Aus dem Leben eines Taugenichts.
Novelle.
A
Erſtes Kapitel.
Das Rad an meines Vaters Muͤhle braußte und
rauſchte ſchon wieder recht luſtig, der Schnee troͤpfelte
emſig vom Dache, die Sperlinge zwitſcherten und
tummelten ſich dazwiſchen; ich ſaß auf der Thuͤrſchwelle
und wiſchte mir den Schlaf aus den Augen, mir war
ſo recht wohl in dem warmen Sonnenſcheine. Da
trat der Vater aus dem Hauſe; er hatte ſchon ſeit Ta¬
gesanbruch in der Muͤhle rumort und die Schlafmuͤtze
ſchief auf dem Kopfe, der ſagte zu mir: „Du Tauge¬
nichts! da ſonnſt Du Dich ſchon wieder und dehnſt
und reckſt Dir die Knochen muͤde, und laͤßt mich alle
Arbeit allein thun. Ich kann Dich hier nicht laͤnger
fuͤttern. Der Fruͤhling iſt vor der Thuͤre, geh auch
einmal hinaus in die Welt und erwirb Dir ſelber
Dein Brodt.“ — „Nun,“ ſagte ich, „wenn ich ein Tau¬
genichts bin, ſo iſt's gut, ſo will ich in die Welt ge¬
hen und mein Gluͤck machen.“ Und eigentlich war
mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher ſel¬
ber eingefallen, auf Reiſen zu gehn, da ich den Gold¬
ammer, der im Herbſt und Winter immer betruͤbt an
unſerem Fenſter ſang: „Bauer, mieth' mich, Bauer
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mieth' mich!“ nun in der ſchoͤnen Fruͤhlingszeit wie¬
der ganz ſtolz und luſtig vom Baume rufen hoͤrte:
„Bauer, behalt Deinen Dienſt!“ — Ich ging alſo
in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich
recht artig ſpielte, von der Wand, mein Vater gab
mir noch einige Groſchen Geld mit auf den Weg, und
ſo ſchlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich
hatte recht meine heimliche Freud', als ich da alle
meine alten Bekannten und Kammeraden rechts und
links, wie geſtern und vorgeſtern und immerdar, zur
Arbeit hinausziehen, graben und pfluͤgen ſah, waͤhrend
ich ſo in die freie Welt hinausſtrich. Ich rief den ar¬
men Leuten nach allen Seiten recht ſtolz und zufrieden
Adjes zu, aber es kuͤmmerte ſich eben keiner ſehr dar¬
um. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemuͤ¬
the. Und als ich endlich ins freie Feld hinaus kam,
da nahm ich meine liebe Geige vor, und ſpielte und
ſang, auf der Landſtraße fortgehend:
Wem Gott will rechte Gunſt erweiſen,
Den ſchickt er in die weite Welt,
Dem will er ſeine Wunder weiſen
In Feld und Wald und Strom und Feld.
Die Traͤgen, die zu Hauſe liegen,
Erquicket nicht das Morgenroth,
Sie wiſſen nur vom Kinderwiegen
Von Sorgen, Laſt und Noth um Brodt.
Die Baͤchlein von den Bergen ſpringen,
Die Lerchen ſchwirren hoch vor Luſt,
Was ſollt' ich nicht mit ihnen ſingen
Aus voller Kehl' und friſcher Bruſt?
Den lieben Gott laß Ich nur walten;
Der Baͤchlein Lerchen, Wald und Feld
Und Erd' und Himmel will erhalten,
Hat auch mein' Sach' auf's Beſt' beſtellt!
Indem wie ich mich ſo umſehe, koͤmmt ein koͤſtli¬
cher Reiſewagen ganz nahe an mich heran, der mochte
wohl ſchon einige Zeit hinter mir drein gefahren ſeyn,
ohne daß ich es merkte, weil mein Herz ſo voller
Klang war, denn es ging ganz langſam, und zwei vor¬
nehme Damen ſteckten die Koͤpfe aus dem Wagen und
hoͤrten mir zu. Die eine war beſonders ſchoͤn und
juͤnger als die andere, aber eigentlich gefielen ſie mir
alle beide. Als ich nun aufhoͤrte zu ſingen, ließ die aͤl¬
tere ſtill halten und redete mich holdſeelig an: „Ei,
luſtiger Geſell, Er weiß ja recht huͤbſche Lieder zu ſin¬
gen.“ Ich nicht zu faul dagegen: „Ew. Gnaden auf¬
zuwarten, wuͤßt' ich noch viel ſchoͤnere.“ Darauf fragte
ſie mich wieder: „Wohin wandert er denn ſchon ſo
am fruͤhen Morgen?“ Da ſchaͤmte ich mich, daß ich
das ſelber nicht wußte, und ſagte dreiſt: „Nach W.“;
nun ſprachen beide mit einander in einer fremden
Sprache, die ich nicht verſtand. Die juͤngere ſchuͤttelte
einigemal mit dem Kopfe, die andere lachte aber in
einem fort und rief mir endlich zu: „Spring er nur
hinten mit auf, wir fahren auch nach W.“ Wer war
froher als ich! Ich machte einen Reverenz und war
mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutſcher
knallte und wir flogen uͤber die glaͤnzende Straße fort,
daß mir der Wind am Hute pfiff.
Hinter mir gingen nun Dorf, Gaͤrten und Kirch¬
thuͤrme unter, vor mir neue Doͤrfer, Schloͤſſer und
Berge auf; unter mir Saaten, Buͤſche und Wieſen
bunt voruͤberfliegend, uͤber mir unzaͤhlige Lerchen in
der klaren blauen Luft — ich ſchaͤmte mich laut zu
ſchreien, aber innerlichſt jauchzte ich und ſtrampelte
und tanzte auf dem Wagentritt herum, daß ich bald
meine Geige verloren haͤtte, die ich unterm Arme hielt.
Wie aber denn die Sonne immer hoͤher ſtieg, rings
am Horizont ſchwere weiße Mittagswolken aufſtiegen,
und alles in der Luft und auf der weiten Flaͤche ſo
leer und ſchwuͤl und ſtill wurde uͤber den leiſe wogen¬
den Kornfeldern, da fiel mir erſt wieder mein Dorf
ein und mein Vater und unſere Muͤhle, wie es da ſo
heimlich kuͤhl war an dem ſchattigen Weiher, und daß
nun alles ſo weit, weit hinter mir lag. Mir war da¬
bei ſo kurios zu Muthe, als muͤßt' ich wieder umkeh¬
ren; ich ſteckte meine Geige zwiſchen Rock und Weſte,
ſetzte mich voller Gedanken auf den Wagentritt hin
und ſchlief ein.
Als ich die Augen aufſchlug, ſtand der Wagen ſtill
unter hohen Lindenbaͤumen, hinter denen eine breite
Treppe zwiſchen Saͤulen in ein praͤchtiges Schloß
fuͤhrte. Seitwaͤrts durch die Baͤume ſah ich die Thuͤr¬
me von W. Die Damen waren, wie es ſchien, laͤngſt
ausgeſtiegen, die Pferde abgeſpannt. Ich erſchrack ſehr,
da ich auf einmal ſo allein ſaß, und ſprang geſchwind
in das Schloß hinein, da hoͤrte ich von oben aus dem
Fenſter lachen.
In dieſem Schloſſe ging es mir wunderlich. Zu¬
erſt wie ich mich in der weiten kuͤhlen Vorhalle um¬
ſchaue, klopft mir Jemand mit dem Stocke auf die
Schulter. Ich kehre mich ſchnell herum, da ſteht ein
großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier
von Gold und Seide bis an die Huͤften uͤbergehaͤngt,
mit einem oben verſilberten Stabe in der Hand, und
einer außerordentlich langen gebognen kurfuͤrſtlichen
Naſe im Geſicht, breit und praͤchtig wie ein aufgebla¬
ſener Puter, der mich fraͤgt, was ich hier will. Ich
war ganz verbluͤfft und konnte vor Schreck und Er¬
ſtaunen nichts hervor bringen. Darauf kamen mehrere
Bedienten die Treppe herauf und herunter gerennt,
die ſagten gar nichts, ſondern ſahen mich nur von
oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjung¬
fer (wie ich nachher hoͤrte) grade auf mich los und
ſagte: ich waͤre ein ſcharmanter Junge, und die gnaͤ¬
dige Herrſchaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gaͤrt¬
nerburſche dienen wollte? — Ich griff nach der Weſte;
meine paar Groſchen, weiß Gott, ſie muͤſſen beim her¬
um tanzen auf dem Wagen aus der Taſche geſprun¬
gen ſeyn, waren weg, ich hatte nichts als mein Gei¬
genſpiel, fuͤr das mir uͤberdies auch der Herr mit dem
Stabe, wie er mir im Vorbeigehn ſagte, nicht einen
Heller geben wollte. Ich ſagte daher in meiner Her¬
zensangſt zu der Kammerjungfer: Ja, noch immer die
Augen von der Seite auf die unheimliche Geſtalt ge¬
richtet, die immerfort wie der Perpendickel einer
Thurmuhr in der Halle auf und ab wandelte, und
eben wieder majeſtaͤtiſch und ſchauerlich aus dem Hin¬
tergrunde heraufgezogen kam. Zuletzt kam endlich der
Gaͤrtner, brummte was von Geſindel und Bauerluͤm¬
mel unterm Bart, und fuͤhrte mich nach dem Garten,
waͤhrend er mir unterwegs noch eine lange Predigt
hielt: wie ich nur fein nuͤchtern und arbeitſam ſeyn,
nicht in der Welt herumvagieren, keine brodtloſen
Kuͤnſte und unnuͤtzes Zeug treiben ſolle, da koͤnnt ich
es mit der Zeit auch einmal zu was Rechtem brin¬
gen. — Es waren noch mehr ſehr huͤbſche, gutgeſetzte,
nuͤtzliche Lehren, ich habe nur ſeitdem faſt alles wieder
vergeſſen. Ueberhaupt weiß ich eigentlich gar nicht
recht, wie doch alles ſo gekommen war, ich ſagte nur
immerfort zu allem: Ja, — denn mir war wie einem
Vogel, dem die Fluͤgel begoſſen worden ſind. — So
war ich denn, Gott ſey Dank, im Brodte. —
In dem Garten war ſchoͤn leben, ich hatte taͤglich
mein warmes Eſſen vollauf, und mehr Geld als ich
zu Weine brauchte, nur hatte ich leider ziemlich viel
zu thun. Auch die Tempel, Lauben und ſchoͤnen gruͤ¬
nen Gaͤnge, das gefiel mir alles recht gut, wenn ich
nur haͤtte ruhig drinn herumſpazieren koͤnnen und ver¬
nuͤnftig diskuriren, wie die Herren und Damen, die
alle Tage dahin kamen. So oft der Gaͤrtner fort und
ich allein war, zog ich ſogleich mein kurzes Tabacks¬
pfeifchen heraus, ſetzte mich hin, und ſann auf ſchoͤne
hoͤfliche Redensarten, wie ich die eine junge ſchoͤne
Dame, die mich in das Schloß mitbrachte, unterhalten
wollte, wenn ich ein Kavalier waͤre und mit ihr hier
herumginge. Oder ich legte mich an ſchwuͤlen Nach¬
mittagen auf den Ruͤcken hin, wenn alles ſo ſtill war,
daß man nur die Bienen ſumſen hoͤrte, und ſah zu
wie uͤber mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen
und die Graͤſer und Blumen ſich hin und her beweg¬
ten, und gedachte an die Dame, und da geſchah es
denn oft, daß die ſchoͤne Frau mit der Guitarre oder
einem Buche in der Ferne wirklich durch den Garten
zog, ſo ſtill, groß und freundlich wie ein Engelsbild,
ſo daß ich nicht recht wußte, ob ich traͤumte oder
wachte.
So ſang ich auch einmal, wie ich eben bei einem
Luſthauſe zur Arbeit vorbey ging, fuͤr mich hin:
Wohin ich geh' und ſchaue,
In Feld und Wald und Thal
Vom Berg' in's Himmelsblaue,
Viel ſchoͤne gnaͤd'ge Fraue,
Gruͤß' ich Dich tauſendmal.
Da ſeh' ich aus dem dunkelkuͤhlen Luſthauſe zwi¬
ſchen den halbgeoͤffneten Jalouſien und Blumen, die
dort ſtanden, zwei ſchoͤne junge friſche Augen hervor¬
funkeln. Ich war ganz erſchrocken, ich ſang das Lied
nicht aus, ſondern ging, ohne mich umzuſehen, fort
an die Arbeit.
Abends, es war grade an einem Sonnabend, und
ich ſtand eben in der Vorfreude kommenden Sonntags
mit der Geige im Gartenhauſe am Fenſter und dachte
noch an die funkelnden Augen, da kommt auf einmal
die Kammerjungfer durch die Daͤmmerung dahergeſtri¬
chen. „Da ſchickt Euch die vielſchoͤne gnaͤdige Frau
was, das ſollt Ihr auf ihre Geſundheit trinken. Eine
gute Nacht auch!“ Damit ſetzte ſie mir fix eine Fla¬
ſche Wein auf's Fenſter und war ſogleich wieder zwi¬
ſchen den Blumen und Hecken verſchwunden, wie eine
Eidechſe.
Ich aber ſtand noch lange vor der wunderſamen
Flaſche, und wußte nicht wie mir geſchehen war. —
Und hatte ich vorher luſtig die Geige geſtrichen, ſo
ſpielt' und ſang ich jetzt erſt recht, und ſang das Lied
von der ſchoͤnen Frau ganz aus und alle meine Lieder,
die ich nur wußte, bis alle Nachtigallen draußen erwach¬
ten und Mond und Sterne ſchon lange uͤber dem Garten
ſtanden. Ja, das war einmal eine gute ſchoͤne Nacht!
Es wird keinem an der Wiege geſungen, was kuͤnf¬
tig aus ihm wird, eine blinde Henne find't manchmal
auch ein Korn, wer zuletzt lacht, lacht am beſten, un¬
verhofft kommt oft, der Menſch denkt und Gott lenkt,
ſo meditirt' ich, als ich am folgenden Tage wieder mit
meiner Pfeife im Garten ſaß und es mir dabei, da
ich ſo aufmerkſam an mir herunter ſah, faſt vorkom¬
men wollte, als waͤre ich doch eigentlich ein rechter
Lump. — Ich ſtand nunmehr, ganz wider meine
ſonſtige Gewohnheit, alle Tage ſehr zeitig auf, eh' ſich
noch der Gaͤrtner und die andern Arbeiter ruͤhrten.
Da war es ſo wunderſchoͤn draußen im Garten. Die
Blumen, die Springbrunnen, die Roſenbuͤſche und der
ganze Garten funkelten von der Morgenſonne wie lau¬
ter Gold und Edelſtein. Und in den hohen Buchen¬
Alleen, da war es noch ſo ſtill, kuͤhl und andaͤchtig wie
in einer Kirche, nur die Voͤgel flatterten und pickten
auf dem Sande. Gleich vor dem Schloſſe, grade un¬
ter den Fenſtern, wo die ſchoͤne Frau wohnte, war ein
bluͤhender Strauch. Dorthin ging ich dann immer
am fruͤheſten Morgen und duckte mich hinter die Aeſte,
um ſo nach den Fenſtern zu ſehen, denn mich im Freien
zu produziren hatt' ich keine Kourage. Da ſah ich
nun allemal die allerſchoͤnſte Dame noch heiß und halb
verſchlafen im ſchneeweißen Kleide an das offne Fen¬
ſter hervortreten. Bald flocht ſie ſich die dunkelbrau¬
nen Haare und ließ dabei die anmuthig ſpielenden
Augen uͤber Buſch und Garten ergehen, bald bog und
band ſie die Blumen, die vor ihrem Fenſter ſtanden,
oder ſie nahm auch die Guitarre in den weißen Arm
und ſang dazu ſo wunderſam uͤber den Garten hinaus,
daß ſich mir noch das Herz umwenden will vor Weh¬
muth, wenn mir eins von den Liedern bisweilen ein¬
faͤllt — und ach das alles iſt ſchon lange her!
So dauerte das wohl uͤber eine Woche. Aber das
einemal, ſie ſtand grade wieder am Fenſter und alles
war ſtille rings umher, fliegt mir eine fatale Fliege in
die Naſe und ich gebe mich an ein erſchreckliches Nie¬
ſen, das gar nicht enden will. Sie legt ſich weit zum
Fenſter hinaus und ſieht mich Aermſten hinter dem
Strauche lauſchen. — Nun ſchaͤmte ich mich und kam
viele Tage nicht hin.
Endlich wagte ich es wieder, aber das Fenſter blieb
diesmal zu, ich ſaß vier, fuͤnf, ſechs Morgen hinter
dem Strauche, aber ſie kam nicht wieder an's Fenſter.
Da wurde mir die Zeit lang, ich faßte ein Herz und
ging nun alle Morgen frank und frei laͤngs dem
Schloſſe unter allen Fenſtern hin. Aber die liebe ſchoͤ¬
ne Frau blieb immer und immer aus. Eine Strecke
weiter ſah ich dann immer die andere Dame am Fen¬
ſter ſtehn. Ich hatte ſie ſonſt ſo genau noch niemals
geſehen. Sie war wahrhaftig recht ſchoͤn roth und
dick und gar praͤchtig und hoffaͤrtig anzuſehn, wie eine
Tulipane. Ich machte ihr immer ein tiefes Kompli¬
ment, und, ich kann nicht anders ſagen, ſie dankte mir
jedesmal und nickte und blinzelte mit den Augen dazu
ganz außerordentlich hoͤflich. — Nur ein einzigesmal
glaub' ich geſehn zu haben, daß auch die Schoͤne an
ihrem Fenſter hinter der Gardine ſtand und verſteckt
hervor guckte. —
Viele Tage gingen jedoch ins Land, ohne daß ich
ſie ſah. Sie kam nicht mehr in den Garten, ſie kam
nicht mehr an's Fenſter. Der Gaͤrtner ſchalt mich ei¬
nen faulen Bengel, ich war verdruͤßlich, meine eigne
Naſenſpitze war mir im Wege, wenn ich in Gottes
freie Welt hinaus ſah.
So lag ich eines Sonntags Nachmittag im Gar¬
ten und aͤrgerte mich, wie ich ſo in die blauen Wol¬
ken meiner Tabackspfeife hinausſah, daß ich mich nicht
auf ein anderes Handwerk gelegt, und mich alſo mor¬
gen nicht auch wenigſtens auf einen blauen Montag
zu freuen haͤtte. Die andern Burſche waren indeß alle
wohlausſtaffirt nach den Tanzboͤden in der nahen Vor¬
ſtadt hinausgezogen. Da wallte und wogte alles im
Sonntagsputze in der warmen Luft zwiſchen den lich¬
ten Haͤuſern uudund wandernden Leierkaſten ſchwaͤrmend
hin und zuruͤck. Ich aber ſaß wie ein Rohrdommel
im Schilfe eines einſamen Weihers im Garten und
ſchaukelte mich auf dem Kahne, der dort angebunden
war, waͤhrend die Vesperglocken aus der Stadt uͤber
den Garten heruͤberſchallten und die Schwaͤne auf dem
Waſſer langſam neben mir hin und her zogen. Mir
war zum Sterben bange. —
Waͤhrend deß hoͤrte ich von weitem allerlei Stim¬
men, luſtiges Durcheinanderſprechen und Lachen, im¬
mer naͤher und naͤher, dann ſchimmerten roth' und
weiße Tuͤcher, Huͤte und Federn durch's Gruͤne, auf
einmal kommt ein heller lichter Haufen von jungen
Herren und Damen vom Schloſſe uͤber die Wieſe auf
mich los, meine beide Damen mitten unter ihnen. Ich
ſtand auf und wollte weggehen, da erblickte mich die
aͤltere von den ſchoͤnen Damen. „Ey, das iſt ja wie
gerufen,“ rief ſie mir mit lachendem Munde zu, „fahr
Er uns doch an das jenſeitige Ufer uͤber den Teich!“
Die Damen ſtiegen nun eine nach der andern vorſich¬
tig und furchtſam in den Kahn, die Herren halfen ih¬
nen dabei und machten ſich ein wenig groß mit ihrer
Kuͤhnheit auf dem Waſſer. Als ſich darauf die Frauen
alle auf die Seitenbaͤnke gelagert hatten, ſtieß ich vom
Ufer. Einer von den jungen Herren, der ganz vorn
ſtand, fing unmerklich an zu ſchaukeln. Da wandten
ſich die Damen furchtſam hin und her, einige ſchrien
gar. Die ſchoͤne Frau welche eine Lilie in der Hand
hielt, ſaß dicht am Bord des Schiffleins und ſah ſtill¬
laͤchelnd in die klaren Wellen hinunter, die ſie mit der
Lilie beruͤhrte, ſo daß ihr ganzes Bild zwiſchen den
wiederſcheinenden Wolken und Baͤumen im Waſſer
noch einmal zu ſehen war, wie ein Engel, der leiſe
durch den tiefen blauen Himmelsgrund zieht.
Wie ich noch ſo auf ſie hinſehe, faͤllt's auf einmal
der andern luſtigen Dicken von meinen zwei Damen
ein, ich ſollte ihr waͤhrend der Fahrt Eins ſingen. Ge¬
ſchwind dreht ſich ein ſehr zierlicher junger Herr mit
einer Brille auf der Naſe, der neben ihr ſaß, zu ihr
herum, kuͤßt ihr ſanft die Hand und ſagt: „Ich danke
ihnen fuͤr den ſinnigen Einfall! ein Volkslied, geſun¬
gen vom Volk in freiem Feld und Wald, iſt ein Al¬
penroͤslein auf der Alpe ſelbſt, — die Wunderhoͤrner
ſind nur Herbarien, — iſt die Seele der National-
Seele.“ Ich aber ſagte, ich wiſſe nichts zu ſingen,
was fuͤr ſolche Herrſchaften ſchoͤn genug waͤre. Da ſagte
die ſchnippiſche Kammerjungfer, die mit einem Korbe
voll Taſſen und Flaſchen hart neben mir ſtand und
die ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte: „Weiß
Er doch ein recht huͤbſches Liedchen von einer viel¬
ſchoͤnen Fraue.“ — „Ja, ja, das ſing Er nur recht dreiſt
weg,“ rief darauf ſogleich die Dame wieder. Ich
wurde uͤber und uͤber roth. — Indem blickte auch die
ſchoͤne Frau auf einmal vom Waſſer auf, und ſah mich
an, daß es mir durch Leib und Seele ging. Da be¬
ſann ich mich nicht lange, faßt' ein Herz, und ſang
ſo recht aus voller Bruſt und Luſt:
Wohin ich geh' und ſchaue,
In Feld und Wald und Thal
Vom Berg' hinab in die Aue:
Viel ſchöne, hohe Fraue,
Grüß ich Dich tauſendmal.
In meinem Garten find' ich
Viel Blumen, ſchön und fein,
Viel Kränze wohl d'raus wind' ich
Und tauſend Gedanken bind' ich
Und Grüße mit darein.
Ihr darf ich keinen reichen,
Sie iſt zu hoch und ſchön,
Die müſſen alle verbleichen,
Die Liebe nur ohne Gleichen
Bleibt ewig im Herzen ſtehn.
Ich ſchein' wohl froher Dinge
Und ſchaffe auf und ab,
Und, ob das Herz zerſpringe,
Ich grabe fort und ſinge
Und grab' mir bald mein Grab.
Wir ſtießen ans Land, die Herrſchaften ſtiegen alle
aus, viele von den jungen Herren hatten mich, ich be¬
merkt' es wohl, waͤhrend ich ſang mit liſtigen Mienen
und Fluͤſtern verſpottet vor den Damen. Der Herr
mit der Brille faßte mich im Weggehen bey der Hand
und ſagte mir, ich weiß ſelbſt nicht mehr was, die aͤl¬
tere von meinen Damen ſah mich ſehr freundlich an.
Die ſchoͤne Frau hatte waͤhrend meines ganzen Liedes
die Augen niedergeſchlagen und ging nun auch fort
und ſagte gar nichts. — Mir aber ſtanden die Thraͤ¬
nen in den Augen ſchon wie ich noch ſang, das Herz
wollte mir zerſpringen von dem Liede vor Schaam
und vor Schmerz, es fiel mir jetzt auf einmal alles
recht ein, wie Sie ſo ſchoͤn iſt und ich ſo arm bin
und verſpottet und verlaſſen von der Welt, — und
als ſie alle hinter den Buͤſchen verſchwunden waren,
da konnt' ich mich nicht laͤnger halten, ich warf mich
in das Gras hin und weinte bitterlich.
Zweites Kapitel.
Dicht am herrſchaftlichen Garten ging die Land¬
ſtraße voruͤber, nur durch eine hohe Mauer von der¬
ſelben geſchieden. Ein gar ſauberes Zollhaͤuschen mit
rothem Ziegeldache war da erbaut, und hinter demſel¬
ben ein kleines buntumzaͤuntes Blumengaͤrtchen, das
durch eine Luͤcke in der Mauer des Schloßgartens hin¬
durch an den ſchattigſten und verborgenſten Theil des
letzteren ſtieß. Dort war eben der Zolleinnehmer ge¬
ſtorben, der das alles ſonſt bewohnte. Da kam des ei¬
nen Morgens fruͤhzeitig, da ich noch im tiefſten
Schlafe lag, der Schreiber vom Schloſſe zu mir und
rief mich ſchleunigſt zum Herrn Amtmann. Ich zog
mich geſchwind an und ſchlenderte hinter dem luftigenluſtigen
Schreiber her, der unterwegs bald da bald dort eine
Blume abbrach und vorn an den Rock ſteckte, bald mit
ſeinem Spazierſtoͤckchen kuͤnſtlich in der Luft herum¬
focht und allerlei zu mir in den Wind hineinparlirte,
wovon ich aber nichts verſtand, weil mir die Augen
und Ohren noch voller Schlaf lagen. Als ich in die
Kanzlei trat, wo es noch gar nicht recht Tag war, ſah
der Amtmann hinter einem ungeheuren Dintenfaſſe
und Stoͤßen von Papier und Buͤchern und einer an¬
ſehnlichen Peruͤcke, wie die Eule aus ihrem Neſt, auf
mich und hob an: „Wie heißt Er? Woher iſt Er?
Kann Er ſchreiben, leſen und rechnen?“ Da ich das
bejahte, verſetzte er: „Na, die gnaͤdige Herrſchaft hat
Ihm, in Betrachtung Seiner guten Auffuͤhrung und
beſondern Meriten, die ledige Einnehmer-Stelle zuge¬
dacht.“ — Ich uͤberdachte in der Geſchwindigkeit fuͤr
mich meine bisherige Auffuͤhrung und Manieren, und
ich mußte geſtehen, ich fand am Ende ſelber, daß der
Amtmann Recht hatte. — Und ſo war ich denn wirk¬
lich Zolleinnehmer, ehe ich mich's verſah.
Ich bezog nun ſogleich meine neue Wohnung und
war in kurzer Zeit eingerichtet. Ich hatte noch meh¬
rere Geraͤthſchaften gefunden, die der ſelige Einneh¬
mer ſeinem Nachfolger hinterlaſſen, unter andern ei¬
nen praͤchtigen rothen Schlafrock mit gelben Punkten,
gruͤne Pantoffeln, eine Schlafmuͤtze und einige Pfeifen
mit langen Roͤhren. Das alles hatte ich mir ſchon ein¬
mal gewuͤnſcht als ich noch zu Hauſe war, wo ich im¬
mer unſern Pfarrer ſo kommode herumgehen ſah.
Den ganzen Tag, (zu thun hatte ich weiter nichts)
ſaß ich daher auf dem Baͤnkchen vor meinem Hauſe
B
in Schlafrock und Schlafmuͤtze, rauchte Taback aus
dem laͤngſten Rohre, das ich nach dem ſeligen Einneh¬
mer gefunden hatte, und ſah zu, wie die Leute auf der
Landſtraße hin- uudund hergingen, fuhren und ritten. Ich
wuͤnſchte nur immer, daß auch einmal ein paar Leute
aus meinem Dorfe, die immer ſagten, aus mir wuͤrde
mein Lebtage nichts, hier voruͤber kommen und mich
ſo ſehen moͤchten. — Der Schlafrock ſtand mir ſchoͤn
zu Geſichte, und uͤberhaupt das alles behagte mir ſehr
gut. So ſaß ich denn da und dachte mir mancherlei
hin und her, wie aller Anfang ſchwer iſt, wie das vor¬
nehmere Leben doch eigentlich recht kommode ſei, und
faßte heimlich den Entſchluß, nunmehr alles Reiſen zu
laſſen, auch Geld zu ſparen wie die andern, und es
mit der Zeit gewiß zu etwas Großem in der Welt zu
bringen. Inzwiſchen vergaß ich uͤber meinen Ent¬
ſchluͤſſen, Sorgen und Geſchaͤften die allerſchoͤnſte Frau
keineswegs.
Die Kartoffeln und anderes Gemuͤſe, das ich in
meinem kleinen Gaͤrtchen fand, warf ich hinaus und
bebaute es ganz mit den auserleſenſten Blumen, wor¬
uͤber mich der Portier vom Schloſſe mit der großen
kurfuͤrſtlichen Naſe, der, ſeitdem ich hier wohnte, oft
zu mir kam und mein intimer Freund geworden
war, bedenklich von der Seite anſah, und mich fuͤr ei¬
nen hielt, den ſein ploͤtzliches Gluͤck verruͤckt gemacht
haͤtte. Ich aber ließ mich das nicht anfechten. Denn
nicht weit von mir im herrſchaftlichen Garten hoͤrte
ich feine Stimmen ſprechen, unter denen ich die mei¬
ner ſchoͤnen Frau zu erkennen meinte, obgleich ich we¬
gen des dichten Gebuͤſches Niemand ſehen konnte. Da
band ich denn alle Tage einen Strauß von den ſchoͤn¬
ſten Blumen die ich hatte, ſtieg jeden Abend, wenn es
dunkel wurde, uͤber die Mauer, und legte ihn auf ei¬
nen ſteinernen Tiſch hin, der dort inmitten einer Lau¬
be ſtand; und jeden Abend wenn ich den neuen Strauß
brachte, war der alte von dem Tiſche fort.
Eines Abends war die Herrſchaft auf die Jagd
geritten; die Sonne ging eben unter und bedeckte das
ganze Land mit Glanz und Schimmer, die Donau
ſchlaͤngelte ſich praͤchtig wie von lauter Gold und
Feuer in die weite Ferne, von allen Bergen bis tief
ins Land hinein ſangen und jauchzten die Winzer. Ich
ſaß mit dem Portier auf dem Baͤnkchen vor meinem
Hauſe, und freute mich in der lauen Luft, und wie
der luſtige Tag ſo langſam vor uns verdunkelte und
verhallte. Da ließen ſich auf einmal die Hoͤrner der
zuruͤckkehrenden Jaͤger von Ferne vernehmen, die von
den Bergen gegenuͤber einander von Zeit zu Zeit lieb¬
lich Antwort gaben. Ich war recht im innerſten Her¬
zen vergnuͤgt und ſprang auf und rief wie bezaubert
und verzuͤckt vor Luſt: „Nein, das iſt mir doch ein
Metier, die edle Jaͤgerei!“ Der Portier aber klopfte
ſich ruhig die Pfeife aus und ſagte: „Das denkt Ihr
Euch juſt ſo. Ich habe es auch mitgemacht, man ver¬
dient ſich kaum die Sohlen, die man ſich ablaͤuft; und
Huſten und Schnupfen wird man erſt gar nicht los,
das kommt von den ewig naſſen Fuͤßen.“ — Ich weiß
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nicht, mich packte da ein naͤrriſcher Zorn, daß ich ord¬
entlich am ganzen Leibe zitterte. Mir war auf ein¬
mal der ganze Kerl mit ſeinem langweiligen Mantel,
die ewigen Fuͤße, ſein Tabacksſchnupfen, die große
Naſe und alles abſcheulich. — Ich faßte ihn, wie au¬
ßer mir, bei der Bruſt und ſagte: „Portier, jetzt
ſchert Ihr Euch nach Hauſe, oder ich pruͤgle Euch
hier ſogleich durch!“ Den Portier uͤberfiel bei dieſen
Worten ſeine alte Meinung, ich waͤre verruͤckt gewor¬
den. Er ſah mich bedenklich und mit heimlicher Furcht
an, machte ſich, ohne ein Wort zu ſprechen, von mir
los und ging, immer noch unheimlich nach mir zuruͤck
blickend, mit langen Schritten nach dem Schloſſe, wo
er athemlos ausſagte, ich ſei nun wirklich raſend ge¬
worden.
Ich aber mußte am Ende laut auflachen und war
herzlich froh, den ſuperklugen Geſellen los zu ſeyn,
denn es war grade die Zeit, wo ich den Blumenſtrauß
immer in die Laube zu legen pflegte. Ich ſprang auch
heute ſchnell uͤber die Mauer und ging eben auf das
ſteinerne Tiſchchen los, als ich in einiger Entfernung
Pferdetritte vernahm. Entſpringen konnt' ich nicht
mehr, denn ſchon kam meine ſchoͤne gnaͤdige Frau ſel¬
ber, in einem gruͤnen Jagdhabit und mit nickenden
Federn auf dem Hute, langſam und wie es ſchien in
tiefen Gedanken die Allee herabgeritten. Es war mir
nicht anders zu Muthe, als da ich ſonſt in den alten
Buͤchern bei meinem Vater von der ſchoͤnen Magelone
geleſen, wie ſie ſo zwiſchen den immer naͤher ſchallen¬
den Waldhornsklaͤngen und wechſelnden Abendlichtern
unter den hohen Baͤumen hervor kam, — ich konnte
nicht vom Fleck. Sie aber erſchrack heftig, als ſie mich
auf einmal gewahr wurde, und hielt faſt unwillkuͤhr¬
lich ſtill. Ich war wie betrunken vor Angſt, Herzklop¬
fen und großer Freude, und da ich bemerkte, daß ſie
wirklich meinen Blumenſtrauß von geſtern an der Bruſt
hatte, konnte ich mich nicht laͤnger halten, ſondern
ſagte ganz verwirrt: „Schoͤnſte gnaͤdige Frau, nehmt
auch noch dieſen Blumenſtrauß von mir, und alle Blu¬
men aus meinem Garten und alles was ich habe. Ach
koͤnnt' ich nur fuͤr Euch in's Feuer ſpringen!“ — Sie
hatte mich gleich anfangs ſo ernſthaft und faſt boͤſe an¬
geblickt, daß es mir durch Mark und Bein ging, dann
aber hielt ſie, ſo lange ich redete, die Augen tief nie¬
dergeſchlagen. So eben ließen ſich einige Reuter und
Stimmen im Gebuͤſch hoͤren. Da ergriff ſie ſchnell
den Strauß aus meiner Hand und war bald, ohne
ein Wort zu ſagen, am andern Ende des Bogenganges
verſchwunden.
Seit dieſem Abend hatte ich weder Ruh' noch
Raſt mehr. Es war mir beſtaͤndig zu Muthe wie ſonſt
immer, wenn der Fruͤhling anfangen ſollte, ſo unruhig
und froͤhlich, ohne daß ich wußte warum, als ſtuͤnde
mir ein großes Gluͤck oder ſonſt etwas Außerordentli¬
ches bevor. Beſonders das fatale Rechnen wollte mir
nun erſt gar nicht mehr von der Hand, und ich hatte,
wenn der Sonnenſchein durch den Kaſtanienbaum vor
dem Fenſter gruͤngolden auf die Ziffern fiel, und ſo fix
vom Transport bis zum Latus und wieder hinauf und
hinab addirte, gar ſeltſame Gedanken dabei, ſo daß
ich manchmal ganz verwirrt wurde, und wahrhaftig
nicht bis drei zaͤhlen konnte. Denn die acht kam
mir immer vor wie meine dicke enggeſchnuͤrte Dame
mit dem breiten Kopfputz, die boͤſe ſieben war gar wie
ein ewig ruͤckwaͤrts zeigender Wegweiſer oder Gal¬
gen. — Am meiſten Spaß machte mir noch die neun,
die ſich mir ſo oft, eh' ich mich's verſah, luſtig als
ſechs auf den Kopf ſtellte, waͤhrend die zwei wie ein
Fragezeichen ſo pfiffig drein ſah, als wollte ſie mich
fragen: Wo ſoll das am Ende noch hinaus mit Dir,
Du arme Null? Ohne Sie, dieſe ſchlanke Eins und
Alles, bleibſt Du doch ewig Nichts!
Auch das Sitzen draußen vor der Thuͤr wollte mir
nicht mehr behagen Ich nahm mir, um es kommoder
zu haben, einen Schemel mit heraus und ſtreckte die
Fuͤße darauf, ich flickte ein altes Paraſol vom Einneh¬
mer, und ſteckte es gegen die Sonne wie ein chineſi¬
ſches Luſthaus uͤber mich. Aber es half nichts. Es
ſchien mir, wie ich ſo ſaß und rauchte und ſpekulirte,
als wuͤrden mir allmaͤhlig die Beine immer laͤnger vor
Langerweile, und die Naſe wuͤchſe mir vom Nichts¬
thun, wenn ich ſo ſtundenlang an ihr herunter ſah. —
Und wenn denn manchmal noch vor Tagesanbruch eine
Extrapoſt vorbei kam, und ich trat halb verſchlafen in
die kuͤhle Luft hinaus, und ein niedliches Geſichtchen,
von dem man in der Daͤmmerung nur die funkelnden
Augen ſah, bog ſich neugierig zum Wagen hervor und
bot mir freundlich einen guten Morgen, in den Doͤr¬
fern aber ringsumher kraͤhten die Haͤhne ſo friſch uͤber
die leiſewogenden Kornfelder heruͤber, und zwiſchen den
Morgenſtreifen hoch am Himmel ſchweiften ſchon ein¬
zelne zu fruͤh erwachte Lerchen, und der Poſtillon nahm
dann ſein Poſthorn und fuhr weiter und blies und
blies — da ſtand ich lange und ſah dem Wagen nach,
und es war mir nicht anders, als muͤßt' ich nur ſo¬
gleich mit fort, weit, weit in die Welt. —
Meine Blumenſtraͤuße legte ich indeß immer noch,
ſobald die Sonne unterging, auf den ſteinernen Tiſch
in der dunkeln Laube. Aber das war es eben: damit
war es nun aus ſeit jenem Abend. — Kein Menſch
kuͤmmerte ſich darum: ſo oft ich des Morgens fruͤhzei¬
tig nachſah, lagen die Blumen noch immer da wie ge¬
ſtern, und ſahen mich mit ihren verwelkten niederhaͤn¬
genden Koͤpfchen und darauf ſtehenden Thautropfen
ordentlich betruͤbt an, als ob ſie weinten. — Das ver¬
droß mich ſehr. Ich band gar keinen Strauß mehr.
In meinem Garten mochte nun auch das Unkraut
treiben wie es wollte, und die Blumen ließ ich ruhig
ſtehn und wachſen bis der Wind die Blaͤtter ver¬
wehte. War mir's doch eben ſo wild und bunt und
verſtoͤrt im Herzen.
In dieſen kritiſchen Zeitlaͤuften geſchah es denn,
daß einmal, als ich eben zu Hauſe im Fenſter liege
und verdruͤßlich in die leere Luft hinaus ſehe, die
Kammerjungfer vom Schloſſe uͤber die Straße daher
getrippelt kommt. Sie lenkte, da ſie mich erblickte,
ſchnell zu mir ein und blieb am Fenſter ſtehen. — „Der
gnaͤdige Herr iſt geſtern von ſeiner Reiſe zuruͤckgekom¬
men,“ ſagte ſie eilfertig. „So?“ entgegnete ich verwun¬
dert — denn ich hatte mich ſchon ſeit einigen Wochen
um nichts bekuͤmmert, und wußte nicht einmal, daß der
Herr auf Reiſen war, — „da wird ſeine Tochter, die
junge gnaͤdige Frau, auch große Freude gehabt haben.“ —
Die Kammerjungfer ſah mich kurios von oben bis un¬
ten an, ſo daß ich mich ordentlich ſelber beſinnen
mußte, ob ich was Dummes geſagt haͤtte. — „Er weiß
aber auch gar nichts,“ ſagte ſie endlich und ruͤmpfte
das kleine Naͤschen. „Nun,“ fuhr ſie fort, „es ſoll heute
Abend dem Herrn zu Ehren Tanz im Schloſſe ſeyn
und Maskerade. Meine gnaͤdige Frau wird auch mas¬
kirt ſeyn, als Gaͤrtnerin — verſteht er auch recht —
als Gaͤrtnerin. Nun hat die gnaͤdige Frau geſehen,
daß er beſonders ſchoͤne Blumen hat in ſeinem Gar¬
ten.“ — Das iſt ſeltſam, dachte ich bei mir ſelbſt, man
ſieht doch jetzt faſt keine Blumen mehr vor Unkraut. —
Sie aber fuhr fort: „Da nun die gnaͤdige Frau ſchoͤ¬
ne Blumen zu ihrem Anzuge braucht, aber ganz fri¬
ſche, die eben vom Beete kommen, ſo ſoll Er ihr wel¬
che bringen und heute Abend, wenns dunkel geworden
iſt, damit unter dem großen Birnbaum im Schlo߬
garten warten, da wird ſie dann kommen und die
Blumen abholen.“
Ich war ganz verbluͤfft vor Freude uͤber dieſe Nach¬
richt, und lief in meiner Entzuͤckung vom Fenſter zu
der Kammerjungfer hinaus. —
„Pfui, der garſtige Schlafrock!“ rief dieſe aus, da
ſie mich auf einmal ſo in meinem Aufzuge im Freien
ſah. Das aͤrgerte mich, ich wollte auch nicht dahinter
bleiben in der Galanterie, und machte einige artige
Kapriolen, um ſie zu erhaſchen und zu kuͤſſen. Aber
ungluͤcklicher Weiſe verwickelte ſich mir dabei der
Schlafrock, der mir viel zu lang war, unter den Fuͤ¬
ßen, und ich fiel der Laͤnge nach auf die Erde. Als
ich mich wieder zuſammen raffte, war die Kammerjung¬
fer ſchon weit fort, und ich hoͤrte ſie noch von Ferne
lachen, daß ſie ſich die Seiten halten mußte.
Nun aber hatt' ich was zu ſinnen und mich zu
freuen. Sie dachte ja noch immer an mich und mei¬
ne Blumen! Ich ging in mein Gaͤrtchen und riß ha¬
ſtig alles Unkraut von den Beeten, und warf es hoch
uͤber meinen Kopf weg in die ſchimmernde Luft, als
zoͤg' ich alle Uebel und Melancholie mit der Wurzel
heraus. Die Roſen waren nun wieder wie ihr Mund,
die himmelblauen Winden wie ihre Augen, die ſchnee¬
weiße Lilie mit ihrem ſchwermuͤthig geſenkten Koͤpf¬
chen ſah ganz aus wie Sie. Ich legte alle ſorgfaͤltig
in einem Koͤrbchen zuſammen. Es war ein ſtiller ſchoͤ¬
ner Abend und kein Woͤlkchen am Himmel. Einzelne
Sterne traten ſchon am Firmamente hervor, von wei¬
tem rauſchte die Donau uͤber die Felder heruͤber, in
den hohen Baͤumen im herrſchaftlichen Garten neben
mir ſangen unzaͤhlige Voͤgel luſtig durcheinander. Ach,
ich war ſo gluͤcklich!
Als endlich die Nacht hereinbrach, nahm ich mein
Koͤrbchen an den Arm und machte mich auf den Weg
nach dem großen Garten. In dem Koͤrbchen lag al¬
les ſo bunt und anmuthig durcheinander, weiß, roth,
blau und duftig, daß mir ordentlich das Herz lachte,
wenn ich hinein ſah.
Ich ging voller froͤhlicher Gedanken bei dem ſchoͤ¬
nen Mondſchein durch die ſtillen, reinlich mit Sand
beſtreuten Gaͤnge uͤber die kleinen weißen Bruͤcken, un¬
ter denen die Schwaͤne eingeſchlafen auf dem Waſſer
ſaßen, an den zierlichen Lauben und Luſthaͤuſern vor¬
uͤber. Den großen Birnbaum hatte ich gar bald auf¬
gefunden, denn es war derſelbe, unter dem ich ſonſt,
als ich noch Gaͤrtnerburſche war, an ſchwuͤlen Nach¬
mittagen gelegen.
Hier war es ſo einſam dunkel. Nur eine hohe
Espe zitterte und fluͤſterte mit ihren ſilbernen Blaͤt¬
tern in einem fort. Vom Schloſſe ſchallte manchmal
die Tanzmuſik heruͤber. Auch Menſchenſtimmen hoͤrte
ich zuweilen im Garten, die kamen oft ganz nahe an
mich heran, dann wurde es auf einmal wieder ganz
ſtill.
Mir klopfte das Herz. Es war mir ſchauerlich
und ſeltſam zu Muthe, als wenn ich jemanden beſteh¬
len wollte. Ich ſtand lange Zeit ſtockſtill an den Baum
gelehnt und lauſchte nach allen Seiten, da aber im¬
mer Niemand kam, konnt' ich es nicht laͤnger aushal¬
ten. Ich hing mein Koͤrbchen an den Arm und klet¬
terte ſchnell auf den Birnbaum hinauf, um wieder im
Freien Luft zu ſchoͤpfen.
Da droben ſchallte mir die Tanzmuſik erſt recht
uͤber die Wipfel entgegen. Ich uͤberſah den ganzen
Garten und grade in die hellerleuchteten Fenſter des
Schloſſes hinein. Dort drehten ſich die Kronleuchter
langſam wie Kraͤnze von Sternen, unzaͤhlige geputzte
Herren und Damen, wie in einem Schattenſpiele, wog¬
ten und walzten und wirrten da bunt und unkenntlich
durcheinander, manchmal legten ſich welche ins Fenſter
und ſahen hinunter in den Garten. Draußen vor dem
Schloſſe aber waren der Raſen, die Straͤucher und die
Baͤume von den vielen Lichtern aus dem Saale wie
vergoldet, ſo daß ordentlich die Blumen und die Voͤ¬
gel aufzuwachen ſchienen. Weiterhin um mich herum
und hinter mir lag der Garten ſo ſchwarz und ſtill.
Da tanzt Sie nun, dacht' ich in dem Baume
droben bei mir ſelber, und hat gewiß lange wieder
Dich und Deine Blumen vergeſſen. Alles iſt ſo froͤh¬
lich, um Dich kuͤmmert ſich kein Menſch. — Und ſo
geht es mir uͤberall und immer. Jeder hat ſein Plaͤtz¬
chen auf der Erde ausgeſteckt, hat ſeinen warmen
Ofen, ſeine Taſſe Kaffee, ſeine Frau, ſein Glas Wein
zu Abend, und iſt ſo recht zufrieden; ſelbſt dem Portier
iſt ganz wohl in ſeiner langen Haut. — Mir iſt's
nirgends recht. Es iſt, als waͤre ich uͤberall eben zu
ſpaͤt gekommen, als haͤtte die ganze Welt gar nicht auf
mich gerechnet. —
Wie ich eben ſo philoſophire, hoͤre ich auf einmal un¬
ten im Graſe etwas einherraſcheln. Zwei feine Stimmen
ſprachen ganz nahe und leiſe miteinander. Bald darauf
bogen ſich die Zweige in dem Geſtraͤuch auseinander,
und die Kammerjungfer ſteckte ihr kleines Geſichtchen,
ſich nach allen Seiten umſehend, zwiſchen der Laube
hindurch. Der Mondſchein funkelte recht auf ihren
pfiffigen Augen, wie ſie hervorguckten. Ich hielt den
Athem an mich und blickte unverwandt hinunter. Es
dauerte auch nicht lange, ſo trat wirklich die Gaͤrtne¬
rin, ganz ſo wie mir ſie die Kammerjungfer geſtern
beſchrieben hatte, zwiſchen den Baͤumen heraus. Mein
Herz klopfte mir zum zerſpringen. Sie aber hatte
eine Larve vor und ſah ſich, wie mir ſchien, verwun¬
dert auf dem Platze um. — Da wollt's mir vorkom¬
men, als waͤre ſie gar nicht recht ſchlank und nied¬
lich. — Endlich trat ſie ganz nahe an den Baum
und nahm die Larve ab. — Es war wahrhaftig die
andere aͤltere gnaͤdige Frau!
Wie froh war ich nun, als ich mich vom erſten
Schreck erholt hatte, daß ich mich hier oben in Si¬
cherheit befand. Wie in aller Welt, dachte ich, kommt
die nur jetzt hierher? wenn nun die liebe ſchoͤne gnaͤ¬
dige Frau die Blumen abholt, — das wird eine ſchoͤne
Geſchichte werden! Ich haͤtte am Ende weinen moͤ¬
gen vor Aerger uͤber den ganzen Spektakel.
Indem hub die verkappte Gaͤrtnerin unten an:
„Es iſt ſo ſtickend heiß droben im Saale, ich mußte
mich ein wenig abkuͤhlen gehen in der freien ſchoͤnen
Natur.“ Dabei faͤchelte ſie ſich mit der Larve in ei¬
nem fort und blies die Luft von ſich. Bei dem hellen
Mondſchein konnt' ich deutlich erkennen, wie ihr die
Flechſen am Halſe ordentlich aufgeſchwollen waren; ſie
ſah ganz erboßt aus und ziegelroth im Geſichte. Die
Kammerjungfer ſuchte unterdeß hinter allen Hecken
herum, als haͤtte ſie eine Stecknadel verloren. —
„Ich brauche ſo nothwendig noch friſche Blumen
zu meiner Maske,“ fuhr die Gaͤrtnerin von neuem fort,
„wo er auch ſtecken mag!“ — Die Kammerjungfer
ſuchte und kicherte dabei immer fort heimlich in ſich
ſelbſt hinein. — „Sagteſt Du was, Roſette?“ fragte
die Gaͤrtnerin ſpitzig. — „Ich ſage was ich immer
geſagt habe,“ erwiederte die Kammerjungfer und machte
ein ganz ernſthaftes treuherziges Geſicht, „der ganze
Einnehmer iſt und bleibt ein Luͤmmel, er liegt gewiß
irgendwo hinter einem Strauche und ſchlaͤft.“
Mir zuckte es in allen meinen Gliedern, herunter
zu ſpringen und meine Reputation zu retten — da
hoͤrte man auf einmal ein großes Paucken und Muſi¬
ziren und Laͤrmen vom Schloſſe her.
Nun hielt ſich die Gaͤrtnerin nicht laͤnger. „Da
bringen die Menſchen,“ fuhr ſie verdruͤßlich auf, „dem
Herrn das Vivat. Komm, man wird uns vermiſſen!“ —
Und hiermit ſteckte ſie die Larve ſchnell vor und ging
wuͤthend mit der Kammerjungfer nach dem Schloſſe
zu fort. Die Baͤume und Straͤucher wieſen kurios,
wie mit langen Naſen und Fingern hinter ihr drein,
der Mondſchein tanzte noch fix, wie uͤber eine Klavia¬
tur, uͤber ihre breite Taille auf und nieder, und ſo
nahm ſie, ſo recht wie ich auf dem Theater manchmal
die Saͤngerinnen geſehn, unter Trompeten und Pauken
ſchnell ihren Abzug.
Ich aber wußte in meinem Baume droben eigent¬
lich gar nicht recht, wie mir geſchehen, und richtete
nunmehr meine Augen unverwandt auf das Schloß
hin; denn ein Kreis hoher Windlichter unten an den
Stufen des Einganges warf dort einen ſeltſamen
Schein uͤber die blitzenden Fenſter und weit in den Gar¬
ten hinein. Es war die Dienerſchaft, die ſo eben ih¬
rer jungen Herrſchaft ein Staͤndchen brachte. Mitten
unter ihnen ſtand der praͤchtig aufgeputzte Portier wie
ein Staatsminiſter, vor einem Notenpulte, und arbei¬
tete ſich emſig an einem Fagot ab.
Wie ich mich ſo eben zurecht ſetzte, um der ſchoͤ¬
nen Serenade zuzuhoͤren, gingen auf einmal oben auf
dem Balkon des Schloſſes die Fluͤgelthuͤren auf. Ein
hoher Herr, ſchoͤn und ſtattlich in Uniform und mit
vielen funkelnden Sternen, trat auf den Balkon her¬
aus, und an ſeiner Hand — die ſchoͤne junge gnaͤdige
Frau, in ganz weißem Kleide, wie eine Lilie in der
Nacht, oder wie wenn der Mond uͤber das klare Fir¬
mament zoͤge.
Ich konnte keinen Blick von dem Platze verwen¬
den, und Garten, Baͤume und Felder gingen unter
vor meinen Sinnen, wie ſie ſo wunderſam beleuchtet
von den Fackeln, hoch und ſchlank da ſtand, und bald
anmuthig mit dem ſchoͤnen Offizier ſprach, bald wieder
freundlich zu den Muſikanten herunter nickte. Die
Leute unten waren außer ſich vor Freude, und ich hielt
mich am Ende auch nicht mehr und ſchrie immer aus
Leibeskraͤften Vivat mit. —
Als ſie aber bald darauf wieder von dem Balkon
verſchwand, unten eine Fackel nach der andern ver¬
loͤſchte, und die Notenpulte weggeraͤumt wurden, und
nun der Garten rings um her auch wieder finſter
wurde und rauſchte wie vorher — da merkt' ich erſt
alles — da fiel es mir auf einmal auf's Herz, daß
mich wohl eigentlich nur die Tante mit den Blumen
beſtellt hatte, daß die Schoͤne gar nicht an mich dachte
und lange verheirathet iſt, und daß ich ſelber ein gro¬
ßer Narr war.
Alles das verſenkte mich recht in einen Abgrund
von Nachſinnen. Ich wickelte mich, gleich einem Igel,
in die Stacheln meiner eignen Gedanken zuſammen;
vom Schloſſe ſchallte die Tanzmuſik nur noch ſeltner
heruͤber, die Wolken wanderten einſam uͤber den dun¬
keln Garten weg. Und ſo ſaß ich auf dem Baume
droben, wie die Nachteule, in den Ruinen meines Gluͤck's
die ganze Nacht hindurch.
Die kuͤhle Morgenluft weckte mich endlich aus
meinen Traͤumereien. Ich erſtaunte ordentlich, wie ich
ſo auf einmal um mich her blickte. Muſik und Tanz
war lange vorbei, im Schloſſe und rings um das
Schloß herum auf dem Raſenplatze und den ſteinernen
Stufen und Saͤulen ſah alles ſo ſtill, kuͤhl und feier¬
lich aus; nnrnur der Springbrunnen vor dem Eingange
plaͤtſcherte einſam in einem fort. Hin und her in den
Zweigen neben mir erwachten ſchon die Voͤgel, ſchuͤt¬
telten ihre bunten Federn und ſahen, die kleinen Fluͤgel
dehnend, neugierig und verwundert ihren ſeltſamen
Schlafkammeraden an. Froͤhlich ſchweifende Morgen¬
ſtrahlen funkelten uͤber den Garten weg auf meine
Bruſt.
Da richtete ich mich in meinem Baume auf, und
ſah ſeit langer Zeit zum erſtenmale wieder einmal ſo
recht weit in das Land hinaus, wie da ſchon einzelne
Schiffe auf der Donau zwiſchen den Weinbergen her¬
abfuhren, und die noch leeren Landſtraßen wie Bruͤcken
uͤber das ſchimmernde Land ſich fern uͤber die Berge
und Thaͤler hinausſchwangen.
Ich weiß nicht wie es kam — aber mich packte da
auf einmal wieder meine ehemalige Reiſeluſt: alle die
alte Wehmuth und Freude und große Erwartung. Mir
fiel dabei zugleich ein, wie nun die ſchoͤne Frau droben
auf dem Schloſſe zwiſchen Blumen und unter ſeid'nen
Decken ſchlummerte, und ein Engel bei ihr auf dem
Bette ſaͤße in der Morgenſtille. — Nein, rief ich aus,
fort muß ich von hier, und immer fort, ſo weit als
der Himmel blau iſt!
Und hiermit nahm ich mein Koͤrbchen, und warf
es hoch in die Luft, ſo daß es recht lieblich anzuſehen
war, wie die Blumen zwiſchen den Zweigen und auf
dem gruͤnen Raſen unten bunt umher lagen. Dann
ſtieg ich ſelber ſchnell herunter und ging durch den ſtil¬
len Garten auf meine Wohnung zu. Gar oft blieb
ich da noch ſtehen auf manchem Plaͤtzchen, wo ich ſie
ſonſt woblwohl einmal geſehen, oder im Schatten liegend
an Sie gedacht hatte.
In und um mein Haͤuschen ſah alles noch ſo aus,
wie ich es geſtern verlaſſen hatte. Das Gaͤrtchen war
gepluͤndert und wuͤſt, im Zimmer drin lag noch das
große Rechnungsbuch aufgeſchlagen, meine Geige, die
ich ſchon faſt ganz vergeſſen hatte, hing verſtaubt an
der Wand. Ein Morgenſtrahl aber, aus dem gegenuͤber¬
ſtehenden Fenſter, fuhr grade blitzend uͤber die Saiten.
Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. Ja,
ſagt' ich, komm nur her, Du getreues Inſtrument!
Unſer Reich iſt nicht von dieſer Welt! —
Und ſo nahm ich die Geige von der Wand, ließ
Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln, Pfeifen und
Paraſol liegen und wanderte, arm wie ich gekommen
war, aus meinem Haͤuschen und auf der glaͤnzenden
Landſtraße von dannen.
Ich blickte noch oft zuruͤck; mir war gar ſeltſam
zu Muthe, ſo traurig und doch auch wieder ſo uͤber¬
aus froͤhlich, wie ein Vogel, der aus ſeinem Kaͤfig aus¬
reißt. Und als ich ſchon eine weite Strecke gegangen
war, nahm ich draußen im Freien meine Geige vor
und ſang:
Den lieben Gott laß ich nur walten;
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd' und Himmel thut erhalten,
Hat auch mein Sach' auf's Beſt' beſtellt!
Das Schloß, der Garten und die Thuͤrme von
Wien waren ſchon hinter mir im Morgenduft verſun¬
C
ken, uͤber mir jubilirten unzaͤhlige Lerchen hoch in der
Luft; ſo zog ich zwiſchen den gruͤnen Bergen und an
luſtigen Staͤdten und Doͤrfern vorbei gen Italien hin¬
unter.
Drittes Kapitel.
Aber das war nun ſchlimm! Ich hatte noch gar
nicht daran gedacht, daß ich eigentlich den rechten Weg
nicht wußte. Auch war rings umher kein Menſch
zu ſehen in der ſtillen Morgenſtunde, den ich haͤtte
fragen koͤnnen, und nicht weit von mir theilte ſich die
Landſtraße in viele neue Landſtraßen, die gingen weit,
weit uͤber die hoͤchſten Berge fort, als fuͤhrten ſie aus
der Welt hinaus, ſo daß mir ordentlich ſchwindelte,
wenn ich recht hinſah.
Endlich kam ein Bauer des Weges daher, der,
glaub ich, nach der Kirche ging, da es heut eben Sonn¬
tag war, in einem altmodiſchen Ueberrocke mit großen
ſilbernen Knoͤpfen und einem langen ſpaniſchen Rohr
mit einem ſehr maſſiven ſilbernen Stockknopf darauf,
der ſchon von weiten in der Sonne funkelte. Ich frug
ihn ſogleich mit vieler Hoͤflichkeit: „Koͤnnen Sie mir
nicht ſagen, wo der Weg nach Italien geht?“ — Der
Bauer blieb ſtehen, ſah mich an, beſann ſich dann mit
weit vorgeſchobner Unterlippe, und ſah mich wieder
an. Ich ſagte noch einmal: „nach Italien, wo die
Pommeranzen wachſen.“ — „Ach was gehn mich ſeine
Pommeranzen an!“ ſagte der Bauer da, und ſchritt
wacker wieder weiter. Ich haͤtte dem Manne mehr
Konduite zugetraut, denn er ſah recht ſtattlich aus.
Was war nun zu machen? Wieder umkehren und
in mein Dorf zuruͤckgehn? Da haͤtten die Leute mit
den Fingern auf mich gewieſen, und die Jungen waͤ¬
ren um mich herumgeſprungen: Ey, tauſend willkom¬
men aus der Welt! wie ſieht es denn aus in der
Welt? hat er uns nicht Pfefferkuchen mitgebracht aus
der Welt? — Der Portier mit der kurfuͤrſtlichen
Naſe, welcher uͤberhaupt viele Kenntniſſe von der Welt¬
geſchichte hatte, ſagte oft zu mir: „Werthgeſchaͤtzter
Herr Einnehmer! Italien iſt ein ſchoͤnes Land, da ſorgt
der liebe Gott fuͤr alles, da kann man ſich im Son¬
nenſchein auf den Ruͤcken legen, ſo wachſen einem die
Roſinen ins Maul, und wenn einen die Tarantel
beißt, ſo tanzt man mit ungemeiner Gelenkigkeit, wenn
man auch ſonſt nicht tanzen gelernt hat.“ — Nein,
nach Italien, nach Italien! rief ich voller Vergnuͤgen
aus, und rannte, ohne an die verſchiedenen Wege zu
denken, auf der Straße fort, die mir eben vor die
Fuͤße kam.
Als ich eine Strecke ſo fort gewandert war, ſah
ich rechts von der Straße einen ſehr ſchoͤnen Baum¬
garten, wo die Morgenſonne ſo luſtig zwiſchen den
Staͤmmen und Wipfeln hindurch ſchimmerte, daß es
ausſah, als waͤre der Raſen mit goldenen Teppichen
belegt. Da ich keinen Menſchen erblickte, ſtieg ich uͤber
C 2
den niedrigen Gartenzaun und legte mich recht behag¬
lich unter einem Apfelbaum ins Gras, denn von dem
geſtrigen Nachtlager auf dem Baume thaten mir noch
alle Glieder weh. Da konnte man weit in's Land hin¬
ausſehen, und da es Sonntag war, ſo kamen bis aus
der weiteſten Ferne Glockenklaͤnge uͤber die ſtillen Fel¬
der heruͤber und geputzte Landleute zogen uͤberall zwi¬
ſchen Wieſen und Buͤſchen nach der Kirche. Ich war
recht froͤhlich im Herzen, die Voͤgel ſangen uͤber mir
im Baume, ich dachte an meine Muͤhle und an den
Garten der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau, und wie das alles
nun ſo weit weit lag — bis ich zuletzt einſchlummerte.
Da traͤumte mir, als kaͤme die ſchoͤne Fraue aus der
praͤchtigen Gegend unten zu mir gegangen oder eigent¬
lich langſam geflogen zwiſchen den Glockenklaͤngen,
mit langen weißen Schleiern, die im Morgenrothe
wehten. Dann war es wieder, als waͤren wir gar nicht
in der Fremde, ſondern bei meinem Dorfe an der
Muͤhle in den tiefen Schatten. Aber da war alles ſtill
und leer, wie wenn die Leute Sonntag in der Kirche
ſind und nur der Orgelklang durch die Baͤume her¬
uͤber kommt, daß es mir recht im Herzen weh that.
Die ſchoͤne Frau aber war ſehr gut und freundlich, ſie
hielt mich an der Hand und ging mit mir, und ſang
in einemfort in dieſer Einſamkeit das ſchoͤne Lied, das
ſie damals immer fruͤhmorgens am offenen Fenſter zur
Guitarre geſungen hat, und ich ſah dabei ihr Bild in
dem ſtillen Weiher, noch viel tauſendmal ſchoͤner, aber
mit ſonderbaren großen Augen, die mich ſo ſtarr anſa¬
hen, daß ich mich beinah gefuͤrchtet haͤtte. — Da fing
auf einmal die Muͤhle, erſt in einzelnen langſamen
Schlaͤgen, dann immer ſchneller und heftiger an zu
gehen und zu brauſen, der Weiher wurde dunkel und
kraͤuſelte ſich, die ſchoͤne Fraue wurde ganz bleich und
ihre Schleier wurden immer laͤnger und laͤnger und
flatterten entſetzlich in langen Spitzen, wie Nebelſtrei¬
fen, hoch am Himmel empor; das Sauſen nahm im¬
mer mehr zu, oft war es, als blieſe der Portier auf
ſeinem Fagot dazwiſchen, bis ich endlich mit heftigem
Herzklopfen aufwachte.
Es hatte ſich wirklich ein Wind erhoben, der leiſe
uͤber mir durch den Apfelbaum ging; aber was ſo
braußte und rumorte, war weder die Muͤhle noch der
Portier, ſondern derſelbe Bauer, der mir vorhin den
Weg nach Italien nicht zeigen wollte. Er hatte aber
ſeinen Sonntagsſtaat ausgezogen und ſtand in einem
weißen Kamiſol vor mir. „Na,“ ſagte er, da ich mir
noch den Schlaf aus den Augen wiſchte, „will Er et¬
wa hier Poperenzen klauben, daß er mir das ſchoͤne
Gras ſo zertrampelt, anſtatt in die Kirche zu ge¬
hen, Er Faullenzer!“ — Mich aͤrgert' es nur, daß
mich der Grobian aufgeweckt hatte. Ich ſprang ganz
erboßt auf und verſetzte geſchwind: „Was, Er will
mich hier ausſchimpfen? Ich bin Gaͤrtner geweſen, eh'
Er daran dachte, und Einnehmer, und wenn er zur
Stadt gefahren waͤre, haͤtte Er die ſchmierige Schlaf¬
muͤtze vor mir abnehmen muͤſſen, und hatte mein Haus
und meinen rothen Schlafrock mit gelben Punkten.“ —
Aber der Knollfink ſcheerte ſich gar nichts darum, ſon¬
dern ſtemmte beide Arme in die Seiten und ſagte
bloß: „Was will Er denn? he! he!“ Dabei ſah ich,
daß es eigentlich ein kurzer, ſtaͤmmiger, krummbeiniger
Kerl war, und vorſtehende glotzende Augen und eine
rothe etwas ſchiefe Naſe hatte. Und wie er immer
fort nichts weiter ſagte als: „he! — he!“ — und da¬
bei jedesmal einen Schritt naͤher auf mich zukam, da
uͤberfiel mich auf einmal eine ſo kurioſe grausliche
Angſt, daß ich mich ſchnell aufmachte, uͤber den Zaun
ſprang und, ohne mich umzuſehen, immer fort quer¬
feldein lief, daß mir die Geige in der Taſche klang.
Als ich endlich wieder ſtill hielt, um Athem zu
ſchoͤpfen, war der Garten und das ganze Thal nicht
mehr zu ſehen, und ich ſtand in einem ſchoͤnen Walde.
Aber ich gab nicht viel darauf acht, denn jetzt aͤrgerte
mich das Spektakel erſt recht, und daß der Kerl mich
immer Er nannte, und ich ſchimpfte noch lange im
Stillen fuͤr mich. In ſolchen Gedanken ging ich
raſch fort und kam immer mehr von der Landſtraße ab,
mitten in das Gebirge hinein. Der Holzweg, auf dem
ich fortgelaufen war, hoͤrte auf und ich hatte nur noch
einen kleinen wenig betretenen Fußſteig vor mir. Rings¬
um war Niemand zu ſehen und kein Laut zu verneh¬
men. Sonſt aber war es recht anmuthig zu gehn, die
Wipfel der Baͤume rauſchten und die Voͤgel ſangen
ſehr ſchoͤn. Ich befahl mich daher Gottes Fuͤhrung,
zog meine Violine hervor und ſpielte alle meine lieb¬
ſten Stuͤcke durch, daß es recht froͤhlich in dem einſa¬
men Walde erklang.
Mit dem Spielen ging es aber auch nicht lange,
denn ich ſtolperte dabei jeden Augenblick uͤber die fata¬
len Baumwurzeln, auch fing mich zuletzt an zu hun¬
gern, und der Wald wollte noch immer gar kein Ende
nehmen. So irrte ich den ganzen Tag herum, und
die Sonne ſchien ſchon ſchief zwiſchen den Baumſtaͤm¬
men hindurch, als ich endlich in ein kleines Wieſenthal
hinaus kam, das rings von Bergen eingeſchloſſen und
voller rother und gelber Blumen war, uͤber denen un¬
zaͤhlige Schmetterlinge im Abendgolde herum flatterten.
Hier war es ſo einſam, als laͤge die Welt wohl hun¬
dert Meilen weit weg. Nur die Heimchen zirpten,
und ein Hirt lag druͤben im hohen Graſe und blies
ſo melancholiſch auf ſeiner Schalmei, daß einem das
Herz vor Wehmuth haͤtte zerſpringen moͤgen. Ja,
dachte ich bei mir, wer es ſo gut haͤtte, wie ſo ein
Faullenzer! unſer einer muß ſich in der Fremde her¬
umſchlagen und immer attent ſeyn. — Da ein ſchoͤnes
klares Fluͤßchen zwiſchen uns lag, uͤber das ich nicht
heruͤber konnte, ſo rief ich ihm von weiten zu: wo hier
das naͤchſte Dorf laͤge? Er ließ ſich aber nicht ſtoͤren,
ſondern ſtreckte nur den Kopf ein wenig aus dem Graſe
hervor, wies mit ſeiner Schalmei auf den andern Wald
hin und blies ruhig wieder weiter.
Unterdeß marſchirte ich fleißig fort, denn es fing
ſchon an zu daͤmmern. Die Voͤgel, die alle noch ein
großes Geſchrei gemacht hatten, als die letzten Sonnen¬
ſtrahlen durch den Wald ſchimmerten, wurden auf ein¬
mal ſtill, und mir fing beinah an angſt zu werden,
in dem ewigen einſamen Rauſchen der Waͤlder. End¬
lich hoͤrte ich von ferne Hunde bellen. Ich ſchritt ra¬
ſcher fort, der Wald wurde immer lichter und lichter,
und bald darauf ſah ich zwiſchen den letzten Baͤumen
hindurch einen ſchoͤnen gruͤnen Platz, auf dem viele
Kinder laͤrmten, und ſich um eine große Linde herum¬
tummelten, die recht in der Mitte ſtand. Weiterhin
an dem Platze war ein Wirthshaus, vor dem einige
Bauern um einen Tiſch ſaßen und Karten ſpielten und
Taback rauchten. Von der andern Seite ſaßen junge
Burſche und Maͤdchen vor der Thuͤr, die die Arme
in ihre Schuͤrzen gewickelt hatten und in der Kuͤhle
mit einander plauderten.
Ich beſann mich nicht lange, zog meine Geige aus
der Taſche, und ſpielte ſchnell einen luſtigen Laͤndler
auf, waͤhrend ich aus dem Walde hervortrat. Die
Maͤdchen verwunderten ſich, die Alten lachten, daß es
weit in den Wald hineinſchallte. Als ich aber ſo bis
zu der Linde gekommen war, und mich mit dem Ruͤ¬
cken dran lehnte, und immer fort ſpielte, da ging ein
heimliches Rumoren und Gewisper unter den jungen
Leuten rechts und links, die Burſche legten endlich
ihre Sonntagspfeifen weg, jeder nahm die Seine, und
eh' ich's mich verſah, ſchwenkte ſich das junge Bauern¬
volk tuͤchtig um mich herum, die Hunde bellten, die
Kittel flogen, und die Kinder ſtanden um mich im
Kreiſe, und ſahen mir neugierig ins Geſicht und auf
die Finger, wie ich ſo fix damit handthierte.
Wie der erſte Schleifer vorbei war, konnte ich erſt
recht ſehen, wie eine gute Muſik in die Gliedmaßen
faͤhrt. Die Bauerburſchen, die ſich vorher, die Pfeifen
im Munde, auf den Baͤnken reckten und die ſteifen
Beine von ſich ſtreckten, waren nun auf einmal wie
umgetauſcht, ließen ihre bunten Schnupftuͤcher vorn
am Knopfloch lang herunter haͤngen und kapriolten ſo
artig um die Maͤdchen herum, daß es eine rechte Luſt
anzuſchauen war. Einer von ihnen, der ſich ſchon fuͤr
was Rechtes hielt, haſpelte lange in ſeiner Weſtenta¬
ſche, damit es die andern ſehen ſollten, und brachte
endlich ein kleines Silberſtuͤck heraus, das er mir in
die Hand druͤcken wollte. Mich aͤrgerte das, wenn ich
gleich dazumal kein Geld in der Taſche hatte. Ich
ſagte ihm, er ſollte nur ſeine Pfennige behalten, ich
ſpielte nur ſo aus Freude, weil ich wieder bei Menſchen
waͤre. Bald darauf aber kam ein ſchmuckes Maͤdchen
mit einer großen Stampe Wein zu mir. „Muſikanten
trinken gern,“ ſagte ſie, und lachte mich freundlich an,
und ihre perlweißen Zaͤhne ſchimmerten recht ſcharmant
zwiſchen den rothen Lippen hindurch, ſo daß ich ſie
wohl haͤtte darauf kuͤſſen moͤgen. Sie tunkte ihr
Schnaͤbelchen in den Wein, wobei ihre Augen uͤber das
Glas weg auf mich heruͤber funkelten, und reichte mir
darauf die Stampe hin. Da trank ich das Glas bis
auf den Grund aus, und ſpielte dann wieder von
Friſchem, daß ſich alles luſtig um mich herumdrehte.
Die Alten waren unterdeß von ihrem Spiel auf¬
gebrochen, die jungen Leute fingen auch an muͤde zu
werden und zerſtreuten ſich, und ſo wurde es nach und
nach ganz ſtill und leer vor dem Wirthshauſe. Auch
das Maͤdchen, das mir den Wein gereicht hatte, ging
nun nach dem Dorfe zu, aber ſie ging ſehr langſam,
und ſah ſich zuweilen um, als ob ſie was vergeſſen
haͤtte. Endlich blieb ſie ſtehen und ſuchte etwas auf
der Erde, aber ich ſah wohl, daß ſie, wenn ſie ſich
buͤckte, unter dem Arme hindurch nach mir zuruͤck¬
blickte. Ich hatte auf dem Schloſſe Lebensart ge¬
lernt, ich ſprang alſo geſchwind herzu und ſagte:
„Haben Sie etwas verloren, ſchoͤnſte Mamſell?“ —
„Ach nein,“ ſagte ſie und wurde uͤber und uͤber roth,
„es war nur eine Roſe — will Er ſie haben?“ — Ich
dankte und ſteckte die Roſe ins Knopfloch. Sie ſah
mich ſehr freundlich an und ſagte: „Er ſpielt recht
ſchoͤn,“ — „Ja,“ verſetzte ich, „das iſt ſo eine Gabe
Gottes.“ — „Die Muſikanten ſind hier in der Ge¬
gend ſehr rar,“ hub das Maͤdchen dann wieder an und
ſtockte und hatte die Augen beſtaͤndig niedergeſchlagen.
„Er koͤnnte ſich hier ein gutes Stuͤck Geld verdienen —
auch mein Vater ſpielt etwas die Geige und hoͤrt gern
von der Fremde erzaͤhlen — und mein Vater iſt ſehr
reich.“ — Dann lachte ſie auf nndund ſagte: „Wenn Er
nur nicht immer ſolche Grimaſſen machen moͤchte, mit
dem Kopfe, beim Geigen!“ — „Theuerſte Jungfer,“
erwiederte ich, „erſtlich: nennen Sie mich nur nicht
immer Er; ſodann mit dem Kopf-Tremulentzen, das iſt
einmal nicht anders, das haben wir Virtuoſen alle ſo
an uns.“ — „Ach ſo!“ entgegnete das Maͤdchen. Sie
wollte noch etwas mehr ſagen, aber da entſtand auf
einmal ein entſetzliches Gepolter im Wirthshauſe, die
Hausthuͤre ging mit großem Gekrache auf und ein
duͤnner Kerl kam wie ein ausgeſchoßner Ladſtock her¬
ausgeflogen, worauf die Thuͤr ſogleich wieder hinter
ihm zugeſchlagen wurde.
Das Maͤdchen war bei dem erſten Geraͤuſch wie
ein Reh davon geſprungen und im Dunkel verſchwun¬
den. Die Figur vor der Thuͤr aber raffte ſich hurtig
wieder vom Boden auf und fing nun an mit ſolcher
GeſchindigkeitGeſchwindigkeit gegen das HansHaus loszuſchimpfen, daß es
ordentlich zum Erſtaunen war. „Was!“ ſchrie er, „ich
beſoffen? ich die Kreideſtriche an der verraͤucherten Thuͤr
nicht bezahlen? Loͤſcht ſie aus, loͤſcht ſie aus! Hab' ich
Euch nicht erſt geſtern uͤber'n Kochloͤffel balbirt und
in die Naſe geſchnitten, daß Ihr mir den Loͤffel morſch
entzwei gebiſſen habt? Balbieren macht einen Strich —
Kochloͤffel, wieder ein Strich — Pflaſter auf die Naſe,
noch ein Strich — wieviel ſolche hundsfoͤttiſche Stri¬
che wollt Ihr denn noch bezahlt haben? Aber gut,
ſchon gut! ich laſſe das ganze Dorf, die ganze Welt
ungeſchoren. Lauf't meinetwegen mit Euren Baͤrten,
daß der liebe Gott am juͤngſten Tage nicht weiß, ob
Ihr Juden ſeid oder Chriſten! Ja, haͤngt Euch an
Euren eignen Baͤrten auf, Ihr zottigen Landbaͤren!“
Hier brach er auf einmal in ein jaͤmmerliches Weinen
aus und fuhr ganz erbaͤrmlich durch die Fiſtel fort:
„Waſſer ſoll ich ſaufen, wie ein elender Fiſch? iſt das
Naͤchſtenliebe? Bin ich nicht ein Menſch und ein aus¬
gelernter Feldſcheer? Ach, ich bin heute ſo in der
Rage! Mein Herz iſt voller Ruͤhrung und Menſchen¬
liebe!“ Bei dieſen Worten zog er ſich nach und nach
zuruͤck, da im Hauſe alles ſtill blieb. Als er mich er¬
blickte, kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich los,
ich glaube der tolle Kerl wollte mich ambraſiren. Ich
ſprang aber auf die Seite, und ſo ſtolperte er weiter,
und ich hoͤrte ihn noch lange, bald grob bald fein,
durch die Finſterniß mit ſich diskuriren.
Mir aber ging mancherlei im Kopfe herum. Die
Jungfer, die mir vorhin die Roſe geſchenkt hatte, war
jung, ſchoͤn und reich — ich konnte da mein Gluͤck
machen, eh' man die Hand umkehrte. Und Hammel
und Schweine, Puter und fette Gaͤnſe mit Aepfeln ge¬
ſtopft — ja, es war mir nicht anders, als ſaͤh' ich den
Portier auf mich zukommen: „Greif zu, Einnehmer,
greif zu! jung gefreit hat Niemand gereut, wer's Gluͤck
hat, fuͤhrt die Braut heim, bleibe im Lande und naͤhre
Dich tuͤchtig.“ In ſolchen philoſophiſchen Gedanken
ſetzte ich mich auf dem Platze, der nun ganz einſam
war, auf einen Stein nieder, denn an das Wirthshaus
anzuklopfen traute ich mich nicht, weil ich kein Geld
bei mir hatte. Der Mond ſchien praͤchtig, von den
Bergen rauſchten die Waͤlder durch die ſtille Nacht
heruͤber, manchmal ſchlugen im Dorfe die Hunde an,
das weiter im Thale unter Baͤumen und Mondſchein
wie begraben lag. Ich betrachtete das Firmament, wie
da einzelne Wolken langſam durch den Mondſchein zo¬
gen und manchmal ein Stern weit in der Ferne her¬
unterfiel. So, dachte ich, ſcheint der Mond auch uͤber
meines Vaters Muͤhle und auf das weiße graͤfliche
Schloß. Dort iſt nun auch ſchon alles lange ſtill, die
gnaͤdige Frau ſchlaͤft, und die Waſſerkuͤnſte und Baͤu¬
me im GarteuGarten rauſchen noch immer fort wie damals,
und allen iſt's gleich, ob ich noch da bin, oder in der
Fremde, oder geſtorben. — Da kam mir die Welt auf
einmal ſo entſetzlich weit und groß vor, und ich ſo
ganz allein darin, daß ich aus Herzensgrunde haͤtte
weinen moͤgen.
Wie ich noch immer ſo daſitze, hoͤre ich auf ein¬
mal aus der Ferne Hufſchlag im Walde. Ich hielt den
Athem an und lauſchte, da kam es immer naͤher und
naͤher, und ich konnte ſchon die Pferde ſchnauben hoͤ¬
ren. Bald darauf kamen auch wirklich zwei Reiter
unter den Baͤumen hervor, hielten aber am Saume des
Waldes an und ſprachen heimlich ſehr eifrig miteinan¬
der, wie ich an den Schatten ſehen konnte, die ploͤtzlich
uͤber den mondbeglaͤnzten Platz vorſchoſſen, und mit
langen dunklen Armen bald dahin bald dorthin wie¬
ſen. — Wie oft, wenn mir zu Hauſe meine verſtor¬
bene Mutter von wilden Waͤldern und martialiſchen
Raͤubern erzaͤhlte, hatte ich mir ſonſt immer heimlich
gewuͤnſcht, eine ſolche Geſchichte ſelbſt zu erleben. Da
hatt' ich's nun auf einmal fuͤr meine dummen frevel¬
muͤthigen Gedanken! — Ich ſtreckte mich nun an
dem Lindenbaum, unter dem ich geſeßen, ganz unmerk¬
lich ſo lang aus, als ich nur konnte, bis ich den erſten
Aſt erreicht hatte und mich geſchwinde hinaufſchwang.
Aber ich baumelte noch mit halbem Leibe uͤber dem
Aſte und wollte ſo eben auch meine Beine nachholen,
als der eine von den Reitern raſch hinter mir uͤber den
Platz daher trabte. Ich druͤckte nun die Augen feſt
zu in dem dunkeln Laube, und ruͤhrte und regte mich
nicht. — „Wer iſt da?“ rief es auf einmal dicht hin¬
ter mir. „Niemand!“ ſchrie ich aus Leibeskraͤften vor
Schreck, daß er mich doch noch erwiſcht hatte. Ins¬
geheim mußte ich aber doch bei mir lachen, wie die
Kerls ſich ſchneiden wuͤrden, wenn ſie mir die leeren
Taſchen umdrehten. — „Ey, ey,“ ſagte der Raͤuber
wieder, „wem gehoͤren denn aber die zwei Beine, die
da herunter haͤngen?“ — Da half nichts mehr.
„Nichts weiter“ verſetzte ich, „als ein paar arme, ver¬
irrte Muſikantenbeine,“ und ließ mich raſch wieder auf
den Boden herab, denn ich ſchaͤmte mich auch, laͤnger
wie eine zerbrochene Gabel da uͤber dem Aſte zu haͤngen.
Das Pferd des Reiters ſcheute, als ich ſo ploͤtzlich
vom Baume herunterfuhr. Er klopfte ihm den Hals
und ſagte lachend: „Nun wir ſind auch verirrt, da
ſind wir rechte Kammeraden; ich daͤchte alſo, Du haͤl¬
feſt uns ein wenig den Weg nach B. aufſuchen. Es
ſoll Dein Schade nicht ſeyn.“ Ich hatte nun gut be¬
theuern, daß ich gar nicht wuͤßte, wo B. laͤge, daß ich
lieber hier im Wirthshauſe fragen, oder ſie in das
Dorf hinunter fuͤhren wollte. Der Kerl nahm gar
keine Raiſon an. Er zog ganz ruhig eine Piſtole aus
dem Gurt, die recht huͤbſch im Mondſchein funkelte.
„Mein Liebſter,“ ſagte er dabei ſehr freundſchaftlich zu
mir, waͤhrend er bald den Lauf der Piſtole abwiſchte,
bald wieder pruͤfend an die Augen hielt, „mein Lieb¬
ſter, Du wirſt wohl ſo gut ſeyn, ſelber nach B. vor¬
auszugehn.“
Da war ich nun recht uͤbel daran. Traf ich den
Weg, ſo kam ich gewiß zu der Raͤuberbande und be¬
kam Pruͤgel, da ich kein Geld bei mir hatte, traf ich
ihn nicht — ſo bekam ich auch Pruͤgel. Ich beſann
mich alſo nicht lange und ſchlug den erſten beſten Weg
ein, der an dem Wirthshauſe voruͤber vom Dorfe ab¬
fuͤhrte. Der Reiter ſprengte ſchnell zu ſeinem Beglei¬
ter zuruͤck, und beide folgten mir dann in einiger Ent¬
fernung langſam nach. So zogen wir eigentlich recht
naͤrriſch auf gut Gluͤck in die mondhelle Nacht hinein.
Der Weg lief immerfort im Walde an einem Berges¬
hange fort. Zuweilen konnte man uͤber die Tannen¬
wipfel, die von unten herauflangten und ſich dunkel
ruͤhrten, weit in die tiefen ſtillen Thaͤler hinausſehen,
hin und her ſchlug eine Nachtigall, Hunde bellten in
der Ferne in den Doͤrfern. Ein Fluß rauſchte beſtaͤn¬
dig aus der Tiefe und blitzte zuweilen im Mondſchein
auf. Dabei das einfoͤrmige Pferdegetrappel und das
Wirren und Schwirren der Reiter hinter mir, die un¬
aufhoͤrlich in einer fremden Sprache mit einander
plauderten, und das helle Mondlicht und die langen
Schatten der Baumſtaͤmme, die wechſelnd uͤber die bei¬
den Reiter wegflogen, daß ſie mir bald ſchwarz, bald
hell, bald klein, bald wieder rieſengroß vorkamen. Mir
verwirrten ſich ordentlich die Gedanken, als laͤge ich
in einem Traum und koͤnnte gar nicht aufwachen. Ich
ſchritt immer ſtramm vor mich hin. Wir muͤſſen, dachte
ich, doch am Ende aus dem Walde und aus der Nacht
herauskommen.
Endlich flogen hin und wieder ſchon lange roͤth¬
liche Scheine uͤber den Himmel, ganz leiſe, wie wenn
man uͤber einen Spiegel haucht, auch eine Lerche ſang
ſchon hoch uͤber dem ſtillen Thale. Da wurde mir auf
einmal ganz klar im Herzen bei dem Morgengruße,
und alle Furcht war voruͤber. Die beiden Reiter aber
ſtreckten ſich, und ſahen ſich nach allen Seiten um,
und ſchienen nun erſt gewahr zu werden, daß wir doch
wohl nicht auf dem rechten Wege ſeyn mochten. Sie
plauderten wieder viel, und ich merkte wohl, daß ſie
von mir ſprachen, ja es kam mir vor, als finge der
eine ſich vor mir zu fuͤrchten an, als koͤnnt ich wohl
gar ſo ein heimlicher Schnaphahn ſeyn, der ſie im
Walde irre fuͤhren wollte. Das machte mir Spaß,
denn je lichter es ringsum wurde, je mehr Courage
kriegt' ich, zumal da wir ſo eben auf einen ſchoͤnen
freien Waldplatz herauskamen. Ich ſah mich daher
nach allen Seiten ganz wild um, und pfiff dann ein
Paarmal auf den Fingern, wie die Spitzbuben thun,
wenn ſie ſich einander Signale geben wollen.
„Halt!“ rief auf einmal der Eine von den Reitern,
daß ich ordentlich zuſammen fuhr. Wie ich mich um¬
ſehe, ſind ſie beide abgeſtiegen und haben ihre Pferde
an einen Baum angebunden. Der Eine kommt aber
raſch auf mich los, ſieht mir ganz ſtarr ins Geſicht,
und faͤngt auf einmal ganz unmaͤßig an zu lachen.
Ich muß geſtehen, mich aͤrgerte das unvernuͤnftige Ge¬
laͤchter. Er aber ſagte: „Wahrhaftig, das iſt der Gaͤrt¬
ner, wollt' ſagen: Einnehmer vom Schloß!“
Ich ſah ihn groß an, wußt' mich aber ſeiner nicht
zu erinnern, haͤtt' auch viel zu thun gehabt, wenn ich
mir alle die jungen Herren haͤtte anſehen wollen, die
auf dem Schloß ab und zu ritten. Er aber fuhr mit
ewigem Gelaͤchter fort: „Das iſt praͤchtig! Du vacirſt,
wie ich ſehe, wir brauchen eben einen Bedienten, bleib
bei uns, da haſt Du ewige Vakanz.“ — Ich war ganz
verbluͤfft und ſagte endlich, daß ich ſo eben auf einer
Reiſe nach Italien begriffen waͤre. — „Nach Ita¬
lien?!“ entgegnete der Fremde, „eben dahin wollen
auch wir!“ — „Nun, wenn das iſt!“ rief ich aus und
zog voller Freude meine Geige aus der Taſche und
ſtrich, daß die Voͤgel im Walde aufwachten. Der Herr
aber erwiſchte geſchwind den andern Herrn und walzte
mit ihm wie verruͤckt auf dem Raſen herum.
Dann ſtanden ſie ploͤtzlich ſtill. „Bei Gott,“ rief
der Eine, „da ſeh' ich ſchon den Kirchthurm von B.!
nun, da wollen wir bald unten ſeyn.“ Er zog ſeine
Uhr heraus und ließ ſie repetiren, ſchuͤttelte mit dem
Kopfe, und ließ noch einmal ſchlagen. „Nein,“ ſagte
er, „das geht nicht, wir kommen ſo zu fruͤh hin, das
koͤnnte ſchlimm werden!“
Darauf holten ſie von ihren Pferden Kuchen, Bra¬
D
ten und Weinflaſchen, breiteten eine ſchoͤne bunte Decke
auf dem gruͤnen Raſen aus, ſtreckten ſich daruͤber hin
und ſchmaußten ſehr vergnuͤglich, theilten auch mir
von Allem ſehr reichlich mit, was mir gar wohl be¬
kam, da ich ſeit einigen Tagen ſchon nicht mehr ver¬
nuͤnftig geſpeißt hatte. — „Und daß Du's weißt,“ ſagte
der Eine zu mir, — „aber Du kennſt uns doch nicht?“ —
ich ſchuͤttelte mit dem Kopfe. — „Alſo, daß Du's weißt:
ich bin der Maler Leonhard, und das dort iſt — wie¬
der ein Maler — Guido geheißen.“
Ich beſah mir nun die beiden Maler genauer bei
der Morgendaͤmmerung. Der Eine, Herr Leonhard,
war groß, ſchlank, braun, mit luſtigen feurigen Augen.
Der Andere war viel juͤnger, kleiner und feiner, auf
altdeutſche Mode gekleidet, wie es der Portier nannte,
mit weißem Kragen und bloßen Hals, um den die
dunkelbraunen Locken herab hingen, die er oft aus dem
huͤbſchen Geſichte wegſchuͤtteln mußte. — Als dieſer
genug gefruͤhſtuͤckt hatte, griff er nach meiner Geige,
die ich neben mir auf den Boden gelegt hatte, ſetzte
ſich damit auf einen umgehauenen Baumaſt, und klim¬
perte darauf mit den Fingern. Dann ſang er dazu ſo
hell wie ein Waldvoͤgelein, daß es mir recht durch's
ganze Herz klang:
Fliegt der erſte Morgenſtrahl
Durch das ſtille Nebelthal,
Rauſcht erwachend Wald und Huͤgel:
Wer da fliegen kann, nimmt Fluͤgel!
Und ſein Huͤtlein in die Luft
Wirft der Menſch vor Luſt und ruft:
Hat Geſang doch auch noch Schwingen,
Nun ſo will ich froͤhlich ſingen!
Dabei ſpielten die roͤthlichen Morgenſcheine recht
anmuthig uͤber ſein etwas blaſſes Geſicht und die
ſchwarzen verliebten Augen. Ich aber war ſo muͤde,
daß ſich mir die Worte und Noten, waͤhrend er ſo ſang,
immer mehr verwirrten, bis ich zuletzt feſt einſchlief.
Als ich nach und nach wieder zu mir ſelber kam,
hoͤrte ich wie im Traume die beiden Maler noch im¬
mer neben mir ſprechen und die Voͤgel uͤber mir ſin¬
gen, und die Morgenſtrahlen ſchimmerten mir durch
die geſchloſſenen Augen, daß mir's innerlich ſo dunkel¬
hell war, wie wenn die Sonne durch rothſeidene Gar¬
dinen ſcheint. Come é bello! hoͤrt' ich da dicht neben
mir ausrufen. Ich ſchlug die Augen auf, und erblickte
den jungen Maler, der im funkelnden Morgenlicht uͤber
mich hergebeugt ſtand, ſo daß beinah nur die großen
ſchwarzen Augen zwiſchen den herabhaͤngenden Locken
zu ſehen waren.
Ich ſprang geſchwind auf, denn es war ſchon hel¬
ler Tag geworden. Der Herr Leonhard ſchien ver¬
druͤßlich zu ſeyn, er hatte zwei zornige Falten auf der
Stirn und trieb haſtig zum Aufbruch. Der andere
Maler aber ſchuͤttelte ſeine Locken aus dem Geſicht
und traͤllerte, waͤhrend er ſein Pferd aufzaͤumte, ruhig
ein Liedchen vor ſich hin, bis Leonhard zuletzt ploͤtzlich
laut auflachte, ſchnell eine Flaſche ergriff, die noch auf
D 2
dem Raſen ſtand und den Reſt in die Glaͤſer ein¬
ſchenkte. „Auf eine gluͤckliche Ankunft!“ rief er aus, ſie
ſtießen mit den Glaͤſern zuſammen, es gab einen ſchoͤ¬
nen Klang. Darauf ſchleuderte Leonhard die leere
Flaſche hoch ins Morgenroth, daß es luſtig in der Luft
funkelte.
Endlich ſetzten ſie ſich auf ihre Pferde, und ich
marſchirte friſch wieder neben her. Gerade vor uns
lag ein unuͤberſehliches Thal, in das wir nun hinun¬
ter zogen. Da war ein Blitzen und Rauſchen und
Schimmern und Jubiliren! Mir war ſo kuͤhl und
froͤhlich zu Muthe, als ſollt' ich von dem Berge in die
praͤchtige Gegend hinausfliegen.
Viertes Kapitel.
Nun Ade, Muͤhle und Schloß und Portier! Nun
ging's, daß mir der Wind am Hute pfiff. Rechts und
links flogen Doͤrfer, Staͤdte und Weingaͤrten vorbei,
daß es einem vor den Augen flimmerte; hinter mir die
beiden Maler im Wagen, vor mir vier Pferde mit
einem praͤchtigen Poſtillon, ich hoch oben auf dem
Kutſchbock, daß ich oft Ellenhoch in die Hoͤhe flog.
Das war ſo zugegangen: Als wir vor B. ankom¬
men, kommt ſchon am Dorfe ein langer, duͤrrer, graͤm¬
licher Herr im gruͤnen Flauſchrock uns entgegen, macht
viele Buͤcklinge vor den Herrn Malern und fuͤhrt uns
in das Dorf hinein. Da ſtand unter den hohen Lin¬
den vor dem Poſthauſe ſchon ein praͤchtiger Wagen mit
vier Poſtpferden beſpannt. Herr Leonhard meinte un¬
terwegs, ich haͤtte meine Kleider ausgewachſen. Er
holte daher geſchwind andere aus ſeinem Mantelſack
hervor, und ich mußte einen ganz neuen ſchoͤnen Frack
und Weſte anziehn, die mir ſehr vornehm zu Geſicht
ſtanden, nur daß mir alles zu lang und weit war und
ordentlich um mich herum ſchlotterte. Auch einen ganz
neuen Hut bekam ich, der funkelte in der Sonne, als
waͤr' er mit friſcher Butter uͤberſchmiert. Dann nahm
der fremde graͤmliche Herr die beiden Pferde der Ma¬
ler am Zuͤgel, die Maler ſprangen in den Wagen, ich
auf den Bock, und ſo flogen wir ſchon fort, als eben
der Poſtmeiſter mit der Schlafmuͤtze aus dem Fenſter
guckte. Der Poſtillon bließ luſtig auf dem Horne, und
ſo ging es friſch nach Italien hinein.
Ich hatte eigentlich da droben ein praͤchtiges Le¬
ben, wie der Vogel in der Luft, und brauchte doch
dabei nicht ſelbſt zu fliegen. Zu thun hatte ich auch
weiter nichts, als Tag und Nacht auf dem Bocke zu
ſitzen, und bei den Wirthshaͤuſern manchmal Eſſen und
Trinken an den Wagen herauszubringen, denn die Ma¬
ler ſprachen nirgends ein, und bei Tage zogen ſie die
Fenſter am Wagen ſo feſt zu, als wenn die Sonne ſie
erſtechen wollte. Nur zuweilen ſteckte der Herr Guido
ſein huͤbſches Koͤpfchen zum Wagenfenſter heraus und
diskurirte freundlich mit mir, und lachte dann den
Herrn Leonhard aus, der das nicht leiden wollte, und
jedesmal uͤber die langen Diskurſe boͤſe wurde. Ein
paarmal haͤtte ich bald Verdruß bekommen mit meinem
Herrn. Das einemal, wie ich bei ſchoͤner, ſternklarer
Nacht droben auf dem Bock die Geige zu ſpielen an¬
fing, und ſodann ſpaͤterhin wegen des Schlafes. Das
war aber auch ganz zum Erſtaunen! Ich wollte mir
doch Italien recht genau beſehen, und riß die Augen
alle Viertelſtunden weit auf. Aber kaum hatte ich ein
Weilchen ſo vor mich hingeſehen, ſo verſchwirrten und
verwickelten ſich mir die ſechszehn Pferdefuͤße vor mir
wie Filet ſo hin und her und uͤbers Kreuz, daß mir
die Augen gleich wieder uͤbergingen, und zuletzt gerieth
ich in ein ſolches entſetzliches und unaufhaltſames
Schlafen, daß gar kein Rath mehr war. Da mocht'
es Tag oder Nacht, Regen oder Sonnenſchein, Tyrol
oder Italien ſeyn, ich hing bald rechts, bald links,
bald ruͤcklings uͤber den Bock herunter, ja manchmal
tunkte ich mit ſolcher Vehementz mit dem Kopfe nach
dem Boden zu, daß mir der Hut weit vom Kopfe flog,
und der Herr Guido im Wagen laut aufſchrie.
So war ich, ich weiß ſelbſt nicht wie, durch halb
Welſchland, das ſie dort Lombardey nennen, durchge¬
kommen, als wir an einem ſchoͤnen Abend vor einem
Wirthshauſe auf dem Lande ſtillhielten. Die Poſt-
Pferde waren in dem daranſtoßenden Stations-Dorfe
erſt nach ein paar Stunden beſtellt, die Herren Maler
ſtiegen daher aus und ließen ſich in ein beſonderes
Zimmer fuͤhren, um hier ein wenig zu raſten und einige
Briefe zu ſchreiben. Ich aber war ſehr vergnuͤgt dar¬
uͤber, und verfuͤgte mich ſogleich in die Gaſtſtube, um
endlich wieder einmal ſo recht mit Ruhe und Komo¬
ditaͤt zu eſſen und zu trinken. Da ſah es ziemlich luͤ¬
derlich aus. Die Maͤgde gingen mit zerzottelten Haa¬
ren herum, und hatten die offnen Halstuͤcher unordent¬
lich um das gelbe Fell haͤngen. Um einen runden Tiſch
ſaßen die Knechte vom Hauſe in blauen Ueberzieh-
Hemden beim Abendeſſen, und glotzten mich zuweilen
von der Seite an. Die hatten alle kurze, dicke Haar¬
zoͤpfe und ſahen ſo recht vornehm wie junge Herrlein
aus. — Da biſt Du nun, dachte ich bei mir, und aß
fleißig fort, da biſt Du nun endlich in dem Lande,
woher immer die kurioſen Leute zu unſerm Herrn
Pfarrer kamen, mit Mauſefallen und Barometern und
Bildern. Was der Menſch doch nicht alles erfaͤhrt,
wenn er ſich einmal hinterm Ofen hervormacht!
Wie ich noch eben ſo eſſe und meditire, wuſcht ein
Maͤnnlein, das bis jetzt in einer dunklen Ecke der
Stube bei ſeinem Glaſe Wein geſeſſen hatte, auf ein¬
mal aus ſeinem Winkel wie eine Spinne auf mich los.
Er war ganz kurz und bucklicht, hatte aber einen gro¬
ßen graußlichen Kopf mit einer langen roͤmiſchen Ad¬
lernaſe und ſparſamen rothen Backenbart, und die ge¬
puderten Haare ſtanden ihm von allen Seiten zu Berge,
als wenn der Sturmwind durchgefahren waͤre. Da¬
bei trug er einen altmodiſchen, verſchoſſenen Frack,
kurze pluͤſchene Beinkleider und ganz vergelbte ſeidene
Struͤmpfe. Er war einmal in Deutſchland geweſen,
und dachte Wunder wie gut er deutſch verſtuͤnde. Er
ſetzte ſich zu mir und frug bald das, bald jenes, waͤh¬
rend er immerfort Taback ſchnupfte: ob ich der Ser¬
vitore ſey? wenn wir arriware? ob wir nach Roma kehn?
aber das wußte ich alles ſelber nicht, und konnte auch
ſein Kauderwelſch gar nicht verſtehn. „Parlez vous
françois?“ ſagte ich endlich in meiner Angſt zu ihm.
Er ſchuͤttelte mit dem großen Kopfe, und das war mir
ſehr lieb, denn ich konnte ja auch nicht franzoͤſiſch.
Aber das half alles nichts. Er hatte mich einmal recht
auf's Korn genommen, er frug und frug immer wie¬
der; je mehr wir parlierten, je weniger verſtand einer
den andern, zuletzt wurden wir beide ſchon hitzig, ſo
daß mir's manchmal vorkam, als wollte der Signor
mit ſeiner Adlernaſe nach mir hacken, bis endlich die
Maͤgde, die den babiloniſchen Diſkurs mit angehoͤrt
hatten, uns beide tuͤchtig auslachten. Ich aber legte
ſchnell Meſſer und Gabel hin und ging vor die Haus¬
thuͤr hinaus. Denn mir war in dem fremden Lande
nicht anders, als waͤre ich mit meiner deutſchen Zunge
tauſend Klafter tief ins Meer verſenkt, und allerlei
unbekanntes Gewuͤrm ringelte ſich und rauſchte da in
der Einſamkeit um mich her, und glotzte und ſchnappte
nach mir.
Draußen war eine warme Sommernacht, ſo recht
um paſſatim zu gehn. Weit von den Weinbergen her¬
uͤber hoͤrte man noch zuweilen einen Winzer ſingen,
dazwiſchen blitzte es manchmal von ferne, und die
ganze Gegend zitterte und ſaͤuſelte im Mondenſchein.
Ja manchmal kam es mir vor, als ſchluͤpfte eine lange
dunkle Geſtalt hinter den Haſelnußſtraͤuchen vor dem
Hauſe voruͤber und guckte durch die Zweige, dann war
alles auf einmal wieder ſtill. — Da trat der Herr
Guido eben auf den Balkon des Wirthshauſes heraus.
Er bemerkte mich nicht, und ſpielte ſehr geſchickt auf
einer Zitter, die er im Hauſe gefunden haben mußte,
und ſang dann dazu wie eine Nachtigall.
Schweigt der Menſchen laute Luſt:
Rauſcht die Erde wie in Traͤumen
Wunderbar mit allen Baͤumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es ſchweifen leiſe Schauer
Wetterleuchtend durch die Bruſt.
Ich weiß nicht, ob er noch mehr geſungen haben
mag, denn ich hatte mich auf die Bank vor der Haus¬
thuͤr hingeſtreckt, und ſchlief in der lauen Nacht vor
großer Ermuͤdung feſt ein.
Es mochten wohl ein paar Stunden ins Land ge¬
gangen ſeyn, als mich ein Poſthorn aufweckte, das lange
Zeit luſtig in meine Traͤume hereinblies, ehe ich mich
voͤllig beſinnen konnte. Ich ſpraugſprang endlich auf, der
Tag daͤmmerte ſchon an den Bergen, und die Mor¬
genkuͤhle rieſelte mir durch alle Glieder. Da fiel mir
erſt ein, daß wir ja um dieſe Zeit ſchon wieder weit
fort ſeyn wollten. Aha, dachte ich, heut iſt einmal das
Wecken und Auslachen an mir. Wie wird der Herr
Guido mit dem verſchlafenen Lockenkopfe herausfahren,
wenn er mich draußen hoͤrt! So ging ich in den klei¬
nen Garten am Hauſe dicht unter die Fenſter, wo
meine Herren wohnten, dehnte mich noch einmal recht
ins Morgenroth hinein und ſang froͤhlichen Muthes:
Wenn der Hoppevogel ſchreit,
Iſt der Tag nicht mehr weit,
Wenn die Sonne ſich aufthut,
Schmeckt der Schlaf noch ſo gut! —
Das Fenſter war offen, aber es blieb alles ſtill oben,
nur der Nachtwind ging noch durch die Weinranken,
die ſich bis in das Fenſter hineinſtreckten. — Nun was
ſoll denn das wieder bedeuten? rief ich voll Erſtaunen
aus, und lief in das Haus und durch die ſtillen
Gaͤnge nach der Stube zu. Aber da gab es mir einen
rechten Stich ins Herz. Denn wie ich die Thuͤre auf¬
reiße, iſt alles leer, darin kein Frack, kein Hut, kein
Stiefel. — Nur die Zitter, auf der Herr Guido
geſtern geſpielt hatte, hing an der Wand, auf dem Ti¬
ſche mitten in der Stube lag ein ſchoͤner voller Geld¬
beutel, worauf ein Zettel geklebt war. Ich hielt ihn
naͤher ans Fenſter, und traute meinen Augen kaum,
es ſtand wahrhaftig mit großen Buchſtaben darauf:
Fuͤr den Herrn Einnehmer!
Was war mir aber das alles nuͤtze, wenn ich meine
lieben luſtigen Herrn nicht wieder fand? Ich ſchob den
Beutel in meine tiefe Rocktaſche, das plumpte wie in
einen tiefen Brunn, daß es mich ordentlich hinten uͤber
zog. Dann rannte ich hinaus, machte einen großen
Laͤrm und weckte alle Knechte und Maͤgde im Hauſe.
Die wußten gar nicht, was ich wollte, und meinten,
ich waͤre verruͤckt geworden. Dann aber verwunderten
ſie ſich nicht wenig, als ſie oben das leere Neſt ſahen.
Niemand wußte etwas von meinen Herren. Nur die
eine Magd — wie ich aus ihren Zeichen und Geſtiku¬
lationen zuſammenbringen konnte — hatte bemerkt,
daß der Herr Guido, als er geſtern Abends auf dem
Balkon ſang, auf einmal laut aufſchrie, und dann ge¬
ſchwind zu dem andern Herrn in das Zimmer zuruͤck¬
ſtuͤrzte. Als ſie hernach in der Nacht einmal auf¬
wachte, hoͤrte ſie draußen Pferdegetrappel. Sie guckte
durch das kleine Kammerfenſter und ſah den bucklich¬
ten Signor, der geſtern ſo viel mit mir geſprochen
hatte, auf einem Schimmel im Mondſchein quer uͤbers
Feld gallopiren, daß er immer Ellen hoch uͤberm Sattel
in die Hoͤhe flog und die Magd ſich bekreuzte, weil es
ausſah, wie ein Geſpenſt, das auf einem dreibeinigen
Pferde reitet. — Da wußt' ich nun gar nicht, was
ich machen ſollte.
Unterdeß aber ſtand unſer Wagen ſchon lange vor
der Thuͤre angeſpannt und der Poſtillon ſtieß ungedul¬
dig ins Horn, daß er haͤtte berſten moͤgen, denn er
mußte zur beſtimmten Stunde auf der naͤchſten Sta¬
tion ſeyn, da alles durch Laufzettel bis auf die Minute
voraus beſtellt war. Ich rannte noch einmal um das
ganze Haus herum und rief die Maler, aber Niemand
gab Antwort, die Leute aus dem Hauſe liefen zuſam¬
men und gafften mich an, der Poſtillon fluchte, die
Pferde ſchnaubten, ich, ganz verbluͤfft, ſpringe endlich
geſchwind in den Wagen hinein, der Hausknecht ſchlaͤgt
die Thuͤre hinter mir zu, der Poſtillon knallt und ſo
ging's mit mir fort in die weite Welt hinein.
Fuͤnftes Kapitel.
Wir fuhren nun uͤber Berg und Thal Tag und
Nacht immer fort. Ich hatte gar nicht Zeit, mich zu
beſinnen, denn wo wir hinkamen, ſtanden die Pferde
angeſchirrt, ich konnte mit den Leuten nicht ſprechen,
mein Demonſtriren half alſo nichts; oft, wenn ich im
Wirthshauſe eben beim beſten Eſſen war, bließ der Po¬
ſtillon, ich mußte Meſſer und Gabel wegwerfen und
wieder in den Wagen ſpringen, und wußte doch eigent¬
lich gar nicht, wohin und weswegen ich juſt mit ſo
ausnehmender Geſchwindigkeit fortreiſen ſollte.
Sonſt war die Lebensart gar nicht ſo uͤbel. Ich
legte mich, wie auf einem Kanapee, bald in die eine,
bald in die andere Ecke des Wagens, und lernte Men¬
ſchen und Laͤnder kennen, und wenn wir durch Staͤdte
fuhren, lehnte ich mich auf beide Arme zum Wagen¬
fenſter heraus und dankte den Leuten, die hoͤflich vor
mir den Hut abnahmen oder ich gruͤßte die Maͤdchen
an den Fenſtern wie ein alter Bekannter, die ſich dann
immer ſehr verwunderten, und mir noch lange neu¬
gierig nachguckten.
Aber zuletzt erſchrak ich ſehr. Ich hatte das Geld
in dem gefundenen Beutel niemals gezaͤhlt, den Poſt¬
meiſtern und Gaſtwirthen mußte ich uͤberall viel be¬
zahlen, und ehe ich mich's verſah, war der Beutel leer.
Anfangs nahm ich mir vor, ſobald wir durch einen ein¬
ſamen Wald fuͤhren, ſchnell aus dem Wagen zu ſprin¬
gen und zu entlaufen. Dann aber that es mir wieder
leid, nun den ſchoͤnen Wagen ſo allein zu laſſen, mit
dem ich ſonſt wohl noch bis ans Ende der Welt fort¬
gefahren waͤre.
Nun ſaß ich eben voller Gedanken und wußte
nicht aus noch ein, als es auf einmal ſeitwaͤrts von
der Landſtraße abging. Ich ſchrie zum Wagen heraus,
auf den Poſtillon: wohin er denn fahre? Aber ich
mochte ſprechen was ich wollte, der Kerl ſagte immer
bloß: „Si, Si, Signore!“ und fuhr immer uͤber Stock
und Stein, daß ich aus einer Ecke des Wagens in die
andere flog.
Das wollte mir gar nicht in den Sinn, denn die
Landſtraße lief grade durch eine praͤchtige Landſchaft
auf die untergehende Sonne zu, wohl wie in ein Meer
von Glanz und Funken. Von der Seite aber, wohin
wir uns gewendet hatten, lag ein wuͤſtes Gebuͤrge vor
uns mit grauen Schluchten, zwiſchen denen es ſchon
lange dunkel geworden war. — Je weiter wir fuhren,
je wilder und einſamer wurde die Gegend. Endlich
kam der Mond hinter den Wolken hervor, und ſchien
auf einmal ſo hell zwiſchen die Baͤume und Felſen
herein, daß es ordentlich grauslich anzuſehen war.
Wir konnten nur langſam fahren in den engen ſteinig¬
ten Schluchten, und das einfoͤrmige ewige Geraſſel des
Wagens ſchallte an den Steinwaͤnden weit in die ſtille
Nacht, als fuͤhren wir in ein großes Grabgewoͤlbe hin¬
ein. Nur von vielen Waſſerfaͤllen, die man aber nicht
ſehen konnte, war ein unaufhoͤrliches Rauſchen tiefer
im Walde, und die Kaͤutzchen riefen aus der Ferne im¬
merfort: „Komm mit, Komm mit!“ — Dabei kam es
mir vor, als wenn der Kutſcher, der, wie ich jetzt erſt
ſah, gar keine Uniform hatte und kein Poſtillon war, ſich
einigemal unruhig umſahe und ſchneller zu fahren an¬
fing, und wie ich mich recht zum Wagen herauslegte,
kam ploͤtzlich ein Reiter aus dem Gebuͤſch hervor,
ſprengte dicht vor unſeren Pferden quer uͤber den Weg,
und verlor ſich ſogleich wieder auf der andern Seite
im Walde. Ich war ganz verwirrt, denn, ſoviel ich
bei dem hellen Mondſchein erkennen konnte, war es
daſſelbe buckliche Maͤnnlein auf ſeinem Schimmel, das
in dem Wirthshauſe mit der Adlernaſe nach mir ge¬
hackt hatte. Der Kutſcher ſchuͤttelte den Kopf und
lachte laut auf uͤber die naͤrriſche Reiterei, wandte ſich
aber dann raſch zu mir um, ſprach ſehr viel und ſehr
eifrig, wovon ich leider nichts verſtand, und fuhr dann
noch raſcher fort.
Ich aber war froh, als ich bald darauf von ferne
ein Licht ſchimmern ſah. Es fanden ſich nach und nach
noch mehrere Lichter, ſie wurden immer groͤßer und
heller, und endlich kamen wir an einigen verraͤucherten
Huͤtten voruͤber, die wie Schwalbenneſter auf dem Fel¬
ſen hingen. Da die Nacht warm war, ſo ſtanden die
Thuͤren offen, und ich konnte darin die hell erleuchte¬
ten Stuben und allerlei lumpiges Geſindel ſehen, das
wie dunkle Schatten um das Heerdfeuer herumhockte.
Wir aber raſſelten durch die ſtille Nacht einen Stein¬
weg hinan, der ſich auf einen hohen Berg hinaufzog.
Bald uͤberdeckten hohe Baͤume und herabhaͤngende
Straͤucher den ganzen Hohlweg, bald konnte man auf
einmal wieder das ganze Firmament, und in der Tiefe
die weite ſtille Runde von Bergen, Waͤldern und Thaͤ¬
lern uͤberſehen. Auf dem Gipfel des Berges ſtand ein
großes altes Schloß mit vielen Thuͤrmen im hellſten
Mondenſchein. — „Nun Gott befohlen!“ rief ich aus,
und war innerlich ganz munter geworden vor Erwar¬
tung, wo ſie mich da am Ende noch hinbringen wuͤrden.
Es dauerte wohl noch eine gute halbe Stunde, ehe
wir endlich auf dem Berge am Schloßthore ankamen.
Das ging in einen breiten runden Thurm hinein, der
oben ſchon ganz verfallen war. Der Kutſcher knallte
dreimal, daß es weit in dem alten Schloſſe wiederhallte,
wo ein Schwarm von Dohlen ganz erſchrocken ploͤtzlich
aus allen Lucken und Ritzen herausfuhr und mit gro¬
ßem Geſchrei die Luft durchkreuzte. Darauf rollte der
Wagen in den langen, dunklen Thorweg hinein. Die
Pferde gaben mit ihren Hufeiſen Feuer auf dem Stein¬
pflaſter, ein großer Hund bellte, der Wagen donnerte
zwiſchen den gewoͤlbten Waͤnden. Die Dohlen ſchrien
noch immer dazwiſchen — ſo kamen wir mit ei¬
nem entſetzlichen Spektakel in den engen gepflaſterten
Schloßhof.
Eine kurioſe Station! dachte ich bei mir, als nun
der Wagen ſtill ſtand. Da wurde die Wagenthuͤr von
draußen aufgemacht, und ein alter langer Mann mit
einer kleinen Laterne ſah mich unter ſeinen dicken Au¬
genbraunen graͤmlich an. Er faßte mich dann unter
den Arm und half mir, wie einem großen Herrn, aus
dem Wagen heraus. Draußen vor der Hausthuͤr ſtand
eine alte, ſehr haͤßliche Frau im ſchwarzen Kamiſol und
Rock, mit einer weißen Schuͤrze und ſchwarzen Haube,
von der ihr ein langer Schnipper bis an die Naſe her¬
unter hing. Sie hatte an der einen Huͤfte einen gro¬
ßen Bund Schluͤſſel haͤngen und hielt in der andern
einen altmodiſchen Armleuchter mit zwei brennenden
Wachskerzen. Sobald ſie mich erblickte, fing ſie an
tiefe Knixe zu machen und ſprach und frug ſehr viel
durcheinander. Ich verſtant aber nichts davon und
machte immerfort Kratzfuͤße vor ihr, und es war mir
eigentlich recht unheimlich zu Muthe.
Der alte Mann hatte unterdeß mit ſeiner Laterne
den Wagen von allen Seiten beleuchtet und brummte
und ſchuͤttelte den Kopf, als er nirgend einen Koffer
oder Bagage fand. Der Kutſcher fuhr darauf, ohne
Trinkgeld von mir zu fordern, den Wagen in einen al¬
ten Schoppen, der auf der Seite des Hofes ſchon offen
ſtand. Die alte Frau aber bat mich ſehr hoͤflich durch
allerlei Zeichen, ihr zu folgen. Sie fuͤhrte mich mit
ihren Wachskerzen durch einen langen ſchmalen Gang,
und dann eine kleine ſteinerne Treppe herauf. Als wir
an der Kuͤche vorbei gingen, ſtreckten ein paar junge
Maͤgde neugierig die Koͤpfe durch die halbgeoͤffnete
Thuͤr und guckten mich ſo ſtarr an, und winkten und
nickten einander heimlich zu, als wenn ſie in ihrem
Leben noch kein Mannsbild geſehen haͤtten. Die Alte
machte endlich oben eine Thuͤre auf, da wurde ich an¬
fangs ordentlich ganz verbluͤfft. Denn es war ein gro¬
ßes ſchoͤnes herrſchaftliches Zimmer mit goldenen Ver¬
zierungen an der Decke, und an den Waͤnden hingen
praͤchtige Tapeten mit allerlei Figuren und großen
Blumen. In der Mitte ſtand ein gedeckter Tiſch mit
Braten, Kuchen, Sallat, Obſt, Wein und Confekt, daß
einem recht das Herz im Leibe lachte. Zwiſchen den
beiden Fenſtern hing ein ungeheurer Spiegel, der vom
Boden bis zur Decke reichte.
Ich muß ſagen, das gefiel mir recht wohl. Ich
ſtreckte mich ein Paarmal und ging mit langen Schrit¬
ten vornehm im Zimmer auf und ab. Dann konnt'
ich aber doch nicht widerſtehen, mich einmal in einem
ſo großen Spiegel zu beſehen. Das iſt wahr, die neuen
Kleider vom Herrn Leonhard ſtanden mir recht ſchoͤn,
auch hatte ich in Italien ſo ein gewiſſes feuriges Auge
bekommen, ſonſt aber war ich grade noch ſo ein Milch¬
bart, wie ich zu Hauſe geweſen war, nur auf der Ober¬
lippe zeigten ſich erſt ein paar Flaumfedern.
Die alte Frau mahlte indeß in einem fort mit ih¬
rem zahnloſen Munde, daß es nicht anders ausſah, als
wenn ſie an der langen herunterhaͤngenden Naſenſpitze
kaute. Dann noͤthigte ſie mich zum Sitzen, ſtreichelte
mir mit ihren duͤrren Fingern das Kinn, nannte mich
poverino! wobei ſie mich aus den rothen Augen ſo
ſchelmiſch anſah, daß ſich ihr der eine Mundwinkel bis
E
an die halbe Wange in die Hoͤhe zog, und ging end¬
lich mit einem tiefen Knix zur Thuͤre hinaus.
Ich aber ſetzte mich zu dem gedeckten Tiſch, waͤh¬
rend eine junge huͤbſche Magd herein trat, um mich
bei der Tafel zu bedienen. Ich knuͤpfte allerlei galan¬
ten Diskurs mit ihr an, ſie verſtand mich aber nicht,
ſondern ſah mich immer ganz kurios von der Seite an,
weil mir's ſo gut ſchmeckte, denn das Eſſen war deli¬
kat. Als ich ſatt war und wieder aufſtand, nahm die
Magd ein Licht von der Tafel und fuͤhrte mich in ein
anderes Zimmer. Da war ein Sopha, ein kleiner Spie¬
gel und ein praͤchtiges Bett mit gruͤn-ſeidenen Vor¬
haͤngen. Ich frug ſie mit Zeichen, ob ich mich da hin¬
einlegen ſollte? Sie nickte zwar: „Ja,“ aber das war
denn doch nicht moͤglich, denn ſie blieb wie angenagelt
bei mir ſtehen. Endlich holte ich mir noch ein großes
Glas Wein aus der Tafelſtube herein und rief ihr zu:
„felicissima notte!“ denn ſo viel hatt' ich ſchon ita¬
lieniſch gelernt. Aber wie ich das Glas ſo auf einmal
ausſtuͤrzte, bricht ſie ploͤtzlich in ein verhaltnes Kichern
aus, wird uͤber und uͤber roth, geht in die Tafelſtube
und macht die Thuͤre hinter ſich zu. „Was iſt da zu
lachen?“ dachte ich ganz verwundert, „ich glaube die
Leute in Italien ſind alle verruͤckt.“
Ich hatte nun nur immer Angſt vor dem Poſtillon,
daß der gleich wieder zu blaſen anfangen wuͤrde. Ich
horchte am Fenſter, aber es war alles ſtille draußen.
Laß ihn blaſen! dachte ich, zog mich aus und legte
mich in das praͤchtige Bett. Das war nicht anders,
als wenn man in Milch und Honig ſchwaͤmme! Vor
den Fenſtern rauſchte die alte Linde im Hofe, zuwei¬
len fuhr noch eine Dohle ploͤtzlich vom Dache auf, bis
ich endlich voller Vergnuͤgen einſchlief.
Sechstes Kapitel.
Als ich wieder erwachte, ſpielten ſchon die erſten
Morgenſtrahlen an den gruͤnen Vorhaͤngen uͤber mir.
Ich konnte mich gar nicht beſinnen, wo ich eigentlich
waͤre. Es kam mir vor, als fuͤhre ich noch immer fort
im Wagen, und es haͤtte mir von einem Schloſſe im
Mondſchein getraͤumt und von einer alten Hexe und
ihrem blaſſen Toͤchterlein.
Ich ſprang endlich raſch aus dem Bette, kleidete
mich an, und ſah mich dabei nach allen Seiten in dem
Zimmer um. Da bemerkte ich eine kleine Tapeten¬
thuͤr, die ich geſtern gar nicht geſehen hatte. Sie war
nur angelehnt, ich oͤffnete ſie, und erblickte ein kleines
nettes Stuͤbchen, das in der Morgendaͤmmerung recht
heimlich ausſah. Ueber einen Stuhl waren Frauen¬
kleider unordentlich hingeworfen, auf einem Bettchen
daneben lag das Maͤdchen, das mir geſtern Abends bei
der Tafel aufgewartet hatte. Sie ſchlief noch ganz
ruhig und hatte den Kopf auf den weißen bloßen Arm
gelegt, uͤber den ihre ſchwarzen Locken herabfielen.
Wenn die wußte, daß die Thuͤr offen war! ſagte ich
zu mir ſelbſt und ging in mein Schlafzimmer zuruͤck,
E 2
waͤhrend ich hinter mir wieder ſchloß und verriegelte,
damit das Maͤdchen nicht erſchrecken und ſich ſchaͤmen
ſollte, wenn ſie erwachte.
Draußen ließ ſich noch kein Laut vernehmen. Nur
ein fruͤherwachtes Waldvoͤglein ſaß vor meinem Fen¬
ſter auf einem Strauch, der aus der Mauer heraus
wuchs, und ſang ſchon ſein Morgenlied. „Nein,“
ſagte ich, „Du ſollſt mich nicht beſchaͤmen und allein
ſo fruͤh und fleißig Gott loben!“ — Ich nahm ſchnell
meine Geige, die ich geſtern auf das Tiſchchen gelegt
hatte, und ging hinaus. Im Schloſſe war noch alles
todtenſtill, und es dauerte lange, ehe ich mich aus den
dunklen Gaͤngen ins Freie heraus fand.
Als ich vor das Schloß heraus trat, kam ich in
einen großen Garten, der auf breiten Terraſſen, wovon
die eine immer tiefer war als die andere, bis auf den
halben Berg herunter ging. Aber das war eine
luͤderliche Gaͤrtnerei. Die Gaͤnge waren alle mit ho¬
hem Graſe bewachſen, die kuͤnſtlichen Figuren von
Buchsbaum waren nicht beſchnitten und ſtreckten, wie
Geſpenſter, lange Naſen oder ellenhohe ſpitzige Muͤtzen
in die Luft hinaus, daß man ſich in der Daͤmmerung
ordentlich davor haͤtte fuͤrchten moͤgen. Auf einige zer¬
brochene Statuen uͤber einer vertrockneten Waſſerkunſt
war gar Waͤſche aufgehaͤngt, hin und wieder hatten ſie
mitten im Garten Kohl gebaut, dann kamen wieder
ein paar ordinaire Blumen, alles unordentlich durch¬
einander, und von hohem wilden Unkraut uͤberwachſen,
zwiſchen dem ſich bunte Eidechſen ſchlaͤngelten. Zwi¬
ſchen den alten hohen Baͤumen hindurch aber war
uͤberall eine weite, einſame Ausſicht, eine Bergkoppe
hinter der andern, ſo weit das Auge reichte.
Nachdem ich ſo ein Weilchen in der Morgen¬
daͤmmerung durch die Wildniß umherſpaziert war, er¬
blickte ich auf der Teraſſe unter mir einen langen
ſchmalen blaſſen Juͤngling in einem langen braunen
Kaputrock, der mit verſchraͤnkten Armen und großen
Schritten auf und ab ging. Er that als ſaͤhe er mich
nicht, ſetzte ſich bald darauf auf eine ſteinerne Bank
hin, zog ein Buch aus der Taſche, las ſehr laut, als
wenn er predigte, ſah dabei zuweilen zum Himmel,
und ſtuͤtzte dann den Kopf ganz melankoliſch auf die
rechte Hand. Ich ſah ihm lange zu, endlich wurde ich
doch neugierig, warum er denn eigentlich ſo abſonder¬
liche Grimaſſen machte, und ging ſchnell auf ihn zu.
Er hatte eben einen tiefen Seufzer ausgeſtoßen und
ſprang erſchrocken auf, als ich ankam. Er war voller
Verlegenheit, ich auch, wir wußten beide nicht, was
wir ſprechen ſollten, und machten immerfort Compli¬
mente voreinander, bis er endlich mit langen Schrit¬
ten in das Gebuͤſch Reißaus nahm. Unterdeß war
die Sonne uͤber dem Walde aufgegangen, ich ſprang
auf die Bank hinauf und ſtrich vor Luſt meine Geige,
daß es weit in die ſtillen Thaͤler herunter ſchallte. Die
Alte mit dem Schluͤſſelbunde, die mich ſchon aͤngſtlich
im ganzen Schloſſe zum Fruͤhſtuͤck aufgeſucht hatte, er¬
ſchien nun auf der Terraſſe uͤber mir, und verwun¬
derte ſich, daß ich ſo artig auf der Geige ſpielen konnte.
Der alte graͤmliche Mann vom Schloſſe fand ſich dazu
und verwunderte ſich ebenfalls, endlich kamen auch noch
die Maͤgde, und Alles blieb oben voller Verwunderung
ſtehen, und ich fingerte und ſchwenkte meinen Fidelbo¬
gen immer kuͤnſtlicher und hurtiger und ſpielte Kaden¬
zen und Variationen, bis ich endlich ganz muͤde wurde.
Das war nun aber doch ganz ſeltſam auf dem
Schloſſe! Kein Menſch dachte da ans Weiterreiſen.
Das Schloß war auch gar kein Wirthshaus, ſondern
gehoͤrte, wie ich von der Magd erfuhr, einem reichen
Grafen. Wenn ich mich dann manchmal bei der Alten
erkundigte, wie der Graf heiße, wo er wohne? Da
ſchmunzelte ſie immer bloß, wie den erſten Abend, da
ich auf das Schloß kam, und kniff und winkte mir ſo
pfiffig mit den Augen zu, als wenn ſie nicht recht bei
Sinne waͤre. Trank ich einmal an einem heißen Tage
eine ganze Flaſche Wein aus, ſo kicherten die Maͤgde
gewiß, wenn ſie die andere brachten, und als mich dann
gar einmal nach einer Pfeife Tabak verlangte, ich ih¬
nen durch Zeichen beſchrieb was ich wollte, da brachen
Alle in ein großes unvernuͤnftiges Gelaͤchter aus. —
Am verwunderlichſten war mir eine Nachtmuſik, die
ſich oft, und grade immer in den finſterſten Naͤchten,
unter meinem Fenſter hoͤren ließ. Es griff auf einer
Guitarre immer nur von Zeit zu Zeit einzelne, ganz
leiſe Klaͤnge. Das einemal aber kam es mir vor, als
wenn es dabei von unten: „pſt! pſt!“ herauf rief. Ich
fuhr daher geſchwind aus dem Bett, und mit dem
Kopf aus dem Fenſter. „Holla! heda! wer iſt da drau¬
ßen?“ rief ich hinunter. Aber es antwortete Niemand,
ich hoͤrte nur etwas ſehr ſchnell durch die Geſtraͤuche
fortlaufen. Der große Hund im Hofe ſchlug uͤber mei¬
nem Laͤrm ein paarmal an, dann war auf einmal alles
wieder ſtill, und die Nachtmuſik ließ ſich ſeit dem nicht
wieder vernehmen.
Sonſt hatte ich hier ein Leben, wie ſich's ein
Menſch nur immer in der Welt wuͤnſchen kann. Der
gute Portier! er wußte wohl was er ſprach, wenn er
immer zu ſagen pflegte, daß in Italien einem die Ro¬
ſinen von ſelbſt in den Mund wuͤchſen. Ich lebte auf
dem einſamen Schloſſe wie ein verwunſchener Prinz.
Wo ich hintrat, hatten die Leute eine große Ehrerbie¬
tung vor mir, obgleich ſie ſchon alle wußten, daß ich
keinen Heller in der Taſche hatte. Ich durfte nur ſa¬
gen: „Tiſchchen deck' Dich!“ ſo ſtanden auch ſchon herr¬
liche Speiſen, Reis, Wein, Melonen und Parmeſan¬
kaͤſe da. Ich lies mir's wohlſchmecken, ſchlief in dem
praͤchtigen Himmelbett, ging im Garten ſpazieren, mu¬
ſizirte und half wohl auch manchmal in der Gaͤrtnerei
nach. Oft lag ich auch StundenlaugStundenlang im Garten im
hohen Graſe, und der ſchmale Juͤngling (es war ein
Schuͤler und Verwandter der Alten, der eben jetzt hier
zur Vakanz war), ging mit ſeinem langen Kaputrock
in weiten Kreiſen um mich herum, und murmelte da¬
bei, wie ein Zauberer, aus ſeinem Buche, woruͤber ich
dann auch jedesmal einſchlummerte. — So verging
ein Tag nach dem andern, bis ich am Ende anfing,
von dem guten Eſſen und Trinken ganz melankoliſch
zu werden. Die Glieder gingen mir von dem ewigen
Nichtsthun ordentlich aus allen Gelenken, und es war
mir, als wuͤrde ich vor Faulheit noch ganz auseinan¬
der fallen.
In dieſer Zeit ſaß ich einmal an einem ſchwuͤlen
Nachmittage im Wipfel eines hohen Baumes, der am
Abhange ſtand, und wiegte mich auf den Aeſten lang¬
ſam uͤber dem ſtillen, tiefen Thale. Die Bienen ſumm¬
ten zwiſchen den Blaͤttern um mich herum, ſonſt war
alles wie ausgeſtorben, kein Menſch war zwiſchen den
Bergen zu ſehen, tief unter mir auf den ſtillen Wald¬
wieſen ruhten die Kuͤhe auf dem hohen Graſe. Aber
ganz von weiten kam der Klang eines Poſthorns uͤber
die waldigen Gipfel heruͤber, bald kaum vernehmbar,
bald wieder heller und deutlicher. Mir fiel dabei auf
einmal ein altes Lied recht aufs Herz, das ich noch zu
Hauſe auf meines Vaters Muͤhle von einem wandern¬
den Handwerksburſchen gelernt hatte, und ich ſang:
Wer in die Fremde will wandern,
Der muß mit der Liebſten gehn,
Es jubeln und laſſen die Andern
Den Fremden alleine ſtehn.
Was wiſſet Ihr, dunkele Wipfeln
Von der alten ſchoͤnen Zeit?
Ach, die Heimath hinter den Gipfeln,
Wie liegt ſie von hier ſo weit.
Am liebſten betracht ich die Sterne,
Die ſchienen, wenn ich ging zu ihr,
Die Nachtigall hoͤr' ich ſo gerne,
Sie ſang vor der Liebſten Thuͤr.
Der Morgen, das iſt meine Freude!
Da ſteig ich in ſtiller Stund'
Auf den hoͤchſten Berg in die Weite,
Gruͤß Dich Deutſchland aus Herzensgrund!
Es war, als wenn mich das Poſthorn bei meinem
Liede aus der Ferne begleiten wollte. Es kam, waͤh¬
rend ich ſang, zwiſchen den Bergen immer naͤher und
naͤher, bis ich es endlich gar oben auf dem Schloßhofe
ſchallen hoͤrte. Ich ſprang raſch vom Baume herun¬
ter. Da kam mir auch ſchon die Alte mit einem ge¬
oͤffneten Pakete aus dem Schloſſe entgegen. „Da iſt auch
etwas fuͤr ſie mitgekommen,“ ſagte ſie, und reichte mir
aus dem Paket ein kleines niedliches Briefchen. Es
war ohne Aufſchrift, ich brach es ſchnell auf. Aber da
wurde ich auch auf einmal im ganzen Geſichte ſo roth,
wie eine Paͤonie, und das Herz ſchlug mir ſo heftig,
daß es die Alte merkte, denn das Briefchen war von —
meiner ſchoͤnen Fraue, von der ich manches Zettelchen
bei dem Herrn Amtmann geſehen hatte. Sie ſchrieb
darin ganz kurz: „Es iſt alles wieder gut, alle Hinder¬
niſſe ſind beſeitigt. Ich benutzte heimlich dieſe Ge¬
legenheit, um die erſte zu ſeyn, die Ihnen dieſe freu¬
dige Botſchaft ſchreibt. Kommen, eilen Sie zuruͤck.
Es iſt ſo oͤde hier und ich kann kaum mehr leben, ſeit
Sie von uns fort ſind. Aurelie.“
Die Augen gingen mir uͤber, als ich das las, vor
Entzuͤcken und Schreck und unſaͤglicher Freude. Ich
ſchaͤmte mich vor dem alten Weibe, die mich wieder
abſcheulich anſchmunzelte, und flog wie ein Pfeil bis
in den allereinſamſten Winkel des Gartens. Dort warf
ich mich unter den Haſelnußſtraͤuchern ins Gras hin,
und las das Briefchen noch einmal, ſagte die Worte
auswendig fuͤr mich hin, und las dann wieder und im¬
mer wieder, und die Sonnenſtrahlen tanzten zwiſchen
den Blaͤttern hindurch uͤber den Buchſtaben, daß ſie
ſich wie goldene und hellgruͤne und rothe Bluͤthen vor
meinen Augen in einander ſchlangen. Iſt ſie am Ende
gar nicht verheirathet geweſen? dachte ich, war der
fremde Offizier damals vielleicht ihr Herr Bruder,
oder iſt er nun todt, oder bin ich toll, oder — „Das
iſt alles einerlei!“ rief ich endlich und ſprang auf, „nun
iſt's ja klar, ſie liebt mich ja, ſie liebt mich!“
Als ich aus dem Geſtraͤuch wieder hervor kroch,
neigte ſich die Sonne zum Untergange. Der Himmel
war roth, die Voͤgel ſangen luſtig in allen Waͤldern,
die Thaͤler waren voller Schimmer, aber in meinem
Herzen war es noch viel tauſendmal ſchoͤner und froͤh¬
licher!
Ich rief in das Schloß hinein, daß ſie mir heut
das Abendeſſen in den Garten herausbringen ſollten.
Die alte Frau, der alte graͤmliche Mann, die Maͤgde,
ſie mußten alle mit heraus und ſich mit mir unter
dem Baume an den gedeckten Tiſch ſetzen. Ich zog
meine Geige hervor und ſpielte und aß und trank da¬
zwiſchen. Da wurden ſie alle luſtig, der alte Mann
ſtrich ſeine graͤmlichen Falten aus dem Geſicht und
ſtieß ein Glas nach dem andern aus, die Alte plau¬
derte in einem fort, Gott weiß was; die Maͤgde fingen
an auf dem Raſen mit einander zu tanzen. Zuletzt
kam auch noch der blaſſe Student neugierig hervor,
warf einige veraͤchtliche Blicke auf das Spektakel, und
wollte ganz vornehm wieder weiter gehen. Ich aber
nicht zu faul, ſprang geſchwind auf, erwiſchte ihn, eh'
er ſich's verſah, bei ſeinem langen Ueberrock, und walzte
tuͤchtig mit ihm herum. Er ſtrengte ſich nnnnun an, recht
zierlich und neumodiſch zu tanzen, und fuͤßelte ſo em¬
ſig und kuͤnſtlich, daß ihm der Schweiß vom Geſicht
herunterfloß und die langen Rockſchoͤße wie ein Rad
um uns herum flogen. Dabei ſah er mich aber manch¬
mal ſo kurios mit verdrehten Augen an, daß ich mich
ordentlich vor ihm zu fuͤrchten anfing und ihn ploͤtzlich
wieder los ließ.
Die Alte haͤtte nun gar zu gern erfahren, was in
dem Briefe ſtand, und warum ich denn eigentlich heut'
auf einmal ſo luſtig war. Aber das war ja viel zu
weitlaͤuftig, um es ihr auseinanderſetzen zu koͤnnen.
Ich zeigte blos auf ein paar Kraniche, die eben hoch
uͤber uns durch die Luft zogen, und ſagte: „ich muͤßte
nun auch ſo fort und immer fort, weit in die Ferne!“ —
Da riß ſie die vertrockneten Augen weit auf, und
blickte, wie ein Baſilisk, bald auf mich, bald auf den
alten Mann hinuͤber. Dann bemerkte ich, wie die bei¬
den heimlich die Koͤpfe zuſammenſteckten, ſo oft ich mich
wegwandte, und ſehr eifrig miteinander ſprachen, und
mich dabei zuweilen von der Seite anſahen.
Das fiel mir auf. Ich ſann hin und her, was ſie
wohl mit mir vorhaben moͤchten. Daruͤber wurde ich
ſtiller, die Sonne war auch ſchon lange untergegan¬
gen, und ſo wuͤnſchte ich Allen gute Nacht und ging
nachdenklich in meine Schlafſtube hinauf.
Ich war innerlich ſo froͤhlich und unruhig, daß
ich noch lange im Zimmer auf und niederging. Drau¬
ßen waͤlzte der Wind ſchwere ſchwarze Wolken uͤber den
Schloßthurm weg, man konnte kaum die naͤchſten Berg¬
koppen in der dicken Finſterniß erkennen. Da kam es
mir vor, als wenn ich im Garten unten Stimmen
hoͤrte. Ich loͤſchte mein Licht aus, und ſtellte mich ans
Fenſter. Die Stimmen ſchienen naͤher zu kommen,
ſprachen aber ſehr leiſe mit einander. Auf einmal gab
eine kleine Laterne, welche die eine Geſtalt unterm
Mantel trug, einen langen Schein. Ich erkannte nun
den graͤmlichen Schloßverwalter und die alte Haus¬
haͤlterin. Das Licht blitzte uͤber das Geſicht der Alten,
das mir noch niemals ſo graͤßlich vorgekommen war,
und uͤber ein langes Meſſer, das ſie in der Hand hielt.
Dabei konnte ich ſehen, daß ſie beide eben nach mei¬
nem Fenſter hinaufſahen. Dann ſchlug der Verwalter
ſeinen Mantel wieder dichter um, und es war bald
Alles wieder finſter und ſtill.
Was wollen die, dachte ich, zu dieſer Stunde noch
draußen im Garten? Mich ſchauderte, denn es fielen
mir alle Mordgeſchichten ein, die ich in meinem Leben
gehoͤrt hatte, von Hexen und Raͤubern, welche Men¬
ſchen abſchlachten, um ihre Herzen zu freſſen. Indem
ich noch ſo nachdenke, kommen Menſchentritte, erſt die
Treppe herauf, dann auf dem langen Gange ganz leiſe,
leiſe auf meine Thuͤre zu, dabei war es, als wenn zu¬
weilen Stimmen heimlich mit einander wisperten. Ich
ſprang ſchnell an das andere Ende der Stube hinter
einen großen Tiſch, den ich, ſobald ſich etwas ruͤhrte,
vor mir aufheben, und ſo mit aller Gewalt auf die
Thuͤre losrennen wollte. Aber in der Finſterniß warf
ich einen Stuhl um, daß es ein entſetzliches Gepolter
gab. Da wurde es auf einmal ganz ſtill draußen. Ich
lauſchte hinter dem Tiſch und ſah immerfort nach der
Thuͤr, als wenn ich ſie mit den Augen durchſtechen
wollte, daß mir ordentlich die Augen zum Kopfe her¬
aus ſtanden. Als ich mich ein Weilchen wieder ſo ru¬
hig verhalten hatte, daß man die Fliegen an der Wand
haͤtte gehen hoͤren, vernahm ich, wie Jemand von drau¬
ßen ganz leiſe einen Schluͤſſel ins Schluͤſſelloch ſteckte.
Ich wollte nun eben mit meinem Tiſche losfahren, da
drehte es den Schluͤſſel langſam dreimal in der Thuͤr
um, zog ihn vorſichtig wieder heraus und ſchnurrte
dann ſachte uͤber den Gang und die Treppe hinunter.
Ich ſchoͤpfte nun tief Athem. Oho, dachte ich, da
haben ſie Dich eingeſperrt, damit ſie's kommode haben,
wenn ich erſt feſt eingeſchlafen bin. Ich unterſuchte
geſchwind die Thuͤr. Es war richtig, ſie war feſt ver¬
ſchloſſen, eben ſo die andere Thuͤr, hinter der die huͤb¬
ſche bleiche Magd ſchlief. Das war noch niemals ge¬
ſchehen, ſo lange ich auf dem Schloſſe wohnte.
Da ſaß ich nun in der Fremde gefangen! Die
ſchoͤne Frau ſtand nun wohl an ihrem Fenſter und ſah
uͤber den ſtillen Garten nach der Landſtraße hinaus
ob ich nicht ſchon am Zollhaͤuschen mit meiner Geige
dahergeſtrichen komme, die Wolken flogen raſch uͤber
den Himmel, die Zeit verging — und ich konnte nicht
fort von hier! Ach, mir war ſo weh im Herzen, ich
wußte gar nicht mehr, was ich thun ſollte. Dabei
war mir's auch immer, wenn die Blaͤtter draußen
rauſchten, oder eine Ratte am Boden knosperte, als
waͤre die Alte durch eine verborgene Tapetenthuͤr heim¬
lich hereingetreten und lauere und ſchleiche leiſe mit
dem langen Meſſer durch's Zimmer.
Als ich ſo voll Sorgen auf dem Bette ſaß, hoͤrte
ich auf einmal ſeit langer Zeit wieder die Nachtmuſik
unter meinen Fenſtern. Bei dem erſten Klange der
Guitarre war es mir nicht anders, als wenn mir ein
Morgenſtrahl ploͤtzlich durch die Seele fuͤhre. Ich riß
das Fenſter auf und rief leiſe herunter, daß ich wach
ſey. „Pſt, pſt!“ antwortete es von unten. Ich beſann
mich nun nicht lange, ſteckte das Briefchen und meine
Geige zu mir, ſchwang mich aus dem Fenſter, und
kletterte an der alten, zerſprungenen Mauer hinab, in¬
dem ich mich mit den Haͤnden an den Straͤuchern, die
aus den Ritzen wuchſen, anhielt. Aber einige morſche
Ziegel gaben nach, ich kam ins Rutſchen, es ging im¬
mer raſcher und raſcher mit mir, bis ich endlich mit
beiden Fuͤßen aufplumpte, daß mir's im Gehirnkaſten
kniſterte.
Kaum war ich auf dieſe Art unten im Garten an¬
gekommen, ſo umarmte mich Jemand mit ſolcher Ve¬
hemenz, daß ich laut aufſchrie. Der gute Freund aber
hielt mir ſchnell die Finger auf den Mund‚ faßte mich
bei der Hand und fuͤhrte mich dann aus dem Ge¬
ſtraͤuch ins Freie hinaus. Da erkannte ich mit Ver¬
wunderung den guten langen Studenten‚ der die Gui¬
tarre an einem breiten, ſeidenen Bande um den Hals
haͤngen hatte. — Ich beſchrieb ihm nun in groͤßter
Geſchwindigkeit, daß ich aus dem Garten hinaus wollte.
Er ſchien aber das alles ſchon lange zu wiſſen, und
fuͤhrte mich auf allerlei verdeckten Umwegen zu dem
untern Thore in der hohen Gartenmauer. Aber da
war nun auch das Thor wieder feſt verſchloſſen! Doch
der Student hatte auch das ſchon vorbedacht, er zog
einen großen Schluͤſſel hervor und ſchloß behutſam auf.
Als wir nun in den Wald hinaustraten und ich
ihn eben noch um den beſten Weg zur naͤchſten Stadt
fragen wollte, ſtuͤrzte er ploͤtzlich vor mir auf ein Knie
nieder, hob die eine Hand hoch in die Hoͤh, und fing
an zu fluchen und an zu ſchwoͤren, daß es entſetzlich
anzuhoͤren war. Ich wußte gar nicht, was er wollte,
ich hoͤrte nur immerfort: Idio und cuore und amore
und furore! Als er aber am Ende gar anfing, auf
beiden Knien ſchnell und immer naͤher auf mich zuzu¬
rutſchen, da wurde mir auf einmal ganz grauslich, ich
merkte wohl, daß er verruͤckt war, und rannte, ohne
mich umzuſehen, in den dickſten Wald hinein.
Ich hoͤrte nun den Studenten wie raſend hinter
mir drein ſchreien. Bald darauf gab noch eine andere
grobe Stimme vom Schloſſe her Antwort. Ich dachte
mir nun wohl, daß ſie mich aufſuchen wuͤrden. Der
Weg war mir unbekannt, die Nacht finſter, ich konnte
ihnen leicht wieder in die Haͤnde fallen. Ich kletterte
daher auf den Wipfel einer hohen Tanne hinauf, um
beſſere Gelegenheit abzuwarten.
Von dort konnte ich hoͤren, wie auf dem Schloße
eine Stimme nach der andern wach wurde. Einige
Windlichter zeigten ſich oben und warfen ihre wilden
rothen Scheine uͤber das alte Gemaͤuer des Schloſ¬
ſes und weit vom Berge in die ſchwarze Nacht
hinein. Ich befahl meine Seele dem lieben Gott,
denn das verworrene Getuͤmmel wurde immer lau¬
ter und naͤherte ſich immer mehr und mehr. Endlich
ſtuͤrzte der Student mit einer Fackel unter meinem
Baume voruͤber, daß ihm die Rockſchoͤße weit im
Winde nachflogen. Dann ſchienen ſie ſich alle nach
und nach auf eine andere Seite des Berges hinzuwen¬
den, die Stimmen ſchallten immer ferner und ferner,
und der Wind rauſchte wieder durch den ſtillen Wald.
Da ſtieg ich ſchnell von dem Baume herab, und lief
athemlos weiter in das Thal und die Nacht hinaus.
Siebentes Kapitel.
Ich war Tag und Nacht eilig fortgegangen, denn
es ſaußte mir lange in den Ohren, als kaͤmen die von
dem Berge mit ihrem Rufen, mit Fackeln und langen
Meſſern noch immer hinter mir drein. Unterwegs erfuhr
ich, daß ich nur noch ein paar Meilen von Rom waͤre.
Da erſchrack ich ordentlich vor Freude. Denn von dem
praͤchtigen Rom hatte ich ſchon zu Hauſe als Kind
viele wunderbare Geſchichten gehoͤrt, und wenn ich dann
an Sonntags-Nachmittagen vor der Muͤhle im Graſe
lag und alles ringsum ſo ſtille war, da dachte ich mir
Rom wie die ziehenden Wolken uͤber mir, mit wunder¬
ſamen Bergen und Abgruͤnden am blauen Meer, und
goldnen Thoren und hohen glaͤnzenden Thuͤrmen, von
denen Engel in goldenen Gewaͤndern ſangen. — Die
Nacht war ſchon wieder lange hereingebrochen, und der
Mond ſchien praͤchtig, als ich endlich auf einem Huͤgel
aus dem Walde heraustrat, und auf einmal die Stadt
in der Ferne vor mir ſah. — Das Meer leuchtete von
weiten, der Himmel blitzte und funkelte unuͤberſehbar
mit unzaͤhligen Sternen, darunter lag die heilige Stadt,
von der man nur einen langen Nebelſtreif erkennen
konnte, wie ein eingeſchlafner Loͤwe auf der ſtillen Erde,
und Berge ſtanden daneben, wie dunkle Rieſen, die
ihn bewachten.
Ich kam nun zuerſt auf eine große, einſame Haide,
auf der es ſo grau und ſtill war, wie im Grabe. Nur
hin und her ſtand ein altes verfallenes Gemaͤuer oder
ein trockener wunderbar gewundener Strauch; manch¬
mal ſchwirrten Nachtvoͤgel durch die Luft, und mein
eigener Schatten ſtrich immerfort lang und dunkel in
der Einſamkeit neben mir her. Sie ſagen, daß hier
eine uralte Stadt und die Frau Venus begraben liegt,
und die alten Heiden zuweilen noch aus ihren Graͤbern
heraufſteigen und bei ſtiller Nacht uͤber die Haide gehn
und die Wanderer verwirren. Aber ich ging immer
F
grade fort und ließ mich nichts anfechten. Denn die
Stadt ſtieg immer deutlicher und praͤchtiger vor mir
herauf, und die hohen Burgen und Thore und golde¬
nen Kuppeln glaͤnzten ſo herrlich im hellen Mondſchein,
als ſtaͤnden wirklich die Engel in goldenen Gewaͤndern
auf den Zinnen und ſaͤngen durch die ſtille Nacht her¬
uͤber.
So zog ich denn endlich, erſt an kleinen Haͤuſern
vorbei, dann durch ein praͤchtiges Thor in die beruͤhmte
Stadt Rom hinein. Der Mond ſchien zwiſchen den
Pallaͤſten, als waͤre es heller Tag, aber die Straßen
waren ſchon alle leer, nur hin und wieder lag ein lum¬
piger Kerl, wie ein Todter, in der lauen Nacht auf
den Marmorſchwellen und ſchlief. Dabei rauſchten die
Brunnen auf den ſtillen Plaͤtzen, und die Gaͤrten an
der Straße ſaͤuſelten dazwiſchen und erfuͤllten die Luft
mit erquickenden Duͤften.
Wie ich nun eben ſo weiter fort ſchlendere, und
vor Vergnuͤgen, Mondſchein und Wohlgeruch gar nicht
weiß, wohin ich mich wenden ſoll, laͤßt ſich tief aus
dem einen Garten eine Guitarre hoͤren. Mein Gott,
denk' ich, da iſt mir wohl der tolle Student mit dem
langen Ueberrock heimlich nachgeſprungen! Daruͤber
fing eine Dame in dem Garten an uͤberaus lieblich zu
ſingen. Ich ſtand ganz wie bezaubert, denn es war die
Stimme der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau, und daſſelbe wel¬
ſche Liedchen, das ſie gar oft zu Hauſe am offnen Fen¬
ſter geſungen hatte.
Da fiel mir auf einmal die ſchoͤne alte Zeit mit
ſolcher Gewalt auf's Herz, daß ich bitterlich haͤtte wei¬
nen moͤgen, der ſtille Garten vor dem Schloß in fruͤ¬
her Morgenſtunde, und wie ich da hinter dem Strauch
ſo gluͤckſeelig war, ehe mir die dumme Fliege in die
Naſe flog. Ich konnte mich nicht laͤnger halten. Ich
kletterte auf den vergoldeten Zierrathen uͤber das Git¬
terthor, und ſchwang mich in den Garten hinunter,
woher der Geſang kam. Da bemerkte ich, daß eine
ſchlanke weiße Geſtalt von fern hinter einer Pappel ſtand
und mir erſt verwundert zuſah, als ich uͤber das Git¬
terwerk kletterte, dann aber auf einmal ſo ſchnell durch
den dunklen Garten nach dem Hauſe zuflog, daß man
ſie im Mondſchein kaum fuͤßeln ſehen konnte. „Das
war ſie ſelbſt!“ rief ich aus, und das Herz ſchlug mir
vor Freude, denn ich erkannte ſie gleich an den kleinen,
geſchwinden Fuͤßchen wieder. Es war nur ſchlimm,
daß ich mir beim Herunterſpringen vom Gartenthore
den rechten Fuß etwas vertreten hatte, ich mußte daher
erſt ein paarmal mit dem Beine ſchlenkern, eh' ich zu
dem Hauſe nachſpringen konnte. Aber da hatten ſie
unterdeß Thuͤr und Fenſter feſt verſchloßen. Ich klopfte
ganz beſcheiden an, horchte und klopfte wieder. Da
war es nicht anders, als wenn es drinnen leiſe fluͤſterte
und kicherte, ja einmal kam es mir vor, als wenn zwei
helle Augen zwiſchen den Jalouſien im Mondſchein
hervorfunkelten. Dann war auf einmal wieder alles
ſtill.
„Sie weiß nur nicht, daß ich es bin,“ dachte ich,
zog die Geige, die ich allzeit bei mir trage, hervor,
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ſpazierte damit auf dem Gange vor dem Hauſe auf
und nieder, und ſpielte und ſang das Lied von der
ſchoͤnen Frau, und ſpielte voll Vergnuͤgen alle meine
Lieder durch, die ich damals in den ſchoͤnen Sommer¬
naͤchten im Schloßgarten, oder auf der Bank vor dem
Zollhauſe geſpielt hatte, daß es weit bis in die Fenſter
des Schloſſes hinuͤber klang. — Aber es half alles nichts,
es ruͤhrte und regte ſich Niemand im ganzen Hauſe.
Da ſteckte ich endlich meine Geige traurig ein, und
legte mich auf die Schwelle vor der Hausthuͤr hin,
denn ich war ſehr muͤde von dem langen Marſch. Die
Nacht war warm, die Blumenbeete vor dem Hauſe
dufteten lieblich, eine Waſſerkunſt weiter unten im
Garten plaͤtſcherte immerfort dazwiſchen. Mir traͤumte
von himmelblauen Blumen, von ſchoͤnen, dunkelgruͤ¬
nen, einſamen Gruͤnden, wo Quellen rauſchten und
Baͤchlein gingen, und bunte Voͤgel wunderbar ſangen,
bis ich endlich feſt einſchlief.
Als ich aufwachte, rieſelte mir die Morgenluft durch
alle Glieder. Die Voͤgel waren ſchon wach und zwit¬
ſcherten auf den Baͤumen um mich herum, als ob ſie
mich fuͤr'n Narren haben wollten. Ich ſprang raſch
auf und ſah mich nach allen Seiten um. Die Waſſer¬
kunſt im Garten rauſchte noch immerfort, aber in dem
Hauſe war kein Laut zu vernehmen. Ich guckte durch
die gruͤnen Jalouſien in das eine Zimmer hinein. Da
war ein Sopha, und ein großer runder Tiſch mit grauer
Leinwand verhangen, die Stuͤhle ſtanden alle in großer
Ordnung und unverruͤckt an den Waͤnden herum; von
außen aber waren die Jalouſien an allen Fenſtern her¬
untergelaſſen, als waͤre das ganze Haus ſchon ſeit vie¬
len Jahren unbewohnt. — Da uͤberfiel mich ein ordent¬
liches Grauſen vor dem einſamen Hauſe und Garten
und vor der geſtrigen weißen Geſtalt. Ich lief, ohne
mich weiter umzuſehen, durch die ſtillen Lauben und
Gaͤnge, und kletterte geſchwind wieder an dem Gar¬
tenthor hinauf. Aber da blieb ich wie verzaubert ſitzen,
als ich auf einmal von dem hohen Gitterwerk in die
praͤchtige Stadt hinunter ſah. Da blitzte und funkelte
die Morgenſonne weit uͤber die Daͤcher und in die lan¬
gen ſtillen Straßen hinein, daß ich laut aufjauchzen
mußte, und voller Freude auf die Straße hinunter
ſprang.
Aber wohin ſollt' ich mich wenden in der großen
fremden Stadt? Auch ging mir die konfuſe Nacht und
das welſche Lied der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau von geſtern
noch immer im Kopfe hin und her. Ich ſetzte mich
endlich auf den ſteinernen Springbrunnen, der mitten
auf dem einſamen Platze ſtand, wuſch mir in dem kla¬
ren Waſſer die Augen hell und ſang dazu:
Wenn ich ein Voͤglein waͤr',
Ich wuͤßt' wohl, wovon ich ſaͤnge,
Und auch zwei Fluͤglein haͤtt',
Ich wuͤßt' wohl, wohin ich mich ſchwaͤnge!
„Ey, luſtiger Geſell, du ſingſt ja wie eine Lerche
beim erſten Morgenſtrahl!“ ſagte da auf einmal ein
junger Mann zu mir, der waͤhrend meines Liedes an
den Brunnen heran getreten war. Mir aber, da ich ſo
unverhofft Deutſch ſprechen hoͤrte, war es nicht anders
im Herzen, als wenn die Glocke aus meinem Dorfe
am ſtillen Sonntagsmorgen ploͤtzlich zu mir heruͤber
klaͤnge. „Gott, willkommen, beſter Herr Landsmann!“
rief ich aus und ſprang voller Vergnuͤgen von dem
ſteinernen Brunnen herab. Der junge Mann laͤchelte
und ſah mich von oben bis unten an. „Aber was treibt
Ihr denn eigentlich hier in Rom?“ fragte er endlich.
Da wußte ich nun nicht gleich, was ich ſagen ſollte,
denn daß ich ſo eben der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau nach¬
ſpraͤnge, moͤcht' ich ihm nicht ſagen. „Ich treibe,“ er¬
wiederte ich, „mich ſelbſt ein bischen herum, um die
Welt zu ſehn.“ — „So ſo!“ verſetzte der junge Mann
und lachte laut auf, „da haben wir ja ein Metier.
Das thu' ich eben auch, um die Welt zu ſehn, und
hinterdrein abzumalen.“ — „Alſo ein Maler!“ rief
ich froͤhlich aus, denn mir fiel dabei Herr Leonhard
und Guido ein. Aber der Herr ließ mich nicht zu
Worte kommen. „Ich denke,“ ſagte er, „Du gehſt mit
und fruͤhſtuͤckſt bei mir, da will ich Dich ſelbſt abkon¬
terfeyen, daß es eine Freude ſeyn ſoll!“ — Das ließ
ich mir gern gefallen, und wanderte nun mit dem Ma¬
ler durch die leeren Straßen, wo nur hin und wieder
erſt einige Fenſterladen aufgemacht wurden und bald
ein paar weiße Arme, bald ein verſchlafnes Geſichtchen
in die friſche Morgenluft hinausguckte.
Er fuͤhrte mich lange hin und her durch eine
Menge konfuſer enger und dunkler Gaſſen, bis wir end¬
lich in ein altes verraͤuchertes Haus hineinwuſchten.
Dort ſtiegen wir eine finſtre Treppe hinauf, dann wie¬
der eine, als wenn wir in den Himmel hineinſteigen
wollten. Wir ſtanden nun unter dem Dache vor einer
Thuͤr ſtill, und der Maler fing an in allen Taſchen
vorn und hinten mit großer Eilfertigkeit zu ſuchen.
Aber er hatte heute fruͤh vergeſſen zuzuſchließen und
den Schluͤſſel in der Stube gelaſſen. Denn er war,
wie er mir unterweges erzaͤhlte, noch vor Tagesanbruch
vor die Stadt hinausgegangen, um die Gegend bei Son¬
nenaufgang zu betrachten. Er ſchuͤttelte nur mit dem
Kopfe und ſtieß die Thuͤre mit dem Fuße auf.
Das war eine lange, lange große Stube, daß man
darin haͤtte tanzen koͤnnen, wenn nur nicht auf dem
Fußboden alles voll gelegen haͤtte. Aber da lagen Stie¬
feln, Papiere, Kleider, umgeworfene Farbentoͤpfe, alles
durcheinander; in der Mitte der Stube ſtanden große
Geruͤſte, wie man zum Birnenabnehmen braucht, rings¬
um an der Wand waren große Bilder angelehnt. Auf
einem langen hoͤlzernen Tiſche war eine Schuͤſſel, wor¬
auf, neben einem Farbenklekſe, Brod und Butter lag.
Eine Flaſche Wein ſtand daneben.
„Nun eß't und trinkt erſt, Landsmann!“ rief mir
der Maler zu. — Ich wollte mir auch ſogleich ein
Paar Butterſchnitten ſchmieren, aber da war wieder
kein Meſſer da. Wir mußten erſt lange in den Pa¬
pieren auf dem Tiſche herumraſcheln, ehe wir es un¬
ter einem großen Pakete endlich fanden. Darauf riß
der Maler das Fenſter auf, daß die friſche Morgen¬
luft froͤhlich das ganze Zimmer durchdrang. Das war
eine herrliche Ausſicht weit uͤber die Stadt weg in die
Berge hinein, wo die Morgenſonne luſtig die weißen
Landhaͤuſer und Weingaͤrten beſchien. — „Vivat unſer
kuͤhlgruͤnes Deutſchland da hinter den Bergen!“ rief
der Maler aus und trank dazu aus der Weinflaſche, die
er mir dann hinreichte. Ich that ihm hoͤflich Beſcheid,
und gruͤßte in meinem Herzen die ſchoͤne Heimath in
der Ferne noch viel tauſendmal.
Der Maler aber hatte unterdeß das hoͤlzerne Ge¬
ruͤſt, worauf ein ſehr großes Papier aufgeſpannt war,
naͤher an das Fenſter herangeruͤckt. Auf dem Papiere
war bloß mit großen ſchwarzen Strichen eine alte
Huͤtte gar kuͤnſtlich abgezeichnet. Darin ſaß die heilige
Jungfrau mit einem uͤberaus ſchoͤnen, freudigen und
doch recht wehmuͤthigen Geſichte. Zu ihren Fuͤßen auf
einem Neſtlein von Stroh lag das Jeſuskind, ſehr
freundlich, aber mit großen ernſthaften Augen. Drau¬
ßen auf der Schwelle der offnen Huͤtte aber knieten
zwei Hirten-Knaben mit Stab und Taſche. — „Siehſt
Du,“ ſagte der Maler, „dem einen Hirtenknaben da
will ich Deinen Kopf aufſetzen, ſo kommt Dein Ge¬
ſicht doch auch etwas unter die Leute, und will's Gott,
ſollen ſie ſich daran noch erfreuen, wenn wir beide
ſchon lange begraben ſind und ſelbſt ſo ſtill und froͤh¬
lich vor der heiligen Mutter und ihrem Sohne knien,
wie die gluͤcklichen Jungen hier.“ — Darauf ergriff er
einen alten Stuhl, von dem ihm aber, da er ihn auf¬
heben wollte, die halbe Lehne in der Hand blieb. Er
paßte ihn geſchwind wieder zuſammen, ſchob ihn vor
das Geruͤſt hin, und ich mußte mich nun darauf ſetzen
und mein Geſicht etwas von der Seite, nach dem Ma¬
ler zu, wenden. — So ſaß ich ein paar Minuten ganz
ſtill, ohne mich zu ruͤhren. Aber ich weiß nicht, zuletzt
konnt' ich's gar nicht recht aushalten, bald juckte mich's
da, bald juckte mich's dort. Auch hing mir grade ge¬
genuͤber ein zerbrochner halber Spiegel, da mußt ich
immerfort hineinſehn, und machte, wenn er eben malte,
aus Langeweile allerlei Geſichter und Grimaſſen. Der
Maler, der es bemerkte, lachte endlich laut auf und
winckte mir mit der Hand, daß ich wieder aufſtehen
ſollte. Mein Geſicht auf dem Hirten war auch ſchon
fertig, und ſah ſo klar aus, das ich mir ordentlich ſel¬
ber gefiel.
Er zeichnete nun in der friſchen Morgenkuͤhle im¬
mer fleißig fort, waͤhrend er ein Liedchen dazu ſang
und zuweilen durch das offne Fenſter in die praͤchtige
Gegend hinausblickte. Ich aber ſchnitt mir unterdeß
noch eine Butterſtolle und ging damit vergnuͤgt im
Zimmer auf und ab und beſah mir die Bilder, die an
der Wand aufgeſtellt waren. Zwei darunter gefielen
mir ganz beſonders gut. „Habt Ihr die auch gemalt?“
frug ich den Maler. „Warum nicht gar!“ erwiederte
er, „die ſind von den beruͤhmten Meiſtern Leonardo da
Vinci und Guido Reni — aber da weißt Du ja doch
nichts davon!“ — Mich aͤrgerte der Schluß der Rede.
„O,“ verſetzte ich ganz gelaſſen, „die beiden Meiſter
kenne ich wie meine eigne Taſche.“ — Da machte er
große Augen. „Wie ſo?“ frug er geſchwind. „Nun,“
ſagte ich, „bin ich nicht mit ihnen Tag und Nacht
fortgereißt, zu Pferde und zu Fuß und zu Wagen, daß
mir der Wind am Hute pfiff, und hab' ſie alle beide
in der Schenke verlohren, und bin dann allein in ih¬
rem Wagen mit Extrapoſt immer weiter gefahren, daß
der Bombenwagen immerfort auf zwei Raͤdern uͤber
die entſetzlichen Steine flog, und“ — „Oho! Oho!“
unterbrach mich der Maler, und ſah mich ſtarr an, als
wenn er mich fuͤr verruͤckt hielte. Dann aber brach er
ploͤtzlich in ein lautes Gelaͤchter aus. „Ach,“ rief er,
„nun verſteh' ich erſt, Du biſt mit zwei Malern ge¬
reißt, die Guido und Leonhard hießen?“ — Da ich das
bejahte, ſprang er raſch auf und ſah mich nochmals von
oben bis unten ganz genau an. „Ich glaube gar,“
ſagte er, „am Ende — ſpielſt Du die Violine?“ —
Ich ſchlug auf meine Rocktaſche, daß die Geige darin
einen Klang gab. — „Nun wahrhaftig,“ verſetzte der
Maler, „da war eine Graͤfin aus Deutſchland hier,
die hat ſich in allen Winkeln von Rom nach den bei¬
den Malern und nach einem jungen Muſikanten mit
der Geige erkundigen laſſen.“ — „Eine junge Graͤfin
aus Deutſchland?“ rief ich voller Entzuͤcken aus, „iſt
der Portier mit?“ — „Ja das weiß ich alles nicht,“
erwiederte der Maler, „ich ſah ſie nur einigemal bei
einer Freundin von ihr, die aber auch nicht in der
Stadt wohnt. — Kennſt Du die?“ fuhr er fort, in¬
dem er in einem Winkel ploͤtzlich eine Leinwanddecke
von einem großen Bilde in die Hoͤhe hob. Da war
mir's doch nicht anders, als wenn man in einer fin¬
ſtern Stube die Lade aufmacht und einem die Mor¬
genſonne auf einmal uͤber die Augen blitzt, es war —
die ſchoͤne gnaͤdige Frau! — ſie ſtand in einem ſchwar¬
zen Sammt-Kleide im Garten, und hob mit der einen
Hand den Schleier vom Geſicht und ſah ſtill und
freundlich in eine weite praͤchtige Gegend hinaus. Je
laͤnger ich hinſah, je mehr kam es mir vor, als waͤre
es der Garten am Schloſſe, und die Blumen und
Zweige wiegten ſich leiſe im Winde, und unten in der
Tiefe ſaͤhe ich mein Zollhaͤuschen und die Landſtraße
weit durchs Gruͤne, und die Donau und die fernen
blauen Berge.
„Sie iſt's, ſie iſt's!“ rief ich endlich, erwiſchte mei¬
nen Hut, und rannte raſch zur Thuͤr hinaus, die vielen
Treppen hinunter, und hoͤrte nur noch, daß mir der
verwunderte Maler nachſchrie, ich ſollte gegen Abend
wieder kommen, da koͤnnten wir vielleicht mehr er¬
fahren!
Achtes Kapitel.
Ich lief mit großer Eilfertigkeit durch die Stadt,
um mich ſogleich wieder in dem Gartenhauſe zu mel¬
den, wo die ſchoͤne Frau geſtern Abend geſungen hatte.
Auf den Straßen war unterdeß alles lebendig gewor¬
den, Herren und Damen zogen im Sonnenſchein und
neigten ſich und gruͤßten bunt durcheinander, praͤchtige
Karoſſen raſſelten dazwiſchen, und von allen Thuͤrmen
laͤutete es zur Meſſe, daß die Klaͤnge uͤber dem Ge¬
wuͤhle wunderbar in der klaren Luft durcheinander
hallten. Ich war wie betrunken von Freude und von
dem Rumor, und rannte in meiner Froͤhlichkeit im¬
mer grade fort, bis ich zuletzt gar nicht mehr wußte,
wo ich ſtand. Es war wie verzaubert, als waͤre der
ſtille Platz mit dem Brunnen, und der Garten, und
das Haus bloß ein Traum geweſen, und beim hellen
Tageslicht alles wieder von der Erde verſchwunden.
Fragen konnte ich nicht, denn ich wußte den Na¬
men des Platzes nicht. Endlich fing es auch an ſehr
ſchwuͤl zu werden, die Sonnenſtrahlen ſchoſſen recht
wie ſengende Pfeile auf das Pflaſter, die Leute verkro¬
chen ſich in die Haͤuſer, die Jalouſien wurden uͤberall
wieder zugemacht, und es war auf einmal wie ausge¬
ſtorben auf den Straßen. Ich warf mich zuletzt ganz
verzweifelt vor einem großen ſchoͤnen Hauſe hin, vor
dem ein Balkon mit Saͤulen breiten Schatten warf,
und betrachtete bald die ſtille Stadt, die in der ploͤtz¬
lichen Einſamkeit bei heller Mittagſtunde ordentlich
ſchauerlich ausſah, bald wieder den tiefblauen, ganz
wolkenloſen Himmel, bis ich endlich vor großer Er¬
muͤdung gar einſchlummerte. Da traͤumte mir, ich
laͤge bei meinem Dorfe auf einer einſamen gruͤnen
Wieſe, ein warmer Sommerregen ſpruͤhte und glaͤnzte
in der Sonne, die ſo eben hinter den Bergen unter¬
ging, und wie die Regentropfen auf den Raſen fielen,
waren es lauter ſchoͤne bunte Blumen, ſo daß ich da¬
von ganz uͤberſchuͤttet war.
Aber wie erſtaunte ich, als ich erwachte, und wirk¬
lich eine Menge ſchoͤner friſcher Blumen auf und neben
mir liegen ſah! Ich ſprang auf, konnte aber nichts
beſonderes bemerken, als bloß in dem Hauſe uͤber mir
ein Fenſter ganz oben voll von duftenden Straͤuchen
und Blumen, hinter denen ein PapapeyPapagey unablaͤſſig
plauderte und kreiſchte. Ich las nun die zerſtreuten
Blumen auf, band ſie zuſammen und ſteckte mir den
Strauß vorn ins Knopfloch. Dann aber fing ich an,
mit dem Papagey ein wenig zu diskuriren, denn es
freute mich, wie er in ſeinem vergoldeten Gebauer
mit allerlei Grimaſſen herauf und herunter ſtieg und
ſich dabei immer ungeſchickt uͤber die große Zehe trat.
Doch ehe ich mich's verſah, ſchimpfte er mich „furfante!“
Wenn es gleich eine unvernuͤnftige Beſtie war, ſo aͤr¬
gerte es mich doch. Ich ſchimpfte ihn wieder, wir ge¬
riethen endlich beide in Hitze, je mehr ich auf Deutſch
ſchimpfte, je mehr gurgelte er auf italieniſch wieder
auf mich los.
Auf einmal hoͤrte ich Jemanden hinter mir lachen.
Ich drehte mich raſch um. Es war der Maler von
heute fruͤh. „Was ſtellſt Du wieder fuͤr tolles Zeug
an!“ ſagte er, „ich warte ſchon eine halbe Stunde auf
Dich. Die Luft iſt wieder kuͤhler, wir wollen in einen
Garten vor der Stadt gehen, da wirſt Du mehrere
Landsleute finden und vielleicht etwas naͤheres von der
deutſchen Graͤfin erfahren.“
Daruͤber war ich außerordentlich erfreut, und wir
traten unſern Spaziergang ſogleich an, waͤhrend ich
den Papagey noch lange hinter mir drein ſchimpfen
hoͤrte.
Nachdem wir draußen vor der Stadt auf ſchmalen
ſteinigten Fußſteigen lange zwiſchen Landhaͤuſern und
Weingaͤrten hinaufgeſtiegen waren, kamen wir an einen
kleinen hochgelegenen Garten, wo mehrere junge Maͤn¬
ner und Maͤdchen im Gruͤnen um einen runden Tiſch
ſaßen. Sobald wir hinein traten, winkten uns alle zu,
uns ſtill zu verhalten, und zeigten auf die andere Seite
des Gartens hin. Dort ſaßen in einer großen, gruͤn¬
verwachſenen Laube zwei ſchoͤne Frauen an einem Tiſch
einander gegenuͤber. Die eine ſang, die andere ſpielte
Guitarre dazu. Zwiſchen beiden hinter dem Tiſche
ſtand ein freundlicher Mann, der mit einem kleinen
Staͤbchen zuweilen den Takt ſchlug. Dabei funkelte
die Abendſonne durch das Weinlaub, bald uͤber die
Weinflaſchen und Fruͤchte, womit der Tiſch in der
Laube beſetzt war, bald uͤber die vollen, runden, blen¬
dendweißen Achſeln der Frau mit der Guitarre. Die
andere war wie verzuͤckt und ſang auf italieniſch ganz
außerordentlich kuͤnſtlich, daß ihr die Flechſen am Halſe
aufſchwollen.
Wie ſie nun ſo eben, mit zum Himmel gerichteten
Augen, eine lange Kadenz anhielt, und der Mann ne¬
ben ihr mit aufgehobenem Staͤbchen auf den Augen¬
blick paßte, wo ſie wieder in den Takt einfallen wuͤrde,
und keiner im ganzen Garten zu athmen ſich unter¬
ſtand, da flog ploͤtzlich die Gartenthuͤre weit auf, und
ein ganz erhitztes Maͤdchen und hinter ihr ein junger
Menſch mit einem feinen, bleichen Geſicht ſtuͤrzten in
großem Gezaͤnke herein. Der erſchrockene Muſikdirek¬
tor blieb mit ſeinem aufgehobenen Stabe wie ein ver¬
ſteinerter Zauberer ſtehen, obgleich die Saͤngerin ſchon
laͤngſt den langen Triller ploͤtzlich abgeſchnappt hatte,
und zornig aufgeſtanden war. Alle uͤbrigen ziſchten
den Neuangekommenen wuͤthend an. „Barbar!“ rief
ihm einer von dem runden Tiſche zu, „Du rennſt da
mitten in das ſinnreiche Tableau von der ſchoͤnen Be¬
ſchreibung hinein, welche der ſeelige Hoffmann, Seite
347 des „Frauentaſchenbuchs fuͤr 1816,“ von dem ſchoͤn¬
ſten Hummelſchen Bilde giebt, das im Herbſt 1814 auf
der Berliner Kunſtausſtellung zu ſehen war!“ — Aber
das half alles nichts. „Ach was!“ entgegnete der
junge Mann, „mit Euren Tableau's von Tableaus!
Mein ſelbſt erfundenes Bild fuͤr die andern, und mein
Maͤdchen fuͤr mich allein! So will ich es halten!
O Du Ungetreue, Du Falſche!“ fuhr er dann von
neuem gegen das arme Maͤdchen fort, „Du kritiſche
Seele, die in der Malerkunſt nur den Silberblick, und
in der Dichtkunſt nur den goldenen Faden ſucht, und
keinen Liebſten, ſondern nur lauter Schaͤtze hat! Ich
wuͤnſche Dir hinfuͤhro, anſtatt eines ehrlichen maleri¬
ſchen Pinſels, einen alten Duca mit einer ganzen
Muͤnzgrube von Diamanten auf der Naſe, und mit
hellen Silberblick auf der kahlen Platte, und mit Gold¬
ſchnitt auf den paar noch uͤbrigen Haaren! Ja nur her¬
aus mit dem verruchten Zettel, den Du da vorhin vor
mir verſteckt haſt! Was haſt Du wieder angezettelt?
Von wem iſt der Wiſch, und an wen iſt er?“
Aber das Maͤdchen ſtraͤubte ſich ſtandhaft, und je
eifriger die Anderen den erboßten jungen Menſchen
umgaben und ihn mit großem Laͤrm zu troͤſten und zu
beruhigen ſuchten, deſto erhitzter und toller wurde er
von dem Rumor, zumal da das Maͤdchen auch ihr
Maͤulchen nicht halten konnte, bis ſie endlich weinend
aus dem verworrenen Knaͤuel hervorflog, und ſich auf
einmal ganz unverhofft an meine Bruſt ſtuͤrzte, um
bei mir Schutz zu ſuchen. Ich ſtellte mich auch ſo¬
gleich in die gehoͤrige Poſitur, aber da die Andern in
dem Getuͤmmel ſo eben nicht auf uns Acht gaben,
kehrte ſie ploͤtzlich das Koͤpfchen nach mir herauf und
fluͤſterte mir mit ganz ruhigem Geſicht ſehr leiſe und
ſchnell ins Ohr: „Du abſcheulicher Einnehmer! um
Dich muß ich das alles leiden. Da ſteck' den fatalen
Zettel geſchwind zu Dir, Du findeſt darauf bemerkt, wo
wir wohnen. Alſo zur beſtimmten Stunde, wenn Du
in's Thor kommſt, immer die einſame Straße rechts
fort! —“
Ich konnte vor Verwunderung kein Wort hervor¬
bringen, denn wie ich ſie nun erſt recht anſah, erkannte
ich ſie auf einmal: es war wahrhaftig die ſchnippiſche
Kammerjungfer vom Schloß, die mir damals an dem
ſchoͤnen Samſtag's-Abende die Flaſche mit Wein brachte.
Sie war mir ſonſt niemals ſo ſchoͤn vorgekommen, als
da ſie ſich jetzt ſo erhitzt an mich lehnte, daß die ſchwar¬
zen Locken uͤber meinen Arm herabhingen. — „Aber,
verehrteſte Mamſell,“ ſagte ich voller Erſtaunen, „wie
kommen Sie“ — „um Gotteswillen, ſtill nur, jetzt ſtill!“
erwiederte ſie, und ſprang geſchwind von mir fort auf
die andere Seite des Gartens, eh' ich mich noch auf
alles recht beſinnen konnte.
Unterdeß hatten die Andern ihr erſtes Thema faſt
ganz vergeſſen, zankten aber untereinander recht ver¬
gnuͤglich weiter, indem ſie dem jungen Menſchen be¬
weiſen wollten, daß er eigentlich betrunken ſey, was
ſich fuͤr einen ehrliebenden Maler gar nicht ſchicke.
Der runde fixe Mann aus der Laube, der — wie ich
nachher erfuhr — ein großer Kenner und Freund von
Kuͤnſten war, und aus Liebe zu den Wiſſenſchaften gern
alles mitmachte, hatte auch ſein Staͤbchen weggeworfen,
und flankirte mit ſeinem fetten Geſicht das vor Freund¬
lichkeit ordentlich glaͤnzte, eifrig mitten in dem dickſten
Getuͤmmel herum, um alles zu vermitteln und zu be¬
ſchwichtigen, waͤhrend er dazwiſchen immer wieder die
lange Kadenz und das ſchoͤne Tableau bedauerte, das
er mit vieler Muͤhe zuſammengebracht hatte.
Mir aber war es ſo ſternklar im Herzen, wie da¬
mals an dem gluͤckſeligen Sonnabend, als ich am
offnen Fenſter vor der Weinflaſche bis tief in die Nacht
hinein auf der Geige ſpielte. Ich holte, da der Ru¬
mor gar kein Ende nehmen wollte, friſch meine Vio¬
line wieder hervor und ſpielte, ohne mich lange zu be¬
ſinnen, einen welſchen Tanz auf, den ſie dort im Ge¬
birge tanzen, und den ich auf dem alten, einſamen
Waldſchloſſe gelernt hatte.
G
Da reckten ſie alle die Koͤpfe in die Hoͤh. „Bravo,
braviſſimo! ein delizioͤſer Einfall!“ rief der luſtige
Kenner von den Kuͤnſten, und lief ſogleich von einem
zum andern, um ein laͤndliches Divertiſſement, wie er's
nannte, einzurichten. Er ſelbſt machte den Anfang, in¬
dem er der Dame die Hand reichte, die vorhin in der
Laube Guitarre geſpielt hatte. Er begann darauf au¬
ßerordentlich kuͤnſtlich zu tanzen, ſchrieb mit den Fu߬
ſpitzen allerlei Buchſtaben auf den Raſen, ſchlug ordent¬
liche Triller mit den Fuͤßen, und machte von Zeit zu
Zeit ganz paſſable Luftſpruͤnge. Aber er bekam es bald
ſatt, denn er war etwas korpulent. Er machte immer
kuͤrzere und ungeſchicktere Spruͤnge, bis er endlich ganz
aus dem Kreiſe heraustrat und heftig puſtete und ſich
mit ſeinem ſchneeweißen Schnupftuch unaufhoͤrlich den
Schweiß abwiſchte. Unterdeß hatte auch der junge
Menſch, der nun wieder ganz geſcheut geworden war,
aus dem Wirthshauſe Caſtagnetten herbeigeholt, und
ehe ich mich's verſah, tanzten alle unter den Baͤumen
bunt durcheinander. Die untergegangene Sonne warf
noch einige rothe Wiederſcheine zwiſchen die dunklen
Schatten und uͤber das alte Gemaͤuer und die von
Epheu wild uͤberwachſenen halb verſunkenen Saͤulen
hinten im Garten, waͤhrend man von der andern Seite
tief unter den Weinbergen die Stadt Rom in den
Abendgluthen liegen ſah. Da tanzten ſie alle lieblich
im Gruͤnen in der klaren ſtillen Luft, und mir lachte
das Herz recht im Leibe, wie die ſchlanken Maͤdchen,
und die Kammerjungfer mitten unter ihnen, ſich ſo mit
aufgehobenen Armen wie heidniſche Waldnymphen
zwiſchen dem Laubwerk ſchwangen, und dabei jedesmal
in der Luft mit den Caſtagnetten luſtig dazu ſchnalzten.
Ich konnte mich nicht laͤnger halten, ich ſprang mitten
unter ſie hinein und machte, waͤhrend ich dabei immer¬
fort geigte, recht artige Figuren.
Ich mochte eine ziemliche Weile ſo im Kreiſe her¬
um geſprungen ſeyn, und merkte gar nicht, daß die
andern unterdeß anfingen muͤde zu werden und ſich
nach und nach von dem Raſenplatze verloren. Da
zupfte mich Jemand von hinten tuͤchtig an den Rock¬
ſchoͤßen. Es war die Kammerjungfer. „Sei kein
Narr,“ ſagte ſie leiſe, „Du ſpringſt ja wie ein Zie¬
genbock! Studiere Deinen Zettel ordentlich, und komm
bald nach, die ſchoͤne junge Graͤfin wartet.“ — Und
damit ſchluͤpfte ſie in der Daͤmmerung zur Garten¬
pforte hinaus, und war bald zwiſchen den Weingaͤrten
verſchwunden.
Mir klopfte das Herz, ich waͤre am liebſten gleich
nachgeſprungen. Zum Gluͤck zuͤndete der Kellner, da
es ſchon dunkel geworden war, in einer großen Laterne
an der Gartenthuͤr Licht an. Ich trat heran und zog
geſchwind den Zettel heraus. Da war ziemlich kritz¬
lich mit Bleifeder das Thor und die Straße beſchrie¬
ben, wie mir die Kammerjungfer vorhin geſagt hatte.
Dann ſtand: „Elf Uhr an der kleinen Thuͤre.“ —
Da waren noch ein paar lange Stunden hin! —Ich
wollte mich demungeachtet ſogleich auf den Weg ma¬
chen, denn ich hatte keine Raſt und Ruhe mehr; aber
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da kam der Maler, der mich hierher gebracht hatte, auf
mich los. „Haſt Du das Maͤdchen geſprochen?“ frug
er, „ich ſeh' ſie nun nirgends mehr; das war das Kam¬
mermaͤdchen von der deutſchen Graͤfin.“ „Still, ſtill!“
erwiederte ich, „die Graͤfin iſt noch in Rom.“ „Nun
deſto beſſer,“ ſagte der Maler, „ſo komm und trink'
mit uns auf ihre Geſundheit!“ und damit zog er
mich, wie ſehr ich mich auch ſtraͤubte, in den Garten
zuruͤck.
Da war es unterdeß ganz oͤde und leer geworden.
Die luſtigen Gaͤſte wanderten, jeder ſein Liebchen am
Arm, nach der Stadt zu, und man hoͤrte ſie noch durch
den ſtillen Abend zwiſchen den Weingaͤrten plaudern
und lachen, immer ferner und ferner, bis ſich endlich
die Stimmen tief in dem Thale im Rauſchen der
Baͤume und des Stromes verloren. Ich war nur noch
mit meinem Maler, und dem Herrn Eckbrecht — ſo
hieß der andre junge Maler, der ſich vorhin ſo herum
gezankt hatte — allein oben zuruͤck geblieben. Der Mond
ſchien praͤchtig im Garten zwiſchen die hohen dunklen
Baͤume herein, ein Licht flackerte im Winde auf dem
Tiſche vor uns und ſchimmerte uͤber den vielen ver¬
goßnen Wein auf der Tafel. Ich mußte mich mit hin¬
ſetzen und mein Maler plauderte mit mir uͤber meine
Herkunft, meine Reiſe, und meinen Lebensplan. Herr
Eckbrecht aber hatte das junge huͤbſche Maͤdchen aus
dem Wirthshauſe‚ nachdem ſie uns Flaſchen auf den
Tiſch geſtellt, vor ſich auf den Schoß genommen, legte
ihr die Guitarre in den Arm‚ und lehrte ſie ein Lied¬
chen darauf klimpern. Sie fand ſich auch bald mit
den kleinen Haͤndchen zurecht, und ſie ſangen dann
zuſammen ein italieniſches Lied, einmal er, dann wieder
das Maͤdchen eine Strophe, was ſich in dem ſchoͤnen
ſtillen Abend praͤchtig ausnahm. — Als das Maͤdchen
dann weggerufen wurde, lehnte ſich Herr Eckbrecht mit
der Guitarre auf der Bank zuruͤck, legte ſeine Fuͤße
auf einen Stuhl, der vor ihm ſtand, und ſang nun fuͤr
ſich allein viele herrliche deutſche und italieniſche Lieder,
ohne ſich weiter um nnsuns zu bekuͤmmern. Dabei ſchie¬
nen die Sterne praͤchtig am klaren Firmament, die
ganze Gegend war wie verſilbert vom Mondſchein, ich
dachte an die ſchoͤne Fraue, an die ferne Heimath, und
vergaß daruͤber ganz meinen Maler neben mir. Zu¬
weilen mußte Herr Eckbrecht ſtimmen, daruͤber wurde
er immer ganz zornig. Er drehte und riß zuletzt an
dem Inſtrument, daß ploͤtzlich eine Saite ſprang. Da
warf er die Guitarre hin und ſprang auf. Nun wurde
er erſt gewahr, daß mein Maler ſich unterdeß uͤber
ſeinen Arm auf den Tiſch gelegt hatte und feſt einge¬
ſchlafen war. Er warf ſchnell einen weißen Mantel
um, der auf einem Aſte neben dem Tiſche hing, beſann
ſich aber ploͤtzlich, ſah erſt meinen Maler, dann mich
ein paarmal ſcharf an, ſetzte ſich darauf, ohne ſich lange
zu bedenken, grade vor mich auf den Tiſch hin, raͤus¬
perte ſich, ruͤckte an ſeiner Halsbinde, und fing dann
auf einmal an, eine Rede an mich zu halten. „Ge¬
liebter Zuhoͤrer und Landsmann!“ ſagte er, „da die
Flaſchen beinah leer ſind, und da die Moral unſtreitig
die erſte Buͤrgerpflicht iſt, wenn die Tugenden auf die
Neige gehen, ſo fuͤhle ich mich aus landsmaͤnnlicher
Sympathie getrieben, Dir einige Moralitaͤt zu Gemuͤ¬
the zu fuͤhren. — Man koͤnnte zwar meinen,“ fuhr
er fort, „Du ſey'ſt ein bloßer Juͤngling, waͤhrend doch
Dein Frack uͤber ſeine beſten Jahre hinaus iſt; man
koͤnnte vielleicht annehmen, Du habeſt vorhin wunder¬
liche Spruͤnge gemacht, wie ein Satyr; ja, einige
moͤchten wohl behaupten, Du ſeyeſt wohl gar ein Land¬
ſtreicher, weil Du hier auf dem Lande biſt und die
Geige ſtreichſt; aber ich kehre mich an ſolche oberflaͤch¬
liche Urtheile nicht, ich halte mich an Deine feinge¬
ſpitzte Naſe, ich halte Dich fuͤr ein vazirendes Genie.“
— Mich aͤrgerten die verfaͤnglichen Redensarten, ich
wollte ihm ſo eben recht antworten. Aber er ließ mich
nicht zu Worte kommen. „Siehſt Du,“ ſagte er, „wie
Du Dich ſchon aufblaͤhſt von dem bischen Lobe. Gehe
in Dich, und bedenke dieſes gefaͤhrliche Metier! Wir
Genie's — denn ich bin auch eins — machen uns aus
der Welt eben ſo wenig, als ſie aus uns, wir ſchrei¬
ten vielmehr ohne beſondere Umſtaͤnde in unſern Sie¬
benmeilenſtiefeln, die wir bald mit auf die Welt brin¬
gen, grade auf die Ewigkeit los. O hoͤchſt klaͤgliche,
unbequeme, breitgeſpreitzte Poſition, mit dem einen
Beine in der Zukunft, wo nichts als Morgenroth und
zukuͤnftige Kindergeſichter dazwiſchen, mit dem andern
Beine noch mitten in Rom auf der Piazza del Popolo,
wo das ganze Saͤkulum bei der guten Gelegenheit
mitwill und ſich an den Stiefel haͤngt, daß ſie einem
das Bein ausreißen moͤchten! Und alle das Zucken,
Weintrinken und Hungerleiden lediglich fuͤr die un¬
ſterbliche Ewigkeit! Und ſiehe meinen Herrn Collegen
dort auf der Bank, der gleichfalls ein Genie iſt; ihm
wird die Zeit ſchon zu lang, was wird er erſt in der
Ewigkeit anfangen?! Ja, hochgeſchaͤtzter Herr College,
Du und ich und die Sonne, wir ſind heute fruͤh zu¬
ſammen aufgegangen, und haben den ganzen Tag ge¬
bruͤtet und gemalt, und es war alles ſchoͤn — und nun
faͤhrt die ſchlaͤfrige Nacht mit ihrem Pelzaͤrmel uͤber
die Welt und hat alle Farben verwiſcht.“ Er ſprach
noch immerfort und war dabei mit ſeinen verwirrten
Haaren von dem Tanzen und Trinken im Mondſchein
ganz leichenblaß anzuſehen.
Mir aber graute ſchon lange vor ihm und ſeinem
wilden Gerede, und als er ſich nun foͤrmlich zu dem
ſchlafenden Maler herum wandte, benutzte ich die Ge¬
legenheit, ſchlich, ohne daß er es bemerkte, um den
Tiſch, aus dem Garten heraus, und ſtieg, allein und
froͤhlich im Herzen, an dem Rebengelaͤnder in das
weite, vom Mondſchein beglaͤnzte Thal hinunter.
Von der Stadt her ſchlugen die Uhren Zehn. Hin¬
ter mir hoͤrte ich durch die ſtille Nacht noch einzelne
Guitarren-Klaͤnge und manchmal die Stimmen der
beiden Maler, die nun auch nach Hauſe gingen, von
ferne heruͤberſchallen. Ich lief daher ſo ſchnell, als ich nur
konnte, damit ſie mich nicht weiter ausfragen ſollten.
Am Thore bog ich ſogleich rechts in die Straße
ein, und ging mit klopfendem Herzen eilig zwiſchen
den ſtillen Haͤuſern und Gaͤrten fort. Aber wie er¬
ſtaunte ich, als ich da auf einmal auf dem Platze mit
dem Springbrunnen heraus kam, den ich heute am
Tage gar nicht hatte finden koͤnnen. Da ſtand das
einſame Gartenhaus wieder, im praͤchtigſten Mond¬
ſchein, und auch die ſchoͤne Fraue ſang im Garten wie¬
der daſſelbe italieniſche Lied, wie geſtern Abend. —
Ich rannte voller Entzuͤcken erſt an die kleine Thuͤr,
dann an die Hausthuͤr, und endlich mit aller Gewalt
an das große Gartenthor, aber es war alles verſchloſſen.
Nun fiel mir erſt ein, daß es noch nicht Elf geſchlagen
hatte. Ich aͤrgerte mich uͤber die langſame Zeit, aber
uͤber das Gartenthor klettern, wie geſtern, mochte ich
wegen der guten Lebensart nicht. Ich ging daher ein
Weilchen auf dem einſamen Platze auf und ab, und
ſetzte mich endlich wieder auf den ſteinernen Brunnen
voll Gedanken und ſtiller Erwartung hin.
Die Sterne funkelten am Himmel, auf dem Platze
war alles leer und ſtill, ich hoͤrte voll Vergnuͤgen dem
Geſange der ſchoͤnen Frau zu, der zwiſchen dem Rau¬
ſchen des Brunnens aus dem Garten heruͤberklang. Da
erblickt ich auf einmal eine weiße Geſtalt, die von der
andern Seite des Platzes herkam, und grade auf die
kleine Gartenthuͤr zuging. Ich blickte durch den Mond¬
flimmer recht ſcharf hin — es war der wilde Maler in
ſeinem weißen Mantel. Er zog ſchnell einen Schluͤſſel
hervor, ſchloß auf, und ehe ich mich's verſah, war er
im Garten drinn.
Nun hatte ich gegen den Maler ſchon von Anfang
eine abſonderliche Pike wegen ſeiner unvernuͤnftigen
Reden. Jetzt aber gerieth ich ganz außer mir vor
Zorn. Das liederliche Genie iſt gewiß wieder betrun¬
ken, dachte ich, den Schluͤſſel hat er von der Kammer¬
jungfer, und will nun die gnaͤdige Frau beſchleichen,
verrathen, uͤberfallen. — Und ſo ſtuͤrzte ich durch das
kleine, offengebliebene Pfoͤrtchen in den Garten hinein.
Als ich eintrat, war es ganz ſtill und einſam darin.
Die Fluͤgelthuͤr vom Gartenhauſe ſtand offen, ein milch¬
weißer Lichtſchein drang daraus hervor, und ſpielte auf
dem Graſe und den Blumen vor der Thuͤr. Ich
blickte von weitem herein. Da lag in einem praͤchti¬
gen gruͤnen Gemach, das von einer weißen Lampe nur
wenig erhellt war, die ſchoͤne gnaͤdige Frau, mit der
Guitarre im Arm, auf einem ſeidenen Faulbettchen,
ohne in ihrer Unſchuld an die Gefahren draußen zu
denken.
Ich hatte aber nicht lange Zeit, hinzuſehen, denn
ich bemerkte ſo eben, daß die weiße Geſtalt von der
andern Seite ganz behutſam hinter den Straͤuchern
nach dem Gartenhauſe zuſchlich. Dabei ſang die gnaͤ¬
dige Frau ſo klaͤglich aus dem Hauſe, daß es mir recht
durch Mark und Bein ging. Ich beſann mich daher
nicht lange, brach einen tuͤchtigen Aſt ab, rannte damit
gerade auf den Weißmantel los, und ſchrie aus vollem
Halſe „Mordjo!“ daß der ganze Garten erzitterte.
Der Maler, wie er mich ſo unverhofft daherkom¬
men ſah, nahm ſchnell Reißaus, und ſchrie entſetzlich.
Ich ſchrie noch beſſer, er lief nach dem Hauſe zu, ich
ihm nach — und ich haͤtt' ihn beinah ſchon erwiſcht,
da verwickelte ich mich mit den Fuͤßen in den fatalen
Blumenſtuͤcken, und ſtuͤrzte auf einmal der Laͤnge nach
vor der Hausthuͤr hin.
„Alſo Du biſt es, Narr!“ hoͤrt' ich da uͤber mir
ausrufen, „haſt Du mich doch faſt zum Tode er¬
ſchreckt!“ — Ich raffte mich geſchwind wieder auf,
und wie ich mir den Sand und die Erde aus den Au¬
gen wiſche, ſteht die Kammerjungfer vor mir, die ſo
eben bei dem letzten Sprunge den weißen Mantel von
der Schulter verloren hatte. „Aber,“ ſagte ich ganz
verbluͤfft, „war denn der Maler nicht hier?“ — „Ja
freilich,“ entgegnete ſie ſchnippiſch, „ſein Mantel we¬
nigſtens, den er mir, als ich ihn vorhin im Thor be¬
gegnete, umgehangen hat, weil mich fror.“ — Ueber
dem Geplauder war nun auch die gnaͤdige Frau von
ihrem Sopha aufgeſprungen, und kam zu uns an die
Thuͤr. Mir klopfte das Herz zum Zerſpringen. Aber
wie erſchrak ich, als ich recht hinſah und, anſtatt der
ſchoͤnen gnaͤdigen Frau, auf einmal eine ganz fremde
Perſon erblickte!
Es war eine etwas große korpulente, maͤchtige
Dame mit einer ſtolzen Adlernaſe und hochgewoͤlbten
ſchwarzen Augenbraunen, ſo recht zum Erſchrecken ſchoͤn.
Sie ſah mich mit ihren großen funkelnden Augen ſo
majeſtaͤtiſch an, daß ich mich vor Ehrfurcht gar nicht
zu laſſen wußte. Ich war ganz verwirrt, ich machte in
einem fort Komplimente, und wollte ihr zulezt gar die
Hand kuͤſſen. Aber ſie riß ihre Hand ſchnell weg, und
ſprach dann auf italieniſch zu der Kammerjungfer, wo¬
von ich nichts verſtand.
Unterdeß aber war von dem vorigen Geſchrei die
ganze Nachbarſchaft lebendig geworden. Hunde bellten,
Kinder ſchrien, zwiſchen durch hoͤrte man einige Maͤn¬
nerſtimmen, die immer naͤher und naͤher auf den Gar¬
ten zukamen. Da blickte mich die Dame noch einmal
an, als wenn ſie mich mit feurigen Kugeln durchboh¬
ren wollte, wandte ſich dann raſch nach dem Zimmer
zuruͤck, waͤhrend ſie dabei ſtolz und gezwungen auf¬
lachte, und ſchmiß mir die Thuͤre vor der Naſe zu.
Die Kammerjungfer aber erwiſchte mich ohne weiteres
beim Fluͤgel, und zerrte mich nach der Gartenpforte.
„Da haſt Du wieder einmal recht dummes Zeug
gemacht,“ ſagte ſie unterweges voller Bosheit zu mir.
Ich wurde auch ſchon giftig. „Nun zum Teufel!“
ſagte ich, „habt Ihr mich denn nicht ſelbſt hierher be¬
ſtellt?“ — „Das iſt's ja eben,“ rief die Kammerjung¬
fer, „meine Graͤfin meinte es ſo gut mit Dir, wirft
Dir erſt Blumen aus dem Fenſter zu, ſingt Arien —
und das iſt nun ihr Lohn! Aber mit Dir iſt nun ein¬
mal nichts anzufangen, Du trittſt Dein Gluͤck ordent¬
lich mit Fuͤßen.“ — „Aber,“ erwiederte ich, „ich meinte
die Graͤfin aus Deutſchland, die ſchoͤne gnaͤdige Frau “ —
„Ach,“ unterbrach ſie mich, „die iſt ja lange ſchon wie¬
der in Deutſchland, mit ſammt Deiner tollen Amour.
Und da lauf Du nur auch wieder hin! Sie ſchmachtet
ohnedieß nach Dir, da koͤnnt' Ihr zuſammen die Geige
ſpielen und in den Mond gucken, aber daß Du mir
nicht wieder unter die Augen kommſt!“
Nun aber entſtand ein entſetzlicher Rumor und
Spektakel hinter uns. Aus dem anderen Garten klet¬
terten Leute mit Knuͤppeln haſtig uͤber den Zaun, an¬
dere fluchten und durchſuchten ſchon die Gaͤnge, despe¬
rate Geſichter mit Schlafmuͤtzen guckten im Mond¬
ſchein bald da bald dort uͤber die Hecken, es war, als
wenn der Teufel auf einmal aus allen Hecken und
Straͤuchern Geſindel heckte. — Die Kammerjungfer
fackelte nicht lange. „Dort, dort laͤuft der Dieb!“
ſchrie ſie den Leuten zu, indem ſie dabei auf die andere
Seite des Gartens zeigte. Dann ſchob ſie mich ſchnell
aus dem Garten, und klappte das Pfoͤrtchen hinter
mir zu.
Da ſtand ich nun unter Gottes freiem Himmel
wieder auf dem ſtillen Platze mutterſeelen allein, wie
ich geſtern angekommen war. Die Waſſerkunſt, die
mir vorhin im Mondſchein ſo luſtig flimmerte, als
wenn Englein darin auf und nieder ſtiegen, rauſchte
noch fort wie damals, mir aber war unterdeß alle Luſt
und Freude in den Brunn gefallen. — Ich nahm mir
nun feſt vor, dem falſchen Italien mit ſeinen verruͤck¬
ten Malern, Pommeranzen und Kammerjungfern auf
ewig den Ruͤcken zu kehren und wanderte noch zur
ſelbigen Stunde zum Thore hinaus.
Neuntes Kapitel.
Die treuen Berg' ſteh'n auf der Wacht:
„Wer ſtreicht bei ſtiller Morgenzeit
Da aus der Fremde durch die Haid'?“ —
Ich aber mir die Berg' betracht'
Und lach' in mich vor großer Luſt,
Und rufe recht aus friſcher Bruſt
Parol und Feldgeſchrei ſogleich:
Vivat Oeſtreich!
Da kennt mich erſt die ganze Rund,
Nun gruͤßen Bach und Voͤglein zart
Und Waͤlder rings nach Landesart,
Die Donau blitzt aus tiefem Grund,
Der Stephansthurm auch ganz von fern
Guckt uͤbern Berg und ſaͤh' mich gern,
Und iſt er's nicht, ſo kommt er doch gleich,
Vivat Oeſtreich!
Ich ſtand auf einem hohen Berge, wo man zum
erſtenmal nach Oeſtreich hineinſehen kann, und ſchwenkte
voller Freude noch mit dem Hute und ſang die letzte
Strophe, da fiel auf einmal hinter mir im Walde eine
praͤchtige Muſik von Blasinſtrumenten mit ein. Ich
dreh' mich ſchnell um und erblicke drei junge Geſellen
in langen blauen Maͤnteln, davon blaͤſt der Eine Oboe,
der Andere die Klarinett, und der Dritte, der einen al¬
ten Dreiſtutzer auf dem Kopfe hatte, das Waldhorn —
die akkompagnirten mich ploͤtzlich, daß der ganze Wald
erſchallte. Ich, nicht zu faul, ziehe meine Geige her¬
vor, und ſpiele und ſinge ſogleich friſch mit. Da ſah
Einer den Andern bedenklich an, der Waldhorniſt ließ
dann zuerſt ſeine Bausbacken wieder einfallen und ſetzte
ſein Waldhorn ab, bis am Ende Alle ſtille wurden, und
mich anſchauten. Ich hielt verwundert ein, und ſah
ſie auch an. — „Wir meinten,“ ſagte endlich der
Waldhorniſt, „weil der Herr ſo einen langen Frack hat,
der Herr waͤre ein reiſender Englaͤnder, der hier zu
Fuß die ſchoͤne Natur bewundert; da wollten wir uns
ein Viatikum verdienen. Aber, mir ſcheint, der Herr
iſt ſelber ein Muſikant.“ — „Eigentlich ein Einneh¬
mer,“ verſetzte ich, „und komme direkt von Rom her,
da ich aber ſeit geraumer Zeit nichts mehr eingenom¬
men, ſo habe ich mich unterweges mit der Violine
durchgeſchlagen.“ — „Bringt nicht viel heut zu Tage!“
ſagte der Waldhorniſt, der unterdeß wieder an den
Wald zuruͤckgetreten war, und mit ſeinem Dreiſtutzer
ein kleines Feuer anfachte, das ſie dort angezuͤndet hat¬
ten. „Da gehn die blaſenden Inſtrumente ſchon beſ¬
ſer,“ fuhr er fort; „wenn ſo eine Herrſchaft ganz ruhig
zu Mittag ſpeißt, und wir treten unverhofft in das ge¬
woͤlbte Vorhaus und fangen alle drei aus Leibeskraͤften
zu blaſen an — gleich kommt ein Bedienter herausge¬
ſprungen mit Geld oder Eſſen, damit ſie nur den
Laͤrm wieder los werden. Aber will der Herr nicht
eine Collation mit uns einnehmen?“
Das Feuer loderte nun recht luſtig im Walde, der
Morgen war friſch, wie ſetzten uns alle rings umher
auf den Raſen, und zwei von den Muſikanten nahmen
ein Toͤpfchen, worin Kaffee und auch ſchon Milch war,
vom Feuer, holten Brod aus ihren Manteltaſchen her¬
vor, und tunkten und tranken abwechſelnd aus dem
Topfe, und es ſchmeckte ihnen ſo gut, daß es ordent¬
lich eine Luſt war anzuſehen. — Der Waldhorniſt aber
ſagte: „Ich kann das ſchwarze Geſoͤff nicht vertragen,“
und reichte mir dabei die eine Haͤlfte von einer großen
uͤbereinander gelegten Butterſchnitte, dann brachte er
eine Flaſche Wein zum Vorſchein. „Will der Herr nicht
auch einen Schluck?“ — Ich that einen tuͤchtigen
Zug, mußte aber ſchnell wieder abſetzen und das ganze
Geſicht verziehn, denn es ſchmeckte wie Drei-Maͤnner-
Wein. „Hieſiges Gewaͤchs,“ ſagte der Waldhorniſt,
„aber der Herr hat ſich in Italien den deutſchen Ge¬
ſchmack verdorben.“
Darauf kramte er eifrig in ſeinem Schubſack und
zog endlich unter allerlei Plunder eine alte zerfetzte
Landkarte hervor, worauf noch der Kaiſer in vollem
Ornate zu ſehen war, den Zepter in der rechten, den
Reichsapfel in der linken Hand. Er breitete ſie auf
dem Boden behutſam auseinander, die Andern ruͤckten
naͤher heran, und ſie berathſchlagten nun zuſammen,
was ſie fuͤr eine Marſchroute nehmen ſollten.
„Die Vakanz geht bald zu Ende,“ ſagte der Eine,
„wir muͤſſen uns gleich von Linz links abwenden, ſo
kommen wir noch bei guter Zeit nach Prag.“ — „Nun
wahrhaftig!“ rief der Waldhorniſt, „wem willſt Du
da was vorpfeifen? nichts als Waͤlder und Kohlenbau¬
ern, kein gelaͤuterter Kunſtgeſchmack, keine vernuͤnftige
freie Station!“ — „O Narrenspoſſen!“ erwiederte
der Andere, „die Bauern ſind mir grade die Liebſten,
die wiſſen am Beſten wo einen der Schuh druͤckt, und
nehmens nicht ſo genau, wenn man manchmal eine
falſche Note blaͤſt.“ — „Das macht, Du haſt kein point
d'honneur,“ verſetzte der Waldhorniſt, „odi profa¬
num vulgus et arceo, ſagt der Lateiner.“ — „Nun,
Kirchen aber muß es auf der Tour doch geben,“ meinte
der Dritte, „ſo kehren wir bei den Herren Pfarrern
ein.“ — „Gehorſamſter Diener!“ ſagte der Waldhor¬
niſt, „die geben kleines Geld und große Sermone, daß
wir nicht ſo unnuͤtz in der Welt herumſchweifen, ſon¬
dern uns beſſer auf die Wiſſenſchaften appliciren ſollen,
beſonders wenn ſie in mir den kuͤnftigen Herrn Kon¬
frater wittern. Nein, nein, Clericus clericum non
decimat. Aber was giebt es denn da uͤberhaupt fuͤr
große Noth? die Herren Profeſſoren ſitzen auch noch
im Karlsbade, und halten ſelbſt den Tag nicht ſo ge¬
nau ein.“ — „Ja, distinguendum est inter et inter,“
erwiederte der Andere, „quod licet Jovi, non licet
bovi!“
Ich aber merkte nun, daß es Prager Studenten
waren, und bekam einen ordentlichen Respekt vor ih¬
nen, beſonders da ihnen das Latein nur ſo wie Waſſer
vom Munde floß. — „Iſt der Herr auch ein Studirter?“
fragte mich darauf der Waldhorniſt. Ich erwiederte be¬
ſcheiden, daß ich immer beſondere Luſt zum ſtudieren,
aber kein Geld gehabt haͤtte. — „Das thut gar nichts,“
rief der Waldhorniſt, „wir haben auch weder Geld,
noch reiche Freundſchaft. Aber ein geſcheuter Kopf
muß ſich zu helfen wiſſen. Aurora musis amica, das
heißt zu deutſch: mit vielem fruͤhſtuͤcken ſollſt Du Dir
nicht die Zeit verderben. Aber wenn dann die Mittags¬
glocken von Thurm zu Thurm und von Berg zu Berg
uͤber die Stadt gehen, und nun die Schuͤler auf ein¬
mal mit großem Geſchrei aus dem alten finſtern Kol¬
legium heraus brechen und im Sonnenſcheine durch
die Gaßen ſchwaͤrmen — da begeben wir uns bei den
Kapuzinern zum Pater Kuͤchenmeiſter und finden un¬
ſern gedeckten Tiſch, und iſt er auch nicht gedeckt, ſo
ſieht doch fuͤr jeden ein voller Topf darauf, da fragen
wir nicht viel darnach und eſſen, und perfektioniren
uns dabei noch im Lateiniſchſprechen. Sieht der Herr,
ſo ſtudiren wir von einem Tage zum andern fort.
Und wenn dann endlich die Vakanz kommt, und die
Andern fahren und reiten zu ihren Aeltern fort, da
wandern wir mit unſern Inſtrumenten unter'm Man¬
tel durch die Gaßen zum Thore hinaus, und die ganze
Welt ſteht uns offen.“
Ich weiß nicht — wie er ſo erzaͤhlte — ging es mir
recht durch's Herz, daß ſo gelehrte Leute ſo ganz ver¬
laſſen ſeyn ſollten auf der Welt. Ich dachte dabei an
mich, wie es mir eigentlich ſelber nicht anders ginge,
und die Thraͤnen traten mir in die Augen. — Der
Waldhorniſt ſah mich groß an. „Das thut gar nichts,“
fuhr er wieder weiter fort, „ich moͤchte gar nicht ſo
reiſen: Pferde und Kaffee und friſchuͤberzogene Betten,
und Nachtmuͤtzen und SiefelknechtStiefelknecht vorausbeſtellt. Das
iſt juſt das Schoͤnſte, wenn wir ſo fruͤhmorgens her¬
H
austreten, und die Zugvoͤgel hoch uͤber uns fortziehn,
daß wir gar nicht wiſſen, welcher Schornſtein heut
fuͤr uns raucht, und gar nicht vorausſehen, was uns
bis zum Abend noch fuͤr ein beſonderes Gluͤck begeg¬
nen kann.“ — „Ja,“ ſagte der Andere, „und wo wir
hinkommen und unſere Inſtrumente herausziehen, wird
alles froͤhlich, und wenn wir dann zur Mitagsſtunde
auf dem Lande in ein Herrſchaftshaus treten, und im
Hausflur blaſen, da tanzen die Maͤgde mit einander
vor der Hausthuͤr, und die Herrſchaft laͤßt die Saal¬
thuͤr etwas aufmachen, damit ſie die Muſik drin beſſer
hoͤren, und durch die Luͤcke kommt das Tellergeklap¬
per und der Bratenduft in den freudenreichen Schall
heraus gezogen, und die Fraͤuleins an der Tafel ver¬
drehen ſich faſt die Haͤlſe, um die Muſikanten draußen
zu ſehn.“ — „Wahrhaftig,“ rief der Waldhorniſt mit
leuchtenden Augen aus, „laßt die Andern nur ihre
Kompendien repetiren, wir ſtudiren unterdeß in dem
großen Bilderbuche, daß der liebe Gott uns draußen
aufgeſchlagen hat! Ja glaub' nur der Herr, aus uns
werden grade die rechten Kerls, die den Bauern dann
was zu erzaͤhlen wiſſen und mit der Fauſt auf die
Kanzel ſchlagen, daß den Knollfinken unten vor Er¬
bauung und Zerknirſchung das Herz im Leibe berſten
moͤchte.“
Wie ſie ſo ſprachen, wurde mir ſo luſtig in mei¬
nem Sinn, daß ich gleich auch haͤtte mit ſtudiren moͤ¬
gen. Ich konnte mich gar nicht ſatt hoͤren, denn ich
unterhalte mich gern mit ſtudirten Leuten, wo man et¬
was profitiren kann. Aber es konnte gar nicht zu ei¬
nem recht vernuͤnftigen Diskurſe kommen. Denn dem
einen Studenten war vorhin angſt geworden, weil die
Vakanz ſo bald zu Ende gehen ſollte. Er hatte daher
hurtig ſein Klarinett zuſammen geſetzt, ein Notenblatt
vor ſich auf das aufgeſtemmte Knie hingelegt, und exer¬
zirte ſich eine ſchwierige Paſſage aus einer Meſſe ein,
die er mitblaſen ſollte, wenn ſie nach Prag zuruͤckkamen.
Da ſaß er nun und fingerte und pfiff dazwiſchen manch¬
mal ſo falſch, daß es einem durch Mark und Bein
ging und man oft ſein eigenes Wort nicht verſtehen
konnte.
Auf einmal ſchrie der Waldhorniſt mit ſeiner Ba߬
ſtimme. „Topp, da hab' ich es,“ er ſchlug dabei froͤh¬
lich auf die Landkarte neben ihm. Der Andere ließ
auf einen Augenblick von ſeinem fleißigen Blaſen ab,
und ſah ihn verwundert an. „Hoͤrt,“ ſagte der Wald¬
horniſt, „nicht weit von Wien iſt ein Schloß, auf dem
Schloße iſt Portier, und der Portier iſt mein Vet¬
ter! Theuerſte Kondiszipels, da muͤſſen wir hin, ma¬
chen dem Herrn Vetter unſer Kompliment, und er
wird dann ſchon dafuͤr ſorgen, wie er uns wieder wei¬
ter fortbringt!“ — Als ich das hoͤrte, fuhr ich ge¬
ſchwind auf. „Blaͤſt er nicht auf dem Fagott?“ rief
ich, „und iſt von langer grader Leibesbeſchaffenheit,
und hat eine große vornehme Naſe?“ — Der Wald¬
horniſt nickte mit dem Kopfe. Ich aber embraſſirte ihn
vor Freuden, daß ihm der Dreiſtutzer vom Kopfe fiel,
und wir beſchloſſen nun ſogleich, alle miteinander im
H 2
Poſtſchiffe auf der Donau nach dem Schloß der ſchoͤ¬
nen Graͤfin hinunter zu fahren.
Als wir an das Ufer kamen, war ſchon alles zur
Abfahrt bereit. Der dicke Gaſtwirth, bei dem das Schiff
uͤber Nacht angelegt hatte, ſtand breit und behaglich
in ſeiner Hausthuͤr, die er ganz ausfuͤllte, und ließ
zum Abſchied allerlei Witze und Redensarten erſchallen,
waͤhrend in jedem Fenſter ein Maͤdchenkopf herausfuhr
und den Schiffern noch freundlich zunickte, die ſo eben
die letzten Pakete nach dem Schiffe ſchafften. Ein aͤlt¬
licher Herr mit einem grauen Ueberrock und ſchwarzen
Halstuch, der auch mitfahren wollte, ſtand am Ufer,
und ſprach ſehr eifrig mit einem jungen ſchlanken
Buͤrſchchen, das mit langen ledernen Beinkleidern und
knapper, ſcharlachrother Jacke vor ihm auf einem praͤch¬
tigen Englaͤnder ſaß. Es ſchien mir zu meiner großen
Verwunderung, als wenn ſie beide zuweilen nach mir
hinblickten und von mir ſpraͤchen. — Zuletzt lachte
der alte Herr, das ſchlanke Buͤrſchchen ſchnallzte mit
der Reitgerte, und ſprengte, mit den Lerchen uͤber ihm
um die Wette, durch die Morgenluft in die blitzende
Landſchaft hinein.
Unterdeß hatten die Studenten und ich unſere
Kaſſe zuſammengeſchoſſen. Der Schiffer lachte und
ſchuͤttelte den Kopf, als ihm der Waldhorniſt damit
unſer Faͤhrgeld in lauter Kupferſtuͤcken aufzaͤhlte, die
wir mit großer Noth aus allen unſern Taſchen zuſam¬
men gebracht hatten. Ich aber jauchzte laut auf, als
ich auf einmal wieder die Donau ſo recht vor mir ſah;
wir ſprangen geſchwind auf das Schiff hinauf, der
Schiffer gab das Zeichen, und ſo flogen wir nun im
ſchoͤnſten Morgenglanze zwiſchen den Bergen und
Wieſen hinunter.
Da ſchlugen die Voͤgel im Walde, und von beiden
Seiten klangen die Morgenglocken von fern aus den
Doͤrfern, hoch in der Luft hoͤrte man manchmal die
Lerchen dazwiſchen. Von dem Schiffe aber jubilirte
und ſchmetterte ein Kanarienvogel mit darein, daß es
eine rechte Luſt war.
Der gehoͤrte einem huͤbſchen jungen Maͤdchen, die auch
mit auf dem Schiffe war. Sie hatte den Kaͤfig dicht neben
ſich ſtehen, von der andern Seite hielt ſie ein feines
Buͤndel Waͤſche unterm Arm, ſo ſaß ſie ganz ſtill fuͤr ſich
und ſah recht zufrieden bald auf ihre neue Reiſeſchuhe,
die unter dem Roͤckchen hervorkamen, bald wieder in das
Waſſer vor ſich hinunter, und die Morgenſonne glaͤnzte
ihr dabei auf der weißen Stirn, uͤber der ſie die Haare
ſehr ſauber geſcheitelt hatte. Ich merkte wohl, daß
die Studenten gern einen hoͤflichen Diskurs mit ihr
angeſponnen haͤtten, denn ſie gingen immer an ihr
voruͤber, und der Waldhorniſt raͤuſperte ſich dabei und
ruͤckte bald an ſeiner Halsbinde, bald an dem Drei¬
ſtutzer. Aber ſie hatten keine rechte Kourage, und das
Maͤdchen ſchlug auch jedesmal die Augen nieder, ſobald
ſie ihr naͤher kamen.
Beſonders aber genirten ſie ſich vor dem aͤltlichen
Herrn, mit dem grauen Ueberrock, der nun auf der
andern Seite des Schiffes ſaß, und den ſie gleich fuͤr einen
Geiſtlichen hielten. Er hatte ein Brevier vor ſich, in
welchem er las, dazwiſchen aber oft in die ſchoͤne Gegend
von dem Buche aufſah, deſſen Goldſchnitt und die vie¬
len dareingelegten bunten Heiligenbilder praͤchtig im
Morgenſchein blitzten. Dabei bemerkte er auch ſehr
gut, was auf dem Schiffe vorging, und erkannte bald
die Voͤgel an ihren Federn; denn es dauerte nicht lange,
ſo redete er einen von den Studenten lateiniſch an, wo¬
rauf alle drei heran traten, die Huͤte vor ihm abnah¬
men, und ihm wieder lateiniſch antworteten.
Ich aber hatte mich unterdeß ganz vorn auf die
Spitze des Schiffes geſetzt, ließ vergnuͤgt meine Beine
uͤber dem Waſſer herunter baumeln, und blickte, waͤh¬
rend das Schiff ſo fort flog und die Wellen unter mir
rauſchten und ſchaͤumten, immerfort in die blaue Ferne,
wie da ein Thurm und ein Schloß nach dem andern
aus dem Ufergruͤn hervorkam, wuchs und wuchs, und
endlich hinter uns wieder verſchwand. Wenn ich nur
heute Fluͤgel haͤtte! dachte ich, und zog endlich vor
Ungeduld meine liebe Violine hervor, und ſpielte alle
meine aͤlteſten Stuͤcke durch, die ich noch zu Hauſe und
auf dem Schloß der ſchoͤnen Frau gelernt hatte.
Auf einmal klopfte mir Jemand von hinten auf
die Achſel. Es war der geiſtliche Herr, der unterdeß
ſein Buch weggelegt, und mir ſchon ein Weilchen zuge¬
hoͤrt hatte. „Ey,“ ſagte er lachend zu mir, „ey, ey,
Herr Ludi magister, Eſſen und Trinken vergißt er.“
Er hieß mich darauf meine Geige einſtecken, um einen
Inbiß mit ihm einzunehmen, und fuͤhrte mich zu einer
kleinen luſtigen Laube, die von den Schiffern aus jun¬
gen Birken nndund Tannenbaͤumchen in der Mitte des
Schiffes aufgerichtet worden war. Dort hatte er ei¬
nen Tiſch hinſtellen laſſen, und ich, die Studenten,
und ſelbſt das junge Maͤdchen mußten uns auf die
Faͤßer und Pakete ringsherum ſetzen.
Der geiſtliche Herr packte nun einen großen Bra¬
ten und Butterſchnitten aus, die ſorgfaͤltig in Papier
gewickelt waren, zog auch aus einem Futteral mehrere
Weinflaſchen und einen ſilbernen, innerlich vergoldeten
Becher hervor, ſchenkte ein, koſtete erſt, roch daran und
pruͤfte wieder und reichte dann einem Jeden von uns.
Die Studenten ſaßen ganz kerzengrade auf ihren Faͤ¬
ßern, und aßen und tranken nur ſehr wenig vor großer
Devotion. Auch das Maͤdchen tauchte bloß das Schnaͤ¬
belchen in den Becher, und blickte dabei ſchuͤchtern bald
auf mich, bald auf die Studenten, aber je oͤfter ſie
uns anſah, je dreiſter wurde ſie nach und nach.
Sie erzaͤhlte endlich dem geiſtlichen Herrn, daß ſie
nun zum erſtenmale von Hauſe in Condition komme,
und ſo eben auf das Schloß ihrer neuen Herrſchaft
reiſe. Ich wurde uͤber und uͤber roth, denn ſie nannte
dabei das Schloß der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau. — Alſo
das ſoll meine zukuͤnftige Kammerjungfer ſeyn! dachte
ich und ſah ſie groß an, und mir ſchwindelte faſt da¬
bei. — „Auf dem Schloße wird es bald eine große
Hochzeit geben,“ ſagte darauf der geiſtliche Herr. „Ja,“
erwiederte das Maͤdchen, die gern von der Geſchichte
mehr gewußt haͤtte; „man ſagt, es waͤre ſchon eine
alte, heimliche Liebſchaft geweſen, die Graͤfin haͤtte es
aber niemals zugeben wollen.“ Der Geiſtliche ant¬
wortete nur mit: „Hm, hm,!“ waͤhrend er ſeinen
Jagdbecher vollſchenkte, und mit bedenklichen Mienen
daraus nippte. Ich aber hatte mich mit beiden Armen
weit uͤber den Tiſch vorgelegt, um die Unterredung
recht genau anzuhoͤren. Der geiſtliche Herr bemerkte
es. „Ich kann's Euch wohl ſagen,“ hub er wieder an,
„die beiden Graͤfinnen haben mich auf Kundſchaft aus¬
geſchickt, ob der Braͤutigam ſchon vielleicht hier in der
Gegend ſey. Eine Dame aus Rom hat geſchrieben,
daß er ſchon lange von dort fort ſey. —“ Wie er von
der Dame aus Rom anfing, wurd' ich wieder roth.
„Kennen denn Ew. Hochwuͤrden den Braͤutigam?“
fragte ich ganz verwirrt. — „Nein,“ erwiederte der
alte Herr, „aber er ſoll ein luftiger Vogel ſein.“ —
„O ja,“ ſagte ich haſtig, „ein Vogel, der aus jeden Kaͤ¬
fig ausreißt, ſobald er nur kann, und luſtig ſingt, wenn
er wieder in der Freiheit iſt.“ — „Und ſich in der
Fremde herumtreibt,“ fuhr der Herr gelaſſen fort, „in
der Nacht paßatim geht, und am Tage vor den Haus¬
thuͤren ſchlaͤft.“ — Mich verdroß das ſehr. „Ehrwuͤr¬
diger Herr,“ rief ich ganz hitzig aus, „da hat man
Euch falſch berichtet. Der Braͤutigam iſt ein morali¬
ſcher, ſchlanker, hoffnungsvoller Juͤngling, der in Ita¬
lien in einem alten Schloße auf großen Fuß gelebt
hat, der mit lauter Graͤfinnen, beruͤhmten Malern und
Kammerjungfern umgegangen iſt, der ſein Geld ſehr
wohl zu Rathe zu halten weiß, wenn er nur welches
haͤtte, der“ — „Nun, nun, ich wußte nicht, daß Ihr
ihn ſo gut kennt,“ unterbrach mich hier der Geiſtliche,
und lachte dabei ſo herzlich, daß er ganz blau im Geſichte
wurde, und ihm die Thraͤnen aus den Augen rollten. —
„Ich hab' doch aber gehoͤrt,“ ließ ſich nun das Maͤd¬
chen wieder vernehmen, „der Braͤutigam waͤre ein gro¬
ßer, uͤberaus reicher Herr.“ — „Ach Gott, ja doch,
ja! Confuſion, nichts als Confuſion!“ rief der Geiſt¬
liche und konnte ſich noch immer vor Lachen nicht zu
Gute geben, bis er ſich endlich gangganz verhuſtete. Als
er ſich wieder ein wenig erholt hatte, hob er den Be¬
cher in die Hoͤh und rief: „das Brautpaar ſoll leben!“
— Ich wußte gar nicht, was ich von dem Geiſtlichen
und ſeinem Gerede denken ſollte, ich ſchaͤmte mich aber,
wegen der roͤmiſchen Geſchichten, ihm hier vor allen
Leuten zu ſagen, daß ich ſelber der verlorene gluͤckſee¬
lige Braͤutigam ſey.
Der Becher ging wieder fleißig in die Runde, der
geiſtliche Herr ſprach dabei freundlich mit Allen, ſo daß
ihm bald ein Jeder gut wurde, und am Ende alles
froͤhlich durcheinander ſprach. Auch die Studenten wur¬
den immer redſeliger und erzaͤhlten von ihren Fahrten
im Gebirge, bis ſie endlich gar ihre Inſtrumente hol¬
ten und luſtig zu blaſen anfingen. Die kuͤhle Waſſer¬
luft ſtrich dabei durch die Zweige der Laube, die Abend¬
ſonne vergoldete ſchon die Waͤlder und Thaͤler, die
ſchnell an uns voruͤberflogen, waͤhrend die Ufer von
den Waldhornsklaͤngen wiederhallten. — Und als dann
der Geiſtliche von der Muſik immer vergnuͤgter wurde
und luſtige Geſchichten aus ſeiner Jugend erzaͤhlte:
wie auch er zur Vakanz uͤber Berge und Thaͤler gezo¬
gen, und oft hungrig und durſtig, aber immer froͤhlich
geweſen, und wie eigentlich das ganze Studentenleben
eine große Vakanz ſey zwiſchen der engen duͤſtern Schule
und der ernſten Amtsarbeit — da tranken die Studen¬
ten noch einmal herum, und ſtimmten dann friſch ein
Lied an, daß es weit in die Berge hineinſchallte:
Nach Suͤden nun ſich lenken
Die Voͤglein allzumal,
Viel' Wandrer luſtig ſchwenken
Die Huͤt' im Morgenſtrahl.
Das ſind die Herrn Studenten,
Zum Thor hinaus es geht,
Auf ihren Inſtrumenten
Sie blaſen zum Valet:
Ade in die Laͤng' und Breite
O Prag, wir ziehn in die Weite:
Et habeat bonam pacem,
Qui sedet post fornacem!
Nachts wir durch's Staͤdtlein ſchweifen,
Die Fenſter ſchimmern weit,
Am Fenſter dreh'n und ſchleifen
Viel ſchoͤn geputzte Leut.
Wir blaſen vor den Thuͤren
Und haben Durſt genung,
Das kommt vom Muſiziren,
Herr Wirth, einen friſchen Trunk!
Und ſiehe uͤber ein Kleines
Mit einer Kanne Weines
Venit ex sua domo —
Beatus ille homo!
Nun weht ſchon durch die Waͤlder
Der kalte Boreas,
Wir ſtreichen durch die Felder,
Von Schnee und Regen naß,
Der Mantel fliegt im Winde,
Zerriſſen ſind die Schuh,
Da blaſen wir geſchwinde
Und ſingen noch dazu:
Beatus ille homo
Qui sedet in sua domo
Et sedet post fornacem
Et habet bonam pacem!
Ich, die Schiffer und das Maͤdchen, obgleich wir
alle kein Latein verſtanden, ſtimmten jedesmal jauch¬
zend in den letzten Vers mit ein, ich aber jauchzte am
allervergnuͤgteſten, denn ich ſah ſo eben von fern mein
Zollhaͤuschen und bald darauf auch das Schloß in der
Abendſonne uͤber die Baͤume hervorkommen.
Zehntes Kapitel.
Das Schiff ſtieß an das Ufer, wir ſprangen ſchnell
ans Land und vertheilten uns nun nach allen Seiten
im Gruͤnen, wie Voͤgel, wenn das Gebauer ploͤtzlich
aufgemacht wird. Der geiſtliche Herr nahm eiligen
Abſchied und ging mit großen Schritten nach dem
Schloſſe zu. Die Studenten dagegen wanderten eifrig
nach einem abgelegenen Gebuͤſch, wo ſie noch geſchwind
ihre Maͤntel ausklopfen, ſich in dem voruͤberfließenden
Bache waſchen, und einer den andern raſiren wollten.
Die neue Kammerjungfer endlich ging mit ihrem Ka¬
narienvogel und ihrem Buͤndel unterm Arm nach dem
Wirthshauſe unter dem Schloßberge, um bei der Frau
Wirthin, die ich ihr als eine gute Perſon rekommandirt
hatte, ein beſſeres Kleid anzulegen, ehe ſie ſich oben im
Schloſſe vorſtellte. Mir aber leuchtete der ſchoͤne Abend
recht durchs Herz, und als ſie ſich nun alle verlaufen
hatten, bedachte ich mich nicht lange und rannte ſo¬
gleich nach dem herrſchaftlichen Garten hin.
Mein Zollhaus, an dem ich vorbei mußte, ſtand
noch auf der alten Stelle, die hohen Baͤume aus dem
herrſchaftlichen Garten rauſchten noch immer daruͤber
hin, ein Goldammer, der damals auf dem Kaſtanien¬
baume vor dem Fenſter jedesmal bei Sonnenuntergang
ſein Abendlied geſungen hatte, ſang auch wieder, als
waͤre ſeitdem gar nichts in der Welt vorgegangen. Das
Fenſter im Zollhauſe ſtand offen, ich lief voller Freuden
hin und ſteckte den Kopf in die Stube hinein. Es war
Niemand darin, aber die Wanduhr pickte noch immer
ruhig fort, der Schreibtiſch ſtand am Fenſter, und die
lange Pfeife in einem Winkel, wie damals. Ich konnte
nicht widerſtehen, ich ſprang durch das Fenſter hinein,
und ſetzte mich an den Schreibtiſch vor das große Re¬
chenbuch hin. Da fiel der Sonnenſchein durch den
Kaſtanienbaum vor dem Fenſter wieder gruͤngolden auf
die Ziffern in dem aufgeſchlagenen Buche, die Bienen
ſummten wieder an dem offnen Fenſter hin und her, der
Goldammer draußen auf dem Baume ſang froͤhlich
immerzu. — Auf einmal aber ging die Thuͤre aus der
Stube auf, und ein alter, langer Einnehmer in meinem
punktirten Schlafrock trat herein! Er blieb in der
Thuͤre ſtehen, wie er mich ſo unverſehens erblickte,
nahm ſchnell die Brille von der Naſe, und ſah mich
grimmig an. Ich aber erſchrack nicht wenig daruͤber,
ſprang, ohne ein Wort zu ſagen, auf, und lief aus der
Hausthuͤr durch den kleinen Garten fort, wo ich mich
noch bald mit den Fuͤßen in dem fatalen Kartoffelkraut
verwickelt haͤtte, das der alte Einnehmer nunmehr, wie
ich ſah, nach des Portiers Rath ſtatt meiner Blumen
angepflanzt hatte. Ich hoͤrte noch, wie er vor die Thuͤr
herausfuhr und hinter mir drein ſchimpfte, aber ich
ſaß ſchon oben auf der hohen Gartenmauer, und ſchaute
mit klopfendem Herzen in den Schloßgarten hinein.
Da war ein Duften und Schimmern und Jubili¬
ren von allen Voͤglein; die Plaͤtze und Gaͤnge waren
leer, aber die vergoldeten Wipfel neigten ſich im Abend¬
winde vor mir, als wollten ſie mich bewillkommnen, und
ſeitwaͤrts aus dem tiefen Grunde blitzte zuweilen die
Donau zwiſchen den Baͤumen nach mir herauf.
Auf einmal hoͤrte ich in einiger Entfernung im
Garten ſingen:
Schweigt der Menſchen laute Luſt:
Rauſcht die Erde wie in Traͤumen
Wunderbar mit allen Baͤumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es ſchweifen leiſe Schauer
Wetterleuchtend durch die Bruſt.
Die Stimme und das Lied klang mir ſo wunder¬
lich, und doch wieder ſo altbekannt‚ als haͤtte ich's ir¬
gend einmal im Traume gehoͤrt. Ich dachte lange,
lange nach. — „Das iſt der Herr Guido!“ rief ich end¬
lich voller Freude, und ſchwang mich ſchnell in den
Garten hinunter — es war daſſelbe Lied, das er an
jenem Sommerabend auf dem Balkon des italieniſchen
Wirthshauſes ſang, wo ich ihn zum letztenmal geſehn
hatte.
Er ſang noch immer fort, ich aber ſprang uͤber
Beete und Hecken dem Liede nach. Als ich nun zwi¬
ſchen den letzten Roſenſtraͤuchern hervor trat, blieb ich
ploͤtzlich wie verzaubert ſtehen. Denn auf dem gruͤnen
Platze am Schwanenteich, recht vom Abendroth beſchie¬
nen, ſaß die ſchoͤne gnaͤdige Frau, in einem praͤchtigen
Kleide und einem Kranz von weißen und rothen Ro¬
ſen in dem ſchwarzen Haar, mit niedergeſchlagenen Au¬
gen auf einer Steinbank und ſpielte waͤhrend des Lie¬
des mit ihrer Reitgerte vor ſich auf dem Raſen, grade
ſo wie damals auf dem Kahne, da ich ihr das Lied von
der ſchoͤnen Frau vorſingen mußte. Ihr gegenuͤber ſaß
eine andre junge Dame, die hatte den weißen runden
Nacken voll brauner Locken gegen mich gewendet, und
ſang zur Guitarre, waͤhrend die Schwaͤne auf dem
ſtillen Weiher langſam im Kreiſe herumſchwammen. —
Da hob die ſchoͤne Frau auf einmal die Augen, und
ſchrie laut auf, da ſie mich erblickte. Die andere Dame
wandte ſich raſch nach mir herum, daß ihr die Locken
ins Geſicht flogen, und da ſie mich recht anſah, brach
ſie in ein unmaͤßiges Lachen aus, ſprang dann von der
Bank und klatſchte dreimal mit den Haͤndchen. In
demſelben Augenblick kam eine große Menge kleiner
Maͤdchen in bluͤthenweißen kurzen Kleidchen mit gruͤ¬
nen und rothen Schleifen zwiſchen den Roſenſtraͤu¬
chern hervorgeſchluͤpft, ſo daß ich gar nicht begreifen
konnte, wo ſie alle geſteckt hatten. Sie hielten eine
lange Blumenguirlande in den Haͤnden, ſchloſſen ſchnell
einen Kreis um mich, tanzten um mich herum und
ſangen dabei:
Wir bringen Dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Seide,
Wir fuͤhren Dich zu Luſt und Tanz,
Zu neuer Hochzeitsfreude.
Schoͤner, gruͤner Jungfernkranz,
Veilchenblaue Seide.
Das war aus dem Freiſchuͤtzen. Von den kleinen
Saͤngerinnen erkannte ich nun auch einige wieder, es
waren Maͤdchen aus dem Dorfe. Ich kneipte ſie in
die Wangen und waͤre gern aus dem Kreiſe entwiſcht,
aber die kleinen ſchnippiſchen Dinger ließen mich nicht
heraus. — Ich wußte gar nicht, was die Geſchichte
eigentlich bedeuten ſollte, und ſtand ganz verbluͤfft da.
Da trat ploͤtzlich ein junger Mann in feiner Jaͤ¬
gerkleidung aus dem Gebuͤſch hervor. Ich traute mei¬
nen Augen kaum — es war der froͤhliche Herr Leon¬
hard! — Die kleinen Maͤdchen oͤffneten nun den Kreis
und ſtanden auf einmal wie verzaubert, alle unbeweg¬
lich auf einem Beinchen, waͤhrend ſie das andere in
die Luft ſtreckten, und dabei die Blumenguirlanden mit
beiden Armen hoch uͤber den Koͤpfen in die Hoͤh' hiel¬
ten. Der Herr Leonhard aber faßte die ſchoͤne gnaͤdige
Frau, die noch immer ganz ſtill ſtand und nur manch¬
mal auf mich heruͤber blickte, bei der Hand, fuͤhrte ſie
bis zu mir und ſagte:
„Die Liebe — daruͤber ſind nun alle Gelehrten ei¬
nig — iſt eine der kuragioͤſeſten Eigenſchaften des
menſchlichen Herzens, die Baſtionen von Rang und
Stand ſchmettert ſie mit einem Feuerblicke darnieder,
die Welt iſt ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja,
ſie iſt eigentlich ein Poeten-Mantel, den jeder Phan¬
taſt einmal in der kalten Welt umnimmt, um nach Ar¬
kadien auszuwandern. Und je entfernter zwei getrennte
Verliebte von einander wandern, in deſto anſtaͤndigern
Bogen blaͤſt der Reiſewind den ſchillernden Mantel hin¬
ter ihnen auf, deſto kuͤhner und uͤberraſchender ent¬
wickelt ſich der Faltenwurf, deſto laͤnger und laͤnger
waͤchſt der Talar den Liebenden hinten nach, ſo daß
ein Neutraler nicht uͤber Land gehen kann, ohne un¬
verſehens auf ein Paar ſolche Schleppen zu treten.
O theuerſter Herr Einnehmer und Braͤutigam! obgleich
Ihr in dieſem Mantel bis an den Geſtaden der Tiber
dahinrauſchtet, das kleine Haͤndchen Eurer gegenwaͤrti¬
gen Braut hielt Euch dennoch am aͤußerſten Ende der
Schleppe feſt, und wie Ihr zucktet und geigtet und ru¬
mortet, Ihr mußtet zuruͤck in den ſtillen Bann ihrer
ſchoͤnen Augen. — Und nun dann, da es ſo gekom¬
men iſt, Ihr zwei lieben, lieben naͤrriſchen Leute!
ſchlagt den ſeeligen Mantel um Euch, daß die ganze
andere Welt rings um Euch untergeht — liebt Euch
wie die Kaninchen und ſeyd gluͤcklich!“
Der Herr Leonhard war mit ſeinem Sermon kaum
erſt fertig, ſo kam auch die andere junge Dame, die
vorhin das Liedchen geſungen hatte, auf mich los, ſetzte
mir ſchnell einen friſchen Mirthenkranz auf den Kopf,
und ſang dazu ſehr neckiſch, waͤhrend ſie mir den Kranz
in den Haaren feſtruͤckte und ihr Geſichtchen dabei
dicht vor mir war:
Darum bin ich Dir gewogeugewogen,
Darum wird Dein Haupt geſchmückt,
Weil der Strich von Deinem Bogen
Oefters hat mein Herz entzückt.
Dann trat ſie wieder ein paar Schritte zuruͤck. —
„Kennſt Du die Raͤuber noch, die Dich damals in der
Nacht vom Baume ſchuͤttelten?“ ſagte ſie, indem ſie
einen Knix mir machte und mich ſo anmuthig und
froͤhlich anſah, daß mir ordentlich das Herz im Leibe
lachte. Darauf ging ſie, ohne meine Antwort abzuwar¬
ten, rings um mich herum. „Wahrhaftig noch ganz der
Alte, ohne allen welſchen Beiſchmack! aber nein, ſieh
doch nur einmal die dicken Taſchen an!“ rief ſie ploͤtz¬
lich zu der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau, „Violine, Waͤſche,
Barbiermeſſer, Reiſekoffer, alles durcheinander!“ Sie
drehte mich dabei nach allen Seiten, und konnte ſich
vor Lachen gar nicht zu Gute geben. Die ſchoͤne gnaͤ¬
dige Frau war unterdeß noch immer ſtill, und mochte
gar nicht die Augen aufſchlagen vor Schaam und Ver¬
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wirrung. Oft kam es mir vor, als zuͤrnte ſie heimlich
uͤber das viele Gerede und Spaßen. Endlich ſtuͤrzten
ihr ploͤtzlich Thraͤnen aus den Augen, und ſie verbarg
ihr Geſicht an der Bruſt der andern Dame. Dieſe
ſah ſie erſt erſtaunt an, und druͤckte ſie dann herzlich
an ſich.
Ich aber ſtand ganz verdutzt da. Denn je genauer
ich die fremde Dame betrachtete, deſto deutlicher er¬
kannte ich ſie, es war wahrhaftig niemand anders, als —
der junge Herr Maler Guido!
Ich wußte gar nicht was ich ſagen ſollte, und
wollte ſo eben naͤher nachfragen, als Herr Leonhard zu
ihr trat und heimlich mit ihr ſprach. „Weiß er denn
noch nicht?“ hoͤrte ich ihn fragen. Sie ſchuͤttelte mit
dem Kopfe. Er beſann ſich darauf einen Augenblick.
„Nein, nein,“ ſagte er endlich, „er muß ſchnell alles
erfahren, ſonſt entſteht nur neues Geplauder und Ge¬
wirre.“
„Herr Einnehmer,“ wandte er ſich nun zu mir,
„wir haben jetzt nicht viel Zeit, aber thue mir den Ge¬
fallen und wundere Dich hier in aller Geſchwindigkeit
aus, damit Du nicht hinterher durch Fragen, Erſtau¬
nen und Kopfſchuͤtteln unter den Leuten alte Geſchich¬
ten aufruͤhrſt, und neue Erdichtungen und Vermuthun¬
gen ausſchuͤttelſt.“ — Er zog mich bei dieſen Worten
tiefer in das Gebuͤſch hinein, waͤhrend das Fraͤulein
mit der, von der ſchoͤnen gnaͤdigen Frau weggelegten
Reitgerte in der Luft focht und alle ihre Locken tief
in das Geſichtchen ſchuͤttelte, durch die ich aber doch
ſehen konnte, daß ſie bis an die Stirn roth wurde. —
„Nun denn,“ ſagte Herr Leonhard, „Fraͤulein Flora
die hier ſo eben thun will, als hoͤrte und wuͤßte ſie
von der ganzen Geſchichte nichts, hatte in aller Ge¬
ſchwindigkeit ihr Herzchen mit Jemandem vertauſcht.
Daruͤber kommt ein Andrer und bringt ihr mit Pro¬
logen, Trompeten und Pauken wiederum ſein Herz
dar und will ihr Herz dagegen. Ihr Herz iſt aber
ſchon bei Jemand, und Jemands Herz bei ihr, und
der Jemand will ſein Herz nicht wieder haben, und
ihr Herz nicht wieder zuruͤck geben. Alle Welt ſchreit
— aber Du haſt wohl noch keinen Roman geleſen?“ —
Ich verneinte es. — „Nun, ſo haſt Du doch einen
mitgeſpielt. Kurz: das war eine ſolche Konfuſion
mit den Herzen, daß der Jemand — das heißt ich —
mich zuletzt ſelbſt ins Mittel legen mußte. Ich ſchwang
mich bei lauer Sommernacht auf mein Roß, hob das
Fraͤulein als Maler Guido auf das andere und ſo ging
es fort nach Suͤden, um ſie in einem meiner einſamen
Schloͤſſer in Italien zu verbergen, bis das Geſchrei
wegen der Herzen voruͤber waͤre. Unterweges aber
kam man uns auf die Spur, und von dem Balkon des
welſchen Wirthshauſes, vor dem Du ſo vortrefflich
Wache ſchliefſt, erblickte Flora ploͤtzlich unſere Verfol¬
ger.“ — „Alſo der bucklichte Signor?“ — „War ein
Spion. Wir zogen uns daher heimlich in die Waͤlder,
und ließen Dich auf dem vorbeſtellten Poſtkurſe allein
fortfahren. Das taͤuſchte unſere Verfolger, und zum
Ueberfluß auch noch meine Leute auf dem Bergſchloſſe,
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welche die verkleidete Flora ſtuͤndlich erwarteten, und
mit mehr Dienſteifer als Scharfſinn Dich fuͤr das
Fraͤulein hielten. Selbſt hier auf dem Schloſſe glaubte
man, daß Flora auf dem Felſen wohne, man erkundigte
ſich, man ſchrieb an ſie — haſt Du nicht ein Briefchen
erhalten?“ — Bei dieſen Worten fuhr ich blitzſchnell
mit dem Zettel aus der Taſche. — „Alſo dieſer Brief?“ —
„Iſt an mich,“ ſagte Fraͤulein Flora, die bisher auf
unſre Rede gar nicht Acht zu geben ſchien, riß mir
den Zettel raſch aus der Hand, uͤberlas ihn und ſteckte
ihn dann in den Buſen. — „Und nun,“ ſagte Herr
Leonhard, „muͤſſen wir ſchnell in das Schloß, da wartet
ſchon Alles auf uns. Alſo zum Schluß, wie ſich's von
ſelbſt verſteht und einem wohlerzognen Romane ge¬
buͤhrt: Entdeckung, Reue, Verſoͤhnung, wir ſind alle
wieder luſtig beiſammen, und uͤbermorgen iſt Hochzeit!“
Da er noch ſo ſprach, erhob ſich ploͤtzlich in dem
Gebuͤſch ein raſender Spektakel von Pauken und Trom¬
peten, Hoͤrnern und Poſaunen; Boͤller wurden dazwi¬
ſchen geloͤſt und Vivat gerufen, die kleinen Maͤdchen
tanzten von neuem, und aus allen Straͤuchern kam ein
Kopf uͤber dem andern hervor, als wenn ſie aus der
Erde wuͤchſen. Ich ſprang in dem Geſchwirre und
Geſchleife Ellenhoch von einer Seite zur andern, da
es aber ſchon dunkel wurde, erkannte ich erſt nach und
nach alle die alten Geſichter wieder. Der alte Gaͤrt¬
ner ſchlug die Pauken, die Prager Studenten in ihren
Maͤnteln muſizirten mitten darunter, neben ihnen fin¬
gerte der Portier wie toll auf ſeinem Fagott. Wie ich
den ſo unverhofft erblickte, lief ich ſogleich auf ihn zu,
und embraſſirte ihn heftig. Daruͤber kam er ganz aus
dem Conzept. „Nun wahrhaftig und wenn der bis ans
Ende der Welt reiſt, er iſt und bleibt ein Narr!“ rief
er den Studenten zu, und blies ganz wuͤthend weiter.
Unterdeß war die ſchoͤne gnaͤdige Frau vor dem
Rumor heimlich entſprungen, und flog wie ein aufge¬
ſcheuchtes Reh uͤber den Raſen tiefer in den Garten
hinein. Ich ſah es noch zur rechten Zeit und lief ihr
eiligſt nach. Die Muſikanten merkten in ihrem Eifer
nichts davon, ſie meinten nachher: wir waͤren ſchon
nach dem Schloſſe aufgebrochen, und die ganze Bande
ſetzte ſich nun mit Muſik und großem Getuͤmmel gleich¬
falls dorthin auf den Marſch.
Wir aber waren faſt zu gleicher Zeit in einem Som¬
merhauſe angekommen, daß am Abhange des Gartens
ſtand, mit dem offnen Fenſter nach dem weiten tiefen
Thale zu. Die Sonne war ſchon lange untergegangen
hinter den Bergen, es ſchimmerte nur noch wie ein
roͤthlicher Duft uͤber dem warmen, verſchallenden Abend,
aus dem die Donau immer vernehmlicher herauf
rauſchte, je ſtiller es ringsum wurde. Ich ſah unver¬
wandt die ſchoͤne Graͤfin an, die ganz erhitzt vom Lau¬
fen dicht vor mir ſtand, ſo daß ich ordentlich hoͤren
konnte, wie ihr das Herz ſchlug. Ich wußte nun aber
gar nicht, was ich ſprechen ſollte vor Reſpekt, da ich
auf einmal ſo allein mit ihr war. Endlich faßte ich
ein Herz, nahm ihr kleines weißes Haͤndchen — da zog
ſie mich ſchnell an ſich und fiel mir um den Hals, und
ich umſchlang ſie feſt mit beiden Armen.
Sie machte ſich aber geſchwind wieder los und
legte ſich ganz verwirrt in das Fenſter, um ihre gluͤ¬
henden Wangen in der Abendluft abzukuͤhlen. — „Ach,“
rief ich, „mir iſt mein Herz recht zum Zerſpringen, aber
ich kann mir noch alles nicht recht denken, es iſt mir
alles noch wie ein Traum!“ — „Mir auch,“ ſagte
die ſchoͤne gnaͤdige Frau. „Als ich vergangenen Som¬
mer,“ ſetzte ſie nach einer Weile hinzu, „mit der Graͤ¬
fin aus Rom kam, und wir das Fraͤulein Flora gluͤck¬
lich gefunden hatten, und mit zuruͤckbrachten, von Dir
aber dort und hier nichts hoͤrten — da dacht' ich nicht,
daß alles noch ſo kommen wuͤrde! Erſt heut zu Mit¬
tag ſprengte der Jokey, der gute flinke Burſch, athem¬
los auf den Hof und brachte die Nachricht, daß Du
mit dem Poſtſchiffe kaͤmſt.“ — Dann lachte ſie ſtill
in ſich hinein. „Weißt Du noch,“ ſagte ſie, „wie Du
mich damals auf dem Balkon zum letzenmal ſahſt? das
war grade wie heute, auch ſo ein ſtiller Abend, und
Muſik im Garten.“ — „Wer iſt denn eigentlich ge¬
ſtorben?“ frug ich haſtig. — „Wer denn?“ ſagte die
ſchoͤne Frau uudund ſah mich erſtaunt an. — „Der Herr
Gemahl von Ew. Gnaden,“ erwiederte ich, „der da¬
mals mit auf dem Balkon ſtand.“ — Sie wurde ganz
roth. „Was haſt Du auch fuͤr Seltſamkeiten im
Kopfe!“ rief ſie aus, „das war ja der Sohn von der
Graͤfin, der eben von Reiſen zuruͤckkam, und es traf
grade auch mein GeburstagGeburtstag, da fuͤhrte er mich mit
auf den Balkon hinaus, damit ich auch ein Vivat be¬
kaͤme. — Aber deshalb biſt Du wohl damals von hier
fortgelaufen?“ — „Ach Gott, freilich!“ rief ich aus,
und ſchlug mich mit der Hand vor die Stirn. Sie aber
ſchuͤttelte mit dem Koͤpfchen und lachte recht herzlich.
Mir war ſo wohl, wie ſie ſo froͤhlich und vertrau¬
lich neben mir plauderte, ich haͤtte bis zum Morgen zu¬
hoͤren moͤgen. Ich war ſo recht ſeelenvergnuͤgt, und
langte eine Hand voll Knackmandeln aus der Taſche,
die ich noch aus Italien mitgebracht hatte. Sie nahm
auch davon, und wir knackten nun und ſahen zufrieden
in die ſtille Gegend hinaus. — „Siehſt Du,“ ſagte
ſie nach einem Weilchen wieder, „das weiße Schloͤ߬
chen, das da druͤben im Mondſchein glaͤnzt, das hat
uns der Graf geſchenkt, ſammt dem Garten und den
Weinbergen, da werden wir wohnen. Er wußt es ſchon
lange, daß wir einander gut ſind, und iſt Dir ſehr ge¬
wogen, denn haͤtt' er Dich nicht mitgehabt, als er das
Fraͤulein aus der Penſions-Anſtalt entfuͤhrte, ſo waͤ¬
ren ſie beide erwiſcht worden, ehe ſie ſich vorher noch
mit der Graͤfin verſoͤhnten, und alles waͤre anders ge¬
kommen.“ — „Mein Gott, ſchoͤnſte, gnaͤdigſte Graͤfin,“
rief ich aus, „ich weiß gar nicht mehr, wo mir der
Kopf ſteht vor lauter unverhofften Neuigkeiten; alſo
der Herr Leonhard?“ — „Ja, ja,“ fiel ſie mir in die
Rede, „ſo nannte er ſich in Italien; dem gehoͤren die
Herrſchaften da druͤben, und er heirathet nun unſerer
Graͤfin Tochter, die ſchoͤne Flora. — Aber was nennſt
Du mich denn Graͤfin?“ — Ich ſah ſie groß an. —
„Ich bin ja gar keine Graͤfin,“ fuhr ſie fort, „unſere
gnaͤdige Graͤfin hat mich nur zu ſich auf's Schloß ge¬
nommen, da mich mein Onkel, der Portier, als kleines
Kind und arme Waiſe mit hierher brachte.“
Nun war's mir doch nicht anders, als wenn mir
ein Stein vom Herzen fiele! „Gott ſegne den Por¬
tier,“ verſetzte ich ganz entzuͤckt, „daß er unſer Onkel
iſt! ich habe immer große Stuͤcke auf ihn gehalten.“ —
„Er meint es auch gut mit Dir,“ erwiederte ſie, „wenn
Du Dich nur etwas vornehmer hielteſt, ſagt er immer.
Du mußt Dich jetzt auch eleganter kleiden.“ — „O,“
rief ich voller Freuden, „engliſchen Frack, Strohhut
und Pumphoſen und Sporen! und gleich nach der
Trauung reiſen wir fort nach Italien, nach Rom, da
gehn die ſchoͤnen Waſſerkuͤnſte, und nehmen die Prager
Studenten mit und den Portier!“ — Sie laͤchelte
ſtill und ſah mich recht vergnuͤgt und freundlich an,
und von fern ſchallte immerfort die Muſik heruͤber,
und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die ſtille
Nacht uͤber die Gaͤrten, und die Donau rauſchte da¬
zwiſchen herauf — und es war alles, alles gut!
Das Marmorbild.
Eine Novelle.
Es war ein ſchoͤner Sommerabend, als Florio, ein
junger Edelmann, langſam auf die Thore von Lucca
zuritt, ſich erfreuend an dem feinen Dufte, der uͤber
der wunderſchoͤnen Landſchaft und den Thuͤrmen und
Daͤchern der Stadt vor ihm zitterte, ſo wie an den
bunten Zuͤgen zierlicher Damen und Herren, welche
ſich zu beiden Seiten der Straße unter den hohen Ka¬
ſtanien-Alleen froͤhlichſchwaͤrmend ergingen.
Da geſellte ſich, auf zierlichem Zelter deſſelben
Weges ziehend, ein anderer Reiter in bunter Tracht,
eine goldene Kette um den Hals und ein ſammtnes
Baret mit Federn uͤber den dunkelbraunen Locken,
freundlich gruͤßend zu ihm. Beide hatten, ſo neben
einander in den dunkelnden Abend hineinreitend, gar
bald ein Geſpraͤch angeknuͤpft, und dem jungen Florio
duͤnkte die ſchlanke Geſtalt des Fremden, ſein friſches
keckes Weſen, ja ſelbſt ſeine froͤhliche Stimme ſo uͤber¬
aus anmuthig, daß er gar nicht von demſelben wegſe¬
hen konnte.
„Welches Geſchaͤft fuͤhrt Euch nach Lucca?“ fragte
endlich der Fremde. „Ich habe eigentlich gar keine
Geſchaͤfte,“ antwortete Florio ein wenig ſchuͤchtern
„Gar keine Geſchaͤfte? — Nun, ſo ſeyd Ihr ſicherlich
ein Poet!“ verſetzte jener luſtig lachend. „Das wohl
eben nicht,“ erwiderte Florio und wurde uͤber und
uͤber roth. „Ich habe mich wohl zuweilen in der froͤh¬
lichen Sangeskunſt verſucht, aber wenn ich dann wie¬
der die alten großen Meiſter las, wie da alles wirklich
da iſt und leibt und lebt, was ich mir manchmal heim¬
lich nur wuͤnſchte und ahnete, da komm ich mir vor
wie ein ſchwaches vom Winde verwehtes Lerchenſtimm¬
lein unter dem unermeßlichen Himmelsdom.“ — „Je¬
der lobt Gott auf ſeine Weiſe,“ ſagte der Fremde, „und
alle Stimmen zuſammen machen den Fruͤhling.“ Da¬
bei ruhten ſeine großen geiſtreichen Augen mit ſichtba¬
rem Wohlgefallen auf dem ſchoͤnen Juͤnglinge, der ſo
unſchuldig in die daͤmmernde Welt vor ſich hinausſah.
„Ich habe jetzt,“ fuhr dieſer nun kuͤhner und ver¬
traulicher fort, „das Reiſen erwaͤhlt, und befinde mich
wie aus einem Gefaͤngniß erloͤſt, alle alten Wuͤnſche
und Freuden ſind nun auf einmal in Freiheit geſetzt.
Auf dem Lande in der Stille aufgewachſen, wie lange
habe ich da die fernen blauen Berge ſehnſuͤchtig be¬
trachtet, wenn der Fruͤhling wie ein zauberiſcher Spiel¬
mann durch unſern Garten ging und von der wunder¬
ſchoͤnen Ferne verlockend ſang und von großer uner¬
meßlicher Luſt.“ — Der Fremde war uͤber die letzten
Worte in tiefe Gedanken verſunken. „Habt Ihr wohl
jemals,“ ſagte er zerſtreut aber ſehr ernſthaft, „von
dem wunderbaren Spielmann gehoͤrt, der durch ſeine
Toͤne die Jugend in einen Zauberberg hinein ver¬
lockt, aus dem Keiner wieder zuruͤckgekehrt iſt? Huͤtet
Euch!“ —
Florio wußte nicht, was er aus dieſen Worten
des Fremden machen ſollte, konnte ihn auch weiter
darum nicht befragen; denn ſie waren ſo eben, ſtatt
zu dem Thore, unvermerkt dem Zuge der Spaziergaͤnger
folgend, an einen weiten gruͤnen Platz gekommen, auf
dem ſich ein froͤhlichſchallendes Reich von Muſik, bun¬
ten Zelten, Reitern und Spazierengehenden in den letz¬
ten Abendgluthen ſchimmernd hin und her bewegte.
„Hier iſt gut wohnen,“ ſagte der Fremde luſtig,
ſich vom Zelter ſchwingend; „auf baldiges Wieder¬
ſehn!“ und hiermit war er ſchnell in dem Gewuͤhle
verſchwunden.
Florio ſtand in freudigem Erſtaunen einen Au¬
genblick ſtill vor der unerwarteten Ausſicht. Dann
folgte auch er dem Beiſpiele ſeines Begleiters, uͤber¬
gab das Pferd ſeinem Diener und miſchte ſich in den
muntern Schwarm.
Verſteckte Muſikchoͤre erſchallten da von allen Sei¬
ten aus den bluͤhenden Gebuͤſchen, unter den hohen
Baͤumen wandelten ſittige Frauen auf und nieder und
ließen die ſchoͤnen Augen muſternd ergehen uͤber die
glaͤnzende Wieſe, lachend und plaudernd und mit den
bunten Federn nickend im lauen Abendgolde wie ein
Blumenbeet, das ſich im Winde wiegt. Weiterhin auf
einem heitergruͤnen Plan vergnuͤgten ſich mehrere
Maͤdchen mit Ballſpielen. Die buntgefiederten Baͤlle
flatterten wie Schmetterlinge, glaͤnzende Bogen hin und
her beſchreibend, durch die blaue Luft, waͤhrend die
unten im Gruͤnen auf und niederſchwebenden Maͤd¬
chenbilder den lieblichſten Anblick gewaͤhrten. Beſon¬
ders zog die eine durch ihre zierliche, faſt noch kindliche
Geſtalt und die Anmuth aller ihrer Bewegungen Flo¬
rio's Augen auf ſich. Sie hatte einen vollen, bunten
Blumenkranz in den Haaren und war recht wie ein
froͤhliches Bild des Fruͤhlings anzuſchauen, wie ſie ſo
uͤberaus friſch bald uͤber den Raſen dahinflog, bald ſich
neigte, bald wieder mit ihren anmuthigen Gliedern in
die heitere Luft hinauflangte. — Durch ein Verſehen
ihrer Gegnerin nahm ihr Federball eine falſche Rich¬
tung und flatterte gerade vor Florio nieder. Er hob
ihn auf und uͤberreichte ihn der nacheilenden Bekraͤnz¬
ten. Sie ſtand faſt wie erſchrocken vor ihm und ſah
ihn ſchweigend aus den ſchoͤnen großen Augen an.
Dann verneigte ſie ſich erroͤthend und eilte ſchnell wie¬
der zu ihren Geſpielinnen zuruͤck.
Der groͤßere funkelnde Strom von Wagen und
Reitern, der ſich in der Haupt-Allee langſam und
praͤchtig fortbewegte, wendete indeß auch Florio'n von
jenem reizenden Spiele wieder ab, und er ſchweifte
wohl eine Stunde lang allein zwiſchen den ewigwech¬
ſelnden Bildern umher.
„Da iſt der Saͤnger Fortunato!“ hoͤrte er da auf
einmal mehrere Frauen und Ritter neben ſich ausru¬
fen. Er ſah ſich ſchnell nach dem Platze um, wohin
ſie wieſen, und erblickte zu ſeinem großen Erſtaunen
den anmuthigen Fremden, der ihn vorhin hieher be¬
gleitet. Abſeits auf der Wieſe an einen Baum ge¬
lehnt, ſtand er ſo eben immitten eines zierlichen Kran¬
zes von Frauen und Rittern, welche ſeinem Geſange
zuhoͤrten, der zuweilen von einigen Stimmen aus dem
Kreiſe holdſelig erwiedert wurde. Unter ihnen bemerkte
Florio auch die ſchoͤne Ballſpielerin wieder, die in ſtil¬
ler Freudigkeit mit weiten offenen Augen iu die Klaͤnge
vor ſich hinausſah.
Ordentlich erſchrocken gedachte da Florio, wie er
vorhin mit dem beruͤhmten Saͤnger, den er lange dem
Rufe nach verehrte, ſo vertraulich geplaudert, und blieb
ſcheu in einiger Entfernung ſtehen, um den lieblichen
Wettſtreit mit zu vernehmen. Er haͤtte gern die ganze
Nacht hindurch dort geſtanden, ſo ermuthigend flogen
dieſe Toͤne ihn an, und er aͤrgerte ſich recht, als For¬
tunato nun ſo bald endigte, und die ganze Geſellſchaft
ſich von dem Raſen erhob.
Da gewahrte der Saͤnger den Juͤngling in der
Ferne und kam ſogleich auf ihn zu. Freundlich faßte
er ihn bei beiden Haͤnden und fuͤhrte den Bloͤden, un¬
geachtet aller Gegenreden, wie einen lieblichen Gefan¬
genen nach dem nahgelegenen offenen Zelte, wo ſich
die Geſellſchaft nun verſammelte und ein froͤhliches
Nachtmahl bereitet hatte. Alle begruͤßten ihn wie alte
Bekannte, manche ſchoͤne Augen ruhten in freudigem
Erſtaunen auf der jungen bluͤhenden Geſtalt.
Nach mancherlei luſtigem Geſpraͤch lagerten ſich
bald alle um den runden Tiſch, der in der Mitte des
Zeltes ſtand. Erquickliche Fruͤchte und Wein in hellge¬
ſchliffenen Glaͤſern funkelte von dem blendendweißen
Gedeck, in ſilbernen Gefaͤßen dufteten große Blumen¬
ſtraͤuße, zwiſchen denen die huͤbſchen Maͤdchengeſichter
anmuthig hervorſahen; draußen ſpielten die letzten
Abendlichter golden auf dem Raſen und dem Fluſſe,
der ſpiegelglatt vor dem Zelte dahin glitt. Florio
hatte ſich faſt unwillkuͤhrlich zu der niedlichen Ball¬
ſpielerin geſellt. Sie erkannte ihn ſogleich wieder und
ſaß ſtill und ſchuͤchtern da, aber die langen furchtſamen
Augenwimper huͤteten nur ſchlecht die tiefen dunkel¬
gluͤhenden Blicke.
Es war ausgemacht worden, daß jeder in die Runde
ſeinem Liebchen mit einem kleinen improviſirten Lied¬
chen zutrinken ſolle. Der leichte Geſang, der nur gau¬
kelnd wie ein Fruͤhlingswind die Oberflaͤche des Lebens
beruͤhrte, ohne es in ſich ſelbſt zu verſenken, bewegte froͤh¬
lich den Kranz heiterer Bilder um die Tafel. Florio war
recht innerlichſt vergnuͤgt, alle bloͤde Bangigkeit war von
ſeiner Seele genommen, und er ſah faſt traͤumeriſch ſtill
vor froͤhlichen Gedanken zwiſchen den Lichtern und Blu¬
men in die wunderſchoͤne, langſam in die Abendgluthen
verſinkende Landſchaft vor ſich hinaus. Und als nun
auch an ihn die Reihe kam, ſeinen Trinkſpruch zu ſa¬
gen, hob er ſein Glas in die Hoͤh' und ſang:
Jeder nennet froh die Seine,
Ich nur ſtehe hier alleine,
Denn was fruͤge wohl die Eine:
Wen der Fremdling eben meine?
Und ſo muß ich, wie im Strome dort die Welle,
Ungehoͤrt verrauſchen an des Fruͤhlings Schwelle.
Seine ſchoͤne Nachbarin ſah bei dieſen Worten bei¬
nah ſchelmiſch an ihm herauf und ſenkte ſchnell wie¬
der das Koͤpfchen, da ſie ſeinem Blicke begegnete. Aber
er hatte ſo herzlich bewegt geſungen und neigte ſich
nun mit den ſchoͤnen bittenden Augen ſo dringend her¬
uͤber, daß ſie es willig geſchehen ließ, als er ſie ſchnell
auf die rothen heißen Lippen kuͤßte. — „Bravo, Bravo!“
riefen mehrere Herren, ein muthwilliges aber argloſes
Lachen erſchallte um den Tiſch. — Florio ſtuͤrzte haſtig
und verwirrt ſein Glas hinunter, die ſchoͤne Gekuͤßte
ſchauete hochroth in den Schooß und ſah ſo unter dem
vollen Blumenkranze unbeſchreiblich reizend aus.
So hatte ein Jeder der Gluͤcklichen ſein Liebchen
in dem Kreiſe ſich heiter erkohren. Nur Fortunato
allein gehoͤrte Allen oder Keiner an und erſchien faſt
einſam in dieſer anmuthigen Verwirrung. Er war
ausgelaſſen luſtig und Mancher haͤtte ihn wohl uͤber¬
muͤthig genannt, wie er ſo wildwechſelnd in Witz,
Ernſt und Scherz ſich ganz und gar losließ, haͤtte er
dabei nicht wieder mit ſo frommklaren Augen beinah
wunderbar dreingeſchaut. Florio hatte ſich feſt vorge¬
nommen, ihm uͤber Tiſche einmal ſo recht ſeine Liebe
und Ehrfurcht, die er laͤngſt fuͤr ihn hegte, zu ſagen.
Aber es wollte heute nicht gelingen, alle leiſen Verſuche
glitten an der ſproͤden Luſtigkeit des Saͤngers ab. Er
konnte ihn gar nicht begreifen. —
Draußen war indeß die Gegend ſchon ſtiller ge¬
worden und feierlich, einzelne Sterne traten zwiſchen
den Wipfeln der dunkelnden Baͤume hervor, der Fluß
K
rauſchte ſtaͤrker durch die erquickende Kuͤhle. Da war
auch zuletzt an Fortunato die Reihe zu ſingen gekom¬
men. Er ſprang raſch auf, griff in ſeine Guitarre
und ſang:
Was klingt mir ſo heiter
Durch Buſen und Sinn?
Zu Wolken und weiter
Wo traͤgt es mich hin?
Wie auf Bergen hoch bin ich
So einſam geſtellt
Und gruͤße herzinnig,
Was ſchoͤn auf der Welt.
Ja, Bachus, Dich ſeh' ich,
Wie goͤttlich biſt Du!
Dein Gluͤhen verſteh' ich,
Die traͤumende Ruh.
O roſenbekraͤnztes
Juͤnglingsbild,
Dein Auge, wie glaͤnzt es,
Die Flammen ſo mild!
Iſt's Liebe, iſt's Andacht,
Was ſo Dich begluͤckt?
Rings Fruͤhling Dich anlacht,
Du ſinneſt entzuͤckt. —
Frau Venus, Du Frohe,
So klingend und weich,
In Morgenroths Lohe
Erblick' ich Dein Reich
Auf ſonnigen Huͤgeln
Wie ein Zauberring. —
Zart' Buͤbchen mit Fluͤgeln
Bedienen Dich flink,
Durchſaͤuſeln die Raͤume
Und laden, was fein,
Als goldene Traͤume
Zur Koͤnigin ein.
Und Ritter und Frauen
Im gruͤnen Revier
Durchſchwaͤrmen die Auen
Wie Blumen zur Zier.
Und jeglicher hegt ſich
Sein Liebchen im Arm,
So wirrt und bewegt ſich
Der ſelige Schwarm. —
Hier aͤnderte er ploͤtzlich Weiſe und Ton und
fuhr fort:
Die Klaͤnge verrinnen,
Es bleichet das Gruͤn,
Die Frauen ſtehn ſinnend,
Die Ritter ſchaun kuͤhn.
Und himmliſches Sehnen
Geht ſingend durch's Blau,
Da ſchimmert von Thraͤnen
Rings Garten und Au.
Und mitten im Feſte
Erblick' ich, wie mild!
Den Stillſten der Gaͤſte. —
Woher, einſam Bild?
K 2
Mit bluͤhendem Mohne,
Der traͤumeriſch glaͤnzt,
Und Lilienkrone
Erſcheint er bekraͤnzt.
Sein Mund ſchwillt zum Kuͤſſen
So lieblich und bleich,
Als braͤcht' er ein Gruͤßen
Aus himmliſchem Reich.
Eine Fackel wohl traͤgt er,
Die wunderbar prangt.
„Wo iſt Einer,“ fraͤgt er,
„Dem heimwaͤrts verlangt?“
Und manchmal da drehet
Die Fackel er um —
Tiefſchauernd vergehet
Die Welt und wird ſtumm.
Und was hier verſunken
Als Blumen zum Spiel,
Siehſt oben Du funkeln
Als Sterne nun kuͤhl. —
O Juͤngling vom Himmel,
Wie biſt Du ſo ſchoͤn!
Ich laß das Gewimmel,
Mit Dir will ich gehn!
Was will ich noch hoffen?
Hinauf, ach hinauf!
Der Himmel iſt offen,
Nimm, Vater, mich auf!
Fortunato war ſtill und alle die Uebrigen auch,
denn wirklich draußen waren nun die Klaͤnge verronnen
und die Muſik, das Gewimmel und alle die gaukelnde
Zauberei nach und nach verhallend untergegangen vor
dem unermeßlichen Sternenhimmel und dem gewalti¬
gen Nachtgeſange der Stroͤme und Waͤlder. Da trat
ein hoher ſchlanker Ritter in reichem Geſchmeide, das
gruͤnlichgoldene Scheine zwiſchen die im Winde flackern¬
den Lichter warf, in das Zelt herein. Sein Blick aus
tiefen Augenhoͤhlen war irre flammend, das Geſicht
ſchoͤn, aber blaß und wuͤſt. Alle dachten bei ſeinem
ploͤtzlichen Erſcheinen unwillkuͤhrlich ſchaudernd an den
ſtillen Gaſt in Fortunato's Liede. — Er aber begab
ſich nach einer fluͤchtigen Verbeugung gegen die Ge¬
ſellſchaft zu dem Buͤfet des Zeltwirthes und ſchluͤrfte
haſtig dunkelrothen Wein mit den bleichen Lippen in
langen Zuͤgen hinunter.
Florio fuhr ordentlich zuſammen, als der Seltſame
ſich darauf vor allen Andern zu ihm wandte und ihn
als einen fruͤheren Bekannten in Lucca willkommen
hieß. Erſtaunt und nachſinnend betrachtete er ihn von
oben bis unten, denn er wußte ſich durchaus nicht
zu erinnern, ihn jemals geſehn zu haben. Doch war
der Ritter ausnehmend beredt und ſprach viel uͤber
mancherlei Begebenheiten aus Florio's fruͤheren Tagen.
Auch war er ſo genau bekannt mit der Gegend ſeiner
Heimath, dem Garten und jedem heimiſchen Platz der
Florio'n herzlich lieb war aus alter Zeit, daß ſich der¬
ſelbe bald mit der dunkeln Geſtalt auszuſoͤhnen anfing.
In die uͤbrige Geſellſchaft indeß ſchien Donati, ſo
nannte ſich der Ritter, nirgens hineinzupaſſen. Eine
aͤngſtliche Stoͤrung, deren Grund ſich Niemand anzu¬
geben wußte, wurde uͤberall ſichtbar. Und da unter¬
deß auch die Nacht nun voͤllig hereingekommen war,
ſo brachen bald Alle auf.
Es begann nun ein wunderliches Gewimmel von
Wagen, Pferden, Dienern und hohen Windlichtern,
die ſeltſame Scheine auf das nahe Waſſer, zwiſchen
die Baͤume und die ſchoͤnen wirrenden Geſtalten um¬
herwarfen. Donati erſchien in der wilden Beleuchtung
noch viel bleicher und ſchauerlicher, als vorher. Das
ſchoͤne Fraͤulein mit dem Blumenkranze hatte ihn be¬
ſtaͤndig mit heimlicher Furcht von der Seite angeſehen.
Nun, da er gar auf ſie zu kam, um ihr mit ritter¬
licher Artigkeit auf den Zelter zu helfen, draͤngte ſie
ſich ſcheu an den zuruͤckſtehenden Florio, der die Lieb¬
liche mit klopfendem Herzen in den Sattel hob. Alles
war unterdeß reiſefertig, ſie nickte ihm noch einmal von
ihrem zierlichen Sitze freundlich zu, und bald war die
ganze ſchimmernde Erſcheinung in der Nacht ver¬
ſchwunden.
Es war Florio'n recht ſonderbar zu Muthe, als
er ſich ploͤtzlich ſo allein mit Donati und dem Saͤn¬
ger auf dem weiten leeren Platze befand. Seine Gui¬
tarre im Arme ging der Letztere am Ufer des Fluſſes
vor dem Zelte auf und nieder und ſchien auf neue Wei¬
ſen zu ſinnen, waͤhrend er einzelne Toͤne griff, die be¬
ſchwichtigend uͤber die ſtille Wieſe dahin zogen. Dann
brach er ploͤtzlich ab. Ein ſeltſamer Mißmuth ſchien
uͤber ſeine ſonſt immer klaren Zuͤge zn fliegen, er ver¬
langte ungeduldig fort.
Alle drei beſtiegen daher nun auch ihre Pferde
und zogen miteinander der nahen Stadt zu. Fortunato
ſprach kein Wort unterwegs, deſto freundlicher ergoß
ſich Donati in wohlgeſetzten zierlichen Reden; Florio,
noch im Nachklange der Luſt, ritt ſtill wie ein traͤu¬
mendes Maͤdchen zwiſchen beiden.
Als ſie ans Thor kamen, ſtellte ſich Donati's Roß,
das ſchon vorher vor manchem Voruͤbergehenden ge¬
ſcheuet, ploͤtzlich faſt grade in die Hoͤh und wollte nicht
hinein. Ein funkelnder Zornesblitz fuhr, faſt verzerrend,
uͤber das Geſicht des Reiters, und ein wilder, nur
halb ausgeſprochener Fluch aus den zuckenden Lippen,
woruͤber Florio nicht wenig erſtaunte, da ihm ſolches
Weſen zu der ſonſtigen feinen und beſonnenen Anſtaͤn¬
digkeit des Ritters ganz und gar nicht zu paſſen ſchien.
Doch faßte ſich dieſer bald wieder. „Ich wollte Euch bis
in die Herberg begleiten,“ ſagte er laͤchelnd und mit
der gewohnten Zierlichkeit zu Florio gewendet, „aber
mein Pferd will es anders, wie ihr ſeht. Ich bewohne
hier vor der Stadt ein Landhaus, wo ich Euch recht
bald bei mir zu ſehen hoffe.“ — Und hiermit verneigte
er ſich, und das Pferd, in unbegreiflicher Haſt und
Angſt kaum mehr zu halten, flog pfeilſchnell mit ihm
in die Dunkelheit fort, daß der Wind hinter ihm
drein pfiff.
„Gott ſey Dank,“ rief Fortunato aus, „daß ihn die
Nacht wieder verſchlungen hat! Kam er mir doch wahr¬
haftig vor, wie einer von den falben ungeſtalten Nacht¬
ſchmetterlingen, die wie aus einem phantaſtiſchen Traume
entflogen durch die Daͤmmerung ſchwirren, und mit
ihrem langen Katzenbarte und graͤßlich großen Augen
ordentlich ein Geſicht haben wollen. Florio, der ſich
mit Donati ſchon ziemlich befreundet hatte, aͤußerte
ſeine Verwunderung uͤber dieſes harte Urtheil. Aber
der Saͤnger, durch ſolche erſtaunliche Sanftmuth nur
immer mehr gereizt, ſchimpfte luſtig fort nnd nannte
den Ritter, zu Florio's heimlichem Aerger, einen Mond¬
ſcheinjaͤger, einen Schmachthahn, einen Renomiſten in
der Melancholie.
Unter ſolcherlei Geſpraͤchen waren ſie endlich bei
der Herberge angelangt, und Jeder begab ſich bald in
das ihm angewieſene Gemach.
Florio warf ſich angekleidet auf das Ruhebett hin,
aber er konnte lange nicht einſchlafen. In ſeiner von
den Bildern des Tages aufgeregten Seele wogte und
hallte uudund ſang es noch immer fort. Und wie die
Thuͤren im Hauſe nun immer ſeltner auf und zugin¬
gen, nur manchmal noch eine Stimme erſchallte, bis
endlich Haus, Stadt und Feld in tiefe Stille verſank:
da war es ihm, als fuͤhre er mit ſchwanenweißen See¬
geln einſam auf einem mondbeglaͤnzten Meer. Leiſe
ſchlugen die Wellen an das Schiff, Sirenen tauchten
aus dem Waſſer, die alle ausſahen, wie das ſchoͤne
Maͤdchen mit dem Blumenkranze vom vorigen Abend.
Sie ſang ſo wunderbar, traurig und ohne Ende, als
muͤſſe er vor Wehmuth untergehn. Das Schiff neigte
ſich unmerklich und ſank langſam immer tiefer und
tiefer. — Da wachte er erſchrocken auf.
Er ſprang von ſeinem Bett und oͤffnete das Fen¬
ſter. Das Haus lag am Ausgange der Stadt, er uͤber¬
ſah einen weiten ſtillen Kreis von Huͤgeln, Gaͤrten und
Thaͤlern, vom Monde klar beſchienen. Auch da draußen
war es uͤberall in den Baͤumen und Stroͤmen noch
wie im Verhallen und Nachhallen der vergangenen
Luſt, als ſaͤnge die ganze Gegend leiſe, gleich den Si¬
renen, die er im Schlummer gehoͤrt. Da konnte er
der Verſuchung nicht widerſtehen. Er ergriff die
Guitarre, die Fortunato bei ihm zuruͤckgelaſſen, ver¬
ließ das Zimmer und ging leiſe durch das ruhige Haus
hinab. Die Thuͤre unten war nur angelehnt, ein Die¬
ner lag eingeſchlafen auf der Schwelle. So kam er
unbemerkt ins Freie und wandelte froͤhlich zwiſchen
Weingaͤrten durch leere Alleen an ſchlummernden Huͤt¬
ten voruͤber immer weiter fort.
Zwiſchen den Rebengelaͤndern hinaus ſah er den
Fluß im Thale; viele weißglaͤnzende Schloͤſſer, hin und
wieder zerſtreut, ruhten wie eingeſchlafne Schwaͤne un¬
ten in dem Meer von Stille. Da ſang er mit froͤh¬
licher Stimme:
Wie kuͤhl ſchweift ſich's bei naͤcht'ger Stunde,
Die Zitter treulich in der Hand!
Vom Huͤgel gruͤß ich in die Runde
Den Himmel und das ſtille Land.
Wie iſt da alles ſo verwandelt,
Wo ich ſo froͤhlich war, im Thal.
Im Wald wie ſtill! der Mond nur wandelt
Nun durch den hohen Buchenſaal.
Der Winzer Jauchzen iſt verklungen
Und all der bunte Lebenslauf,
Die Stroͤme nur, im Thal geſchlungen,
Sie blicken manchmal ſilbern auf.
Und Nachtigallen wie aus Traͤumen
Erwachen oft mit ſuͤßem Schall,
Erinnernd ruͤhrt ſich in den Baͤumen,
Ein heimlich Fluͤſtern uͤberall. —
Die Freude kann nicht gleich verklingen,
Und von des Tages Glanz und Luſt
Iſt ſo auch mir ein heimlich Singen
Geblieben in der tiefſten Bruſt.
Und froͤhlich greif ich in die Saiten,
O Maͤdchen jenſeits uͤber'm Fluß,
Du lauſcheſt wohl und hoͤrſt's von weiten
Und kennſt den Saͤnger an dem Gruß!
Er mußte uͤber ſich ſelber lachen, da er am Ende
nicht wußte, wem er das Staͤndchen brachte. Denn
die reizende Kleine mit dem Blumenkranze war es
lange nicht mehr, die er eigentlich meinte. Die Mu¬
ſik bei den Zelten, den Traum auf ſeinem Zimmer
und ſein, die Klaͤnge und den Traum und die zierliche
Erſcheinung des Maͤdchens nachtraͤumendes Herz hatte
ihr Bild unmerklich und wunderſam verwandelt in
ein viel ſchoͤneres, groͤßeres und herrlicheres, wie er es
noch nirgend geſehen.
So in Gedanken ſchritt er noch lange fort, als er
unerwartet bei einem großen, von hohen Baͤumen
rings umgebenen Weiher anlangte. Der Mond, der
eben uͤber die Wipfel trat, beleuchtete ſcharf ein mar¬
mornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem
Steine ſtand, als waͤre die Goͤttin ſo eben erſt aus den
Wellen aufgetaucht, und betrachte nun, ſelber verzau¬
bert, das Bild der eigenen Schoͤnheit, das der trun¬
kene Waſſerſpiegel zwiſchen den leiſe aus dem Grunde
aufbluͤhenden Sternen wiederſtrahlte. Einige Schwaͤne
beſchrieben ſtill ihre einfoͤrmigen Kreiſe um das Bild,
ein leiſes Rauſchen ging durch die Baͤume rings
umher.
Florio ſtand wie eingewurzelt im Schauen, denn
ihm kam jenes Bild wie eine lang geſuchte, nun ploͤtz¬
lich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume,
aus der Fruͤhlingsdaͤmmerung und traͤumeriſchen Stille
ſeiner fruͤheſten Jugend heraufgewachſen. Je laͤnger
er hinſah, je mehr ſchien es ihm, als ſchluͤge es die
ſeelenvollen Augen langſam auf, als wollten ſich die
Lippen bewegen zum Gruße, als bluͤhe Leben wie ein
lieblicher Geſang erwaͤrmend durch die ſchoͤnen Glieder
herauf. Er hielt die Augen lange geſchloſſen vor
Blendung, Wehmuth und Entzuͤcken. —
Als er wieder aufblickte, ſchien auf einmal alles
wie verwandelt. Der Mond ſah ſeltſam zwiſchen Wol¬
ken hervor, ein ſtaͤrkerer Wind kraͤuſelte den Weiher in
truͤbe Wellen, das Venusbild, ſo fuͤrchterlich weiß und re¬
gungslos, ſah ihn faſt ſchreckhaft mit den ſteinernen
Augenhoͤhlen aus der graͤnzenloſen Stille an. Ein nie
gefuͤhltes Grauſen uͤberfiel da den Juͤngling. Er ver¬
ließ ſchnell den Ort, und immer ſchneller und ohne
auszuruhen eilte er durch die Gaͤrten und Weinberge
wieder fort, der ruhigen Stadt zu; denn auch das
Rauſchen der Baͤume kam ihm nun wie ein verſtaͤn¬
diges vernehmliches Gefluͤſter vor, und die langen ge¬
ſpenſtiſchen Pappeln ſchienen mit ihren weitgeſtreckten
Schatten hinter ihm drein zu langen.
So kam er ſichtbar verſtoͤrt in der Herberge an.
Da lag der Schlafende noch auf der Schwelle und
fuhr erſchrocken auf, als Florio an ihm voruͤberſtreifte.
Florio aber ſchlug ſchnell die Thuͤre hinter ſich zu und
athmete erſt tief auf, als er oben ſein Zimmer betrat.
Hier ging er noch lange auf und nieder, ehe er ſich be¬
ruhigte. Dann warf er ſich auf's Bett und ſchlummerte
endlich unter den ſeltſamſten Traͤumen ein.
Am folgenden Morgen ſaßen Florio und Fortunato
unter den hohen von der Morgenſonne durchfunkelten
Baͤumen vor der Herberge mit einander beim Fruͤh¬
ſtuͤck. Florio ſah blaͤßer, als gewoͤhnlich, und ange¬
nehm uͤberwacht aus. — „Der Morgen,“ ſagte For¬
tunato luſtig, „iſt ein recht kerngeſunder, wildſchoͤner
Geſell, wie er ſo von den hoͤchſten Bergen in die ſchla¬
fende Welt hinunterjauchzt und von den Blumen und
Baͤumen die Thraͤnen ſchuͤttelt und wogt und laͤrmt
und ſingt. Der macht eben nicht ſonderlich viel aus
den ſanften Empfindungen, ſondern greift kuͤhl an alle
Glieder und lacht einem in's lange Geſicht, wenn man
ſo preßhaft und noch ganz wie in Mondſchein getaucht vor
ihn hinaustritt.“ — Florio ſchaͤmte ſich nun, den Saͤn¬
ger, wie er ſich anfangs vorgenommen, etwas von dem
ſchoͤnen Venusbilde zu ſagen, und ſchwieg betreten
ſtill. Sein Spaziergang in der Nacht war aber von
dem Diener an der Hausthuͤr bemerkt und wahrſchein¬
lich verrathen worden, und Fortunato fuhr lachend
fort: „Nun, wenn Ihr's nicht glaubt, verſucht es
nur einmal, und ſtellt Euch jetzt hierher und ſagt zum
Exempel: O ſchoͤne, holde Seele, o Mondſchein, du
Bluͤthenſtaub zaͤrtlicher Herzen u. ſ. w., ob das nicht
recht zum Lachen waͤre! Und doch wette ich, habt Ihr
dieſe Nacht dergleichen oft geſagt und gewiß ordent¬
lich ernſthaft dabei ausgeſehen. —“
Florio hatte ſich Fortunato'n ehedem immer ſo
ſtill und ſanftmuͤthig vorgeſtellt, nun verwundete ihn
recht innerlichſt die kecke Luſtigkeit des geliebten Saͤn¬
gers. Er ſagte haſtig, und die Thraͤnen traten ihm
dabei in die ſeelenvollen Augen: „Ihr ſprecht da ſicher¬
lich anders, als Euch ſelber zu Muthe iſt, und das
ſolltet Ihr nimmermehr thun. Aber ich laſſe mich
von Euch nicht irre machen, es giebt noch ſanfte und
hohe Empfindungen, die wohl ſchamhaft ſind, aber
ſich nicht zu ſchaͤmen brauchen, und ein ſtilles Gluͤck,
das ſich vor dem lauten Tage verſchließt und nur dem
Sternenhimmel den heiligen Kelch oͤffnet wie eine
Blume, in der ein Engel wohnt.“ Fortunato ſah den
Juͤngling verwundert an, dann rief er aus: „Nun
wahrhaftig, Ihr ſeid recht ordentlich verliebt!“
Man hatte unterdeß Fortunato'n, der ſpazieren
reiten wollte, ſein Pferd vorgefuͤhrt. Freundlich ſtrei¬
chelte er den gebogenen Hals des zierlich aufgeputzten
Roͤßleins, das mit froͤhlicher Ungeduld den Raſen
ſtampfte. Dann wandte er ſich noch einmal zu Florio
und reichte ihm gutmuͤthig laͤchelnd die Hand. „Ihr
thut mir doch leid,“ ſagte er, „es giebt gar zu viele
ſanfte, gute, beſonders verliebte junge Leute, die ordent¬
lich verſeſſen ſind auf Ungluͤcklichſeyn. Laßt das, die
Melancholie, den Mondſchein und alle den Plunder;
und geht's auch manchmal wirklich ſchlimm, nur friſch
heraus in Gottes freien Morgen und da draußen ſich
recht abgeſchuͤttelt; im Gebet aus Herzensgrund —
und es muͤßte wahrlich mit dem Boͤſen zugehen, wenn
Ihr nicht ſo recht durch und durch froͤhlich und ſtark
werdet!“ — Und hiermit ſchwang er ſich ſchnell auf
ſein Pferd und ritt zwiſchen den Weinbergen und bluͤ¬
henden Gaͤrten in das farbige, ſchallende Land hinein,
ſelber ſo bunt und freudig anzuſchauen, wie der Mor¬
gen vor ihm.
Florio ſah ihm lange nach, bis die Glanzes-Wo¬
gen uͤber dem fernen Reiter zuſammenſchlugen. Dann
ging er haſtig unter den Baͤumen auf und nieder. Ein
tiefes unbeſtimmtes Verlangen war von den Erſchei¬
nungen der Nacht in ſeiner Seele zuruͤckgeblieben.
Dagegen hatte ihn Fortunato durch ſeine Reden ſelt¬
ſam verſtoͤrt und verwirrt. Er wußte nun ſelbſt nicht
mehr, was er wollte, gleich einem Nachtwandler, der
ploͤtzlich bei ſeinem Namen gerufen wird. Sinnend
blieb er oftmals vor der wunderreichen Ausſicht in das
Land hinab ſtehen, als wollte er das freudigkraͤftige Wal¬
ten da draußen um Auskunft fragen. Aber der Mor¬
gen ſpielte nur einzelne Zauberlichter wie durch die
Baͤume uͤber ihm in ſein traͤumeriſch funkelndes Herz
hinein, das noch in anderer Macht ſtand. Denn drin¬
nen zogen die Sterne noch immer fort ihre magiſchen
Kreiſe, zwiſchen denen das wunderſchoͤne Marmorbild
mit neuer, unwiderſtehlicher Gewalt heraufſah. — So
beſchloß er denn endlich, den Weiher wieder aufzuſu¬
chen, und ſchlug raſch denſelben Pfad ein, den er in
der Nacht gewandelt.
Wie ſah aber dort nun alles ſo anders aus! Froͤh¬
liche Menſchen durchirrten geſchaͤftig die Weinberge,
Gaͤrten und Alleen, Kinder ſpielten ruhig auf dem
ſonnigen Raſen vor den Huͤtten, die ihn in der Nacht
unter den traumhaften Baͤumen oft gleich eingeſchla¬
fenen Sphinxen erſchreckt hatten, der Mond ſtand fern
und verblaßt am klaren Himmel, unzaͤhlige Voͤgel ſangen
luſtig im Walde durcheinander. Er konnte gar nicht
begreifen, wie ihn damals hier ſo ſeltſame Furcht uͤber¬
fallen konnte.
Bald bemerkte er indeß, daß er in Gedanken den
rechten Weg verfehlt. Er betrachtete aufmerkſam alle
Plaͤtze und ging zweifelhaft bald zuruͤck, bald wieder
vorwaͤrts; aber vergeblich; je emſiger er ſuchte, je un¬
bekannter und ganz anders kam ihm alles vor.
Lange war er ſo umhergeirrt. Die Voͤgel ſchwie¬
gen ſchon, der Kreis der Huͤgel wurde nach und nach
immer ſtiller, die Strahlen der Mittagsſonne ſchiller¬
ten ſegnend uͤber der ganzen Gegend draußen, die wie
unter einem Schleier von Schwuͤle zu ſchlummern und
zu traͤumen ſchien. Da kam er unerwartet an ein
Thor von Eiſengittern, zwiſchen deſſen zierlich vergol¬
deten Staͤben hindurch man in einen weiten praͤchti¬
gen Luſtgarten hineinſehen konnte. Ein Strom von
Kuͤhle und Duft wehte den Ermuͤdeten erquickend dar¬
aus an. Das Thor war nicht verſchloſſen, er oͤffnete
es leiſe und trat hinein.
Hohe Buchenhallen empfingen ihn da mit ihren
feierlichen Schatten, zwiſchen denen goldene Voͤgel wie
abgewehte Bluͤthen hin und wieder flatterten, waͤhrend
große ſeltſame Blumen, wie ſie Florio niemals geſe¬
hen, traumhaft mit ihren gelben und rothen Glocken
in dem leiſen Winde hin und her ſchwankten. Unzaͤh¬
lige Springbrunnen plaͤtſcherten, mit vergoldeten Ku¬
geln ſpielend, einfoͤrmig in der großen Einſamkeit.
Zwiſchen den Baͤumen hindurch ſah man in der Ferne
einen praͤchtigen Palaſt mit hohen ſchlanken Saͤulen
hereinſchimmern. Kein Menſch war ringsum zu ſehen,
tiefe Stille herrſchte uͤberall. Nur hin und wieder er¬
wachte manchmal eine Nachtigall und ſang wie im
Schlummer faſt ſchluchzend. Florio betrachtete ver¬
wundert Baͤume, Brunnen und Blumen, denn es war
ihm, als ſey das alles lange verſunken, und uͤber ihm
ginge der Strom der Tage mit leichten, klaren Wel¬
len, und unten laͤge nur der Garten gebunden und
verzaubert und traͤumte von dem vergangenen Leben.
Er war noch nicht weit vorgedrungen, als er Lau¬
tenklaͤnge vernahm, bald ſtaͤrker, bald wieder in dem
Rauſchen der Springbrunnen leiſe verhallend. Lau¬
ſchend blieb er ſtehn, die Toͤne kamen immer naͤher
und naͤher, da trat ploͤtzlich in dem ſtillen Bogengange
eine hohe ſchlanke Dame von wunderſamer Schoͤnheit
zwiſchen den gruͤnen Baͤumen hervor, langſam wan¬
delnd und ohne aufzublicken. Sie trug eine praͤchtige
mit goldnem Bildwerk gezierte Laute im Arm, auf der
ſie, wie in tiefe Gedanken verſunken, einzelne Accorde
griff. Ihr langes goldenes Haar fiel in reichen Locken
uͤber die faſt blaſſen, blendendweißen Achſeln bis in
den Ruͤcken hinab; die langen weiten Aermel, wie vom
Bluͤthenſchnee gewoben, wurden von zierlichen golde¬
nen Spangen gehalten; den ſchoͤnen Leib umſchloß ein
himmelblaues Gewand, ringsum an den Enden mit
buntgluͤhenden, wunderbar in einander verſchlungenen
Blumen geſtickt. Ein heller Sonnenblick durch eine
Oeffnung des Bogenganges ſchweifte ſo eben ſcharfbe¬
leuchtend uͤber die bluͤhende Geſtalt. Florio fuhr in¬
nerlichſt zuſammen — es waren unverkennbar die Zuͤge,
die Geſtalt des ſchoͤnen Venusbildes, das er heute
Nacht am Weiher geſehen. — Sie aber ſang, ohne
den Fremden zu bemerken:
L
Was weckſt du, Fruͤhling, mich von neuem wieder?
Daß all' die alten Wuͤnſche auferſtehen,
Geht uͤber's Land ein wunderbares Wehen;
Das ſchauert mir ſo lieblich durch die Glieder.
Die ſchoͤne Mutter gruͤßen tauſend Lieder,
Die, wieder jung, im Brautkranz ſuͤß zu ſehen;
Der Wald will ſprechen, rauſchend Stroͤme gehen,
Najaden tauchen ſingend auf und nieder.
Die Roſe ſeh' ich gehn aus gruͤner Klauſe
Und, wie ſo buhleriſch die Luͤfte faͤcheln,
Erroͤthend in die laue Fluth ſich dehnen.
So mich auch ruft ihr aus dem ſtillen Hauſe —
Und ſchmerzlich nun muß ich im Fruͤhling laͤcheln,
Verſinkend zwiſchen Duft und Klang vor Sehnen.
So ſingend wandelte ſie fort, bald in dem Gruͤ¬
nen verſchwindend, bald wieder erſcheinend, immer fer¬
ner und ferner, bis ſie ſich endlich in der Gegend des
Palaſtes ganz verlor. Nun war es auf einmal wieder
ſtille, nur die Baͤume und Waſſerkuͤnſte rauſchten wie
vorher. Florio ſtand in bluͤhende Traͤume verſunken,
es war ihm, als haͤtte er die ſchoͤne Lautenſpielerin ſchon
lange gekannt und nur in der Zerſtreuung des Lebens
wieder vergeſſen und verloren, als ginge ſie nun vor
Wehmuth zwiſchen dem Quellenrauſchen unter und
riefe ihn unaufhoͤrlich, ihr zu folgen. — Tiefbewegt
eilte er weiter in den Garten hinein auf die Gegend
zu, wo ſie verſchwunden war. Da kam er unter ur¬
alten Baͤumen an ein verfallen Mauerwerk, an dem
noch hin und wieder ſchoͤne Bildereien halb kenntlich
waren. Unter der Mauer auf zerſchlagenen Marmor¬
ſteinen und Saͤulenknaͤufen, zwiſchen denen hohes Gras
und Blumen uͤppig hervorſchoſſen, lag ein ſchlafender
Mann ausgeſtreckt. Erſtaunt erkannte Florio den Ritter
Donati. Aber ſeine Mienen ſchienen im Schlafe ſon¬
derbar veraͤndert, er ſah faſt wie ein Todter aus. Ein
heimlicher Schauer uͤberlief Florio'n bei dieſem Anblick.
Er ruͤttelte den Schlafenden heftig. Donati ſchlug
langſam die Augen auf und ſein erſter Blick war ſo
fremd, ſtier und wild, daß ſich Florio ordentlich vor
ihm entſetzte. Dabei murmelte er noch zwiſchen Schlaf
und Wachen einige dunkele Worte, die Florio nicht
verſtand. Als er ſich endlich voͤllig ermuntert hatte, ſprang
er raſch auf und ſah Florio, wie es ſchien, mit großem
Erſtaunen an. „Wo bin ich,“ rief dieſer haſtig, „wer
iſt die edle Herrin, die in dieſem ſchoͤnen Garten
wohnt?“ — „Wie ſeyd Ihr,“ frug dagegen Donati
ſehr ernſt, „in dieſen Garten gekommen?“ Florio
erzaͤhlte kurz den Hergang, woruͤber der Ritter in ein
tiefes Nachdenken verſank. Der Juͤngling wiederholte
darauf dringend ſeine vorigen Fragen, und Donati ſagte
zerſtreut: „Die Dame iſt eine Verwandte von mir,
reich und gewaltig, ihr Beſitzthum iſt weit im Lande
verbreitet — Ihr findet ſie bald da, bald dort — auch
in der Stadt Lucca iſt ſie zuweilen.“ — Florio fielen
dieſe fluͤchtig hingeworfenen Worte ſeltſam auf's Herz,
denn es wurde ihm nun immer deutlicher, was ihm
vorher nur voruͤbergehend angeflogen, naͤhmlich, daß
er die Dame ſchon einmal in fruͤherer Jugend irgend¬
L 2
wo geſehen, doch konnte er ſich durchaus nicht klar
beſinnen.
Sie waren unterdeß raſch fortgehend unvermerkt
an das vergoldete Gitterthor des Gartens gekommen.
Es war nicht daſſelbe, durch welches Florio vorhin
eingetreten. Verwundert ſah er ſich in der unbekann¬
ten Gegend um; weit uͤber die Felder weg lagen die
Thuͤrme der Stadt im heitern Sonnenglanze. Am
Gitter ſtand Donati's Pferd angebunden und ſcharrte
ſchnaubend den Boden.
Schuͤchtern aͤußerte nun Florio den Wunſch, die
ſchoͤne Herrin des Gartens kuͤnftig einmal wieder zu
ſehen. Donati, der bis dahin noch immer in ſich ver¬
ſunken war, ſchien ſich erſt hier ploͤtzlich zu beſinnen.
„Die Dame,“ ſagte er mit der gewohnten umſichtigen
Hoͤflichkeit, „wird ſich freuen, Euch kennen zu lernen.
Heute jedoch wuͤrden wir ſie ſtoͤren, und auch mich
rufen dringende Geſchaͤfte nach Hauſe. Vielleicht kann
ich Euch morgen abholen.“ — Und hierauf nahm er
in wohlgeſetzten Reden Abſchied von dem Juͤngling,
beſtieg ſein Roß und war bald zwiſchen den Huͤgeln
verſchwunden.
Florio ſah ihm lange nach, dann eilte er wie ein
Trunkener der Stadt zu. Dort hielt die Schwuͤle noch
alle lebendigen Weſen in den Haͤuſern, hinter den dun¬
kelkuͤhlen Jalouſieen. Alle Gaſſen und Plaͤtze waren
ſo leer, Fortunato auch noch nicht zuruͤckgekehrt. Dem
Gluͤcklichen wurde es hier zu enge, in trauriger Ein¬
ſamkeit. Er beſtig ſchnell ſein Pferd und ritt noch ein¬
mal in's Freie hinaus.
„Morgen, morgen!“ ſchallte es in einem fort durch
ſeine Seele. Ihm war ſo unbeſchreiblich wohl. Das
ſchoͤne Marmorbild war ja lebend geworden und von
ſeinem Steine in den Fruͤhling hinunter geſtiegen, der
ſtille Weiher ploͤtzlich verwandelt zur unermeßlichen
Landſchaft, die Sterne darin zu Blumen und der ganze
Fruͤhling ein Bild der Schoͤnen. — Und ſo durch¬
ſchweifte er lange die ſchoͤnen Thaͤler um Lucca, den praͤch¬
tigen Landhaͤuſern, Caſcaden und Grotten wechſelnd
voruͤber, bis die Wellen des Abendroths uͤber dem Froͤh¬
lichen zuſammenſchlugen.
Die Sterne ſtanden ſchon klar am Himmel, als
er langſam durch die ſtillen Gaſſen nach ſeiner Her¬
berge zog. Auf einem der einſamen Plaͤtze ſtand ein
großes ſchoͤnes Haus, vom Monde hell erleuchtet. Ein
Fenſter war oben geoͤffnet, an dem er zwiſchen kuͤnſtlich
gezogenen Blumen hindurch zwei weibliche Geſtalten
bemerkte, die in ein lebhaftes Geſpraͤch vertieft ſchienen
Mit Verwunderung hoͤrte er mehreremal deutlich ſei¬
nen Namen nennen. Auch glaubte er in den einzel¬
nen abgerißnen Worten, die die Luft heruͤberwehte, die
Stimme der wunderbaren Saͤngerin wieder zu erkennen.
Doch konnte er vor den im Mondesglanz zitternden
Blaͤttern und Bluͤthen nichts genau unterſcheiden. Er
hielt an, um mehr zu vernehmen. Da bemerkten ihn
die beiden Damen, und es wurde auf einmal ſtille
droben.
Unbefriedigt ritt Florio weiter, aber wie er ſo eben
um die Straßenecke bog, ſah er, daß ſich die eine von
den Damen noch einmal ihm nachblickend zwiſchen den
Blumen hinauslehnte und dann ſchnell das Fenſter
ſchloß.
Am folgenden Morgen, als Florio ſo eben ſeine
Traumbluͤthen abgeſchuͤttelt und vergnuͤgt aus dem
Fenſter uͤber die in der Morgenſonne funkelnden Thuͤrme
und Kuppeln der Stadt hinausſah, trat unerwartet
der Ritter Donati in das Zimmer. Er war ganz ſchwarz
gekleidet und ſah heute ungewoͤhnlich verſtoͤrt, haſtig
und beinah wild aus. Florio erſchrack ordentlich vor
Freude, als er ihn erblickte, denn er gedachte ſogleich der
ſchoͤnen Frau. „Kann ich ſie ſehen?“ rief er ihm ſchnell
entgegen. Donati ſchuͤttelte verneinend mit dem Kopfe
und ſagte, traurig vor ſich auf den Boden hinſehend:
„Heute iſt Sonntag.“ — Dann fuhr er raſch fort,
ſich ſogleich wieder ermannend: „Aber zur Jagd wollt'
ich Euch abholen.“ — „Zur Jagd?“ — erwiederte Flo¬
rio hoͤchſt verwundert, „heute am heiligen Tage?“ —
„Nun wahrhaftig,“ fiel ihm der Ritter mit einem in¬
grimmigen, abſcheulichen Lachen in's Wort, „Ihr wollt
doch nicht etwa mit der Buhlerin unter'm Arm zur
Kirche wandern und im Winkel auf dem Fußſchemel
knieen und andaͤchtig Gotthelf ſagen, wenn die Frau
Baſe nießt.“ — „Ich weiß nicht, wie Ihr das meint,“
ſagte Florio, „und Ihr moͤgt immer uͤber mich lachen,
aber ich koͤnnte heut nicht jagen. Wie da draußen alle
Arbeit raſtet, und Waͤlder und Felder ſo geſchmuͤckt
ausſehen zu Gottes Ehre, als zoͤgen Engel durch das
Himmelblau uͤber ſie hinweg — ſo ſtill, ſo feierlich und
gnadenreich iſt dieſe Zeit!“ — Donati ſtand in Gedan¬
ken am Fenſter, und Florio glaubte zu bemerken, daß
er heimlich ſchauderte, wie er ſo in die Sonntagsſtille
der Felder hinaus ſah.
Unterdeß hatte ſich Glockenklang von den Thuͤr¬
men der Stadt erhoben und ging wie ein Beten durch
die klare Luft. Da ſchien Donati erſchrocken, er griff
nach ſeinem Hut und drang beinah aͤngſtlich in Florio,
ihn zu begleiten, der es aber beharrlich verweigerte.
„Fort, hinaus!“ — rief endlich der Ritter halblaut
und wie aus tiefſter, geklemmter Bruſt herauf, druͤckte
dem erſtaunten Jungling die Hand, und ſtuͤrzte aus
dem Hauſe fort.
Florio'n wurde recht heimathlich zu Muthe, als
darauf der friſche klare Saͤnger Fortunaro, wie ein
Bote des Friedens, zu ihm ins Zimmer trat. Er
brachte eine Einladung auf morgen Abend nach einem
Landhauſe vor der Stadt. „Macht Euch nur gefaßt,“
ſetzte er hinzu, „Ihr werdet dort eine alte Bekannte
treffen!“ Florio erſchrack ordentlich und fragte haſtig:
„Wen?“ Aber Fortunato lehnte luſtig alle Erklaͤrun¬
gen ab und entfernte ſich bald. „Sollte es die ſchoͤne
Saͤngerin ſeyn?“ — dachte Florio ſtill bei ſich, und ſein
Herz ſchlug heftig.
Er begab ſich dann in die Kirche, aber er konnte
nicht beten, er war zu froͤhlich zerſtreut. Muͤſſig ſchlen¬
derte er durch die Gaſſen. Da ſah alles ſo rein und
feſtlich aus, ſchoͤngeputzte Herren und Damen zogen
froͤhlich und ſchimmernd nach den Kirchen. Aber, ach!
die Schoͤnſte war nicht unter ihnen! — Ihm fiel da¬
bei ſein Abenteuer beim geſtrigen Heimzuge ein. Er
ſuchte die Gaſſe auf und fand bald das große ſchoͤne
Haus wieder, aber ſonderbar! die Thuͤre war geſchloſſen,
alle Fenſter feſt zu, es ſchien Niemand darin zu wohnen.
Vergeblich ſchweifte er den ganzen folgenden Tag
in der Gegend umher, um naͤhere Auskunft uͤber ſeine
unbekannte Geliebte zu erhalten, oder ſie, wo moͤglich,
gar wieder zu ſehen. Ihr Palaſt, ſo wie der Garten,
den er in jener Mittagsſtunde zufaͤllig gefunden, war
wie verſunken, auch Donati ließ ſich nicht erblicken.
Ungeduldig ſchlug daher ſein Herz vor Freude und Erwar¬
tung, als er endlich am Abend, der Einladung zufolge,
mit Fortunato, der fortwaͤhrend den Geheimnißvollen
ſpielte, zum Thore hinaus dem Landhauſe zuritt.
Es war ſchon voͤllig dunkel, als ſie draußen an¬
kamen. Mitten in einem Garten, wie es ſchien, lag
eine zierliche Villa mit ſchlanken Saͤulen, uͤber denen
ſich von der Zinne ein zweiter Garten von Orangen
und vielerlei Blumen duftig erhob. Große Kaſtanien¬
baͤume ſtanden umher und ſtreckten kuͤhn und ſeltſam
beleuchtet ihre Rieſenarme zwiſchen den aus den Fen¬
ſtern dringenden Scheinen in die Nacht hinaus. Der
Herr vom Hauſe, ein feiner froͤhlicher Mann von mitt¬
leren Jahren, den aber Florio fruͤher jemals geſehn zu
haben ſich nicht erinnerte, empfing den Saͤnger und
ſeinen Freund herzlich an der Schwelle des Hauſes
und fuͤhrte ſie die breiten Stufen hinan in den Saal.
Eine froͤhliche Tanzmuſik ſcholl ihnen dort entge¬
gen, eine große Geſellſchaft bewegte ſich bunt und zier¬
lich durch einander im Glanze unzaͤhliger Lichter, die
gleich Sternenkreiſen in kriſtallenen Leuchtern uͤber
dem luſtigen Schwarme ſchwebten. Einige tanzten,
andere ergoͤtzten ſich in lebhaftem Geſpraͤch, viele wa¬
ren maskirt und gaben unwillkuͤhrlich durch ihre wun¬
derliche Erſcheinung dem anmuthigen Spiele oft ploͤtz¬
lich eine tiefe faſt ſchauerliche Bedeutung.
Florio ſtand noch ſtill geblendet, ſelber wie ein
anmuthiges Bild, zwiſchen den ſchoͤnen ſchweifenden
Bildern. Da trat ein zierliches Maͤdchen an ihn her¬
an, in griechiſchem Gewande leicht geſchuͤrzt, die ſchoͤ¬
nen Haare in kuͤnſtliche Kraͤnze geflochten. Eine Larve
verbarg ihr halbes Geſicht und ließ die untere Haͤlfte
nun deſto roſiger und reizender ſehen. Sie verneigte
ſich fluͤchtig, uͤberreichte ihm eine Roſe und war ſchnell
wieder in dem Schwarme verloren.
In demſelben Augenblick bemerkte er auch, daß der
Herr vom Hauſe dicht bei ihm ſtand, ihn pruͤfend an¬
ſah, aber ſchnell wegblickte, als Florio ſich umwandte. —
Verwundert durchſtrich nun der Letztere die rauſchende
Menge. Was er heimlich gehofft, fand er nirgends, und er
machte ſich beinah Vorwuͤrfe, dem froͤhlichen Fortunato
ſo leichtſinnig auf dieſes Meer von Luſt gefolgt zu ſeyn,
das ihn nun immer weiter von jener einſamen hohen
Geſtalt zu verſchlagen ſchien. Sorglos umſpuͤlten in¬
deß die loſen Wellen, ſchmeichleriſch neckend, den Ge¬
dankenvollen und tauſchten ihm unmerklich die Gedan¬
ken aus. Wohl kommt die Tanzmuſik, wenn ſie auch
nicht unſer Innerſtes erſchuͤttert und umkehrt, recht
wie ein Fruͤhling leiſe und gewaltig uͤber uns, die
Toͤne taſten zauberiſch wie die erſten Sommerblicke nach
der Tiefe und wecken alle die Lieder, die unten gebun¬
den ſchliefen, und Quellen und Blumen und uralte
Erinnerungen und das ganze eingefrorne, ſchwere, ſto¬
ckende Leben wird ein leichter klarer Strom, auf dem
das Herz mit rauſchenden Wimpeln den lange aufge¬
gebenen Wuͤnſchen froͤhlich wieder zufaͤhrt. So hatte
die allgemeine Luſt auch Florio'n gar bald angeſteckt,
ihm war recht leicht zu Muthe, als muͤßten ſich alle
Raͤthſel, die ſo ſchwuͤl auf ihm laſteten, loͤſen.
Neugierig ſuchte er nun die niedliche Griechin
wieder auf. Er fand ſie in einem lebhaften Geſpraͤch
mit andern Masken, aber er bemerkte wohl, daß auch
ihre Augen mitten im Geſpraͤch ſuchend abſeits ſchweif¬
ten und ihn ſchon von Ferne wahrgenommen hatten.
Er forderte ſie zum Tanze. Sie verneigte ſich freund¬
lich, aber ihre bewegliche Lebhaftigkeit ſchien wie ge¬
brochen, als er ihre Hand beruͤhrte und feſthielt. Sie
folgte ihm ſtill und mit geſenktem Koͤpfchen, man
wußte nicht, ob ſchelmiſch, oder traurig. Die Muſik
begann, und er konnte keinen Blick verwenden von der
reitzenden Gauklerin, die ihn gleich den Zaubergeſtal¬
ten auf den alten fabelhaften Schildereien umſchwebte.
„Du kennſt mich,“ fluͤſterte ſie kaum hoͤrbar ihm zu,
als ſich einmal im Tanze ihre Lippen fluͤchtig beinah be¬
ruͤhrten.
Der Tanz war endlich aus, die Muſik hielt ploͤtz¬
lich inne; da glaubte Florio ſeine ſchoͤne Taͤnzerin am
anderen Ende des Saales noch einmal wieder zu
ſehen. Es war dieſelbe Tracht, dieſelben Farben des
Gewandes, derſelbe Haarſchmuck. Das ſchoͤne Bild
ſchien unverwandt auf ihn herzuſehen und ſtand fort¬
waͤhrend ſtill im Schwarme der nun uͤberall zerſtreu¬
ten Taͤnzer, wie ein heiteres Geſtirn zwiſchen dem leich¬
ten fliegenden Gewoͤlk bald untergeht, bald lieblich
wieder erſcheint. Die zierliche Griechin ſchien die Er¬
ſcheinung nicht zu bemerken, oder doch nicht zu beach¬
ten, ſondern verließ, ohne ein Wort zu ſagen, mit ei¬
nem leiſen fluͤchtigen Haͤndedruck eilig ihren Taͤnzer.
Der Saal war unterdeß ziemlich leer geworden.
Alles ſchwaͤrmte in den Garten hinab, um ſich in der
lauen Luft zu ergehen, auch jenes ſeltſame Doppelbild
war verſchwunden. Florio folgte dem Zuge und ſchlen¬
derte gedankenvoll durch die hohen Bogengaͤnge. Die
vielen Lichter warfen einen zauberiſchen Schein zwiſchen
das zitternde Laub. Die hin und her ſchweifenden Mas¬
ken, mit ihren veraͤnderten grellen Stimmen und wun¬
derbarem Aufzuge, nahmen ſich hier in der ungewiſſen
Beleuchtung noch viel ſeltſamer und faſt geſpenſtiſch aus.
Er war eben, unwillkuͤhrlich einen einſamen Pfad
einſchlagend, ein wenig von der Geſellſchaft abgekom¬
men, als er eine liebliche Stimme zwiſchen den Gebuͤ¬
ſchen ſingen hoͤrte:
Ueber die beglänzten Gipfel
Fernder kommt es wie ein Grüßen,
Flüſternd neigen ſich die Wipfel
Als ob ſie ſich wollten küſſen.
Iſt er doch ſo ſchoͤn und milde!
Stimmen gehen durch die Nacht,
Singen heimlich von dem Bilde —
Ach, ich bin ſo froh verwacht!
Plaudert nicht ſo laut, ihr Quellen!
Wiſſen darf es nicht der Morgen!
In der Mondnacht linde Wellen,
Senk' ich ſtille Gluͤck und Sorgen. —
Florio folgte dem Geſange und kam auf einen
offnen runden Raſenplatz, in deſſen Mitte ein Spring¬
brunnen luſtig mit den Funken des Mondlichts ſpielte.
Die Griechin ſaß, wie eine ſchoͤne Najade, auf dem
ſteinernen Becken. Sie hatte die Larve abgenommen
und ſpielte gedankenvoll mit einer Roſe in dem ſchim¬
mernden Waſſerſpiegel. Schmeichleriſch ſchweifte der
Mondſchein uͤber den blendendweißen Nacken auf und
nieder, ihr Geſicht konnte er nicht ſehen, denn ſie hatte
ihm den Ruͤcken zugekehrt. — Als ſie die Zweige hin¬
ter ſich rauſchen hoͤrte, ſprang das ſchoͤne Bildchen
raſch auf, ſteckte die Larve vor und floh, ſchnell wie ein
aufgeſcheuchtes Reh, wieder zur Geſellſchaft zuruͤck.
Florio miſchte ſich nun auch wieder in die bunten
Reihen der Spaziergehenden. Manch zierliches Liebes¬
wort ſchallte da leiſe durch die laue Luft, der Mond¬
ſchein hatte mit ſeinen unſichtbaren Faͤden alle die Bil¬
der wie in ein goldnes Liebesnetz verſtrickt, in das nur
die Masken mit ihren ungeſelligen Parodien manche
komiſche Luͤcke riſſen. Beſonders hatte Fortunato ſich
dieſen Abend mehreremal verkleidet und trieb fortwaͤh¬
rend ſeltſam wechſelnd ſinnreichen Spuk, immer neu
und unerkannt, und oft ſich ſelber uͤberraſchend durch
die Kuͤhnheit und tiefe Bedeutſamkeit ſeines Spieles,
ſo daß er manchmal ploͤtzlich ſtill wurde vor Wehmuth,
wenn die andern ſich halb todt lachen wollten. —
Die ſchoͤne Griechin ließ ſich indeß nirgends ſehen,
ſie ſchien es abſichtlich zu vermeiden, dem Florio wie¬
der zu begegnen.
Dagegen hatte ihn der Herr vom Hauſe recht in
Beſchlag genommen. Kuͤnſtlich und weit ausholend
befragte ihn derſelbe weitlaͤuftig um ſein fruͤheres Leben,
ſeine Reiſen und ſeinen kuͤnftigen Lebensplan. Florio
konnte dabei gar nicht vertraulich werden, denn Pie¬
tro, ſo hieß jener, ſah fortwaͤhrend ſo beobachtend aus,
als laͤge hinter alle den feinen Redensarten irgend ein
beſonderer Anſchlag auf der Lauer. Vergebens ſann
er hin und her, dem Grunde dieſer zudringlichen Neu¬
gier auf die Spur zu kommen.
Er hatte ſich ſo eben wieder von ihm losgemacht,
als er, um den Ausgang einer Allee herumbeugend, meh¬
reren Masken begegnete, unter denen er unerwartet die
Griechin wieder erblickte. Die Masken ſprachen viel und
ſeltſam durcheinander, die eine Stimme ſchien ihm be¬
kannt, doch konnte er ſich nicht deutlich beſinnen. Bald dar¬
auf verlor ſich eine Geſtalt nach der andern, bis er ſich am
Ende, eh' er ſich deſſen recht verſah, allein mit dem
Maͤdchen befand. Sie blieb zoͤgernd ſtehen und ſah ihn
einige Augenblicke ſchweigend an. Die Larve war fort,
aber ein kurzer bluͤthenweißer Schleier, mit allerlei
wunderlichen goldgeſtickten Figuren verziert, verdeckte
das Geſichtchen. Er wunderte ſich, daß die Scheue
nun ſo allein bei ihm aushielt.
„Ihr habt mich in meinem Geſange belauſcht,“
ſagte ſie endlich freundlich. Es waren die erſten lauten
Worte, die er von ihr vernahm. Der melodiſche Klang
ihrer Stimme drang ihm durch die Seele, es war als
ruͤhrte ſie erinnernd an alles Liebe, Schoͤne und Froͤh¬
liche, was er im Leben erfahren. Er entſchuldigte ſeine
Kuͤhnheit und ſprach verwirrt von der Einſamkeit, die
ihn verlockt, ſeiner Zerſtreuung, dem Rauſchen der
Waſſerkunſt. — Einige Stimmen naͤherten ſich un¬
terdeß dem Platze. Das Maͤdchen blickte ſcheu um
ſich und ging raſch tiefer in die Nacht hinein. Sie
ſchien es gern zu ſehen, daß Florio ihr folgte.
Kuͤhn und vertraulicher bat er ſie nun, ſich nicht
laͤnger zu verbergen, oder doch ihren Namen zu ſagen,
damit ihre liebliche Erſcheinung unter den tauſend
verwirrenden Bildern des Tages ihm nicht wieder ver¬
loren ginge. „Laßt das,“ erwiederte ſie traͤumeriſch,
„nehmt die Blumen des Lebens froͤhlich, wie ſie der
Augenblick giebt, und forſcht nicht nach den Wurzeln
im Grunde, denn unten iſt es freudlos und ſtill.“
Florio ſah ſie erſtaunt an; er begriff nicht, wie ſolche
raͤthſelhafte Worte in den Mund des heitern Maͤdchens
kamen. Das Mondlicht fiel eben wechſelnd zwiſchen
den Baͤumen auf ihre Geſtalt. Da kam es ihm auch
vor, als ſey ſie nun groͤßer, ſchlanker und edler, als
vorhin beim Tanze und am Springbrunnen.
Sie waren indeß bis an den Ausgang des Gar¬
tens gekommen. Keine Lampe brannte mehr hier, nur
manchmal hoͤrte man noch eine Stimme in der Ferne
verhallend. Draußen ruhte der weite Kreis der Gegend
ſtill und feierlich im praͤchtigen Mondſchein. Auf ei¬
ner Wieſe, die vor ihnen lag, bemerkte Florio mehrere
Pferde und Menſchen, in dem Daͤmmerlichte halb¬
kenntlich durch einander wirrend.
Hier blieb ſeine Begleiterin ploͤtzlich ſtehen. „Es
wird mich freuen,“ ſagte ſie, „Euch einmal in meinem
Hauſe zu ſehen. Unſer Freund wird Euch hingelei¬
ten. — Lebt wohl!“ — Bei dieſen Worten ſchlug ſie
den Schleier zuruͤck, und Florio fuhr erſchrocken zu¬
ſammen. — Es war die wunderbare Schoͤne, deren
Geſang er in jenem mittagſchwuͤlen Garten belauſcht. —
Aber ihr Geſicht, das der Mond hell beſchien, kam ihm
bleich und regungslos vor, faſt wie damals das Mar¬
morbild am Weiher.
Er ſah nun, wie ſie uͤber die Wieſe dahinging,
von mehreren reichgeſchmuͤckten Dienern empfangen
wurde, und in einem ſchnell umgeworfenen ſchimmern¬
den Jagdkleide einen ſchneeweißen Zelter beſtieg. Wie
feſtgebannt von Staunen, Freude und einem heimlichen
Grauen, das ihn innerlichſt uͤberſchlich, blieb er ſte¬
hen, bis Pferde, Reiter und die ganze ſeltſame Er¬
ſcheinung in die Nacht verſchwunden war.
Ein Rufen aus dem Garten weckte ihn endlich
aus ſeinen Traͤumen. Er erkannte Fortunato's Stimme
und eilte, den Freund zu erreichen, der ihn ſchon laͤngſt
vermißt und vergebens aufgeſucht hatte. Dieſer wurde
ſeiner kaum gewahr, als er ihm ſchon entgegenſang:
Still in Luft
Es gebahrt,
Aus dem Duft
Hebt's ſich zart,
Liebchen ruft,
Liebſter ſchweift
Durch die Luft;
Sternwaͤrts greift,
Seufzt und ruft,
Herz wird bang,
Matt wird Duft,
Zeit wird lang —
Mondſcheinduft
Luft in Luft
Bleibt Liebe und Liebſte, wie ſie geweſen!
„Aber wo ſeyd Ihr denn auch ſo lange herumge¬
ſchwebt?“ ſchloß er endlich lachend. — Um keinen
Preis haͤtte Florio ſein Geheimniß verrathen koͤnnen.
„Lange?“ — erwiederte er nur, ſelber erſtaunt. Denn
in der That war der Garten unterdeß ganz leer ge¬
worden, alle Beleuchtung faſt erloſchen, nur wenige
Lampen flackerten noch ungewiß, wie Irrlichter, im
Winde hin und her.
Fortunato drang nicht weiter in den Juͤngling,
und ſchweigend ſtiegen ſie in dem ſtillgewordnen Hauſe
die Stufen hinan. „Ich loͤſe nun mein Wort,“ ſagte
Fortunato, indem ſie auf der Terraſſe uͤber dem Dache
der Villa anlangten, wo noch eine kleine Geſellſchaft
unter dem heiter geſtirnten Himmel verſammelt war.
Florio erkannte ſogleich mehrere Geſichter, die er an
jenem erſten froͤhlichen Abend bei den Zelten geſehen.
Mitten unter ihnen erblickte er auch ſeine ſchoͤne Nach¬
barin wieder. Aber der froͤhliche Blumenkranz fehlte
heute in den Haaren, ohne Band, ohne Schmuck wall¬
ten die ſchoͤnen Locken um das Koͤpfchen und den zier¬
lichen Hals. Er ſtand faſt betroffen ſtill bei dem An¬
blick. Die Erinerung an jenen Abend uͤberflog ihn mit
einer ſeltſam wehmuͤthigen Gewalt. Es war ihm, als
ſey das ſchon lange her, ſo ganz anders war alles ſeit¬
dem geworden.
Das Fraͤulein wurde Bianka genannt, und ihm
als Pietro's Nichte vorgeſtellt. Sie ſchien ganz ver¬
ſchuͤchtert, als er ſich ihr naͤherte, und wagte es kaum
zu ihm aufzublicken. Er aͤußerte ihr ſeine Verwun¬
derung, ſie dieſen Abend hindurch nicht geſehen zu ha¬
ben. „Ihr habt mich oͤfter geſehen,“ ſagte ſie leiſe,
und er glaubte dieſes Fluͤſtern wieder zu erkennen. —
Waͤhrenddeß wurde ſie die Roſe an ſeiner Bruſt gewahr,
welche er von der Griechin erhalten, und ſchlug erroͤ¬
thend die Augen nieder. Florio bemerkte es wohl, ihm
fiel dabei ein, wie er nach dem Tanze die Griechin
doppelt geſehen. Mein Gott! dachte er verwirrt bei
ſich, wer war denn das? —
M
„Es iſt gar ſeltſam,“ unterbrach ſie ablenkend das
Stillſchweigen, „ſo ploͤtzlich aus der lauten Luſt in die
weite Nacht hinauszutreten. Seht nur, die Wolken
gehn oft ſo ſchreckhaft wechſelnd uͤber den Himmel,
daß man wahnſinnig werden muͤßte, wenn man lange
hineinſaͤhe; bald wie ungeheure Mondgebirge mit
ſchwindlichen Abgruͤnden und ſchrecklichen Zacken, or¬
dentlich wie Geſichter, bald wieder wie Drachen, oft
ploͤtzlich lange Haͤlſe ausſtreckend, und drunter ſchießt
der Fluß heimlich wie eine goldne Schlange durch das
Dunkel, das weiße Haus da druͤben ſieht aus wie ein
ſtilles Marmorbild.“ — „Wo?“ fuhr Florio, bei die¬
ſem Worte heftig erſchreckt, aus ſeinen Gedanken auf. —
Das Maͤdchen ſah ihn verwundert an, und beide ſchwie¬
gen einige Augenblicke ſtill. — „Ihr werdet Lucca
verlaſſen?“ ſagte ſie endlich zoͤgernd und leiſe, als
fuͤrchtete ſie ſich vor einer Antwort. „Nein,“ erwie¬
derte Florio zerſtreut, „doch, ja, ja, bald, recht ſehr
bald!“ — Sie ſchien noch etwas ſagen zu wollen,
wandte aber ploͤtzlich, die Worte zuruͤckdraͤngend, ihr
Geſicht ab in die Dunkelheit.
Er konnte endlich den Zwang nicht laͤnger aus¬
halten. Sein Herz war ſo voll und gepreßt und doch
ſo uͤberſelig. Er nahm ſchnell Abſchied, eilte hinab
und ritt ohne Fortunato und alle Begleitung in die
Stadt zuruͤck.
Das Fenſter in ſeinem Zimmer ſtand offen, er
blickte fluͤchtig noch einmal hinaus. Die Gegend draußen
lag unkenntlich und ſtill wie eine wunderbar verſchraͤnkte
Hieroglyphe im zauberiſchen Mondſchein. Er ſchloß
das Fenſter faſt erſchrocken und warf ſich auf ſein Ru¬
hebett hin, wo er als wie ein Fieberkranker in die wun¬
derlichſten Traͤume verſank.
Bianka aber ſaß noch lange auf der Terraſſe oben.
Alle andern hatten ſich zur Ruhe begeben, hin und
wieder erwachte ſchon manche Lerche, mit ungewiſſem
Liede hoch durch die ſtille Luft ſchweifend; die Wipfel
der Baͤume fingen an ſich unten zu ruͤhren, falbe Mor¬
genlichter flogen wechſelnd uͤber ihr vermachtes, von
den freigelaſſenen Locken nachlaͤßig umwalltes Geſicht. —
Man ſagt, daß einem Maͤdchen, wenn ſie in einem, aus
neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einſchlaͤft, ihr
kuͤnftiger Braͤutigam im Traume erſcheine. So ein¬
geſchlummert hatte Bianka nach jenem Abend bei den
Zelten Florio'n im Traume geſehen. — Nun war alles
Luͤge, er war ja ſo zerſtreut, ſo kalt und fremde! —
Sie zerfluͤckte die truͤgeriſchen Blumen, die ſie bis jetzt
wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte ſie die
Stirn an das kalte Gelaͤnder und weinte aus Herzens¬
grunde.
Mehrere Tage waren ſeitdem vergangen, da be¬
fand ſich Florio eines Nachmittags bei Donati auf ſei¬
nem Landhauſe vor der Stadt. An einem mit Fruͤch¬
ten und kuͤhlem Wein beſetzten Tiſche verbrachten ſie
die ſchwuͤlen Stunden unter anmuthigen Geſpraͤchen,
bis die Sonne ſchon tief hinabgeſunken war. Waͤh¬
renddeß ließ Donati ſeinen Diener auf der Guitarre
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ſpielen, der ihr gar liebliche Toͤne zu entlocken wußte.
Die großen, weiten Fenſter ſtanden dabei offen, durch
welche die lauen Abendluͤfte den Duft vielfacher Blu¬
men, mit denen das Fenſter beſetzt war, hineinwehten.
Draußen lag die Stadt im farbigen Duft zwiſchen den
Gaͤrten und Weinbergen, von denen ein froͤhliches
Schallen durch die Fenſter heraufkam. Florio war in¬
nerlichſt vergnuͤgt, denn er gedachte im Stillen immer¬
fort der ſchoͤnen Frau.
Waͤhrenddem ließen ſich draußen Waldhoͤrner aus
der Ferne vernehmen. Bald naͤher, bald weit, gaben
ſie einander unablaͤſſig anmuthig Antwort von den
gruͤnen Bergen. Donati trat ans Fenſter. „Das iſt
die Dame,“ ſagte er, „die Ihr in dem ſchoͤnen Garten
geſehen habt, ſie kehrt ſo eben von der Jagd nach ih¬
rem Schloſſe zuruͤck.“ Florio blickte hinaus. Da ſah
er das Fraͤulein auf einem ſchoͤnen Zelter unten uͤber
den gruͤnen Anger ziehen. Ein Falke, mit einer golde¬
nen Schnur an ihren Guͤrtel befeſtigt, ſaß auf ihrer
Hand, ein Edelſtein an ihrer Bruſt warf in der Abend¬
ſonne lange, gruͤnlichgoldne Scheine uͤber die Wieſe
hin. Sie nickte freundlich zu ihnen herauf.
„Das Fraͤulein iſt nur ſelten zu Hauſe,“ ſagte Do¬
nati, „wenn es Euch gefaͤllig waͤre, koͤnnten wir ſie
noch heute beſuchen.“ Florio fuhr bei dieſen Worten
freudig aus dem traͤumeriſchen Schauen, in das er
verſunken ſtand, er haͤtte dem Ritter um den Hals
fallen moͤgen. — Und bald ſaßen beide draußen zu
Pferde.
Sie waren noch nicht lange geritten, als ſich der
Palaſt mit ſeiner heitern Saͤulenpracht vor ihnen er¬
hob, ringsum von dem ſchoͤnen Garten, wie von einem
froͤhlichen Blumenkranz umgeben. Von Zeit zu Zeit
ſchwangen ſich Waſſerſtrahlen von den vielen Spring¬
brunnen, wie jauchzend, bis uͤber die Wipfel der Ge¬
buͤſche, hell im Abendgolde funkelnd. — Florio ver¬
wunderte ſich, wie er bisher niemals den Garten wie¬
derfinden konnte. Sein Herz ſchlug laut vor Ent¬
zuͤcken und Erwartung, als ſie endlich bei dem Schloſſe
anlangten.
Mehrere Diener eilten herbei, ihnen die Pferde
abzunehmen. Das Schloß ſelbſt war ganz von Mar¬
mor, und ſeltſam, faſt wie ein heidniſcher Tempel er¬
baut. Das ſchoͤne Ebenmaaß aller Theile, die wie ju¬
gendliche Gedanken hochaufſtrebenden Saͤulen, die kuͤnſt¬
lichen Verzierungen, ſaͤmmtliche Geſchichten aus einer
froͤhlichen, lange verſunkenen Welt darſtellend, die
ſchoͤnen marmornen Goͤtterbilder endlich, die uͤberall
in den Niſchen umher ſtanden, alles erfuͤllte die Seele
mit einer unbeſchreiblichen Heiterkeit. Sie betraten
nun die weite Halle, die durch das ganze Schloß hin¬
durchging. Zwiſchen den luftigen Saͤulen glaͤnzte und
wehte ihnen uͤberall der Garten duftig entgegen.
Auf den breiten glattpolirten Stufen, die in den
Garten hinabfuͤhrten, trafen ſie endlich auch die ſchoͤne
Herrin des Palaſtes, die ſie mit großer Anmuth will¬
kommen hieß. — Sie ruhte, halb liegend, auf einem
Ruhebett von koͤſtlichen Stoffen. Das Jagdkleid hatte
ſie abgelegt, ein himmelblaues Gewand, von einem
wunderbar zierlichen Guͤrtel zuſammengehalten, um¬
ſchloß die ſchoͤnen Glieder. Ein Maͤdchen, neben ihr
kniend, hielt ihr einen reich verzierten Spiegel vor,
waͤhrend mehrere andere beſchaͤftigt waren, ihre anmu¬
thige Gebieterin mit Roſen zu ſchmuͤcken. Zu ihren
Fuͤßen war ein Kreis von Jungfrauen auf dem Raſen
gelagert, die ſangen mit abwechſelnden Stimmen zur
Laute, bald hinreißend froͤhlich, bald leiſe klagend, wie
Nachtigallen in warmen Sommernaͤchten einander Ant¬
wort geben.
In dem Garten ſelbſt ſah man uͤberall ein erfri¬
ſchendes Wehen und Regen. Viele fremde Herren und
Damen wandelten da zwiſchen den Roſengebuͤſchen und
Waſſerkuͤnſten in artigen Geſpraͤchen auf und nieder.
Reichgeſchmuͤckte Edelknaben reichten Wein und mit
Blumen verdeckte Orangen und Fruͤchte in ſilbernen
Schaalen umher. Weiter in der Ferne, wie die Lau¬
tenklaͤnge und die Abendſtrahlen ſo uͤber die Blumen¬
felder dahinglitten, erhoben ſich hin und her ſchoͤne
Maͤdchen, wie aus Mittagstraͤumen erwachend, aus
den Blumen, ſchuͤttelten die dunkeln Locken aus der
Stirn, wuſchen ſich die Augen in den klaren Spring¬
brunnen, und miſchten ſich dann auch in den froͤhlichen
Schwarm.
Florio's Blicke ſchweiften wie geblendet uͤber die
bunten Bilder, immer mit neuer Trunkenheit wieder
zu der ſchoͤnen Herrin des Schloſſes zuruͤckkehrend.
Dieſe ließ ſich in ihrem kleinen anmuthigen Geſchaͤft
nicht ſtoͤren. Bald etwas an ihrem dunkeln duftenden
Lockengeflecht verbeſſernd, bald wieder im Spiegel ſich
betrachtend, ſprach ſie dabei fortwaͤhrend zu dem Juͤng¬
ling, mit gleichguͤltigen Dingen in zierlichen Worten
holdſelig ſpielend. Zuweilen wandte ſie ſich ploͤtzlich
um und blickte ihn unter den Roſenkraͤnzen ſo unbe¬
ſchreiblich lieblich an, daß es ihm durch die innerſte
Seele ging. —
Die Nacht hatte indeß ſchon angefangen, zwiſchen
die fliegenden Abendlichter hinein zu dunkeln, das lu¬
ſtige Schallen im Garten wurde nach und nach zum
leiſen Liebesgefluͤſter, der Mondſchein legte ſich zaube¬
riſch uͤber die ſchoͤnen Bilder. Da erhob ſich die Dame
von ihrem blumigen Sitze und faßte Florio'n freund¬
lich bei der Hand, um ihn in das Innere ihres
Schloſſes zu fuͤhren, von dem er bewundernd geſpro¬
chen. Viele von den andern folgten ihnen nach. Sie
gingen einige Stufen auf und nieder, die Geſellſchaft
zerſtreute ſich inzwiſchen luſtig, lachend und ſcherzend
durch die vielfachen Saͤulengaͤnge, auch Donati war im
Schwarme verloren, und bald befand ſich Florio mit
der Dame allein in einem der praͤchtigſten Gemaͤcher
des Schloſſes.
Die ſchoͤne Fuͤhrerin ließ ſich hier auf mehrere
am Boden liegende ſeidene Kiſſen nieder. Sie warf
dabei, zierlich wechſelnd, ihren weiten, bluͤthenweißen
Schleier in die mannichfaltigſten Richtungen, immer
ſchoͤnere Formen bald enthuͤllend, bald loſe verbergend.
Florio betrachtete ſie mit flammenden Augen. Da be¬
gann auf einmal draußen in dem Garten ein wunder¬
ſchoͤner Geſang. Es war ein altes frommes Lied, das
er in ſeiner Kindheit oft gehoͤrt und ſeitdem uͤber den
wechſelnden Bildern der Reiſe faſt vergeſſen hatte. Er
wurde ganz zerſtreut, denn es kam ihm zugleich vor,
als waͤre es Fortunato's Stimme. — „Kennt ihr den
Saͤnger?“ fragte er raſch die Dame. Dieſe ſchien or¬
deutlich erſchrocken und verneinte es verwirrt. Dann
ſaß ſie lange im ſtummen Nachſinnen da.
Florio hatte unterdeß Zeit und Freiheit, die wun¬
derlichen Verzierungen des Gemaches genau zu be¬
trachten. Es war nur matt durch einige Kerzen er¬
leuchtet, die von zwei ungeheuern, aus der Wand her¬
vorragendeuher¬
vorragenden Armen gehalten wurden. Hohe, auslaͤn¬
diſche Blumen, die in kuͤnſtlichen Kruͤgen umherſtan¬
den, verbreiteten einen berauſchenden Duft. Gegen¬
uͤber ſtand eine Reihe marmorner Bildſaͤulen, uͤber
deren reizende Formen die ſchwankenden Lichter luͤſtern
auf und nieder ſchweiften. Die uͤbrigen Waͤnde fuͤll¬
ten koͤſtliche Tapeten mit in Seide gewirkten lebens¬
großen Hiſtorien von ausnehmender Friſche.
Mit Verwunderung glaubte Florio, in allen den
Damen, die er in dieſen letzteren Schildereien erblickte,
die ſchoͤne Herrin des Hauſes deutlich wieder zu er¬
kennen. Bald erſchien ſie, den Falken auf der Hand,
wie er ſie vorhin geſehen hatte, mit einem jungen Rit¬
ter auf die Jagd reitend, bald war ſie in einem praͤch¬
tigen Roſengarten vorgeſtellt, wie ein andrer ſchoͤner
Edelknabe auf den Knien zu ihren Fuͤßen lag.
Da flog es ihn ploͤtzlich wie von den Klaͤngen des
Liedes draußen an, daß er zu Hauſe in fruͤher Kind¬
heit oftmals ein ſolches Bild geſehen, eine wunderſchoͤne
Dame in derſelben Kleidung, einen Ritter zu ihren
Fuͤßen, hinten einen weiten Garten mit vielen Spring¬
brunnen und kuͤnſtlich geſchnittenen Alleen, gerade ſo
wie vorhin der Garten draußen erſchienen. Auch Ab¬
bildungen von Lucca und anderen beruͤhmten Staͤdten
erinnerte er ſich dort geſehen zu haben.
Er erzaͤhlte es nicht ohne tiefe Bewegung der
Dame. „Damals,“ ſagte er, in Erinnerungen verlo¬
ren, „wenn ich ſo an ſchwuͤlen Nachmittagen in dem
einſamen Luſthauſe unſeres Gartens vor den alten Bil¬
dern ſtand und die wunderlichen Thuͤrme der Staͤdte,
die Bruͤcken und Alleen betrachtete, wie da praͤchtige
Karoſſen fuhren und ſtattliche Kavaliers einherritten,
die Damen in den Wagen begruͤßend — da dachte ich
nicht, daß das alles einmal lebendig werden wuͤrde um
mich herum. Mein Vater trat dabei oft zu mir und er¬
zaͤhlte mir manch luſtiges Abenteuer, das ihm auf ſei¬
nen jugendlichen Heeresfahrten in der und jener von
den abgemalten Staͤdten begegnet. Dann pflegte er
gewoͤhnlich lange Zeit nachdenklich in dem ſtillen Gar¬
ten auf und ab zu gehen. — Ich aber warf mich in
das tiefſte Gras und ſah ſtundenlang zu, wie die Wol¬
ken uͤber die ſchwuͤle Gegend wegzogen. Die Graͤſer
und Blumen ſchwankten leiſe hin und her uͤber mir,
als wollten ſie ſeltſame Traͤume weben, die Bie¬
nen ſummten dazwiſchen ſo ſommerhaft und in einem
fort — ach! das iſt alles wie ein Meer von Stille, in
dem das Herz vor Wehmuth untergehen moͤchte!“ —
„Laßt nur das!“ ſagte hier die Dame wie in Zer¬
ſtreuung, „ein jeder glaubt mich ſchon einmal geſehen
zu haben, denn mein Bild daͤmmert und bluͤht wohl
in allen Jugendtraͤumen mit herauf.“ Sie ſtreichelte
dabei beſchwichtigend dem ſchoͤnen Juͤngling die brau¬
nen Locken aus der klaren Stirn. — Florio aber ſtand
auf, ſein Herz war zu voll und tief bewegt, er trat
ans offene Fenſter. Da rauſchten die Baͤume, hin und
her ſchlug eine Nachtigall, in der Ferne blitzte es zu¬
weilen. Ueber den ſtillen Garten weg zog immer fort
der Geſang wie ein klarer kuͤhler Strom, aus dem die
alten Jugendtraͤume herauf tauchten. Die Gewalt
dieſer Toͤne hatte ſeine ganze Seele in tiefe Gedanken
verſenkt, er kam ſich auf einmal hier ſo fremde, und
wie aus ſich ſelber verirrt vor. Selbſt die letzten
Worte der Dame, die er ſich nicht recht zu deuten
wußte, beaͤngſtigten ihn ſonderbar — da ſagte er leiſe
aus tiefſtem Grunde der Seele: „Herr Gott, laß mich
nicht verloren gehen in der Welt!“ Kaum hatte er
die Worte innerlichſt ausgeſprochen, als ſich draußen
ein truͤber Wind, wie von dem herannahenden Gewitter,
erhob und ihn verwirrend anwehte. Zu gleicher Zeit
bemerkte er an dem Fenſtergeſimſe Gras und einzelne
Buͤſchel von Kraͤutern wie auf altem Gemaͤuer. Eine
Schlange fuhr ziſchend daraus hervor und ſtuͤrzte mit
dem gruͤnlichgoldenen Schweife ſich ringelnd in den
Abgrund hinunter.
Erſchrocken verließ Florio das Fenſter und kehrte
zu der Dame zuruͤck. Dieſe ſaß unbeweglich ſtill, als
lauſche ſie. Dann ſtand ſie raſch auf, ging ans Fen¬
ſter und ſprach mit anmuthiger Stimme ſcheltend in
die Nacht hinaus. Florio konnte aber nichts verſtehen,
denn der Sturm riß die Worte gleich mit ſich fort. —
Das Gewitter ſchien indeß immer naͤher zu kommen,
der Wind, zwiſchen dem noch immer fort einzelne Toͤne
des Geſanges herzzerreißend heraufflogen, ſtrich pfeifend
durch das ganze Haus und drohte die wild hin und
her flackernden Kerzen zu verloͤſchen. Ein langer Blitz
erleuchtete ſo eben das daͤmmernde Gemach. Da fuhr
Florio ploͤßlich einige Schritte zuruͤck, denn es war
ihm, als ſtuͤnde die Dame ſtarr mit geſchloſſenen Augen
und ganz weißem Antlitz und Armen vor ihm. — Mit
dem fluͤchtigen Blitzesſcheine jedoch verſchwand auch
das ſchreckliche Geſicht wieder, wie es entſtanden. Die
alte Daͤmmerung fuͤllte wieder das Gemach, die Dame
ſah ihn wieder laͤchelnd an wie vorhin, aber ſtill¬
ſchweigend und wehmuͤthig, wie mit ſchwerverhaltenen
Thraͤnen.
Florio hatte indeß, im Schreck zuruͤcktaumelnd,
eines von den ſteinernen Bildern, die an der Wand
herumſtanden, angeſtoßen. In demſelben Augenblicke
begann daſſelbe ſich zu ruͤhren, die Regung theilte ſich
ſchnell den andern mit, und bald erhoben ſich alle die
Bilder mit furchtbarem Schweigen von ihrem Geſtelle.
Florio zog ſeinen Degen und warf einen ungewiſſen
Blick auf die Dame. Als er aber bemerkte, daß die¬
ſelbe, bei den indeß immer gewaltiger verſchwellenden
Toͤnen des Geſanges im Garten, immer bleicher und
bleicher wurde, gleich einer verſinkenden Abendroͤthe,
worin endlich auch die lieblich ſpielenden Augenſterne
unterzugehen ſchienen, da erfaßte ihn ein toͤdliches
Grauen. Denn auch die hohen Blumen in den Ge¬
faͤßen fingen an, ſich wie buntgefleckte baͤumende Schlan¬
gen graͤßlich durch einander zu winden, alle Ritter auf
den Wandtapeten ſahen auf einmal aus wie er und
lachten ihn haͤmiſch an; die beiden Arme, welche die
Kerzen hielten, rangen und reckten ſich immer laͤnger,
als wollte ein ungeheurer Mann aus der Wand ſich
hervorarbeiten, der Saal fuͤllte ſich mehr und mehr,
die Flammen des Blitzes warfen graͤßliche Scheine
zwiſchen die Geſtalten, durch deren Gewimmel Florio
die ſteinernen Bilder mit ſolcher Gewalt auf ſich los¬
dringen ſah, daß ihm die Haare zu Berge ſtanden.
Das Grauſen uͤberwaͤltigte alle ſeine Sinne, er ſtuͤrzte
verworren aus dem Zimmer durch die oͤden wiederhal¬
lenden Gemaͤcher und Saͤulengaͤnge hinab.
Unten im Garten lag ſeitwaͤrts der ſtille Weiher,
den er in jener erſten Nacht geſehen, mit dem mar¬
mornen Venusbilde. — Der Saͤnger Fortunato, ſo
kam es ihm vor, fuhr abgewendet und hoch aufrecht
ſtehend im Kahne mitten auf dem Weiher, noch ein¬
zelne Accorde in ſeine Guitarre greifend. — Florio
aber hielt auch dieſe Erſcheinung fuͤr ein verwirrendes
Blendwerk der Nacht und eilte fort und fort, ohne
ſich umzuſehen, bis Weiher, Garten und Palaſt weit
hinter ihm verſunken waren. Die Stadt ruhte, hell
vom Moude beſchienen, vor ihm. Fernab am Hori¬
zonte verhallte nur leiſe ein leichtes Gewitter, es war
eine praͤchtig klare Sommernacht.
Schon flogen einzelne Lichtſtreifen uͤber den Mor¬
genhimmel, als er vor den Thoren ankam. Er ſuchte
dort heftig Donati's Wohnung auf, ihn wegen der
Begebenheiten dieſer Nacht zur Rede zu ſtellen. Das
Landhaus lag auf einem der hoͤchſten Plaͤtze mit der
Ausſicht uͤber die Stadt und die ganze umliegende Ge¬
gend. Er fand daher die anmuthige Stelle bald wie¬
der. Aber anſtatt der zierlichen Villa, in der er ge¬
ſtern geweſen, ſtand nur eine niedere Huͤtte da, ganz
von Weinlaub uͤberrankt und von einem kleinen Gaͤrt¬
chen umſchloſſen. Tauben, in den erſten Morgenſtrah¬
len ſpiegelnd, gingen girrend auf dem Dache auf und
nieder, ein tiefer heiterer Friede herrſchte uͤberall. Ein
Mann mit dem Spaten auf der Achſel kam ſo eben
aus dem Hauſe und ſang:
Vergangen iſt die finſtre Nacht,
Des Boͤſen Trug und Zaubermacht,
Zur Arbeit weckt der lichte Tag;
Friſch auf, wer Gott noch loben mag!
Er brach ſein Lied ploͤtzlich ab, als er den Frem¬
den ſo bleich und mit verworrenem Haar daherfliegen
ſah. — Ganz verwirrt fragte Florio nach Donati.
Der Gaͤrtner aber kannte den Namen nicht und ſchien
den Fragenden fuͤr wahnſinnig zu halten. Seine Toch¬
ter dehnte ſich auf der Schwelle in die kuͤhle Morgen¬
luft hinaus und ſah den Fremden friſch und morgen¬
klar mit den großen, verwunderten Augen an. — „Mein
Gott ! wo bin ich denn ſo lange geweſen!“ ſagte
Florio halb leiſe in ſich, und floh eilig zuruͤck durch
das Thor und die noch leeren Gaſſen in die Herberge.
Hier verſchloß er ſich in ſein Zimmer und verſank
ganz und gar in ein hinſtarrendes Nachſinnen. Die
unbeſchreibliche Schoͤnheit der Dame, wie ſie ſo lang¬
ſam vor ihm verblich, und die anmuthigen Augen un¬
tergingen, hatte in ſeinem tiefſten Herzen eine ſolche
unendliche Wehmuth zuruͤckgelaſſen, daß er ſich unwi¬
derſtehlich ſehnte, hier zu ſterben. —
In ſolchem unſeligen Bruͤten und Traͤumen blieb
er den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht
hindurch.
Die fruͤheſte Morgendaͤmmerung fand ihn ſchon
zu Pferde vor den Thoren der Stadt. Das unermuͤd¬
liche Zureden ſeines getreuen Dieners hatte ihn endlich
zu dem Entschluſſe bewogen, dieſe Gegend gaͤnzlich zu
verlaſſen. Langſam und in ſich gekehrt zog er nun die
ſchoͤne Straße, die von Lucca in das Land hinaus¬
fuͤhrte, zwiſchen den dunkelnden Baͤumen, in denen die
Voͤgel noch ſchliefen, dahin. Da geſellten ſich, nicht
gar fern der Stadt, noch drei andere Reiter zu ihm.
Nicht ohne heimlichen Schauer erkannte er in dem
Einen den Saͤnger Fortunato. Der Andere war Fraͤu¬
lein Bianka's Oheim, in deſſen Landhauſe er an jenem
verhaͤngnißvollen Abende getanzt. Er wurde von einem
Knaben begleitet, der ſtillſchweigend und ohne viel auf¬
zublicken neben ihm her ritt. Alle drei hatten ſich
vorgenommen, mit einander das ſchoͤne Italien zu
durchſchweifen, und luden Florio freudig ein, mit ih¬
nen zu reiſen. Er aber verneigte ſich ſchweigend, we¬
der einwilligend, noch verneinend, und nahm fortwaͤh¬
rend an allen ihren Geſpraͤchen nur geringen Antheil.
Die Morgenroͤthe erhob ſich indeß immer hoͤher
und kuͤhler uͤber der wunderſchoͤnen Landſchaft vor ih¬
nen. Da ſagte der heitre Pietro zu Fortunato: „Seht
nur, wie ſeltſam das Zwielicht uͤber dem Geſtein der
alten Ruine auf dem Berge dort ſpielt! Wie oft bin
ich, ſchon als Knabe, mit Erſtaunen, Neugier und
heimlicher Scheu dort herumgeklettert! Ihr ſeyd ſo
vieler Sagen kundig, koͤnnt Ihr uns nicht Auskunft
geben von dem Urſprung und Verfall dieſes Schloſſes,
von dem ſo wunderliche Geruͤchte im Lande gehen?“ —
Florio warf einen Blick nach dem Berge. In einer
großen Einſamkeit lag da altes verfallenes Gemaͤuer
umher, ſchoͤne, halb in die Erde verſunkene Saͤulen und
kuͤnſtlich gehauene Steine, alles von einer uͤppig bluͤ¬
henden Wildniß gruͤnverſchlungener Ranken, Hecken
und hohen Unkrauts uͤberdeckt. Ein Weiher befand ſich
daneben, uͤber dem ſich ein zum Theil zertruͤmmertes
Marmorbild erhob, hell vom Morgen angegluͤht. Es
war offenbar dieſelbe Gegend, dieſelbe Stelle, wo er
den ſchoͤnen Garten und die Dame geſehen hatte. —
Er ſchauerte innerlichſt zuſammen bei dem Anblicke. —
Fortunato aber ſagte: „Ich weiß ein altes Lied darauf,
wenn ihr damit fuͤrlieb nehmen wollt.“ — Und hier¬
mit ſang er, ohne ſich lange zu beſinnen, mit ſeiner
klaren froͤhlichen Stimme in die heitere Morgenluft
hinaus:
Von kühnen Wunderbildern
Ein großer Trümmerhauf,
In reizendem Verwildern
Ein blüh'nder Garten drauf.
Verſunknes Reich zu Füßen,
Vom Himmel fern und nah,
Aus andrem Reich ein Grüßen —
Das iſt Italia!
Wenn Frühlingslüfte wehen
Hold über'm grünen Plan,
Ein leiſes Auferſtehen
Hebt in den Thälern an.
Da will ſich's unten rühren,
Im ſtillen Göttergrab,
Der Menſch kanns ſchauernd ſpüren
Tief in die Bruſt hinab.
Verwirrend in den Bäumen
Gehn Stimmen hin und her,
Ein ſehnſuchtsvolles Träumen
Weht über's blaue Meer.
Und unter'm duft'gen Schleier,
So oft der Lenz erwacht,
Webt in geheimer Feier,
Die alte Zaubermacht.
Frau Venus hört das Locken,
Der Vögel heitern Chor,
Und richtet froh erſchrocken
Aus Blumen ſich empor.
Sie ſucht die alten Stellen,
Das luft'ge Säulenhaus,
Schaut lächelnd in die Wellen
Der Frühlingsluft hinaus.
Doch öd' ſind nun die Stellen,
Stumm liegt ihr Säulenhaus,
Gras wächſt da auf den Schwellen,
Der Wind zieht ein und aus.
Wo ſind nun die Geſpielen?
Diana ſchläft im Wald,
Neptunus ruht im kühlen
Meerſchloß, das einſam hallt.
Zuweilen nur Sirenen
Noch tauchen aus dem Grund,
Und thun in irren Tönen
Die tiefe Wehmuth kund. —
Sie ſelbſt muß ſinnend ſtehen
So bleich im Frühlingsſchein,
Die Augen untergehen,
Der ſchöne Leib wird Stein. —
Denn über Land und Wogen
Erſcheint, ſo ſtill und mild,
Hoch auf dem Regenbogen
Ein andres Frauenbild.
R
Ein Kindlein in den Armen
Die Wunderbare hält,
Und himmliſches Erbarmen
Durchdringt die ganze Welt.
Da in den lichten Räumen
Erwacht das Menſchenkind,
Und ſchüttelt böſes Träumen
Von ſeinem Haupt geſchwind.
Und, wie die Lerche ſingend,
Aus ſchwülen Zaubers Kluft
Erhebt die Seele ringend
Sich in die Morgenluft.
Alle waren ſtill geworden uͤber dem Liede. — „Jene
Ruine,“ ſagte endlich Pietro, „waͤre alſo ein ehemali¬
ger Tempel der Venus, wenn ich Euch ſonſt recht ver¬
ſtanden?“ „Allerdings,“ erwiederte Fortunato, „ſo viel
man an der Anordnung des Ganzen und den noch
uͤbrig gebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch
ſagt man, der Geiſt der ſchoͤnen Heidengoͤttin habe
keine Ruhe gefunden. Aus der erſchrecklichen Stille
des Grabes heißt ſie das Andenken an die irdiſche Luſt
jeden Fruͤhling immer wieder in die gruͤne Einſamkeit
ihres verfallenen Hauſes heraufſteigen und durch teufe¬
liſches Blendwerk die alte Verfuͤhrung uͤben an jungen
ſorgloſen Gemuͤthern, die dann vom Leben abgeſchie¬
den, und doch auch noch nicht aufgenommen in den
Frieden der Todten, zwiſchen wilder Luſt und ſchreck¬
licher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren,
und in der entſetzlichſten Taͤuſchung ſich ſelber verzeh¬
ren. Gar haͤufig will man auf demſelben Platze An¬
fechtungen von Geſpenſtern verſpuͤrt haben, wo ſich
bald eine wunderſchoͤne Dame, bald mehrere anſehn¬
liche Kavaliers ſehen laſſen und die Voruͤbergehenden
in einem dem Auge vorgeſtellten erdichteten Garten und
Palaſt fuͤhren.“ — „Seyd Ihr jemals droben gewe¬
ſen?“ fragte hier Florio raſch, aus ſeinen Gedanken
erwachend. — „Erſt vorgeſtern Abends,“ entgegnete
Fortunato. — „Und habt Ihr nichts Erſchreckliches
geſehen?“ — „Nichts,“ ſagte der Saͤnger, „als den
ſtillen Weiher und die weißen raͤthſelhaften Steine im
Mondlicht umher und den weiten unendlichen Ster¬
nenhimmel daruͤber. Ich ſang ein altes frommes Lied,
eines von jenen urſpruͤnglichen Liedern, die, wie Erin¬
nerungen und Nachklaͤnge aus einer andern heimathli¬
chen Welt, durch das Paradiesgaͤrtlein unſrer Kindheit
ziehn und ein rechtes Wahrzeichen ſind, an dem ſich alle
Poetiſche ſpaͤter in dem aͤltergewordnen Leben immer
wieder erkennen. Glaubt mir, ein redlicher Dichter
kann viel wagen, denn die Kunſt, die ohne Stolz und
Frevel, beſpricht und baͤndigt die wilden Erdengeiſter,
die aus der Tiefe nach uns langen.“
Alle ſchwiegen, die Sonne ging ſo eben auf vor
ihnen und warf ihre funkelnden Lichter uͤber die Erde.
Da ſchuͤttelte Florio ſich an allen Gliedern, ſprengte
raſch eine Strecke den andern voraus, und ſang mit
heller Stimme:
N 2
Hier bin ich, Herr! Gegruͤßt das Licht,
Das durch die ſtille Schwuͤle
Der muͤden Bruſt gewaltig bricht,
Mit ſeiner ſtrengen Kuͤhle.
Nun bin ich frei! Ich taumle noch
Und kann mich noch nicht faſſen, —
O Vater, du erkennſt mich doch,
Und wirſt nicht von mir laſſen!
Es kommt nach allen heftigen Gemuͤthsbewegun¬
gen, die unſer ganzes Weſen durchſchuͤttern, eine ſtill¬
klare Heiterkeit uͤber die Seele, gleich wie die Felder
nach einem Gewitter friſcher gruͤnen und aufathmen.
So fuͤhlte ſich auch Florio nun innerlichſt erquickt, er
blickte wieder recht muthig um ſich und erwartete be¬
ruhigt die Gefaͤhrten, die langſam im Gruͤnen nachge¬
zogen kamen.
Der zierliche Knabe, welcher Pietro'n begleitete,
hatte unterdeß auch, wie Blumen vor den erſten Mor¬
genſtrahlen, das Koͤpfchen erhoben. — Da erkannte
Florio mit Erſtaunen Fraͤulein Bianka. Er erſchrak,
wie ſie ſo bleich ausſah gegen jenen Abend, da er ſie
zum erſtenmal unter den Zelten im reizenden Muth¬
willen geſehen. Die Arme war mitten in ihren ſorg¬
loſen Kinderſpielen von der Gewalt der erſten Liebe
uͤberraſcht worden. Und als dann der heißgeliebte
Florio, den dunkeln Maͤchten folgend, ſo fremde wurde
und ſich immer weiter von ihr entfernte, bis ſie ihn
endlich ganz verloren geben mußte, da verſank ſie in
eine tiefe Schwermuth, deren Geheimniß ſie Nieman¬
den anzuvertrauen wagte. Der kluge Pietro wußte es
aber wohl und hatte beſchloſſen, ſeine Nichte weit fort¬
zufuͤhren und ſie in fremden Gegenden und in einem
andern Himmelsſtrich, wo nicht zu heilen, doch zu zer¬
ſtreuen und zu erhalten. Um ungehinderter reiſen zu
koͤnnen, und zugleich alles Vergangene gleichſam von
ſich abzuſtreifen, hatte ſie Knabentracht anlegen muͤſſen.
Mit Wohlgefallen ruhten Florio's Blicke auf der
lieblichen Geſtalt. Eine ſeltſame Verblendung hatte
bisher ſeine Augen wie mit einem Zaubernebel umfan¬
gen. Nun erſtaunte er ordentlich, wie ſchoͤn ſie war!
Er ſprach vielerlei geruͤhrt und mit tiefer Innigkeit zu
ihr. Da ritt ſie, ganz uͤberraſcht von dem unverhoff¬
ten Gluͤck, und in freudiger Demuth, als verdiene ſie
ſolche Gnade nicht, mit niedergeſchlagenen Augen
ſchweigend neben ihm her. Nur manchmal blickte ſie
unter den langen ſchwarzen Augenwimpern nach ihm
hinauf, die ganze klare Seele lag in dem Blick, als
wollte ſie bittend ſagen: „Taͤuſche mich nicht wieder!“
Sie waren unterdeß auf einer luftigen Hoͤhe ange¬
langt, hinter ihnen verſank die Stadt Lucca mit ihren
dunkeln Thuͤrmen in dem ſchimmernden Duft. Da
ſagte Florio, zu Bianka gewendet: „Ich bin wie neu
geboren, es iſt mir, als wuͤrde noch Alles gut werden,
ſeit ich Euch wiedergefunden. Ich moͤchte niemals
wieder ſcheiden, wenn Ihr es vergoͤnnt.“ —
Bianka blickte ihn, ſtatt aller Antwort ſelber wie
fragend, mit ungewiſſer, noch halb zuruͤckgehaltener
Freude an und ſah recht wie ein heiteres Engelsbild
auf dem tiefblauen Grunde des Morgenhimmels aus.
Der Morgen ſchien ihnen, in langen goldenen Strah¬
len uͤber die Flaͤche ſchießend, gerad entgegen. Die
Baͤume ſtanden hell angegluͤht, unzaͤhlige Lerchen ſan¬
gen ſchwirrend in der klaren Luft. Und ſo zogen die
Gluͤcklichen froͤhlich durch die uͤberglaͤnzten Auen in
das bluͤhende Mailand hinunter.