bienengräber zu ſagen habe . “
Bienengräber ſprach gut genug , ſo recht aus dem
Herzen und der Erfahrung heraus , und als der letzte
Vers geſungen und die Kirche wieder leer war , wollte
Schach auch wirklich in die Sakriſtei gehen , dem Al¬
ten danken für manches gute Wort aus längſt ver¬
gangener Zeit her , und ihn in ſeinem Boot über den
See hin zurückbegleiten . Unterwegs aber wollt er
ihm alles ſagen , ihm beichten , und ſeinen Rat erbitten .
Er würde ſchon Antwort wiſſen . Das Alter ſei alle¬
mal weiſe , und wenn nicht von Weisheits- , ſo doch
bloß ſchon von Alters wegen . „ Aber , “ unterbrach er
ſich mitten in dieſem Vorſatze , „ was ſoll mir ſchlie߬
lich ſeine Antwort ? hab ich dieſe Antwort nicht ſchon
vorweg ? hab ich ſie nicht in mir ſelbſt ? Kenn ich
nicht die Gebote ? Was mir fehlt , iſt bloß die Luſt ,
ihnen zu gehorchen . “
Und während er ſo vor ſich hinredete , ließ er
den Plan eines Zwiegeſprächs fallen , und ſtieg den
Schloßberg wieder hinauf .
Er hatte von dem Gottesdienſt in der Kirche
nichts abgehandelt , und doch ſchlug es erſt zehn , als
er wieder oben anlangte .
Hier ging er jetzt durch alle Zimmer , einmal ,
zweimal , und ſah ſich die Bilder aller der Schachs
an , die zerſtreut und in Gruppen an den Wänden
umherhingen . Alle waren in hohen Stellungen in
der Armee geweſen , alle trugen ſie den Schwarzen
Adler oder den Pour le Merite . Das hier war der
General , der bei Malplaquet die große Redoute nahm ,
und das hier war das Bild ſeines eigenen Gro߬
vaters , des Oberſten im Regiment Itzenplitz , der den
Hochkirchner Kirchhof mit 400 Mann eine Stunde
lang gehalten hatte . Schließlich fiel er , zerhauen und
zerſchoſſen , wie alle die , die mit ihm waren . Und
dazwiſchen hingen die Frauen , einige ſchön , am ſchönſten
aber ſeine Mutter .
Als er wieder in dem Gartenſalon war , ſchlug
es zwölf . Er warf ſich in die Sopha-Ecke , legte die
Hand über Aug und Stirn und zählte die Schläge .
„ Zwölf . Jetzt bin ich zwölf Stunden hier , und mir
iſt als wären es zwölf Jahre . . Wie wird es ſein ?
Alltags die Kreepſchen , und Sonntags Bienengräber
oder der Radenslebenſche , was keinen Unterſchied macht .
Einer wie der andre . Gute Leute , verſteht ſich , alle
gut . . Und dann geh ich mit Victoire durch den
Garten , und aus dem Park auf die Wieſe , dieſelbe
Wieſe , die wir vom Schloß aus immer und ewig
und ewig und immer ſehn , und auf der der Ampfer
und die Ranunkeln blühn . Und dazwiſchen ſpazieren
die Störche . Vielleicht ſind wir allein ; aber vielleicht
läuft auch ein kleiner Dreijähriger neben uns her und
ſingt in einem fort : , Adebaar , Du Beſter , bring mir
eine Schweſter . ‘ Und meine Schloßherrin errötet und
wünſcht ſich das Schweſterchen auch . Und endlich
ſind elf Jahre herum , und wir halten an der ,erſten
Station ,‘ an der erſten Station , die die , ſtroherne
Hochzeit ‘ heißt . Ein ſonderbares Wort . Und dann iſt
auch allmählich die Zeit da , ſich malen zu laſſen ,
malen zu laſſen für die Galerie . Denn wir dürfen
doch am Ende nicht fehlen ! Und zwiſchen die Generäle
rück ich dann als Rittmeiſter ein , und zwiſchen die
ſchönen Frauen kommt Victoire . Vorher aber hab
ich eine Konferenz mit dem Maler und ſag ihm : ‚ Ich
rechne darauf , daß Sie den Ausdruck zu treffen
wiſſen . Die Seele macht ähnlich . ‛ Oder ſoll ich ihm
geradezu ſagen : ‚ machen Sies gnädig ‘ . . . Nein ,
nein ! “
15. Kapitel .
Die Schachs und die Carayons .
W as immer geſchieht , geſchah auch diesmal : die
Carayons erfuhren nichts von dem , was
die halbe Stadt wußte . Dienſtag , wie ge¬
wöhnlich , erſchien Tante Marguerite , fand Victoiren
„ um dem Kinn etwas ſpitz ” und warf im Laufe der
Tiſchunterhaltung hin : „ Wißt Ihr denn ſchon , es ſollen
ja Karrikatüren erſchienen ſein ? ”
Aber dabei blieb es , da Tante Marguerite jenen
alten Geſellſchaftsdamen zuzählte , die nur immer von
allem „ gehört haben ” , und als Victoire fragte : „ was
denn , liebe Tante ? ” wiederholte ſie nur : „ Karrika¬
türen , liebes Kind . Ich weiß es ganz genau . “ Und
damit ließ man den Geſprächsgegenſtand fallen .
Es war gewiß ein Glück für Mutter und Tochter ,
daß ſie von den Spott- und Zerrbildern , deren Gegen¬
ſtand ſie waren , nichts in Erfahrung brachten ; aber für
den Dritt beteiligten , für Schach , war es ebenſo gewiß
ein Unglück und eine Quelle neuer Zerwürfniſſe . Hätte
Frau von Carayon , als deren ſchönſter Herzenszug
ein tiefes Mitgefühl gelten konnte , nur die kleinſte
Vorſtellung von all dem Leid gehabt , das , die ganze
Zeit über , über ihren Freund ausgeſchüttet worden
war , ſo würde ſie von der ihm geſtellten Forderung
zwar nicht Abſtand genommen , aber ihm doch Auf¬
ſchub gewährt und Troſt und Teilnahme geſpendet
haben ; ohne jede Kenntnis jedoch von dem , was in¬
zwiſchen vorgefallen war , aigrierte ſie ſich gegen Schach
immer mehr und erging ſich von dem Augenblick an ,
wo ſie von ſeinem Rückzug nach Wuthenow erfuhr ,
über ſeinen „ Wort- und Treubruch “ als den ſies an¬
ſah , in den heftigſten und unſchmeichelhafteſten Aus¬
drücken .
Es war ſehr bald , daß ſie von dieſem Rückzuge
hörte . Denſelben Abend noch , an dem Schach ſeinen
Urlaub angetreten hatte , ließ ſich Alvensleben bei den
Carayons melden . Victoire , der jede Geſellſchaft
peinlich war , zog ſich zurück , Frau von Carayon
aber ließ bitten und empfing ihn mit beſondrer Herz¬
lichkeit .
„ Daß ich Ihnen ſagen könnte , lieber Alvensleben ,
wie ſehr ich mich freue , Sie nach ſo vielen Wochen
einmal wieder zu ſehen . Eine Welt von Dingen hat
ſich ſeitdem zugetragen . Und ein Glück , daß Sie ſtand¬
haft blieben , als man Ihnen den Luther aufzwingen
wollte . Das hätte mir Ihr Bild ein für allemal
verdorben . “
„ Und doch , meine Gnädigſte , ſchwankt' ich einen
Augenblick , ob ich ablehnen ſollte . “
„ Und weshalb ? “
„ Weil unſer beiderſeitiger Freund unmittelbar
vor her abgelehnt hatte . Nachgerade widerſteht es mir ,
immer wieder und wieder in ſeine Fußtapfen zu treten .
Giebt es ihrer doch ohnehin ſchon genug , die mich
einfach als ſeinen Abklatſch bezeichnen , an der Spitze
Zieten , der mir erſt neulich wieder zurief : ‚ Hüten
Sie ſich , Alvensleben , daß Sie nicht als Schach II .
in die Rang- und Quartierliſte kommen ‘ . “
„ Was nicht zu befürchten ſteht . Sie ſind eben
doch anders . “
„ Aber nicht beſſer . “
„ Wer weiß . “
„ Ein Zweifel , der mich aus dem Munde meiner
ſchönen Frau von Carayon einigermaßen überraſcht ,
und unſrem verwöhnten Freunde , wenn er davon
hörte , ſeine Wuthenower Tage vielleicht verleiden
würde . “
„ Seine Wuthenower Tage ? “
„ Ja , meine Gnädigſte . Mit unbeſtimmtem Urlaub .
Und Sie wiſſen nicht davon ? Er wird ſich doch nicht
ohne vorgängigen Abſchied von Ihnen in ſein altes
Seeſchloß zurückgezogen haben , von dem Noſtitz neu¬
lich behauptete , daß es halb Wurmfraß und halb
Romantik ſei . “
„ Und doch iſt es geſchehen . Er iſt launenhaft ,
wie Sie wiſſen . “ Sie wollte mehr ſagen , aber es ge¬
lang ihr , ſich zu bezwingen und das Geſpräch über
allerhand Tagesneuigkeiten fortzuſetzen , bei welcher
Gelegenheit Alvensleben zu ſeiner Beruhigung wahr¬
nahm , daß ſie von der Haupttagesneuigkeit , von dem
Erſcheinen der Bilder , nicht das Geringſte wußte .
Wirklich , es war der Frau von Carayon auch in der
zwiſchenliegenden halben Woche nicht einen Augenblick
in den Sinn gekommen , etwas Näheres über das
von dem Tantchen Angedeutete hören zu wollen .
Endlich empfahl ſich Alvensleben , und Frau von
Carayon , alles Zwanges nunmehr los und ledig , eilte ,
während Thränen ihren Augen entſtürzten , in Victoirens
Zimmer , um ihr die Mitteilung von Schachs Flucht
zu machen . Denn eine Flucht war es .
Victoire folgte jedem Wort . Aber ob es nun ihre
Hoffnung und Zuverſicht oder umgekehrt ihre Reſig¬
nation war , gleichviel , ſie blieb ruhig .
„ Ich bitte Dich , urteile nicht zu früh . Ein Brief
von ihm wird eintreffen und über alles Aufklärung
geben . Laß es uns abwarten ; Du wirſt ſehn , daß
Du Deinem Verdacht und Deiner Verſtimmung gegen
ihn mehr nachgegeben haſt , als recht und billig war . “
Aber Frau von Carayon wollte ſich nicht um¬
ſtimmen laſſen .
„ Ich kannt ihn ſchon , als Du noch ein Kind
warſt . Nur zur gut . Er iſt eitel und hochfahrend ,
und die prinzlichen Höfe haben ihn vollends über¬
ſchraubt . Er verfällt mehr und mehr ins Ridiküle .
Glaube mir , er will Einfluß haben und zieht ſich im
Stillen irgend einen politiſchen oder gar ſtaats¬
männiſchen Ehrgeiz groß . Was mich aber am meiſten
verdrießt , iſt das , er hat ſich auch plötzlich auf ſeinen
Obotritenadel beſonnen , und fängt an ſein Schach¬
oder Schachentum für etwas ganz Beſondres in der
Weltgeſchichte zu halten . “
„ Und thut damit nicht mehr , als was alle thun . .
Und die Schachs ſind doch wirklich eine alte Familie . “
„ Daran mag er denken und das Pfauenrad
ſchlagen , wenn er über ſeinen Wuthnower Hühnerhof
hingeht . Und ſolche Hühnerhöfe giebt es hier überall .
Aber was ſoll uns das ? Oder zum wenigſten was
ſoll es Dir ? An mir hätt er vorbeiſtolzieren und
der bürgerlichen Generalpächterstochter , der kleinen
Roturière , den Rücken kehren können . Aber Du
Victoire , Du ; Du biſt nicht blos meine Tochter , Du
biſt auch Deines Vaters Tochter , Du biſt eine
Carayon !
Victoire ſah die Mama mit einem Anfluge ſchel¬
miſcher Verwunderung an .
„ Ja , lache nur , Kind , lache laut , ich verüble Dirs
nicht . Haſt Du mich doch ſelber oft genug über dieſe
Dinge lachen ſehen . Aber , meine ſüße Victoire , die
Stunden ſind nicht gleich , und heute bitt ich Deinem
Vater ab und dank ihm von Herzen , weil er mir in
ſeinem Adelsſtolze , mit dem er mich zur Verzweiflung
gebracht und aus ſeiner Nähe hinweg gelangweilt hat ,
eine willkommene Waffe gegen dieſen mir unerträg¬
lichen Dünkel in die Hand giebt . Schach , Schach !
Was iſt Schach ? Ich kenn ihre Geſchichte nicht und
will ſie nicht kennen , aber ich wette dieſe meine
Broche gegen eine Stecknadel , daß Du , wenn Du das
ganze Geſchlecht auf die Tenne wirfſt , da , wo der
Wind am ſchärfſten geht , daß nichts übrig bleibt , ſag
ich , als ein halbes Dutzend Oberſten und Rittmeiſter ,
alle devoteſt erſtorben und alle mit einer Pontaknaſe .
Lehre mich dieſe Leute kennen ! “
„ Aber , Mama . . “
„ Und nun die Carayons ! Es iſt wahr , ihre
Wiege hat nicht an der Havel und nicht einmal an
der Spree geſtanden , und weder im Brandenburger
noch im Havelberger Dom iſt je geläutet worden ,
wenn einer von ihnen kam oder ging . Oh , ces
pauvres gens , ces malheureux Carayons ! Sie
hatten ihre Schlöſſer , beiläufig wirkliche Schlöſſer ,
ſo bloß armſelig an der Gironde hin , waren bloß
Girondins und Deines Vaters leibliche Vettern fielen
unter der Guillotine , weil ſie treu und frei zugleich
waren und uneingeſchüchtert durch das Geſchrei des
Berges für das Leben ihres Königs geſtimmt hatten . “
Immer verwunderter folgte Victoire .
„ Aber , “ fuhr Frau von Carayon fort , „ ich will
nicht von Jüngſtgeſchehenem ſprechen , will nicht ſprechen
von heute . Denn ich weiß wohl , das von Heuteſein
iſt immer ein Verbrechen in den Augen derer , die
ſchon geſtern da waren , gleichviel wie . Nein , ich
will von alten Zeiten ſprechen , von Zeiten , als der
erſte Schach ins Land und an den Ruppiner See
kam , und einen Wall und Graben zog , und eine la¬
teiniſche Meſſe hörte , von der er nichts verſtand .
Eben damals zogen die Carayons , ces pauvres et
malheureux Carayons , mit vor Jeruſalem und
eroberten es und befreiten es . Und als ſie heimkamen ,
da kamen Sänger an ihren Hof , und ſie ſangen ſelbſt ,
und als Victoire de Carayon ( ja ſie hieß auch Victoire )
ſich dem großen Grafen von Luſignan vermählte ,
deſſen erlauchter Bruder Großprior des hohen Ordens
vom Spital und endlich König von Cypern war , da
waren wir mit einem Königshauſe verſippt und ver¬
ſchwägert , mit den Luſignans , aus deren großem
Hauſe die ſchöne Meluſine kam , unglücklichen aber
Gott ſei Dank unproſaiſchen Angedenkens . Und von
12
uns Carayons , die wir ganz andere Dinge geſehn
haben , will ſich dieſer Schach abwenden und ſich hoch¬
mütig zurückziehn ? Unſrer will er ſich ſchämen ?
Er , Schach . Will er es als Schach , oder will er es
als Grundherr von Wuthenow ? Ah , bah ! Was iſt es
denn mit beiden ? Schach iſt ein blauer Rock mit einem
roten Kragen , und Wuthenow iſt eine Lehmkathe . “
„ Mama , glaube mir , Du thuſt ihm Unrecht . Ich
ſuch es nach einen andern Seite hin . Und da find
ich es auch . “
Frau von Carayon beugte ſich zu Victoire nieder
und küßte ſie leidenſchaftlich . „ Ach , wie gut Du biſt ,
viel viel beſſer , als Deine Mama . Und nur Eines
iſt gut an ihr , daß ſie Dich liebt . Er aber ſollte
Dich auch lieben ! Schon um Deiner Demut willen . “
Victoire lächelte .
„ Nein , nicht ſo . Der Glaube , daß Du verarmt
und ausgeſchieden ſeieſt , beherrſcht Dich mit der Macht
einer fixen Idee . Du biſt nicht ſo verarmt . Und
auch er . . “
Sie ſtockte .
„ Sieh , Du warſt ein ſchönes Kind , und Alvens¬
leben hat mir erzählt , in welch enthuſiaſtiſchen Worten
der Prinz erſt neulich wieder von Deiner Schönheit
auf dem Maſſowſchen Balle geſprochen habe . Das
iſt nicht hin , davon blieb Dir , und jeder muß es
finden , der ihm liebevoll in Deinen Zügen nachzu¬
gehen den Sinn und das Herz hat . Und wenn
wer dazu verpflichtet iſt , ſo iſt ers ! Aber er ſträubt
ſich , denn ſo hautain er iſt , ſo konventionell iſt er .
Ein kleiner ängſtlicher Aufmerker . Er hört auf das ,
was die Leute ſagen , und wenn das ein Mann thut
( wir müſſen 's ) , ſo heiß ich das Feigheit und lacheté .
Aber er ſoll mir Rede ſtehn . Ich habe meinen Plan
jetzt fertig und will ihn demütigen , ſo gewiß er uns
demütigen wollte . “
Frau von Carayon kehrte nach dieſem Zwiege¬
ſpräch in das Eckzimmer zurück , ſetzte ſich an Victoirens
kleinen Schreibtiſch und ſchrieb .
„ Einer Mitteilung Herrn von Alvensleben ent¬
nehm ich , daß Sie , mein Herr von Schach , heute ,
Sonnabend Abend , Berlin verlaſſen und ſich für einen
Landaufenthalt in Wuthenow entſchieden haben . Ich
habe keine Veranlaſſung Ihnen dieſen Landaufent¬
halt zu mißgönnen oder Ihre Berechtigung dazu
zu beſtreiten , muß aber Ihrem Rechte das meiner
Tochter gegenüberſtellen . Und ſo geſtatten Sie mir
denn , Ihnen in Erinnerung zu bringen , daß die Ver¬
öffentlichung des Verlöbniſſes für morgen , Sonntag ,
zwiſchen uns verabredet worden iſt . Auf dieſe Ver¬
öffentlichung beſteh ich auch heute noch . Iſt ſie bis
Mittwoch früh nicht erfolgt , erfolgen meinerſeits andre ,
durchaus ſelbſtändige Schritte . So ſehr dies meiner
Natur widerſpricht ( Victoirens ganz zu geſchweigen ,
12*
die von dieſem meinem Schreiben nichts weiß und
nur bemüht ſein würde , mich daran zu hindern ) , ſo
laſſen mir doch die Verhältniſſe , die Sie , das Mindeſte
zu ſagen , nur zu gut kennen , keine Wahl . Alſo bis
auf Mittwoch ! Joſephine von Carayon . “
Sie ſiegelte den Brief und übergab ihn perſön¬
lich einem Boten mit der Weiſung , ſich bei Tages¬
anbruch nach Wuthenow hin auf den Weg zu machen .
Auf Antwort zu warten , war ihm eigens unter¬
ſagt worden .
16. Kapitel
Frau von Carayon und der alte
Köckritz .
D er Mittwoch kam und ging , ohne daß ein
Brief Schachs oder gar die geforderte
Verlobungsankündigung erſchienen wäre .
Frau von Carayon hatte dies nicht anders erwartet
und ihre Vorbereitungen darauf hin getroffen .
Am Donnerſtag früh hielt ein Wagen vor ihrem
Hauſe , der ſie nach Potsdam hinüber führen ſollte ,
wo ſich der König ſeit einigen Wochen aufhielt . Sie
hatte vor , einen Fußfall zu thun , ihm den ihr wider¬
fahrenen Affront vorzuſtellen und ſeinen Beiſtand an¬
zurufen . Daß es in des Königs Macht ſtehen werde ,
dieſen Beiſtand zu gewähren und einen Ausgleich
herbeizuführen , war ihr außer Zweifel . Auch über
die Mittel und Wege , ſich Sr. Majeſtät zu nähern ,
hatte ſie nachgedacht , und mit gutem Erfolge . Sie
kannte den Generaladjutanten von Köckritz , der vor
dreißig Jahren und länger , als ein junger Lieutenant
oder Stabskapitän , in ihrem elterlichen Hauſe ver¬
kehrt und der „ kleinen Joſephine “ , dem allgemeinen
Verzuge , manche Bonbonnière geſchenkt hatte . Der war
jetzt Liebling des Königs , einflußreichſte Perſon ſeiner
nächſten Umgebung , und durch ihn , zu dem ſie we¬
nigſtens in oberflächlichen Beziehungen geblieben war ,
hoffte ſie ſich einer Audienz verſichert halten zu
dürfen .
Um die Mittagsſtunde war Frau von Carayon
drüben , ſtieg im „ Einſiedler “ ab , ordnete ihre Toilette ,
und begab ſich ſofort ins Schloß . Aber hier mußte
ſie von einem zufällig die Freitreppe herabkommenden
Kammerherrn in Erfahrung bringen , daß Seine Maje¬
ſtät Potsdam bereits wieder verlaſſen und ſich zur
Begrüßung Ihrer Majeſtät der Königin , die Tags
darauf aus Bad Pyrmont zurückzukehren gedenke , nach
Paretz begeben habe , wo man , frei vom Zwange
des Hofes , eine Woche lang in glücklicher Zurückge¬
zogenheit zu verleben gedenke .
Das war nun freilich eine böſe Nachricht . Wer
ſich zu einem peinlichen Gange ( und wenn es der
„ hochnotpeinlichſte “ wäre ) anſchickt und mit Sehnſucht
auf das Schreckensende wartet , für den iſt nichts
härter als Vertagung . Nur raſch , raſch ! Eine kurze
Strecke geht es , aber dann verſagen die Nerven .
Schweren Herzens , und geängſtigt durch die
Vorſtellung , daß ihr dieſer Fehlſchlag vielleicht einen
Fehlſchlag überhaupt bedeute , kehrte Frau von Carayon
in das Gaſthaus zurück . An eine Fahrt nach Paretz
hinaus war für heute nicht mehr zu denken , um ſo
weniger , als zu ſo ſpäter Nachmittagszeit unmöglich
noch eine Audienz erbeten werden konnte . So denn
alſo warten bis morgen ! Sie nahm ein kleines Diner ,
ſetzte ſich wenigſtens zu Tiſch , und ſchien entſchloſſen ,
die langen langen Stunden in Einſamkeit auf ihrem
Zimmer zu verbringen . Aber die Gedanken und Bilder ,
die vor ihr aufſtiegen und vor allem die feierlichen
Anſprachen , die ſie ſich zum hundertſten Male wieder¬
holte , ſo lange wiederholte , bis ſie zuletzt fühlte , ſie
werde , wenn der Augenblick da ſei , kein einziges Wort
hervorbringen können , — alles das gab ihr zuletzt
den geſunden Entſchluß ein , ſich gewaltſam aus ihren
Grübeleien herauszureißen und in den Straßen und
Umgebungen der Stadt umherzufahren . Ein Lohn¬
diener erſchien denn auch , um ihr ſeine Dienſte zur
Verfügung zu ſtellen , und um die ſechſte Stunde hielt
eine mittel-elegante Miethschaiſe vor dem Gaſthauſe ,
da ſich das von Berlin her benutzte Gefährt , nach
ſeiner halbtägigen Anſtrengung im Sommerſand , als
durchaus ruhebedürftig herausgeſtellt hatte .
„ Wohin befehlen , gnädige Frau ?
„ Ich überlaß es Ihnen . Nur keine Schlöſſer ,
oder doch ſo wenig wie möglich ; aber Park und Garten ,
und Waſſer und Wieſen . “
„ Ah , je comprends , “ radebrechte der Lohndiener ,
der ſich daran gewöhnt hatte , ſeine Fremden ein für
allemal als Halbfranzoſen zu nehmen , oder vielleicht
auch dem franzöſiſchen Namen der Frau von Carayon
einige Berückſichtigung ſchuldig zu ſein glaubte . „ Je
comprends . “ Und er gab dem in einem alten
Treſſenhut auf dem Bock ſitzenden Kutſcher Ordre ,
zunächſt in den „ Neuen Garten “ zu fahren .
In dem „ Neuen Garten “ war es wie tot , und
eine dunkle , melancholiſche Cypreſſenallee ſchien gar
kein Ende nehmen zu wollen . Endlich lenkte man
nach rechts hin in einen neben einem See hinlaufenden
Weg ein , deſſen einreihig gepflanzte Bäume mit ihrem
weit ausgeſtreckten und niederhängenden Gezweige den
Waſſerſpiegel berührten . In dem Gitterwerke der
Blätter aber glomm und glitzerte die niedergehende
Sonne . Frau von Carayon vergaß über dieſe Schön¬
heit all ihr Leid , und fühlte ſich dem Zauber derſelben
erſt wieder entriſſen , als der Wagen aus dem Ufer¬
weg abermals in den großen Mittelgang einbog , und
gleich danach vor einem aus Backſtein aufgeführten ,
im Übrigen aber mit Gold und Marmor reich ge¬
ſchmücktem Hauſe hielt .
„ Wem gehört es ? “
„ Dem König . “
„ Und wie heißt es ? “
„ Das Marmor-Palais . “
„ Ah das Marmor-Palais . Das iſt alſo das
Palais . . . “
„ Zu dienen , gnädige Frau . Das iſt das Palais ,
in dem weiland Seine Majeſtät König Friedrich
Wilhelm der Zweite ſeiner langen und ſchmerzlichen
Waſſerſucht allerhöchſt erlag . Und ſteht auch noch
alles ebenſo , wies damals geſtanden hat . Ich kenne
das Zimmer ganz genau , wo der gute gnädige Herr
immer , den Lebensgas ‘ trank , den ihm der Geheim¬
rat Hufeland in einem kleinen Ballon ans Bett brin¬
gen ließ oder vielleicht auch bloß in einer Kalbsblaſe .
Wollen die gnädige Frau das Zimmer ſehn ? Es iſt
freilich ſchon ſpät . Aber ich kenne den Kammerdiener ,
und er thut es , denk ich , auf meinen Empfehl . .
verſteht ſich . . Und iſt auch dasſelbe kleine Zimmer ,
worin ſich eine Figur von der Frau Rietz oder wie
manche ſagen von der Mamſell Encken oder der
Gräfin Lichtenau befindet , das heißt , nur eine kleine
Figur , ſo bloß bis an die Hüften oder noch weniger . “
Frau von Carayon dankte . Sie war bei dem
Gange , der ihr für morgen bevorſtand , nicht in der
Laune , das Allerheiligſte der Rietz oder auch nur
ihre Porträtbüſte kennen lernen zu wollen . Sie ſprach
alſo den Wunſch aus , immer weiter in den Park
hineinzufahren , und ließ erſt umkehren , als ſchon die
Sonne nieder war und ein kühlerer Luftton den
Abend ankündigte . Wirklich , es ſchlug neun , als man
auf der Rückfahrt an der Garniſonkirche vorüberkam ,
und ehe noch das Glockenſpiel ſeinen Choral ausge¬
ſpielt hatte , hielt der Wagen wieder vor dem „ Ein¬
ſiedler “ .
Die Fahrt hatte ſie gekräftigt und ihr ihren
Mut zurückgegeben . Dazu kam eine wohlthuende
Müdigkeit , und ſie ſchlief beſſer als ſeit lange . Selbſt
was ſie träumte , war hell und licht .
Am andern Morgen erſchien , wie verabredet , ihre
nun wieder ausgeruhte Berliner Equipage vor dem
Hotel ; da ſie jedoch allen Grund hatte , der Kenntnis
und Umſicht ihres eigenen Kutſchers zu mißtrauen ,
engagierte ſie , wie zur Aushilfe , denſelben Lohndiener
wieder , der ſich geſtern , aller kleinen Eigenheiten ſeines
Standes unerachtet , ſo vorzüglich bewährt hatte . Das
gelang ihm denn auch heute wieder . Er wußte
von jedem Dorf und Luſtſchloß , an dem man vorüber
kam , zu berichten , am meiſten von Marquardt , aus
deſſen Parke , zu wenigſtens vorübergehendem Intereſſe
der Frau von Carayon , jenes Gartenhäuschen her¬
vorſchimmerte , darin unter Zuthun und Anleitung des
Generals von Biſchofswerder , dem „ dicken Könige “
( wie ſich der immer konfidentieller werdende Cicerone
jetzt ohne weiteres ausdrückte ) die Geiſter erſchienen
waren .
Eine Viertelmeile hinter Marquardt hatte man
die „ Wublitz “ , einen von Mummeln überblühten
Havelarm zu paſſieren , dann folgten Äcker und Wie¬
ſengründe , die hoch in Gras und Blumen ſtanden ,
und ehe noch die Mittagsſtunde heran war , war ein
Brückenſteg und alsbald auch ein offenſtehendes Gitter¬
thor erreicht , das den Paretzer Parkeingang bildete .
Frau von Carayon , die ſich ganz als Bittſtellerin
empfand , ließ in dem ihr eigenen , feinen Gefühl an
dieſer Stelle halten und ſtieg aus , um den Reſt des
Weges zu Fuß zu machen . Es war nur eine kleine ,
ſonnenbeſchienene Strecke noch , aber gerade das Sonnen¬
licht war ihr peinlich , und ſo hielt ſie ſich denn ſeit¬
wärts unter den Bäumen hin , um nicht vor der Zeit
geſehen zu werden .
Endlich indes war ſie bis an die Sandſteinſtufen
des Schloſſes heran und ſchritt ſie tapfer hinauf . Die
Nähe der Gefahr hatte ihr einen Teil ihrer natürlichen
Entſchloſſenheit zurückgegeben .
„ Ich wünſchte den General von Köckritz zu
ſprechen , “ wandte ſie ſich an einen im Veſtibül an¬
weſenden Lakaien , der ſich gleich beim Eintritt der
ſchönen Dame von ſeinem Sitz erhoben hatte .
„ Wen hab ich dem Herrn General zu melden ? “
„ Frau von Carayon . “
Der Lakai verneigte ſich und kam mit der Antwort
zurück : „ Der Herr General laſſe bitten in das Vor¬
zimmer einzutreten . “
Frau von Carayon hatte nicht lange zu warten .
General von Köckritz , von dem die Sage ging , daß
er außer ſeiner leidenſchaftlichen Liebe zu ſeinem Könige
keine weitere Paſſion als eine Pfeife Tabak und einen
Rubber Whiſt habe , trat ihr von ſeinem Arbeitszimmer
her entgegen , entſann ſich ſofort der alten Zeit und
bat ſie mit verbindlichſter Handbewegung Platz zu
nehmen . Sein ganzes Weſens hatte ſo ſehr den
Ausdruck des Gütigen und Vertrauenerweckenden , daß
die Frage nach ſeiner Klugheit nur ſehr wenig daneben
bedeutete . Namentlich für ſolche , die wie Frau von
Carayon mit einem Anliegen kamen . Und das ſind
bei Hofe die meiſten . Er beſtätigte durchaus die
Lehre , daß eine wohlwollende Fürſtenumgebung
einer geiſtreichen immer weit vorzuziehen iſt . Nur
freilich ſollen dieſe fürſtlichen Privatdiener nicht auch
Staatsdiener ſein und nicht mitbeſtimmen und mit¬
regieren wollen .
General von Köckritz hatte ſich ſo geſetzt , daß ihn
Frau von Carayon im Profil hatte . Sein Kopf
ſteckte halb in einem überaus hohen und ſteifen
Uniformkragen , aus dem nach vorn hin ein Jabot
quoll , während nach hinten ein kleiner ſauber be¬
handelter Zopf fiel . Dieſer ſchien ein eigenes Leben
zu führen , und bewegte ſich leicht und mit einer
gewiſſen Koketterie hin und her , auch wenn an dem
Manne ſelbſt nicht die geringſte Bewegung wahr¬
zunehmen war .
Frau von Carayon , ohne den Ernſt ihrer Lage
zu vergeſſen , erheiterte ſich doch offenbar an dieſem
eigentümlich neckiſchen Spiel , und erſt einmal ins
Heitre gekommen , erſchien ihr das , was ihr oblag ,
um vieles leichter und bezwingbarer , und befähigte
ſie , mit Freimut über all und jedes zu ſprechen , auch
über das , was man als den „ delikaten Punkt “ in
ihrer oder ihrer Tochter Angelegenheit bezeichnen
konnte .
Der General hatte nicht nur aufmerkſam , ſondern
auch teilnahmevoll zugehört , und ſagte , als Frau
von Carayon ſchwieg : „ Ja , meine gnädigſte Frau ,
das ſind ſehr fatale Sachen , Sachen , von denen
S. Majeſtät nicht zu hören liebt , weshalb ich im
allgemeinen darüber zu ſchweigen pflege , wohlver¬
ſtanden ſo lange nicht Abhilfe zu ſchaffen und über¬
haupt nichts zu beſſern iſt . Hier aber iſt zu beſſern ,
und ich würde meine Pflicht verſäumen und Seiner
Majeſtät einen ſchlechten Dienſt erweiſen , wenn ich
ihm einen Fall wie den Ihrigen vorenthalten oder da
Sie ſelber gekommen ſind Ihre Sache vorzutragen ,
Sie , meine gnädigſte Frau , durch künſtlich erfundene
Schwierigkeiten an ſolchem Vortrage behindern wollte .
Denn ſolche Schwierigkeiten ſind allemalen erfundene
Schwierigkeiten in einem Lande wie das unſre , wo
von alter Zeit her die Fürſten und Könige das Recht
ihres Volkes wollen , und nicht geſonnen ſind , der
Forderung eines ſolchen Rechtes bequem aus dem
Wege zu gehen . Am allerwenigſten aber mein Aller¬
gnädigſter König und Herr , der ein ſtarkes Gefühl
für das Ebenmäßige des Rechts und eben deshalb
einen wahren Widerwillen und rechten Herzensabſcheu
gegen alle die jenigen hat , die ſich , wie manche Herren
Offiziers , inſonderheit aber die ſonſt ſo braven und
tapfren Offiziers von Dero Regiment Gensdarmes ,
aus einem ſchlechten Dünkel allerlei Narretei zu
permittieren geneigt ſind , und es für angemeſſen und
löblich oder doch zum mindeſten für nicht unſtatthaft
halten , das Glück und den Ruf Andrer ihrem Über¬
mut und ihrer ſchlechten moralité zu opfern . “
Frau von Carayons Augen füllten ſich mit
Thränen . „ Que vous êtes bon , mon chèr General . “
„ Nicht ich , meine teure Frau . Aber mein Aller¬
gnädigſter König und Herr , der iſt gut . Und ich
denke , Sie ſollen den Beweis dieſer ſeiner Herzens¬
güte bald in Händen halten , trotzdem wir heut einen
ſchlimmen oder ſagen wir lieber einen ſchwierigen
Tag haben . Denn wie Sie vielleicht ſchon in Er¬
fahrung gebracht haben , der König erwartet in wenig
Stunden die Königin zurück , und um nicht geſtört zu
werden in der Freude des Wiederſehns , des halb be¬
findet er ſich hier , des halb iſt er hierher gegangen
nach Paretz . Und nun läuft ihm in dies Idyll ein
Rechtsfall und eine Streitſache nach . Und eine Streit¬
ſache von ſo delikater Natur . Ja , wirklich ein Schaber¬
nack iſt es , und ein rechtes Schnippchen , das ihm die
Laune der Frau Fortuna ſchlägt . Er will ſich ſeines
Liebesglückes freuen ( Sie wiſſen wie ſehr er die
Königin liebt ) und in demſelben Augenblicke faſt , der
ihm ſein Liebesglück bringen ſoll , hört er eine Ge¬
ſchichte von unglücklicher Liebe . Das verſtimmt ihn .
Aber er iſt zu gütig , um dieſer Verſtimmung nicht
Herr zu werden , und treffen wirs nur einigermaßen
leidlich , ſo müſſen wir uns aus eben dieſem Zu¬
ſammentreffen auch noch einen beſonderen Vorteil zu
ziehen wiſſen . Denn das eigne Glück , das er erwartet ,
wird ihn nur noch geneigter machen als ſonſt , das
getrübte Glück andrer wieder herzuſtellen . Ich kenn
ihn ganz in ſeinem Rechtsgefühl und in der Güte
ſeines Herzens . Und ſo geh ich denn , meine teure
Frau , Sie bei dem Könige zu melden . “
Er hielt aber plötzlich wie nachdenkend inne ,
wandte ſich noch einmal wieder und ſetzte hinzu : „ Irr
ich nicht , ſo hat er ſich eben in den Park begeben .
Ich kenne ſeinen Lieblingsplatz . Laſſen Sie mich alſo
ſehen . In wenig Minuten bring ich Ihnen Antwort ,
ob er Sie hören will oder nicht . Und nun noch ein¬
mal , ſeien Sie gutes Mutes . Sie dürfen es . “
Und damit nahm er Hut und Stock , und trat
durch eine kleine Seitentür unmittelbar in den Park
hinaus .
In dem Empfangszimmer , in dem Frau von Ca¬
rayon zurückgeblieben war , hingen allerlei Buntdruck¬
bilder , wie ſie damals von England her in der Mode
waren : Engelsköpfe von Joſua Reynolds , Landſchaften
von Gainsborough , auch ein paar Nachbildungen
italieniſcher Meiſterwerke , darunter eine büßende Mag¬
dalena . War es die von Correggio ? Das wunder¬
voll tiefblau getönte Tuch , das die Büßende halb
verhüllte , feſſelte Frau von Carayons Aufmerkſam¬
keit , und ſie trat heran , um ſich über den Maler zu
vergewiſſern . Aber ehe ſie noch ſeinen Namen ent¬
ziffern konnte , kehrte der alte General zurück , und
bat ſeinen Schützling ihm zu folgen .
Und ſo traten ſie denn in den Park , drin eine
tiefe Stille herrſchte . Zwiſchen Birken und Edeltannen
hin ſchlängelte ſich der Weg und führte bis an eine
künſtliche , von Moos und Epheu überwachſene Fels¬
wand , in deren Front ( der alte Köckritz war jetzt zu¬
rückgeblieben ) der König auf einer Steinbank ſaß .
Er erhob ſich , als er die ſchöne Frau ſich nähern
ſah , und trat ihr ernſt und freundlich entgegen . Frau
von Carayon wollte ſich auf ein Knie niederlaſſen , der
König aber litt es nicht , nahm ſie vielmehr aufrichtend
bei der Hand , und ſagte : „ Frau von Carayon ? Mir
ſehr wohl bekannt . . Erinnre Kinderball . . ſchöne
Tochter . . Damals . . “
Er ſchwieg einen Augenblick , entweder in Ver¬
legenheit über das ihm entſchlüpfte letzte Wort , oder
aber aus Mitgefühl mit der tiefen Bewegung der
unglücklichen und beinah zitternd vor ihm ſtehenden
Mutter , und fuhr dann fort : „ Köckeritz mir eben An¬
deutungen gemacht . . Sehr fatal . . Aber bitte . .
ſich ſetzen , meine Gnädigſte . . Mut . . Und nun
ſprechen Sie . “
13
17. Kapitel .
Schach in Charlottenburg .
E ine Woche ſpäter hatten König und Königin
Paretz wieder verlaſſen , und ſchon am
Tage danach ritt Rittmeiſter von Schach
in Veranlaſſung eines ihm in Schloß Wuthenow über¬
gebenen Kabinetsſchreibens nach Charlottenburg hin¬
aus , wohin inzwiſchen der Hof überſiedelt war . Er
nahm ſeinen Weg durchs Brandenburger Thor und
die große Tiergartenallee , links hinter ihm Ordonnanz
Baarſch , ein mit einem ganzen Linſengericht von
Sommerſproſſen überdeckter Rotkopf mit übrigens
noch röterem Backenbart , auf welchen roten und etwas
abſtehenden Bart hin Zieten zu verſichern pflegte ,
„ daß man auch dieſen Baarſch an ſeinen Floſſen
erkennen könne . “ Wuthenower Kind und ſeines Guts¬
herrn und Rittmeiſters ehemaliger Spielgefährte , war
er dieſem und allem , was Schach hieß , ſelbſtverſtändlich
in unbedingten Treuen ergeben .
Es war vier Uhr Nachmittags und der Verkehr
nicht groß , trotzdem die Sonne ſchien und ein er¬
quickender Wind wehte . Nur wenige Reiter begegneten
ihnen , unter dieſen auch ein paar Offiziere von Schachs
Regiment . Schach erwiderte ihren Gruß , paſſierte
den Landwehrgraben und ritt bald danach in die
breite Charlottenburger Hauptſtraße mit ihren Sommer¬
häuſern und Vorgärten ein .
Am türkiſchen Zelt , das ſonſt wohl ſein Ziel zu
ſein pflegte , wollte ſein Pferd einbiegen ; er zwang es
aber weiter und hielt erſt bei dem Morelliſchen Kaffee¬
hauſe , das ihm heute für den Gang , den er vorhatte ,
bequemer gelegen war . Er ſchwang ſich aus dem
Sattel , gab der Ordonnanz den Zügel und ging ohne
Verſäumnis auf das Schloß zu . Hier trat er nach
Paſſierung eines öden und von der Juliſonne längſt
verbrannten Grasvierecks erſt in ein geräumiges
Treppenhaus und bald danach in einen ſchmalen
Korridor ein , an deſſen Wänden in anſcheinend über¬
lebensgroßen Porträts die glotzäugigen blauen Rieſen
König Friedrich Wilhelms I . paradierten . Am Ende
dieſes Ganges aber traf er einen Kammerdiener , der
ihn , nach vorgängiger Meldung , in das Arbeitskabinet
des Königs führte .
13*
Dieſer ſtand an einem Pult , auf dem Karten
ausgebreitet lagen , ein paar Pläne der Auſterlitzer
Schlacht . Er wandte ſich ſofort , trat auf Schach zu ,
und ſagte : „ Habe Sie rufen laſſen , lieber Schach
. . Die Carayon ; fatale Sache . Spiele nicht gern
den Moraliſten und Splitterrichter ; mir verhaßt ; auch
meine Verirrungen . Aber in Verirrungen nicht ſtecken
bleiben ; wieder gut machen . Übrigens nicht recht
begreife . Schöne Frau , die Mutter ; mir ſehr gefallen ;
kluge Frau . “
Schach verneigte ſich .
„ Und die Tochter ! Weiß wohl , weiß ; armes
Kind . . Aber enfin , müſſen ſie doch charmant gefunden
haben . Und was man einmal charmant gefunden , findet
man , wenn man nur will , auch wieder . Aber das iſt
Ihre Sache , geht mich nichts an . Was mich angeht ,
das iſt die honnêteté . Die verlang ich und um dieſer
honnêteté willen verlang ich Ihre Heirat mit dem
Fräulein von Carayon . Oder Sie müßten denn
Ihren Abſchied nehmen und den Dienſt quittieren
wollen . “
Schach ſchwieg , verriet aber durch Haltung und
Miene , daß ihm dies das Schmerzlichſte ſein würde .
„ Nun denn bleiben alſo ; ſchöner Mann ; liebe
das . Aber Remedur muß geſchafft werden , und bald ,
und gleich . Übrigens alte Familie , die Carayons ,
und wird Ihren Fräulein Töchtern ( Pardon , lieber
Schach ) die Stiftsanwartſchaft auf Marienfließ oder
Heiligengrabe nicht verderben . Abgemacht alſo . Rechne
darauf , dringe darauf . Und werden wir Meldung
machen . “
„ Zu Befehl , Ew. Majeſtät . “
„ Und noch eines ; habe mit der Königin darüber
geſprochen ; will Sie ſehn ; Frauenlaune . Werden ſie
drüben in der Orangerie treffen . . Dank Ihnen . “
Schach war gnädig entlaſſen , verbeugte ſich und
ging den Korridor hinunter auf das am entgegen¬
geſetzten Flügel des Schloſſes gelegene große Glas-
und Gewächshaus zu , von dem der König geſprochen
hatte .
Die Königin aber war noch nicht da , vielleicht
noch im Park . So trat er denn in dieſen hinaus
und ſchritt auf einem Flieſengange zwiſchen einer
Menge hier aufgeſtellter römiſcher Kaiſer auf und ab ,
von denen ihn einige faunartig anzulächeln ſchienen .
Endlich ſah er die Königin von der Fährbrücke her
auf ſich zukommen , eine Hofdame mit ihr , allem An¬
ſcheine nach das jüngere Fräulein von Viereck . Er
ging beiden Damen entgegen , und trat in gemeſſener
Entfernung bei Seit , um die militäriſchen Honneurs
zu machen . Das Hoffräulein aber blieb um einige
Schritte zurück .
„ Ich freue mich Sie zu ſehen , Herr von Schach .
Sie kommen vom Könige . “
„ Zu Befehl , Ew. Majeſtät . “
„ Es iſt etwas gewagt , “ fuhr die Königin fort ,
„daß ich Sie habe bitten laſſen . Aber der König , der
anfänglich dagegen war und mich darüber verſpottete ,
hat es ſchließlich geſtattet . Ich bin eben eine Frau ,
und es wäre hart , wenn ich mich meiner Frauenart
entſchlagen müßte , nur weil ich eine Königin bin .
Als Frau aber intereſſiert mich alles , was unſer
Geſchlecht angeht , und was ging uns näher an als
eine ſolche question d'amour . “
„ Majeſtät ſind ſo gnädig . “
„ Nicht gegen Sie , lieber Schach . Es iſt um des
Fräuleins willen . . Der König hat mir alles er¬
zählt , und Köckritz hat von dem Seinen hinzugethan .
Es war denſelben Tag , als ich von Pyrmont wieder
in Paretz eintraf , und ich kann Ihnen kaum ausſprechen ,
wie groß meine Teilnahme mit dem Fräulein war .
Und nun wollen Sie , gerade Sie , dem lieben Kinde
dieſe Teilnahme verſagen und mit dieſer Teilnahme
zugleich ſein Recht . Das iſt unmöglich . Ich kenne
Sie ſo lange Zeit und habe Sie jederzeit als einen
Kavalier und Mann von Ehre befunden . Und dabei ,
denk ich , belaſſen wirs . Ich habe von den Spott¬
bildern gehört , die publiziert worden ſind , und dieſe
Bilder , ſo nehm ich an , haben Sie verwirrt und Ihnen
Ihr ruhiges Urteil genommen . Ich begreife das , weiß
ich doch aus allereigenſter Erfahrung , wie weh der¬
gleichen thut und wie der giftige Pfeil uns nicht bloß
in unſerem Gemüte verwundet , ſondern auch ver¬
wandelt und nicht verwandelt zum Beſſeren . Aber
wie dem auch ſei , Sie mußten ſich auf ſich ſelbſt
beſinnen , und damit zugleich auch auf das , was Pflicht
und Ehre von Ihnen fordern . “
Schach ſchwieg .
„ Und Sie werden es , “ fuhr die Königin immer
lebhafter werdend fort , „ und werden ſich als einen
Reuigen und Bußfertigen zeigen . Es kann Ihnen
nicht ſchwer werden , denn ſelbſt aus der Anklage gegen
Sie , ſo verſicherte mir der König , habe noch immer
ein Ton der Zuneigung geſprochen . Seien Sie deſſen
gedenk , wenn Ihr Entſchluß je wieder ins Schwanken
kommen ſollte , was ich nicht fürchte . Wüßt ich doch
kaum etwas , was mir in dieſem Augenblicke ſo lieb
wäre , wie die Schlichtung dieſes Streits und der Bund
zweier Herzen , die mir für einander beſtimmt erſcheinen .
Auch durch eine recht eigentliche Liebe . Denn Sie
werden doch , hoff ich , nicht in Abrede ſtellen wollen ,
daß es ein geheimnisvoller Zug war , was Sie zu
dieſem lieben und einſt ſo ſchönen Kinde hinführte .
Das Gegenteil anzunehmen , widerſtreitet mir . Und
nun eilen Sie heim , und machen Sie glücklich und
werden Sie glücklich . Meine Wünſche begleiten Sie ,
Sie Beide . Sie werden ſich zurückziehen , ſo lang
es die Verhältniſſe gebieten ; unter allen Umſtänden
aber erwart ich , daß Sie mir Ihre Familienereigniſſe
melden , und den Namen Ihrer Königin als erſte
Taufpatin in Ihr Wuthenower Kirchenbuch eintragen
laſſen . Und nun Gott befohlen . “
Ein Gruß und eine freundliche Handbewegung
begleiteten dieſe Worte ; Schach aber , als er ſich kurz
vor der Gartenfront noch einmal umſah , ſah , wie beide
Damen in einem Seitenweg einbogen und auf eine
ſchattigere , mehr der Spree zu gelegene Partie des
Parkes zuſchritten .
Er ſelbſt ſaß eine Viertelſtunde ſpäter wieder im
Sattel ; Ordonnanz Baarſch folgte .
Die gnädigen Worte beider Majeſtäten hatten
eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt ; trotzdem war
er nur getroffen , in nichts aber umgeſtimmt worden .
Er wußte , was er dem König ſchuldig ſei : Gehorſam !
Aber ſein Herz widerſtritt , und ſo galt es denn für
ihn , etwas ausfindig zu machen , was Gehorſam und
Ungehorſam in ſich vereinigte , was dem Befehle ſeines
Königs und dem Befehle ſeiner eigenen Natur gleich¬
mäßig entſprach . Und dafür gab es nur einen Weg .
Ein Gedanke , den er ſchon in Wuthenow gefaßt hatte ,
kam ihm jetzt wieder und reifte raſch zum Entſchluß ,
und je feſter er ihn werden fühlte , deſto mehr fand er
ſich in ſeine frühere gute Haltung und Ruhe zurück .
„ Leben , “ ſprach er vor ſich hin . „ Was iſt leben ?
Eine Frage von Minuten , eine Differenz von heut
auf morgen . “ Und er fühlte ſich , nach Tagen ſchweren
Druckes , zum erſten Male wieder leicht und frei .
Als er , heimreitend , bis an die Wegſtelle gekommen
war , wo eine alte Kaſtanienallee nach dem Kurfürſten¬
damm hin abzweigte , bog er in dieſe Allee ein , winkte
Baarſch an ſich heran und ſagte , während er den
Zügel fallen ließ und die linke Hand auf die Kruppe
ſeines Pferdes ſtemmte : „ Sage Baarſch , was hälſt
Du eigentlich von heiraten ? “
„ Jott , Herr Rittmeiſter , wat ſoll ich davon halten ?
Mein Vater ſelig ſagte man ümmer : heiraten is gut ,
aber nich heiraten is noch beſſer . “
„ Ja , das mag er wohl geſagt haben . Aber wenn
ich nun heirate , Baarſch ? “
„ Ach , Herr Rittmeiſter werden doch nich ! “
„ Ja , wer weiß . . Iſt es denn ein ſolches
Malheur ? “
„ Jott , Herr Rittmeiſter , vor Ihnen grade nich ,
aber vor mir . . “
„ Wie das ? “
„ Weil ich mit Untroffzier Czepanski gewett't hab ,
es würd' doch nichts . Un wer verliert , muß die
ganze Corporalſchaft freihalten . “
„ Aber woher wußtet Ihr denn davon ? “
„ I Jott , des munkelt ja nu all lang . Un wie
nu vorige Woch ooch noch die Bilders kamen . . “
„ Ah , ſo . . Nu ſage , Baarſch , wie ſteht es denn
eigentlich mit der Wette ? Hoch ? “
„ I nu , 's jeht , Herr Rittmeiſter . ' Ne Cottbuſſer
un 'n Kümmel . Aber vor jed' een . “
„ Nu , Baarſch , Du ſollſt dabei nicht zu Schaden
kommen . Ich werde die Wette bezahlen . “
Und danach ſchwieg er und murmelte nur noch
vor ſich hin „ et payer les pots cassés . “
18. Kapitel .
Fata Morgana .
S chach war zu guter Stunde wieder heim ,
und noch denſelben Abend ſchrieb er ein
Billet an Frau von Carayon , in dem er
in anſcheinend aufrichtigen Worten um ſeines Benehmens
willen um Entſchuldigung bat . Ein Kabinetsſchreiben ,
das er vorgeſtern in Wuthenow empfangen habe , hab
ihn heute Nachmittag nach Charlottenburg hinausge¬
führt , wo König und Königin ihn an das , was ſeine
Pflicht ſei , gemahnt hätten . Er bedaure , ſolche Mah¬
nung verſchuldet zu haben , finde den Schritt , den
Frau von Carayon gethan , gerechtfertigt , und bäte
morgen im Laufe des Vormittags ſich beiden Damen
vorſtellen zu dürfen , um ihnen ſein Bedauern über
dieſe neuen Verſäumniſſe perſönlich zu wiederholen .
In einer Nachſchrift , die länger als der Brief ſelbſt
war , war hinzugefügt , „ daß er durch eine Kriſis ge¬
gangen ſei ; dieſe Kriſis aber liege jetzt hinter ihm ,
und er hoffe ſagen zu dürfen , ein Grund an ihm
oder ſeinem Rechtsgefühle zu zweifeln , werde nicht
wiederkehren . Er lebe nur noch dem einen Wunſch
und Gedanken , alles was geſchehen ſei , durch Geſetz¬
lichkeit auszugleichen . Über ein Mehr leg er ſich vor¬
läufig Schweigen auf . “
Dies Billet , das der kleine Groom überbrachte ,
wurde , trotz der ſchon vorgerückten Stunde , von Frau
von Carayon auf der Stelle beantwortet . Sie freue
ſich , in ſeinen Zeilen einer ſo verſöhnlichen Sprache
zu begegnen . Über alles , was ſeinem Briefe nach
als ein nunmehr Zurückliegendes anzuſehen ſei , werd
es am beſten ſein zu ſchweigen ; auch ſie fühle , daß
ſie ruhiger und rückſichtsvoller hätte handeln ſollen ,
ſie habe ſich hinreißen laſſen , und nur das Eine
werd ihr vielleicht zur Entſchuldigung dienen dürfen ,
daß ſie von jenen hämiſchen Angriffen in Wort und
Bild , die ſein Benehmen im Laufe der letzten Woche
beſtimmt zu haben ſchienen , erſt ſeit zwei Tagen Kennt¬
nis habe . Hätte ſie dieſe Kenntnis früher gehabt ,
ſo würde ſie vieles milder beurteilt , jedenfalls aber
eine abwartende Haltung ihm und ſeinem Schweigen
gegenüber eingenommen haben . Sie hoffe jetzt , daß
alles wieder einklingen werde . Victoirens große Liebe
( nur zu groß ) und ſeine eigene Geſinnung , die , wie
ſie ſich überzeugt halte , wohl ſchwanken aber nie dau¬
ernd erſchüttert werden könne , gäben ihr die Gewähr
einer friedlichen und wenn ihre Bitten Erhörung fän¬
den auch einer glücklichen Zukunft .
Am andern Vormittage wurde Schach bei Frau
von Carayon gemeldet . Sie ging ihm entgegen , und
das ſich ſofort entſpinnende Geſpräch verriet auf bei¬
den Seiten weniger Verlegenheit , als nach dem Vor¬
gefallenen hätte vorausgeſetzt werden ſollen . Und
doch erklärte ſichs auch wieder . Alles was geſchehen
war , ſo ſchmerzlich es hüben und drüben berührt
hatte , war doch ſchließlich von jeder der beiden Par¬
teien verſtanden worden , und wo Verſtändnis iſt ,
iſt auch Verzeihung oder wenigſtens die Möglichkeit
einer ſolchen . Alles hatte ſich in natürlicher Konſe¬
quenz aus den Verhältniſſen heraus entwickelt , und
weder die Flucht , die Schach bewerkſtelligt , noch die
Klage , die Frau von Carayon an oberſter Stelle ge¬
führt hatte , hatten Übelwollen oder Gehäſſigkeit aus¬
drücken ſollen .
Als das Geſpräch einen Augenblick zu ſtocken
begann , erſchien Victoire . Sie ſah ſehr gut aus ,
nicht abgehärmt , vielmehr friſcher als ſonſt . Er trat
ihr entgegen , nicht kalt und ceremoniös , ſondern herz¬
lich , und der Ausdruck einer innigen und aufrichtigen
Teilnahme , womit er auf ſie ſah und ihr die Hand
reichte , beſiegelte den Frieden . Es war kein Zweifel ,
er war ergriffen , und während Victoire vor Freude
ſtrahlte , füllten Thränen das Auge der Mutter .
Es war der beſte Moment , das Eiſen zu ſchmie¬
den . Sie bat alſo Schach , der ſich ſchon erhoben
hatte , ſeinen Platz noch einmal auf einen kurzen
Augenblick einnehmen zu wollen , um gemeinſchaftlich
mit ihm die nötigſten Feſtſetzungen zu treffen . Was
ſie zu ſagen habe , ſeien nur wenige Worte . So viel
ſei gewiß , Zeit ſei verſäumt worden , und dieſe Ver¬
ſäumnis wieder einzubringen , empfehle ſich wohl zu¬
nächſt . Ihre langjährige freundſchaftliche Beziehung
zum alten Konſiſtorialrat Bocquet , der ſie ſelber ge¬
traut und Victoiren eingeſegnet habe , böte dazu die
beſte Gelegenheit . Es werde leicht ſein , an die Stelle
des herkömmlichen dreimaligen Aufgebots ein ein¬
maliges zu ſetzen ; das müſſe nächſten Sonntag ge¬
ſchehen , und am Freitage der nächſten Woche — denn
die Freitage , die gemeinhin für Unglückstage gölten ,
hätte ſie perſönlich von der durchaus entgegengeſetzten
Seite kennen gelernt — werde dann die Hochzeit zu
folgen haben . Und zwar in ihrer eignen Wohnung ,
da ſie Hochzeiten in einem Hotel oder Gaſthauſe von
ganzer Seele haſſe . Was dann weiter zu geſchehen
habe , das ſtehe bei dem jungen Paare ; ſie ſei neu¬
gierig , ob Venedig über Wuthenow oder Wuthenow
über Venedig den Sieg davon tragen werde . Die
Lagunen hätten ſie gemeinſam und die Gondel auch ,
und nur um Eines müſſe ſie bitten , daß der kleine
Brückenſteg unterm Schilf , an dem die Gondel liege ,
nie zur Seufzerbrücke erhoben werde .
So ging das Geplauder , und ſo verging der
Beſuch .
Am Sonntage , wie verabredet , erfolgte das Auf¬
gebot , und der Freitag , an dem die Hochzeit ſtatt¬
finden ſollte , rückte heran . Alles im Carayonſchen
Hauſe war Aufregung , am aufgeregteſten Tante
Marguerite , die jetzt täglich erſchien , und durch ihre
naive Glückſeligkeit alles Unbequeme balancierte , das
ſonſt unzertrennlich von ihrem Erſcheinen war .
Abends kam Schach . Er war heitrer und in
ſeinem Urteile milder als ſonſt , und vermied nur in
ebenſo bemerkenswerter wie zum Glück unbemerkt
bleibender Weiſe von der Hochzeit und den Vor¬
bereitungen dazu zu ſprechen . Wurd er gefragt ,
ob er dies oder jenes wünſche , ſo bat er mit einer
Art von Empreſſement , „ ganz nach eigenem Dafür¬
halten verfahren zu wollen ; er kenne den Takt und
guten Geſchmack der Damen und wiſſe , daß ohne ſein
Raten und Zuthun alles am beſten entſchieden werden
würde ; wenn ihm dabei manches dunkel und geheim¬
nisvoll bleibe , ſo ſei dies ein Vorteil mehr für ihn ,
hab er doch von Jugend auf eine Neigung gehabt ,
ſich überraſchen zu laſſen . “
Unter ſolchen Ausflüchten entzog er ſich jedem
Geplauder , das , wie Tante Marguerite ſich ausdrückte ,
„ den Ehrentag en vue hatte , “ war aber um ſo plauder¬
hafter , wenn das Geſpräch auf die Reiſetage nach
der Hochzeit hinüberlenkte . Denn Venedig , aller halben
Widerrede der Frau von Carayon zum Trotz , hatte
doch ſchließlich über Wuthenow geſiegt , und Schach ,
wenn die Rede darauf kam , hing mit einer ihm ſonſt
völlig fremden Phantaſtik allen erdenklichen Reiſe¬
plänen und Reiſebildern nach . Er wollte nach Sizi¬
lien hinüber und die Sireneninſeln paſſieren , „ ob frei
oder an den Maſt gebunden , überlaß er Victoiren
und ihrem Vertrauen . “ Und dann wollten ſie nach
Malta . Nicht um Maltas willen , o nein . Aber auf
dem Wege dahin , ſei die Stelle , wo der geheimnis¬
volle ſchwarze Weltteil in Luftbildern und Spiegelungen
ein allererſtes Mal zu dem in Nebel und Schnee ge¬
bornen Hyperboreer ſpräche . Das ſei die Stelle , wo
die bilderreiche Fee wohne , die ſtumme Sirene , die
mit dem Zauber ihrer Farbe faſt noch verführeriſcher
locke als die ſingende . Beſtändig wechſelnd ſeien die
Szenen und Geſtalten ihrer Laterna magica , und
während eben noch ein ermüdeter Zug über den gelben
Sand ziehe , dehne ſichs plötzlich wie grüne Triften
und unter der ſchattengebenden Palme ſäße die Schaar
der Männer , die Köpfe gebeugt und alle Pfeifen in
Brand , und ſchwarz und braune Mädchen , ihre Flech¬
ten gelöſt und wie zum Tanze geſchürzt , erhüben die
Becken und ſchlügen das Tambourin . Und mitunter
ſeis , als lach es . Und dann ſchwieg es und ſchwänd
es wieder . Und dieſe Spiegelung aus der geheim¬
nisvollen Ferne , das ſei das Ziel !
Und Victoire jubelte , hingeriſſen von der Leb¬
haftigkeit ſeiner Schilderung .
Aber im ſelben Augenblick überkam es ſie bang
und düſter , und in ihrer Seele rief eine Stimme :
Fata Morgana .
14
19. Kapitel .
Die Hochzeit .
D ie Trauung hatte ſtattgefunden und um die
vierte Stunde verſammelten ſich die zur
Hochzeit Geladenen in dem nach dem Hofe
hinaus gelegenen großen Eßſaale , der für gewöhnlich
als ein bloßes unbequemes Anhängſel der Carayonſchen
Wohnung angeſehen und ſeit einer ganzen Reihe von
Jahren heute zum erſtenmale wieder in Gebrauch ge¬
nommen wurde . Dies erſchien thunlich , trotzdem die
Zahl der Gäſte keine große war . Der alte Kon¬
ſiſtorialrat Bocquet hatte ſich bewegen laſſen , dem
Mahle mit beizuwohnen , und ſaß , dem Brautpaare
gegenüber , neben der Frau von Carayon ; unter den
anderweit Geladenen aber waren , außer dem Tantchen
und einigen alten Freunden aus der Generalfinanz¬
pächterzeit her , in erſter Reihe Noſtitz , Alvensleben
und Sander zu nennen . Auf letzteren hatte Schach ,
aller ſonſtigen , auch bei Feſtſtellung der Einladungs¬
liſte beobachteten Indifferenz unerachtet , mit beſon¬
derem Nachdruck beſtanden , weil ihm inzwiſchen das
rückſichtsvolle Benehmen desſelben bei Gelegenheit des
Verlagsantrages der drei Bilder bekannt geworden
war , ein Benehmen , das er um ſo höher anſchlug ,
als er es von dieſer Seite her nicht erwartet hatte .
Bülow , Schachs alter Gegner , war nicht mehr in
Berlin , und hätte wohl auch gefehlt , wenn er noch
dageweſen wäre .
Die Tafelſtimmung verharrte bis zum erſten
Trinkſpruch in der herkömmlichen Feierlichkeit ; als in¬
deſſen der alte Konſiſtorialrat geſprochen und in einem
dreigeteilten und als „ hiſtoriſcher Rückblick “ zu be¬
zeichnenden Toaſt , erſt des großväterlichen General¬
finanzpächterhauſes , dann der Trauung der Frau von
Carayon und drittens ( und zwar unter Citierung des
ihr mit auf den Lebensweg gegebenen Bibelſpruches )
der Konfirmation Victoirens gedacht , endlich aber
mit einem halb ehrbaren , halb ſcherzhaften Hinweis
auf den „ egyptiſchen Wundervogel , in deſſen verhei¬
ßungsvolle Nähe man ſich begeben wolle “ geſchloſſen
hatte , war das Zeichen zu einer Wandlung der Stim¬
mung gegeben . Alles gab ſich einer ungezwungenen
Heiterkeit hin , an der ſogar Victoire teilnahm , und
14*
nicht zum wenigſten , als ſich ſchließlich auch das zu
Ehren des Tages in einem grasgrünen Seidenkleid
und einem hohen Schildpattkamme erſchienene Tant¬
chen erhob , um einen zweiten Toaſt auf das Braut¬
paar auszubringen . Ihr verſchämtes Klopfen mit
dem Deſſertmeſſer an die Waſſerkaraffe war eine Zeit¬
lang unbemerkt geblieben , und kam erſt zur Geltung ,
als Frau von Carayon erklärte : Tante Marguerite
wünſche zu ſprechen .
Dieſe verneigte ſich denn auch zum Zeichen der
Zuſtimmung , und begann ihre Rede mit viel mehr
Selbſtbewußtſein , als man nach ihrer anfänglichen
Schüchternheit erwarten durfte . „ Der Herr Kon¬
ſiſtorialrat hat ſo ſchön und ſo lange geſprochen ,
und ich ähnle nur dem Weibe Ruth , das über dem
Felde geht und Ähren ſammelt , was auch der Text
war , worüber am letzten Sonntag in der kleinen Me¬
lonenkürche gepredigt wurde , die wieder ſehr leer war ,
ich glaube nicht mehr als ölf oder zwölf . Aber als
Tante der lieben Braut , in welcher Beziehung ich
wohl die älteſte bin , erheb ich dieſes Glas , um noch
einmal auf dem Wohle des jungen Paares zu trinken . “
Und danach ſetzte ſie ſich wieder , um die Hul¬
digungen der Geſellſchaft entgegenzunehmen . Schach
verſuchte der alten Dame die Hand zu küſſen , was
ſie jedoch wehrte , wogegen ſie Victoirens Umarmung
mit allerlei kleinen Liebkoſungen und zugleich mit der
Verſicherung erwiderte : „ ſie hab es alles vorher ge¬
wußt , von dem Nachmittag an , wo ſie die Fahrt nach
Tempelhof und den Gang nach der Kürche gemacht
hätten . Denn ſie hab es wohl geſehen , daß Victoire
neben dem großen für die Mama beſtimmten Veilchen¬
ſtrauß auch noch einen kleinen Strauß in der Hand
gehalten hätte , den habe ſie dem lieben Bräutigam ,
dem Herrn von Schach , in der Kürchenthüre präſen¬
tieren wollen . Aber als er dann gekommen ſei , habe
ſie das kleine Bouquet wieder weggeworfen , und es
ſei dicht neben der Thür auf ein Kindergrab gefallen ,
was immer etwas bedeute , und auch dies mal etwas
bedeutet habe . Denn ſo ſehr ſie gegen dem Aber¬
glauben ſei , ſo glaube ſie doch an Sympathie , natür¬
lich bei abnehmendem Mond . Und der ganze Nach¬
mittag ſtehe noch ſo deutlich vor ihr , als wär es
geſtern geweſen , und wenn manche ſo thäten , als
wiſſe man nichts , ſo hätte man doch auch ſeine zwei
geſunden Augen , und wiſſe recht gut wo die beſten
Kürſchen hingen . “ In dieſen Satz vertiefte ſie ſich immer
mehr , ohne daß die Bedeutung desſelben dadurch klarer
geworden wäre .
Nach Tante Margueritens Toaſt löſte ſich die
Tafelreihe ; jeder verließ ſeinen Platz , um abwechſelnd
hier oder dort eine Gaſtrolle geben zu können , und
als bald danach auch die großen Joſtyſchen Deviſen¬
bonbons umhergereicht und allerlei Sprüche wie bei¬
ſpielsweiſe „ Liebe , wunderbare Fee , Selbſt dein Wehe
thut nicht weh “ , aller kleinen und undeutlichen Schrift
unerachtet , entziffert und verleſen worden waren , er¬
hob man ſich von der Tafel . Alvensleben führte
Frau von Carayon , Sander Tante Marguerite , bei
welcher Gelegenheit , und zwar über das Ruth-Thema ,
von Seiten Sanders allerlei kleine Neckereien verübt
wurden , Neckereien , die der Tante ſo ſehr gefielen , daß
ſie Victoiren , als der Kaffee ſerviert wurde , zuflüſterte :
„ Charmanter Herr . Und ſo galant . Und ſo bedeu¬
tungsvoll . “
Schach ſprach viel mit Sander , erkundigte ſich
nach Bülow , „ der ihm zwar nie ſympathiſch , aber
trotz all ſeiner Schrullen immer ein Gegenſtand des
Intereſſes geweſen ſei “ und bat Sander , ihm , bei ſich
darbietender Gelegenheit , dies ausdrücken zu wollen .
In allem was er ſagte , ſprach ſich Freundlichkeit und
ein Hang nach Verſöhnung aus .
In dieſem Hange nach Verſöhnung ſtand er
aber nicht allein da , ſondern begegnete ſich darin mit
Frau von Carayon . Als ihm dieſe perſönlich eine
zweite Taſſe präſentierte , ſagte ſie , während er den
Zucker aus der Schale nahm : „ Auf ein Wort , lieber
Schach . Aber im Nebenzimmer . “
Und ſie ging ihm dahin vorauf .
„ Lieber Schach , “ begann ſie , hier auf einem gro߬
geblümten Kanapee Platz nehmend , von dem aus
beide mit Hilfe der offenſtehenden Flügelthür einen
Blick auf das Eckzimmer hin frei hatten , „ es ſind dies
unſere letzten Minuten , und ich möchte mir , ehe wir
Abſchied von einander nehmen , noch manches von der
Seele herunterſprechen . Ich will nicht mit meinem
Alter kokettieren , aber ein Jahr iſt eine lange Zeit ,
und wer weiß , ob wir uns wiederſehen . Über Vic¬
toire kein Wort . Sie wird Ihnen keine trübe Stunde
machen ; ſie liebt Sie zu ſehr , um es zu können oder
zu wollen . Und Sie , lieber Schach , werden ſich
dieſer Liebe würdig zeigen . Sie werden ihr nicht
wehe thun , dieſem ſüßen Geſchöpf , das nur Demut
und Hingebung iſt . Es iſt unmöglich . Und ſo ver¬
lang ich denn kein Verſprechen von Ihnen . Ich weiß
im Voraus , ich hab es . “
Schach ſah vor ſich hin , als Frau von Carayon
dieſe Worte ſprach , und tröpfelte , während er die
Taſſe mit der Linken hielt , den Kaffee langſam aus
dem zierlichen kleinen Löffel .
„ Ich habe ſeit unſrer Verſöhnung , “ fuhr ſie fort ,
„mein Vertrauen wieder . Aber dies Vertrauen , wie
mein Brief Ihnen ſchon ausſprach , war in Tagen ,
die nun glücklicherweiſe hinter uns liegen , um vieles
mehr als ich es für möglich gehalten hätte , von mir
gewichen , und in dieſen Tagen hab ich harte Worte
gegen Sie gebraucht , harte Worte , wenn ich mit Vic¬
toiren ſprach , und noch härtere , wenn ich mit mir
allein war . Ich habe Sie kleinlich und hochmütig ,
eitel und beſtimmbar geſcholten , und habe Sie , was
das Schlimmſte war , der Undankbarkeit und der la¬
cheté geziehen . All das beklag ich jetzt , und ſchäme
mich einer Stimmung , die mich unſre Vergangenheit
ſo vergeſſen laſſen konnte . “
Sie ſchwieg einen Augenblick . Aber als Schach
antworten wollte , litt ſies nicht und ſagte : „ Nur ein
Wort noch . Alles was ich in jenen Tagen geſagt
und gedacht habe , bedrückte mich , und verlangte nach
dieſer Beichte . Nun erſt iſt alles wieder klar zwiſchen
uns , und ich kann Ihnen wieder frei ins Auge ſehen .
Aber nun genug . Kommen Sie . Man wird uns
ohnehin ſchon vermißt haben . “
Und ſie nahm ſeinen Arm und ſcherzte : „ Nicht
wahr ? On revient toujours à ses premiers amours .
Und ein Glück , daß ich es Ihnen lachend ausſprechen
kann , und in einem Momente reiner und ganzer
Freude . “
Victoire trat Schach und ihrer Mama von
dem Eckzimmer her entgegen , und ſagte : „ Nun , was
war es ? “
„ Eine Liebeserklärung . “
„ Ich dacht es . Und ein Glück , Schach , daß wir
morgen reiſen . Nicht wahr ? Ich möchte der Welt um
keinen Preis das Bild einer eiferſüchtigen Tochter
geben . “
Und Mutter und Tochter nahmen auf dem Sofa
Platz , wo ſich Alvensleben und Noſtitz ihnen geſellten .
In dieſem Augenblick wurde Schach der Wagen
gemeldet , und es war als ob er ſich bei dieſer
Meldung verfärbe . Frau von Carayon ſah es auch .
Er ſammelte ſich aber raſch wieder , empfahl ſich , und
trat in den Korridor hinaus , wo der kleine Groom
mit Mantel und Hut auf ihn wartete . Victoire war
ihm bis an die Treppe hinaus gefolgt , auf der noch
vom Hof her ein halber Tagesſchein flimmerte .
„ Bis auf morgen , “ ſagte Schach , und trennte ſich
raſch und ging .
Aber Victoire beugte ſich weit über das Geländer
vor und wiederholte leiſe : „ Bis auf morgen . Hörſt
Du ? . Wo ſind wir morgen ? “
Und ſiehe , der ſüße Klang ihrer Stimme ver¬
fehlte ſeines Eindrucks nicht , auch in dieſem Augen¬
blicke nicht . Er ſprang die Stufen wieder hinauf ,
umarmte ſie , wie wenn er Abſchied nehmen wolle für
immer , und küßte ſie .
„ Auf Wiederſehn , Mirabelle . “
Und nachhorchend hörte ſie noch ſeinen Schritt
auf dem Flur . Dann fiel die Hausthür ins Schloß ,
und der Wagen rollte die Straße hinunter .
Auf dem Bocke ſaßen Ordonnanz Baarſch und
der Groom , von denen jener ſichs eigens ausbedungen
hatte , ſeinen Rittmeiſter und Gutsherrn an dieſem ſeinem
Ehrentage fahren zu dürfen . Was denn auch ohne
weiteres bewilligt worden war . Als der Wagen aus
der Behren- in die Wilhelmsſtraße einbog , gab es
einen Ruck oder Schlag , ohne daß ein Stoß von unten
her verſpürt worden wäre .
„ Damm , “ ſagte der Groom . „ What's that ? “
„ Wat et is ? Wat ſoll et ſind , Kleener ? En
Steen is et ; en doter Feldwebel . “
„ Oh no , Baarſch . Nich stone . 't was something
. . dear me . . like shooting . “
„ Schuting ? Na nu . “
„ Yes ; pistol-shooting . . “
Aber der Satz kam nicht mehr zu Ende , denn
der Wagen hielt vor Schachs Wohnung , und der
Groom ſprang in Angſt und Eile vom Bock , um
ſeinem Herrn beim Ausſteigen behilflich zu ſein . Er
öffnete den Wagenſchlag , ein dichter Qualm ſchlug ihm
entgegen , und Schach ſaß aufrecht in der Ecke , nur wenig
zurückgelehnt . Auf dem Teppich zu ſeinen Füßen lag
das Piſtol . Entſetzt warf der Kleine den Schlag wieder
ins Schloß und jammerte : „ Heavens , he is dead . “
Die Wirtsleute wurden alarmiert , und ſo trugen
ſie den Toten in ſeine Wohnung hinauf .
Baarſch fluchte und flennte , und ſchob alles auf
die „ Menſchheit “ , weil ers aufs Heiraten zu ſchieben
nicht den Mut hatte . Denn er war eine diplomatiſche
Natur wie alle Bauern .
20. Kapitel .
Bülow an Sander .
K önigsberg , 14. Sept. 1806 . „ . . Sie
ſchreiben mir , lieber Sander , auch von
Schach . Das rein Thatſächliche wußt ich
ſchon , die Königsberger Zeitung hatte der Sache
kurz erwähnt , aber erſt Ihrem Briefe verdank ich die
Aufklärung , ſo weit ſie gegeben werden kann . Sie
kennen meine Neigung ( und dieſer folg ich auch heut ) ,
aus dem Einzelnen aufs Ganze zu ſchließen , aber
freilich auch umgekehrt aus dem Ganzen aufs Einzelne ,
was mit dem Generaliſieren zuſammenhängt . Es mag
das ſein Mißliches haben und mich oft zu weit führen .
Indeſſen wenn jemals eine Berechtigung dazu vorlag ,
ſo hier , und ſpeziell Sie werden es begreiflich finden ,
daß mich dieſer Schach-Fall , der nur ein Symptom
iſt , um eben ſeiner ſymptomatiſchen Bedeutung willen
aufs ernſteſte beſchäftigt . Er iſt durchaus Zeiter¬
ſcheinung , aber wohlverſtanden mit lokaler Begrenzung ,
ein in ſeinen Urſachen ganz abnormer Fall , der ſich
in dieſer Art und Weiſe nur in Seiner Königlichen
Majeſtät von Preußen Haupt- und Reſidenzſtadt ,
oder , wenn über dieſe hinaus , immer nur in den
Reihen unſrer nachgeborenen fridericianiſchen Armee
zutragen konnte , einer Armee , die ſtatt der Ehre nur
noch den Dünkel , und ſtatt der Seele nur noch ein
Uhrwerk hat — ein Uhrwerk , das bald genug abge¬
laufen ſein wird . Der große König hat dieſen ſchlimmen
Zuſtand der Dinge vorbereitet , aber daß er ſo ſchlimm
werden konnte , dazu mußten ſich die großen Königs¬
augen erſt ſchließen , vor denen bekanntermaßen jeder
mehr erbangte , als vor Schlacht und Tot .
Ich habe lange genug dieſer Armee angehört ,
um zu wiſſen , ‚ daß Ehre ‘ das dritte Wort in ihr
iſt ; eine Tänzerin iſt charmant ‚ auf Ehre ‘ , eine
Schimmelſtute magnifique , auf Ehre‘ , ja , mir ſind
Wucherer empfohlen und vorgeſtellt worden , die ſüperb
, auf Ehre ‘ waren . Und dies beſtändige Sprechen
von Ehre , von einer falſchen Ehre , hat die Begriffe
verwirrt und die richtige Ehre tot gemacht .
All das ſpiegelt ſich auch in dieſem Schach-Fall ,
in Schach ſelbſt , der , all ſeiner Fehler unerachtet ,
immer noch einer der beſten war .
Wie lag es denn ? Ein Offizier verkehrt in einem
adligen Hauſe ; die Mutter gefällt ihm , und an einem
ſchönen Maitage gefällt ihm auch die Tochter , vielleicht ,
oder ſagen wir lieber ſehr wahrſcheinlich , weil ihm
Prinz Louis eine halbe Woche vorher einen Vortrag
über „ beauté du diable “ gehalten hat . Aber gleich¬
viel , ſie gefällt ihm , und die Natur zieht ihre Kon¬
ſequenzen . Was , unter ſo gegebenen Verhältniſſen ,
wäre nun wohl einfacher und natürlicher geweſen , als
Ausgleich durch einen Eheſchluß , durch eine Verbindung ,
die weder gegen den äußeren Vorteil , noch gegen irgend
ein Vorurteil verſtoßen hätte . Was aber geſchieht ?
Er flieht nach Wuthenow , einfach weil das holde
Geſchöpf , um das ſichs handelt , ein paar Grübchen
mehr in der Wange hat , als gerade modiſch oder
herkömmlich iſt , und weil dieſe „ paar Grübchen zu¬
viel “ unſren glatten und wie mit Schachtelhalm polierten
Schach auf vier Wochen in eine von ſeinen Feinden
bewitzelte Stellung hätten bringen können . Er flieht
alſo , ſag ich , löſt ſich feige von Pflicht und Wort ,
und als ihn ſchließlich , um ihn ſelber ſprechen zu
laſſen , „ ſein „ Allergnädigſter König und Herr “ an
Pflicht und Wort erinnert und ſtrikten Gehorſam
fordert , da gehorcht er , aber nur , um im Momente
des Gehorchens den Gehorſam in einer allerbrüskeſten
Weiſe zu brechen . Er kann nun mal Zietens ſpöttiſchen
Blick nicht ertragen , noch viel weniger einen neuen
Anſturm von Karrikaturen , und in Angſt geſetzt durch
einen Schatten , eine Erbſenblaſe , greift er zu dem alten
Auskunftsmittel der Verzweifelten : un peu de poudre .
Da haben Sie das Weſen der falſchen Ehre .
Sie macht uns abhängig von dem Schwankendſten
und Willkürlichſten , was es giebt , von dem auf Trieb¬
ſand aufgebauten Urteile der Geſellſchaft , und ver¬
anlaßt uns , die heiligſten Gebote , die ſchönſten und
natürlichſten Regungen eben dieſem Geſellſchaftsgötzen
zum Opfer zu bringen . Und dieſem Kultus einer
falſchen Ehre , die nichts iſt als Eitelkeit und Ver¬
ſchrobenheit , iſt denn auch Schach erlegen , und Größeres
als er wird folgen . Erinnern Sie ſich dieſer Worte .
Wir haben wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand
geſteckt , um nicht zu hören und nicht zu ſehen . Aber
dieſe Straußenvorſicht hat noch nie gerettet . Als es
mit der Mingdynaſtie zur Neige ging und die ſieg¬
reichen Mandſchuheere ſchon in die Palaſtgärten von
Peking eingedrungen waren , erſchienen immer noch
Boten und Abgeſandte , die dem Kaiſer von Siegen
und wieder Siegen meldeten , weil es gegen ‚ den Ton‘
der guten Geſellſchaft und des Hofes war , von Nieder¬
lagen zu ſprechen . O , dieſer gute Ton ! Eine Stunde
ſpäter war ein Reich zertrümmert und ein Thron
geſtürzt . Und warum ? weil alles Geſchraubte zur
Lüge führt und alle Lüge zum Tod .
Entſinnen Sie ſich des Abends in Frau von
Carayons Salon , wo bei dem Thema ‚ Hannibal
ante portas ‘ Ähnliches über meine Lippen kam ?
Schach tadelte mich damals als unpatriotiſch . Un¬
patriotiſch ! Die Warner ſind noch immer bei dieſem
Namen genannt worden . Und nun ! Was ich da¬
mals als etwas blos Wahrſcheinliches vor Augen
hatte , jetzt iſt es thatſächlich da . Der Krieg iſt
erklärt . Und was das bedeutet , ſteht in aller Deut¬
lichkeit vor meiner Seele . Wir werden an derſelben
Welt des Scheins zugrunde gehn , an der Schach
zugrunde gegangen iſt . Ihr Bülow .
Nachſchrift . Dohna ( früher bei der Garde du
Corps ) , mit dem ich eben über die Schachſche Sache
geſprochen habe , hat eine Lesart , die mich an frühere
Noſtitzſche Mitteilungen erinnerte . Schach habe die
Mutter geliebt , was ihn , in einer Ehe mit der Tochter ,
in ſeltſam peinliche Herzenskonflikte geführt haben
würde . Schreiben Sie mir doch darüber . Ich
perſönlich ſind es pikant , aber nicht zutreffend . Schachs
Eitelkeit hat ihn zeitlebens bei voller Herzenskühle
gehalten , und ſeine Vorſtellungen von Ehre ( hier aus¬
nahmsweiſe die richtige ) würden ihn außerdem , wenn
er die Ehe mit der Tochter wirklich geſchloſſen hätte ,
vor jedem faux pas geſichert haben . B .
21. Kapitel .
Victoire von Schach an Liſette
von Verbandt .
R om , 18. Auguſt 1807 . Ma chère Lisette .
Daß ich Dir ſagen könnte , wie gerührt
ich war über ſo liebe Zeilen ! Aus dem
Elend des Krieges , aus Kränkungen und Verluſten
heraus , haſt Du mich mit Zeichen alter , unveränder¬
ter Freundſchaft überſchüttet und mir meine Verſäum¬
niſſe nicht zum Üblen gedeutet .
Mama wollte mehr als einmal ſchreiben , aber
ich ſelber bat ſie , damit zu warten .
Ach , meine teure Liſette , Du nimmſt Teil an
meinem Schickſal , und glaubſt der Zeitpunkt ſei nun
da , mich gegen Dich auszuſprechen . Und Du haſt
Recht . Ich will es thun , ſo gut ichs kann .
„ Wie ſich das alles erklärt ? “ fragſt Du und
ſetzeſt hinzu : „ Du ſtündeſt vor einem Rätſel , das
ſich Dir nicht löſen wolle . “ Meine liebe Liſette , wie
löſen ſich die Rätſel ? Nie . Ein Reſt von Dunklem
und Unaufgeklärtem bleibt , und in die letzten und
geheimſten Triebfedern andrer oder auch nur unſrer
eignen Handlungsweiſe hineinzublicken , iſt uns ver¬
ſagt . Er ſei , ſo verſichern die Leute , der ſchöne
Schach geweſen , und ich , das Mindeſte zu ſagen , die
nicht-ſchöne Victoire , — das habe den Spott heraus¬
gefordert , und dieſem Spotte Trotz zu bieten , dazu
hab er nicht die Kraft gehabt . Und ſo ſei er denn
aus Furcht vor dem Leben in den Tod gegangen .
So ſagt die Welt , und in vielem wird es zu¬
treffen . Schrieb er mir doch ähnliches und verklagte
ſich darüber . Aber wie die Welt ſtrenger geweſen iſt ,
als nötig , ſo vielleicht auch er ſelbſt . Ich ſeh es in
einem andern Licht . Er wußte ſehr wohl , daß aller
Spott der Welt ſchließlich erlahmt und erliſcht , und
war im Übrigen auch Manns genug , dieſen Spott
zu bekämpfen , im Fall er nicht erlahmen und nicht
erlöſchen wollte . Nein , er fürchtete ſich nicht vor die¬
ſem Kampf , oder wenigſtens nicht ſo , wie vermutet wird ;
aber eine kluge Stimme , die die Stimme ſeiner eigen¬
ſten und innerſten Natur war , rief ihm beſtändig zu ,
daß er dieſen Kampf umſonſt kämpfen , und daß er ,
wenn auch ſiegreich gegen die Welt , nicht ſiegreich
15
gegen ſich ſelber ſein würde . Das war es . Er ge¬
hörte durchaus , und mehr als irgendwer , den ich
kennen gelernt habe , zu den Männern , die nicht für
die Ehe geſchaffen ſind . Ich erzählte Dir ſchon , bei
früherer Gelegenheit , von einem Ausfluge nach Tem¬
pelhof , der überhaupt in mehr als einer Beziehung
einen Wendepunkt für uns bedeutete . Heimkehrend
aus der Kirche , ſprachen wir über Ordensritter und
Ordensregeln , und der ungeſucht ernſte Ton , mit dem
er , trotz meiner Neckereien , den Gegenſtand be¬
handelte , zeigte mir deutlich , welchen Idealen er nach¬
hing . Und unter dieſen Idealen — all ſeiner Liaiſons
unerachtet , oder vielleicht auch um dieſer Liaiſons
willen — war ſicherlich nicht die Ehe . Noch jetzt
darf ich Dir verſichern , und die Sehnſucht meines
Herzens ändert nichts an dieſer Erkenntnis , daß es
mir ſchwer , ja faſt unmöglich iſt , ihn mir au sein
de sa famille vorzuſtellen . Ein Kardinal ( ich ſeh
ihrer hier täglich ) läßt ſich eben nicht als Ehemann
denken . Und Schach auch nicht .
Da haſt Du mein Bekenntnis , und ähnliches
muß er ſelber gedacht und empfunden haben , wenn
er auch freilich in ſeinem Abſchiedsbriefe darüber ſchwieg .
Er war ſeiner ganzen Natur nach auf Repräſentation
und Geltendmachung einer gewiſſen Grandezza geſtellt ,
auf mehr äußerliche Dinge , woraus Du ſehen magſt ,
daß ich ihn nicht überſchätze . Wirklich , wenn ich ihn
in ſeinen Fehden mit Bülow immer wieder und wie¬
der unterliegen ſah , ſo fühlt ich nur zu deutlich , daß
er weder ein Mann von hervorragender geiſtiger Be¬
deutung , noch von ſuperiorem Charakter ſei ; zugegeben
das alles ; und doch war er andererſeits durchaus
befähigt , innerhalb enggezogener Kreiſe zu glänzen und
zu herrſchen . Er war wie dazu beſtimmt , der Halb¬
gott eines prinzlichen Hofes zu ſein , und würde dieſe
Beſtimmung , Du darfſt darüber nicht lachen , nicht
bloß zu ſeiner perſönlichen Freude , ſondern auch zum
Glück und Segen andrer , ja vieler anderer , erfüllt
haben . Denn er war ein guter Menſch , und auch
klug genug , um immer das Gute zu wollen . An dieſer
Laufbahn als ein prinzlicher Liebling und Plenipoten¬
tiaire , hätt ich ihn verhindert , ja , hätt ihn , bei meinen
anſpruchsloſen Gewohnheiten , aus all und jeder Kar¬
riere herausgeriſſen und ihn nach Wuthenow hinge¬
zwungen , um mit mir ein Spargelbeet anzulegen
oder der Kluckhenne die Küchelchen wegzunehmen .
Davor erſchrak er . Er ſah ein kleines und beſchränktes
Leben vor ſich , und war , ich will nicht ſagen auf ein
großes geſtellt , aber doch auf ein ſolches , das ihm
als groß erſchien .
Über meine Nichtſchönheit wär er hinwegge¬
kommen . Ich hab' ihm , ich zögre faſt es niederzu¬
ſchreiben , nicht eigentlich mißfallen , und vielleicht hat
er mich wirklich geliebt . Befrag ich ſeine letzten , an
15*
mich gerichteten Zeilen , ſo wär es in Wahrheit ſo .
Doch ich mißtraue dieſem ſüßen Wort . Denn er war
voll Weichheit und Mitgefühl , und alles Weh , was er
mir bereitet hat , durch ſein Leben und ſein Sterben ,
er wollt es ausgleichen , ſo weit es auszugleichen war .
Alles Weh ! Ach wie ſo fremd und ſtrafend mich
dieſes Wort anſieht ! Nein , meine liebe Liſette , nichts
von Weh . Ich hatte früh reſigniert , und vermeinte
kein Anrecht an jenes Schönſte zu haben , was das
Leben hat . Und nun hab ich es gehabt . Liebe . Wie
mich das erhebt und durchzittert , und alles Weh in
Wonne verkehrt . Da liegt das Kind und ſchlägt eben
die blauen Augen auf . Seine Augen . Nein , Liſette ,
viel Schweres iſt mir auferlegt worden , aber es federt
leicht in die Luft , gewogen neben meinem Glück .
Das Kleine , Dein Pathchen , war krank bis auf
den Tod , und nur durch ein Wunder iſt es mir er¬
halten geblieben .
Und davon muß ich Dir erzählen .
Als der Arzt nicht mehr Hilfe wußte , ging ich
mit unſerer Wirtin ( einer ächten alten Römerin in
ihrem Stolz und ihrer Herzensgüte ) nach der Kirche
Araceli hinauf , einem neben dem Kapitol gelegenen
alten Rundbogenbau , wo ſie den ,Bambino ,‘ das
Chriſtkind , aufbewahren , eine hölzerne Wickelpuppe
mit großen Glasaugen und einem ganzen Diadem
von Ringen , wie ſie dem Chriſtkind , um ſeiner ge¬
ſpendeten Hilfe willen , von unzähligen Müttern ver¬
ehrt worden ſind . Ich bracht ihm einen Ring mit ,
noch eh ich ſeiner Fürſprache ſicher war , und dieſes
Zutrauen muß den Bambino gerührt haben . Denn
ſieh , er half . Eine Kriſis kam unmittelbar , und der
Dottore verkündigte ſein , va bene ‘ ; die Wirtin aber
lächelte , wie wenn ſie ſelber das Wunder verrichtet
hätte .
Und dabei kommt mir die Frage , was wohl
Tante Marguerite , wenn ſie davon hörte , zu all dem
‚ Aberglauben ‘ ſagen würde ? Sie würde mich vor
der , alten Kürche ‘ warnen , und mit mehr Grund ,
als ſie weiß .
Denn nicht nur alt iſt Araceli , ſondern auch
troſtreich und labevoll , und kühl und ſchön .
Sein Schönſtes aber iſt ſein Name , der , Altar
des Himmels ‘ bedeutet . Und auf dieſem Altar
ſteigt tagtäglich das Opfer meines Dankes auf . “
Druck von Emil Herrmann ſen . , Leipzig .