Beilagen.
Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft.
History of civilisation in England by H. T. Buckle. Vol. I. ed. 2. London
1858. Vol. II. 1861.
Geschichte der Civilisation in England von H. T. Buckle, übersetzt von
A. Ruge. Bd. I. Abth. 1. 2. Bd. II. Leipzig 1860. 1861.
Unser Zeitalter rühmt sich gern, dass es wissenschaftlich freier,
kühner, mit grösseren auch praktischen Erfolgen arbeite als irgeudirgend ein
früheres. Und neidlos wird den Naturwissenschaften in dem, was sie
leisten, und in der Art, wie sie es leisten, der Preis zugestanden.
Die Energie dieser Disciplinen besteht darin, dass sie sich ihrer
Aufgaben, ihrer Mittel, ihrer Methode völlig klar bewusst sind, und
dass sie die Dinge, welche sie in den Bereich ihrer Forschungen ziehen,
unter den Gesichtspunkten und nur unter denen betrachten, auf welche
ihre Methode gegründet ist.
Treffend bezeichnet diesen Bereich der Studien ein französischer
Forscher mit folgenden oft citirten Worten: „jedesmal, wo man eine
der vitalen Erscheinungen in die Classe der physicalischen versetzen
kann, hat man auch eine neue Eroberung in den Wissenschaften ge-
macht, deren Gebiet sich eben damit erweitert; dann werden Worte
durch Thatsachen, Hypothesen durch Analysen ersetzt, die Gesetze der
organischen Körper fallen dann mit denen der unorganischen zusammen
und werden wie diese der Erklärung und Vereinfachung fähig.“
Aber dieser Ausspruch tritt in einer Allgemeinheit auf, die mehr
als bedenklich ist. Oder wäre in der That nur dann eine neue Er-
oberung in den Wissenschaften gemacht, wenn vitale Erscheinungen in
die Klasse der physikalischen versetzt worden sind? wäre in der That
das Wesen und der Bereich der Wissenschaft damit richtig definirt?
müssten die anderen Gebiete menschlicher Erkenntniss anerkennen nur
so weit wissenschaftlicher Art zu sein, als sie im Stande sind, vitale
Erscheinungen in die Classe der physikalischen zu versetzen?
Es sind nicht bloss die staunenswürdigen Leistungen und Erfolge
der naturwissenschaftlichen Arbeiten, welche die Ueberzeugung ver-
breiten, ihre Methode sei die in vorzüglichem Maas wissenschaftliche,
die allein wissenschaftliche. Es liegt in der Bildungsweise unseres
Zeitalters, in dem Entwickelungsstadium, in das unsere socialen und
sittlichen Zustände eingetreten sind, der tiefere Grund für die Popu-
larität einer Betrachtungsweise, welche für die Welt der quantitativen
Erscheinungen die entsprechende ist.
Buckle ist nicht der erste, welcher den Versuch gemacht hat dem
unwissenschaftlichen Character der Geschichte, der ἀμέϑοδος ὕλη,
wie schon ein alter Schriftsteller sie nennt, dadurch beizukommen, dass
ihre vitalen Erscheinungen unter Gesichtspunkte gestellt werden, welche
denen, von welchen die exacten Wissenschaften ausgehen, analog sind.
Aber was von Andern — etwa in der Formel des Naturwüchsigen —
gelegentlich eingemengt, oder in der sehr unzulänglichen, nur meta-
phorischen Vorstellung des Organischen durchgeführt, was von Andern
— so von Comte in der anziehenden „Philosophie positive“ — specu-
lativ entwickelt ist, unternimmt Buckle in einer umfassenden histori-
schen Darlegung zu begründen.
Er spricht mit scharfen Ausdrücken über die „Zunft der Histori-
ker“ und ihre bisherigen Leistungen, über die Gedankenlosigkeit, mit
der sie gearbeitet, die Principlosigkeit, mit der sie geforscht haben;
er meint, dass nach ihrer Art zu arbeiten „jeder Schriftsteller zum
Geschichtschreiber“ befähigt ist; „sei derselbe auch aus Denkfaulheit
oder natürlicher Beschränktheit unfähig die höchsten Zweige des Wissens
zu behandeln, er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen
Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines grossen
Volkes schreiben und in seinem Fache ein Ansehen erlangen.“ Er
findet, dass „für alle höheren Richtungen des menschlichen Denkens
die Geschichte noch in beklagenswerther Unvollkommenheit liegt und
eine so verworrene und anarchische Erscheinung darbietet, wie es sich
nur bei einem Gegenstand erwarten lässt, dessen Gesetze unbekannt
sind, ja dessen Grund noch nicht gelegt ist.“
Er gedenkt die Geschichte dadurch zu einer Wissenschaft zu er-
heben, dass er die historischen Thatsachen aus allgemeinen Gesetzen
zu beweisen lehrt. Er bahnt sich den Weg dazu, indem er darlegt,
dass die frühsten und rohsten Vorstellungen über den Verlauf der mensch-
lichen Geschicke sich in den Begriffen Zufall und Nothwendigkeit zu-
sammengefasst hätten, dass „höchst wahrscheinlich“ aus diesen später
die Dogmen vom freien Willen und von der Vorherbestimmung gewor-
den seien, dass beide in nicht geringem Maase „Irrthümer“ seien oder,
so fügt er hinzu, „dass wir wenigstens keinen ausreichenden Beweis
für ihre Wahrheit haben.“ Er findet, dass „alle Veränderungen, von
denen die Geschichte voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschenge-
schlecht betroffen, sein Fortschritt und sein Verfall, sein Glück und
Elend die Frucht einer doppelten Wirksamkeit sein müsse, der Ein-
wirkung äusserer Erscheinung auf unser Inneres und der Einwirkungen
unseres Innern auf die äussern Erscheinungen.“ Er hat die Zuversicht
die „Gesetze“ dieser doppelten Einwirkung entdeckt, damit die Ge-
schichte der Menschen zu einer Wissenschaft erhoben zu haben.
Buckle sieht den eigentlichen geschichtlichen Inhalt des Lebens
der Menschheit in dem, was er Civilisation nennt. Er hat die Ge-
schichte der Civilisation des Englischen, Französischen, Spanischen,
Schottischen Volkes entwickelt, um an diesen Beispielen die Anwendung
seiner Methode, die Richtigkeit der von ihm gefundenen Gesetze zu
zeigen. Er findet diese Gesetze, wie er sagt, auf den zwei einzig mög-
lichen Wegen, dem der Deduction und dem der Induction; auf jenem
Wege, indem er nachweist, wie sich aus diesen Gesetzen die geschicht-
liche Entwickelung der Civilisation bei den genannten Völkern erklärt;
auf diesem, indem er aus der Fülle von Thatsachen, die er in seinen
Studien gesammelt hat, die massgebenden und entscheidenden zusam-
menfast und den sie vereinigenden höheren Ausdruck findet.
Ich gehe nicht darauf ein, seine Induction und Deduction nach
dem zu ihrer Bewährung verwandten historischen Material zu unter
suchen. Es könnte in seiner Art der Quellenbenutzung, in der Aus-
wahl seiner Angaben, in der Angemessenheit seiner Zusammenstellun-
gen immerhin Irriges, Willkührliches, Unzulängliches in Fülle vorhan-
den sein — wie wirklich der Fall ist — ohne dass darum die Auf-
gabe, die er unserer Wissenschaft stellt, die Methode, die er zu ihrer
Lösung empfiehlt, an wissenschaftlichem Werth verlöre; es wäre nur
der Historiker Buckle hinter dem Denker, dem Philosophen Buckle
zurückgeblieben, und den Historikern von Fach würde die Aufgabe
zufallen, die grosse Erfindung, die er ihnen geboten, besser zu exem-
plificiren und zu verwerthen, als es dem geistvollen Dilettanten in
unsern Studien möglich gewesen ist.
Schon früher hat diese (v. Sybel’s) Zeitschrift ein Paar lehrreiche
Aufsätze mitgetheilt, in denen über das Methodische unserer Wissenschaft
und über die Art und den Bereich des historischen Erkennens gehandelt
ist. Wie auch sollte sie sich denjenigen Fragen verschliessen, welche,
immerhin nicht bloss historischer Natur, doch von unserer Wissenschaft
selbst behandelt und in ihrer Art gelöst werden müssen, wenn sie nicht
Gefahr laufen will, dass ihr gleichsam von fremd her Aufgaben gestellt,
Wege vorgezeichnet, Definitionen des Begriffes Wissenschaft zugescho-
ben werden, denen sie sich nicht fügen kann, ohne sich selbst aufzu-
geben, ohne auf den Beruf zu verzichten, den im Bereieh der mensch-
lichen Erkenntnisse sie zu erfüllen hat und nur sie erfüllen kann.
Man wird den historischen Studien nicht die Anerkennung ver-
sagen, dass sie an der geistigen Bewegung unseres Zeitalters einigen
Antheil haben, dass sie thätig sind Neues zu entdecken, das Ueberlie-
ferte neu zu durchforschen, das Gefundene in angemessener Weise dar-
zustellen. Aber wenn man sie nach ihrer wissenschaftlichen Recht-
fertigung und ihrem Verhältniss zu den anderen Kreisen menschlicher
Erkenntniss, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens,
nach dem Zusammenhang ihrer Mittel und ihrer Aufgaben fragt, so
sind sie bisher nicht in der Lage, genügend Auskunft zu geben. Wie
ernst und tief die Einzelnen unserer „Zunft“ diese Fragen durchdacht
haben mögen, nnsereunsere Wissenschaft hat ihre Theorie und ihr System
noch nicht festgestellt, und vorläufig beruhigt man sich dabei, dass
sie ja nicht bloss Wissenschaft, sondern auch Kunst sei und viel-
leicht, — wenigstens nach dem Urtheil des Publicums. — diess mehr
als jenes.
Wir in Deutschland haben am wenigsten Grund, den hohen Werth
der gesteigerten Technik in unsern Studien, der wachsenden Uebung
und Sicherheit in der Handhabung der historischen Kritik, der Ergeb-
nisse, die damit erzielt worden sind, zu verkennen. Die Frage, um
die es sich hier handelt, ist eine andere. Ein Werk wie das Buckle’s
ist sehr geeignet daran zu erinnern, in welchem Maass unklar, controvers,
beliebigen Meinungen ausgesetzt die Fundamente unserer Wissenschaft
sind. Und der tiefe Eindruck, den dasselbe nicht bloss in dem weiten
Kreise der Liebhaber jeder neuesten Paradoxie, mag sie Tischklopfen
oder Phalanstère oder das Oelblatt der Friedensfreunde heissen, son-
dern auch auf manche jüngeren Genossen unserer Studien gemacht hat,
darf uns wohl eine Mahnung sein, endlich auch für unsere Wissenschaft
die Begründung zu suchen, um die uns die Naturwissenschaften seit
Bacon — wenn anders er diesen Ruhm verdient — voraus sind.
Oder wäre eben das geleistet zu haben Buckle’s Verdienst? hätte
er den wahren Sinn und Begriff unserer Disciplinen entwickelt, den
Bereich ihrer Competenzen festgestellt? wäre er der Bacon der Ge-
schichtswissenschaften und sein Werk das Organon, das uns geschicht-
lich denken lehrte? wäre in der Methode, die er lehrt, die Kraft, aus
den Bereichen der geschichtlichen Erkenntniss die idola specus, fori,
theatri u. s. w. zu entfernen, die uns jetzt noch in der Gestalt der
„Irrthümer“, wie er sie nennt, vom freien Willen und der göttlichen
Providenz, der Ueberschätzung des moralischen Princips im Verhältniss
zum intellectuellen u. s. w. den Blick trüben? Und hätte er wirklich
recht damit, wenn er sich für den interessantesten Theil seiner Fun-
damentalsätze, für die vom freien Willen, auf unsern Kant beruft, der
wie er — das ist seine Ansicht — „die Wirklichkeit des freien Willens
in der Erscheinung für eine unhaltbare Thatsache“ erkannt habe? ge-
hörte ihm damit die Priorität der jüngst in Deutschland mit so leb-
haftem Accent verkündeten Entdeckung, Kant’s Lehre enthalte genau
das Gegentheil von dem, was man bisher in ihr zu finden geglaubt
habe, das Ergebniss der Kritik der reinen Vernunft und der prak-
tischen Vernunft sei, dass die eine so gut wie die andere in Wahr-
heit nicht sei?
Schon der Uebersetzer des Buckle’schen Werkes hat darauf auf-
merksam gemacht, dass bis jetzt die Kantische Philosophie die äusserste
Grenze sei, bis zu der sich die englischen Denker vorwagen; er nennt
die Philosophie Buckle’s „ein unvollkommenes Denken, welches selbst
die crude Empirie als Philosophie gelten lässt;“ er wirft seinem Autor
„ein wahrhaft vorweltliches Bewusstsein über alles Denken trotz der
Vedas, Cousins und Kants, den einzigen angeführten Nichtengländern“
vor. Wenn er dennoch die von Buckle gefundenen Gesetze „als ein
glänzendes durch und durch wahres Programm des Fortschrittes des
menschlichen Geistes“ begrüsst, und von dem „reformatorischen Be-
ruf“ spricht, den das Werk auch für Deutschland habe, so setzen uns
solche Aeusserungen in nicht geringe Verlegenheit. Sollen wir, gleich-
sam in einer Antistrophe zu dem früher Gesagten, erklären, dass immer-
hin in der philosophischen Begründung der Buckle’schen Theorie Irriges
und Unzulängliches, „Vorweltliches“ in Fülle vorhanden sein könne,
ohne dass darum die reformatorische Bedeutung seines Werkes geringer
erscheine? dass derselben der philosophische Dilettantismus des Ver-
fassers eben so wenig Eintrag thue wie der historische?
Vielleicht, dass Buckle von den schulmässigen „Anticipationen“ des
einen und andern Faches frei um so unbefangener die Frage nach
dem Wesen der Geschichte und ihren Gesetzen erörtern, den jedem
gesunden Menschenverstand einleuchtenden Weg zeigen konnte, auf
dem sich „die Geschichte zu dem Range einer Wissenschaft“ zu erheben
habe. Er bekennt sich wiederholt dazu, ganz und nur als Empiriker
beobachten und argumentiren zu wollen; und wenigstens die grossen
und einfachen Grundzüge des empirischen Verfahrens sind, so scheint
es, dem nur nicht durch Anticipationen getrübten Blick, dem soge-
nannten gesunden Menschenverstande ohne Weiteres deutlich; und nur
diesen meint der englische Sprachgebrauch, wenn er die Wissenschaften,
deren Lorbeern unsern Forscher nicht ruhen liessen, philosophische
nennt. Buckle sagt: er hoffe „für die Geschichte des Menschen das
oder doch etwas Aehnliches zu leisten, was andern Forschern in den
Naturwissenschaften gelungen ist, und in der Natur sind die scheinbar
unregelmässigsten und widersinnigsten Vorgänge erklärt und als im
Einklange mit gewissen unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen nach-
gewiesen worden; wenn wir die Vorgänge der Menschenwelt einer
ähnlichen Behandlung unterwerfen, haben wir sicher alle Aussicht auf
einen ähnlichen Erfolg.“
Es ist von Interesse das quid pro quo zu beachten, von dem
Buckle seinen Ausgang nimmt. „Wer an die Möglichkeit einer Wissen-
schaft der Geschichte glaubt“, wie er selbst, und sie durch die An-
wendung der naturwissenschaftlichen Methode begründet zu haben ge-
wiss ist, konnte der übersehen, dass er damit die Geschichte nicht
sowohl zu einer Wissenschaft erhoben, als vielmehr in den Kreis der
Naturwissenschaften gestellt hat? Auch andere Wissenschaften, die
Theologie, die Philosophie haben zu Zeiten, wo ihre Methoden für die
allein wissenschaftlichen galten, die Geschichte, die Natur in ihre
Competenz ziehen zu müssen geglaubt; aber weder die Erkenntniss
der Natur noch die der Geschichte hatte in dem Maas grösseren Ge-
winn, als sie orthodoxer oder speculativer gesucht wurde. Giebt es
denn immer nur Einen Weg, Eine Methode des Erkennens? sind die
Methoden nicht je nach ihren Objecten andere und andere, wie die
Sinneswerkzeuge für die verschiedenen Formen sinnlicher Wahrnehmung,
wie die Organe für ihre verschiedengearteten Functionen?
„Wer an die Möglichkeit einer Wissenschaft der Geschichte glaubt,“
der müsste nach unserer Deutschen Art, logisch und sachgemäss zu
denken, nicht die Richtigkeit dieses seines Glaubens dadurch beweisen
wollen, dass er uns überzeugt, man könne auch mit den Händen gehen
und mit den Füssen verdauen, man könne auch Töne sehen und Far-
ben hören. Gewiss kann die Schwingungen einer Saite, die das Ohr
als einen tiefen Ton vernimmt, auch das Auge sehn; aber es sieht
Schwingungen, deren Eigenschaft, auch als Ton vernommen zu werden,
doch nur dem Ohr und seiner Methode der Wahrnehmung zugänglich
ist. Gewiss ist in den Bereichen, mit denen die „Wissenschaft der
Geschichte“ zu thun hat, Vieles, was auch der naturwissenschaftlichen
Methode, Vieles, was andern und andern Formen wissenschaftlicher
Erkenntniss auch zuständig oder zugänglich ist; aber nur wenn da
Erscheinungen, wie viele oder wenige es denn sein mögen, wenn da
Gesichtspunkte, Beziehungen übrig bleiben, die keiner der sonstigen
Erkenntnissarten zugänglich sind, ist es angezeigt, dass es für sie noch
eine andere, eine eigene und besondere Methode geben müsse. Wenn
es eine „Wissenschaft der Geschichte“, an die auch wir glauben, geben
soll, so ist damit gesagt, dass es einen Kreis von Erscheinungen gebe,
für die weder die theologische noch die philosophische, weder die
mathematische noch die physikalische Betrachtungsweise geeignet ist,
dass es Fragen gebe, auf die weder die Speculation Antwort giebt,
mag sie theologisch das Absolute zu ihrem Ausgangspunkt oder phi-
losophisch zu ihrem Zielpunkt haben, noch diejenige Empirie, die die
Welt der Erscheinnungen nach ihrem quantitativen Verhalten fasst,
noch irgend eine Disciplin aus den praktischen Bereichen der sitt-
lichen Welt.
Unser Begründer der Wissenschaft der Geschichte geht mit benei-
denswerther Unbefangenheit an seine Aufgabe. Er hält es nicht für
nothwendig die Begriffe zu erörtern, mit denen er arbeiten will, den
Bereich zu umgrenzen, in dem seine Gesetze ihre Anwendung finden.
Was Wissenschaft ist, denkt er, weiss jeder, was Geschichte ist, eben
so. Doch nein, er macht gelegentlich bemerklich, was sie nicht ist;
er citirt mit herzlicher Zustimmung Comte phil. pos. V. p. 18, der mit
Unwillen bemerkt: „die unzusammenhängende Anhäufung von That-
sachen werde ganz ungehörig als Geschichte bezeichnet“. Wie denk-
würdig ist dieser Satz des Französischen Denkers, wie lehrreich, dass
der Englische ihn sich aneignet. Gewiss man nennt den unabsehbaren
Verlauf von Thatsachen, in dem wir das Leben der Menschen, der
Völker, der Menschheit sich bewegen sehen, Geschichte, wie man ja
eine Gesammtheit von Erscheinungen anderer Art unter dem Namen
Natur zusammenfasst. Aber hat denn irgend jemand gemeint, dass
eine Sammlung von getrockneten Pflanzen Botanik, von ausgestopften
oder nicht ausgestopften Thierbälgen Zoologie sei? Hat irgend jemand
die Meinung gehabt, Thatsachen sammeln und, zusammenhängend oder
nicht, aufhäufen zu können? Thatsachen als da sind Schlachten, Re-
volutionen, Handelskrisen, Städtegründungen u. s. w.? hat wirklich
bisher „die Zunft der Historiker“ nicht gemerkt, dass sich die That-
sachen von dem, wie wir sie wissen, unterscheiden?
Wenn Buckle uns im Dunkeln tappenden Historikern wirklich ein
Licht anzünden wollte, so hätte er vor Allem sich und uns klar machen
müssen, wie und mit welchem Recht sich jener Name Geschichte für
eine bestimmte Reihe von Erscheinungen hat fixiren können, wie der
der Natur für eine andere; er hätte zeigen müssen, was es bedeutet,
dass der wunderliche Epitomator, der Menschengeist, die Erscheinungen
dem Raum nach als Natur, die der Zeit nach als Geschichte zusam-
menfasst, nicht weil sie an sich und objectiv so sind und so sich
scheiden, sondern um sie fassen und denken zu können; er würde dann
erkannt haben, wie das Material beschaffen ist, mit dem eine „Wissen-
schaft der Geschichte“ zu thun haben und arbeiten kann. Wenn er
sich bewusst war, was es bedeute, ein Empiriker zu sein, so durfte er
nicht unterlassen zu erörtern, in welcher Weise diese Materialien der
geschichtlichen Forschung uns so gegenwärtig und zu sinnlicher Wahr-
nehmbarkeit vorliegen, wie es das Wesen aller Empirie fordert. Frei-
lich würde er dann haben erkennen müssen, dass nicht die Vergangen-
heiten, nicht das unabsehbare Durcheinander von „Thatsachen“, dass
sie erfüllte, uns als Material der Forschung vorliegen, dass diese That-
sachen vielmehr mit dem Moment, dem sie angehörten, für immer ver-
gangen sind, dass wir menschlicher Weise ja nur die Gegenwart, das
Hier und Jetzt haben, freilich mit dem Triebe und der Fähigkeit, die-
sen ephemeren Punkt lernend, erkennend, wollend unermesslich zu
entwickeln, dass unter den eigenthümlichen Vorgängen in dem Bereich
des Geistes einer der merkwürdigsten derjenige ist, der es uns mög-
lich macht, die für immer vergangenen Gegenwarten, die hinter uns
liegen, wieder zu erwecken, sie in unserem Geist zu vergegenwärtigen,
das heisst, nach menschlicher Art zu verewigen.
Noch auf eine zweite Reihe von Betrachtungen hätte uns Buckle
führen müssen, wenn er uns und sich über den gedankenlosen Gebrauch
des Wortes Geschichte und über die Anticipationen, die aus demselben
stammend den Blick trüben, hätte erheben wollen. Er lässt uns in
gelegentlichen Andeutungen erfahren, dass die Geschichte es mit den
„Handlungen der Menschen“ zu thun hat, dass sie „mit der unersätt-
lichen Wissbegierde, welche unsere Mitmenschen betrifft“, zusammen-
hängt; aber er unterlässt es uns zu sagen, in welcher Weise diese
Handlungen der Menschen geschichtlicher Natur sind; er lässt uns im
Unklaren darüber, auf welcherlei Fragen die Wissbegierde, die unsere
Mitmenschen betrifft, Antwort sucht.
Es gehört nicht eben ein hoher Grad von Scharfsinn dazu, ein-
zusehen, dass die menschlichen Handlungen, in dem Moment, da sie
geschahen, und in der Meinung derer, durch welche und für welche
sie geschahen, am allerwenigsten die Absicht, die Bestimmung hatten
geschichtliche Thatsachen zu sein. Der Feldherr, der eine Schlacht
liefert, der Staatsmann, der einen Vertrag unterhandelt, hat wirklich
vollauf zu thun, um den praktischen Zweck zu erreichen, um den es
4
sich in diesem Moment handelt; und so bis zu den kleinen und klein-
sten „Handlungen der Menschen“ hinab, sie alle vollziehen sich in dem
unabsehbar mannigfaltigen Zusammenhang von Interessen, Conflicten,
Geschäften, von Motiven, Leidenschaften, Kräften und Hemmungen,
deren Gesammtheit man wohl die sittliche Welt genannt hat. Man
wird diese unter sehr verschiedenartigen Gesichtspunkten betrachten
können, praktischen, technischen, rechtlichen, socialen u. s. w.; end-
lich auch eine Betrachtungsweise der sittlichen Welt ist die ge-
schichtliche.
Ich versage es mir die Consequenzen dieser Erörterungen darzu-
legen; Consequenzen, welche uns, wie der aufmerksame Leser sich
selber sagen wird, zu demjenigen Punkte führen würden, an dem sich
ergiebt, wie, wenn ich so sagen darf, aus den Geschäften Geschichte
wird, von welcher Art die auf solche Materialien begründete, in solchem
Bereich anwendbare Erkenntnissweise beschaffen sein wird, was sie
leisten und nicht leisten kann, wie beschaffen die Gewissheit ist, die
sie zu geben, die Wahrheit, die sie zu finden im Stande ist.
Buckle hat die Güte anzuerkennen, dass der Glaube an den Werth
der Geschichte weit verbreitet, dass ein Stoff gesammelt sei, der im
Ganzen ein reiches und Achtung gebietendendes Ansehn habe; er
schildert in grossen Zügen, welche Menge von Forschungen und Ent-
deckungen auf dem historischen Gebiet bereits gemacht sei; aber, fügt
er hinzu, „wenn wir sagen sollen, wie dieser Stoff benutzt worden, so
müssen wir ein ganz anderes Gemälde entwerfen.“ Wie er benutzt
worden? muss denn alles exploitirt werden? ist denn die staunens-
würdige Tiefe mathematischer Erkenntniss nur darum wissenschaftlich,
weil der Feldmesser, der Mechaniker den einen oder andern Satz aus
ihr benutzen kann? Wenn die Propheten dem Volk Israel mahnend
und strafend das Bild seiner selbst vorhielten, wie anders fanden sie
es als in dem Nachweis, wie der Gott der Väter sich ihnen bezeugt
habe „von Aegypten her“; wenn Thukydides sein κτῆμα εἰς ἀεὶ
schrieb, sollte er mit diesem stolzen Worte die kunstreiche Form, in
der er schrieb, nicht das geschichtliche Drama, von dem er schrieb,
gemeint haben? Buckle’s vorwurfsvolle Frage vergisst, dass die Arbeit
der Jahrhunderte das Fideicommiss jeder neuen Generation ist; worin
anders besteht die von ihm selbst so hochgefeierte Civilisation, als in
der summirten Arbeit derer, die vor uns waren? Alle Vergangenheiten,
die ganze „Geschichte“ ist ideell in der Gegenwart und dem, was sie
hat, enthalten; und wenn wir uns diesen ihren idealen Gehalt zum
Bewusstsein bringen, wenn wir uns, wie das, was ist, geworden ist,
etwa in erzählender Form vergegenwärtigen, was thun wir da anders
als die Geschichte zum Verständniss dessen, was ist, dessen, worin
wir uns denkend, wollend, handelnd bewegen, benutzen? Das ist der
Weg, es ist einer der Wege, das dürftige und einsame Hier und Jetzt
unseres ephemeren Daseins unermesslich zu erweitern, zu bereichern,
zu steigern. In dem Maasse als wir selbst — ich meine die arbeitenden
Menschengeschlechter — höher steigen, erweitert sich der Horizont,
den wir überschauen, und das Einzelne innerhalb desselben zeigt sich
uns mit jedem neuen Standpunkt in neuen Perspectiven, in neuen und
weiteren Beziehungen; die Weite unseres Horizonts ist ziemlich genau
das Maass der von uns erreichten Höhe; und in demselben Maasse hat
sich der Kreis der Mittel, der Bedingungen, der Aufgaben unseres
Daseins erweitert. Die Geschichte giebt uns das Bewusstsein dessen,
was wir sind und haben.
Es ist der Mühe werth, sich klar zu machen, dass sich in diesem
Zusammenhange ergiebt, was Bildung ist und was sie uns bedeutet.
Wenn Göthe sagt: „was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es
um es zu besitzen“, so finden wir hier die Bewährung dieses dunklen
Spruchs. Wie hoch immerhin die Stelle des Zeitalters, des Volkes
sein mag, in das wir Einzelne hineingeboren sind, wie gross die Fülle
des Ererbten, das uns ohne Weiteres zu Gute kommt, wir haben sie,
als hätten wir sie nicht, so lange wir nicht durch eigene Arbeit sie
erworben, sie als das, was sie ist, als das Ergebniss unablässiger
Arbeit derer, die vor uns waren, erkannt haben. Das in der Ge-
schichte der Zeiten und Völker, der Menschheit Erarbeitete im Geist,
dem Gedanken nach, als Continuität durcharbeitet und durchlebt haben,
heisst Bildung. Die Civilisation begnügt sich mit den Resultaten der
Bildung; sie ist in der Fülle des Reichthums arm, in der Opulenz des
Geniessens blasirt.
Nachdem Buckle beklagt hat, wie wenig bisher die reiche und
immer wachsende „Masse von Thatsachen“ benutzt worden sei, giebt
er den Grund, „den eigenthümlich unglücklichen Umstand“ an, der
4*
diese Erscheinung erklärt; „in allen übrigen grossen Gebieten der
Forschung, sagt er, wird die Nothwendigkeit der Verallgemeinerung
von Jedermann zugegeben, und wir begegnen edlen Anstrengungen,
auf besondere Thatsachen gestützt die Gesetze zu entdecken, unter
deren Herrschaft die Thatsachen stehen. Die Historiker hingegen sind
so weit davon entfernt dies Verfahren zu dem ihrigen zu machen, dass
unter ihnen der sonderbare Gedanke vorherrscht, ihr Geschäft sei
lediglich Begebenheiten zu erzählen und diese allenfalls mit passenden
sittlichen und politischen Betrachtungen zu beleben.“
Es gehört eine gewisse Geduld dazu, diesen im Schritt durchge-
henden Trivialitäten, dieser sich immer um sich selbst herum wälzen-
den Begriffsverwirrung nachzugehen. Also Verallgemeinerungen sind
die Gesetze, die Buckle sucht; auf dem Wege der Verallgemeinerung
glaubt er die Gesetze finden zu können, welche die Erscheinungen
der sittlichen Welt erklären, das heisst mit Nothwendigkeit bestimmen.
Sind denn die Regeln einer Sprache Sprachgesetze? Gewiss summirt
die Induction aus dem Einzelnen die Thatscche des Allgemeinen, aber
nicht indem sie es verallgemeinert, sondern die Einzelnheiten in ihrer
Gemeinsamkeit zusammenfasst. Aber um aus der Regel zum Gesetz
fortzuschreiten, um den Grund der allgemeinen Erscheinung zu finden,
bedarf es des analytischen Verfahrens. Buckle hält es nicht für noth-
wendig, sich und uns Rechenschaft über die Logik seiner Untersuchung
zu geben; er begnügt sich ein „vorläufiges Hinderniss“ zu beseitigen,
das ihm seinen Weg zu sperren scheint. Es heisse, sagt er, in mensch-
lichen Dingen sei etwas Providentielles und Geheimnissvolles, welches
sie unserer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künfti-
gen Verlauf für immer verbergen werde“; er begegnet diesem Hinder-
niss mit der „einfachen“ Alternative: „sind die Handlungen der Men-
schen und folglich auch der Gesellschaft bestimmten Gesetzen unter-
worfen, oder sind sie das Ergebniss entweder des Zufalls oder einer
übernatürlichen Einwirkung?“ Ja wohl: diese Wolke ist ein Kameel
oder entweder ein Wiesel oder Wallfisch.
Wir haben schon früher bemerkt, dass, wenn es eine Wissenschaft
der Geschichte geben soll, diese ihre eigene Erkenntnissart, ihren
eigenen Erkenntnissbereich haben muss; wenn anderweitig die Induc-
tion oder die Deduction vortreffliche Resultate ergeben hat, so kann
das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich
entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und
glücklicher Weise giebt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich
zur Deduction eben so irrational verhalten, wie zur Induction, die mit
der Induction und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduction
und die Synthese fordern, um in der alternativen Bethätigung beider
nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd
und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht
erklärt, sondern verstanden werden wollen.
Die „Wissbegierde, die unsere MitmenscheuMitmenschen betrifft“, ist darum
„unersättlich“, weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und
weil mit unserem wachsenden Verständniss der Menschen und des
menschlicher Weise Seienden nndund Gewordenen das uns selbst Eigenste
weiter, tiefer, freier wird, ja üherhauptüberhaupt erst wird. So gewiss es ist,
dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben
und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder Einzelne nur eben
die und die Atome aus der „ewigen Materie“ vorübergehend zusam-
menfasst und zu seiner Daseinsform hat, eben so gewiss oder vielmehr
unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser „fliessenden Bildungen“
und ihrer trotz alledem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes nndund Un-
vergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht
von neuen Stoffen aber von Formen, von Gedanken, von Gemein-
samkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt.
In diesem Bereich der sittlichen Welt ist Alles von der kleinsten
Liebesgeschichte bis zu den grossen Staatsactionen, von der einsamen
Geistesarbeit des Dichters oder Denkers bis zu den unermesslichen
Combinationen des Welthandels oder dem prüfungsreichen Ringen des
Pauperismus unserem Verständniss zugänglich; und was da ist, ver-
stehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen.
Es ist bereits erwähnt worden, dass Buckle die Willensfreiheit
zugleich mit der göttlichen Providenz nicht sowohl ausser RechnnngRechnung
lässt, als vielmehr für Illusionen erklärt und über Bord wirft. Auch
in den Bereichen der Philosophie ist neuester Zeit Aehnliches gelehrt
worden; ein Denker, dessen ich mit persönlicher Hochachtung gedenke,
sagt: wenn man Alles, was ein einzelner Mensch ist uudund hat und
leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfasst,
was er durch äussere Umstände von seinem Land, Volk, Zeitalter u. s. w.
hat und das verschwindend kleine x sein eigenes Zuthun, das Werk
seines freien Willens ist. Wie verschwindend klein immer dies x sein
mag, es ist von unendlichem Werth, sittlich und menschlich betrachtet
allein von Werth. Die Farben, der Pinsel, die Leinwand, welche
Raphael brauchte, waren aus Stoffen, die er nicht geschaffen; diese
Materialien zeichnend und malend zu verwenden hatte er von den und
den Meistern gelernt; die Vorstellung von der heiligen Jungfrau, von
den Heiligen, den Engeln fand er vor in der kirchlichen Ueberliefe-
rung; das und das Kloster bestellte ein Bild bei ihm gegen ange-
messene Bezahlung; — aber dass auf diesen Anlass, aus diesen ma-
teriellen und technischen Bedingungen, auf Grund solcher Ueberliefe-
rungen und Anschauungen die Sixtina wurde, das ist in der Formel
A = a + x das Verdienst des verschwindend kleinen x. Und ähnlich
überall. Mag immerhin die Statistik zeigen, dass in dem bestimmten
Lande so und so viele uneheliche Geburten vorkommen, mag in jener
Formel A = a + x dies a alle die Momente enthalten, die es „erklären“,
dass unter tausend Müttern 20, 30, wie viele es denn sind, unver-
heirathet gebären, — jeder einzelne Fall der Art hat seine Geschichte
und wie oft eine rührende und erschütternde, und von diesen 20, 30
Gefallenen wird schwerlich auch nur eine sich damit beruhigen, dass
das statistische Gesetz ihren Fall „erkläre“; in den Gewissensqualen
durchweinter Nächte wird sich manche von ihnen sehr gründlich
überzeugen, dass in der Formel A = a + x das verschwindend kleine x
von unermesslicher Wucht ist, dass es den ganzen sittlichen Werth
des Menschen, das heisst seinen ganzen und einzigen Werth um-
schliesst.
Es wird keinem Verständigen einfallen zu bestreiten, dass auch
die statistische Betrachtungsweise der menschlichen Dinge ihren
grossen Werth habe; aber man muss nicht vergessen, was sie leisten
kann und leisten will. Gewiss haben viele, vielleicht alle menschlichen
Verhältnisse auch eine rechtliche Seite; aber darum wird man doch
nicht sagen wollen, dass man das Verständniss der Eroica oder des
Faust unter den juristischen Bestimmungen über das geistige Eigen-
thum suchen müsse.
Ich will Buckle nicht in seinen weiteren Erörterungen über die
„Naturgesetze“, über die „geistigen Gesetze“, über den Vorzug der
intellectuellen gegen die moralischen Kräfte u. s. w. folgen. Das Er-
gebniss seiner BetrachtungonBetrachtungen im ersten Theil resumirt er im Anfang
des zweiten in folgenden vier „Hauptgedanken“, die nach seiner An-
sicht für die Grundlagen einer Geschichte der Civilisation gelten
müssen. „1. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf dem
Erfolg, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht und auf dem
Umfang, bis zu welchem diese Kenntnisse verbreitet werden. 2. Bevor
eine solche Forschung beginnen kann, muss sich ein Geist des Scepti-
cismus erzeugen, welcher zuerst die Forschung fordert und dann von
ihr gefordert wird. 3. Die Entdeckungen, die auf diese Weise gemacht
werden, stärken den Einfluss intellectueller Wahrheiten und schwächen
beziehungsweise, nicht unbedingt, den Einfluss sittlicher Wahrheiten,
diese entwickeln sich weniger und erhalten weniger Zuwachs als die
intellectuellen Wahrheiten. 4. Der Hauptfeind dieser Bewegung und
folglich der Hauptfeind der Civilisation ist der bevormundende Geist;
darunter verstehe ich die Vorstellung, die menschliche Gesellschaft
könne nicht gedeihen, wenn ihre Angelegenheiten nicht auf Schritt
und Tritt von Staat und Kirche bewacht und behütet werden, wo dann
der Staat die Menschen lehre, was sie zu thun, die Kirche, was sie
zu glauben haben.“
Wenn das die Gesetze sind, in denen „das Studium der Geschichte
der Menschheit“ seine wissenschaftliche Höhe erreicht haben soll, so
ist der glückliche Finder in der Naivität, mit der er sich über ihre
ausserordentliche Seichtigkeit auch nur einen einzigen Augenblick hat
täuschen können, wahrhaft beneidenswerth. Gesetze von dieser Sorte
könnte man täglich zu Dutzenden und zwar auf demselben Wege der
Verallgemeinerung finden, Gesetze, von denen keins an Tiefsinn und
Fruchtbarkeit hinter dem bekannten Satz zurückbleiben sollte: dass
der Maassstab für die Civilisation eines Volkes dessen Verbrauch an
Seife sei.
Baco sagt einmal: citius emergit veritas ex errore, quam ex con-
fusione. Die confusion, deren sich Buckle schuldig macht, liegt auf
der Hand. Weil er die Natur der Dinge, mit denen er sich zu be-
schäftigen unternahm, zu untersuchen und zu ergründen unterlassen
hat, so verfährt er mit ihnen, als ob sie überhaupt eine eigene Natur
und Art nicht hätten, einer eigenen Methode nicht bedürften; und
die Methode, die er auf einen ihr fremdartigen Bereich anwendet, rächt
sich damit, dass sie ihn statt der calculabeln Formeln, in denen sie
sonst ihre Gesetze ausdrückt, Gemeinplätze gewinnen lässt, die für
heut und gestern eine gewisse Richtigkeit haben mögen, aber Ange-
sichts der Jahrtausende der Geschichte, Angesichts der grossen Ge-
staltungen des Mittelalters, des beginnenden Christenthums, der Römer-
und Griechenwelt völlig nichtssagend erscheinen.
Wenn Buckle in der Geschichte die grosse Arbeit des Menschen-
geschlechts erkennt, wie konnte er da umhin sich zu fragen: welcher
Art, aus welchem Stoff diese Arbeit sei, wie sich die Arbeiter zu ihr
verhalten, für welche Zwecke gearbeitet wird? Er würde — denn es
ist der Mühe werth einen Augenblick bei diesen Fragen zu verweilen
— er würde erkannt haben, dass die geschichtliche Arbeit ihrem
Stoff nach sowohl natürlich Gegebenes wie geschichtlich Gewordenes
umfasst, dass beides eben so Mittel und Schranke, eben so Bedingung
wie Antrieb für sie ist. Er würde bemerkt haben, dass in diesem Be-
reich allerdings die Methode der quantitativen Erscheinungen eine ge-
wisse Anwendbarkeit hat, dass hier, wo es sich um die grossen Factoren
der leiblichen Existenz, der Naturbedingnisse, der statistischen Zustände
handelt, unsere Disciplin die Arbeiten der exacten Wissenschaft mit
dem grössten Interesse begleiten, ihre glänzenden Ergebnisse mit freu-
digem Dank annehmen wird. Aber eingedenk der weiteren Fragen,
die angedeutet sind, würde sich Buckle gehütet haben zu glauben, dass
die in jenem Bereich gefundenen Ergebnisse — die, wie er meint, auf
dem Wege der Verallgemeinerung gefundenen Gesetze — die Summe
der Geschichte seien, dass sie „die Geschichte zu dem Rang einer
Wissenschaft erheben“, indem sie ihre Erscheinungen „erklären.“ Er-
klärt sind sie damit so wenig, wie die schöne Statue des Adorante
mit dem Erz, aus dem sie gegossen, dem Thon, aus dem die Form
gefertigt, dem Feuer, mit dem das Metall in Fluss gebracht worden
ist. Es bedurfte, wie schon „der Meister derer, welche wissen“, ge-
lehrt hat, auch der Vorstellung von dem Bilde, das da werden
sollte; und sie war in des Künstlers Seele, ehe das Werk war, in dem
sie sich verwirklichen sollte (τὸ τί ἦν εἶνα); es bedurfte auch des
Zweckes, um dess Willen das Bildwerk gemacht werden sollte, etwa
eines Gelübdes an den rettenden Gott, dessen Tempel es schmücken
sollte; es bedurfte der geschickten Hand, um den Zweck und das
Gedankenbild und den Stoff zusammenzuschliessen zu dem vollendeten
Werk. Freilich auch das Erz war nöthig, damit der Adorante gefer-
tigt werde; aber es wäre doch ein übles Stück Civilisation, wenn man
diess wundervolle Kunstwerk nur nach dem Metallwerth schätzen
wollte, wie Buckle mit der Geschichte thut.
Er verfährt um nichts weniger einseitig als diejenigeudiejenigen, — wie
streng tadelt er sie! — welche die Geschichte allein aus dem Zweck,
wie etwa die Theologie ihn lehrt oder das gläubige Gemüth ihn ahnet,
erklären; — oder welche eben so einseitig nur die geschickten Hände,
welche die Arbeit machen, sehen und beobachten, gleich als wenn die
Geschicke nicht ihres Ganges gingen trotz des guten oder üblen Willens
derer, durch welche sie sich vollziehen; — oder welche ein für alle-
mal mit ihren Vorstellungen von den Dingen, die da im steten Werden
und in steter Selbstkritik sind, mit ihren Doctrinen fertig, immer nur
wissen und besser wissen, wie der Staat, die Kirche, die sociale Ord-
nung u. s. w. hätte werden und sein müssen. Jede dieser Betrach-
tungsweisen für sich ist einseitig, unwahr, verderblich, wenn auch jede
in ihrer Art berechtigt und förderlich ist. „Alles“, lehrt jener alte
Philosoph, „was durch Ursache ist, nicht durch sich selbst wie die
Gottheit“ enthält jene vier Momente, von denen keins allein und für
sich das Ganze erklären kann und soll. Und genauer, nach jenen vier
Momenten zerlegen wir es uns in unserm Geist, für unsere Betrach-
tung, mit dem Bewusstsein, dass sie in der Wirklichkeit, die wir be-
trachten wollen, völlig eins und von einander durchdrungen sind; wir
scheiden und unterscheiden so mit dem Bewusstsein, dass es nur eine
Hülfe für unsern reconstruirenden Verstand ist, wenn wir so verfahren
während andere Thätigkeiten unserer Seele sofort und unmittelbar
Totalitäten geben und empfangen.
Verzeihe man diese sehr elementaren Erörterungen; dem verwor-
renen Verfahren Buckle’s gegenüber durften sie nicht umgangen wer-
den, wenn die Fragen, um die es sich hier handelt, in ein sicheres
Geleis gebracht werden sollen.
Also in der Geschichte kommt es nicht bloss auf den Stoff an,
an dem sie arbeitet. Neben dem Stoff ist die Form; und in diesen
Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiter bewegendes Leben.
Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in denen wir
leiblich und geistig werden, was wir sind, kraft deren wir uns über
die klägliche Oede und Dürftigkeit unseres atomistischen Ichseins er-
heben, gebend und empfangend um so reicher werden, je mehr wir
uns binden und verpflichten. Diess sind Bereiche, innerhalb deren
Gesetze von gar anderer Art und Energie, als die neue Wissenschaft
sie sucht, ihre Stelle haben und ihre Macht üben. Diese sittlichen
Mächte, wie man sie schön genannt hat, sind in vorzüglichem Maasse
zugleich Factoren und Producte des geschichtlichen Lebens; und rast-
los werdend bestimmen sie mit ihrem Gewordensein diejenigen, die
die Träger ihrer Verwirklichungen sind, erheben sie über sich selbst.
In der Gemeinschaft der Familie, des Staates, des Volkes u. s. w. hat
der Einzelne über die enge Schranke seines ephemeren Ich hinaus sich
erhoben, um, wenn ich so sagen darf, aus dem Ich der Familie, des
Volkes, des Staates zu denken und zu handeln. Und in dieser Erhe-
bung und ungestörten Betheiligung an dem Wirken der sittlichen
Mächte je nach ihrer Art und Pflicht, nicht in der unbeschränkten
und ungebundenen Independenz des Individuums liegt das wahre Wesen
der Freiheit. Sie ist nichts ohne die sittlichen Mächte, sie ist ohne
sie unsittlich, eine blosse Locomobile.
Freilich von diesen sittlichen Mächten denkt Buckle ausserordent-
lich gering; er sieht von Kirche und Staat nichts als Bevormundung
und Uebergriffe; ihm sind Recht und Gesetz nur Schranken und Läh-
mungen; die Consequenz seiner Anschauungsweise würde sein, dass
auch das Kind nicht sowohl auf die Pflege und Liebe der Aeltern,
auf die Zucht und Führung der Lehrer angewiesen, als vielmehr ein
Stück souverainer Freiheit wäre.
Zu einem so ausserordentlich rohen Freiheitsbegriff kommt Buckle,
weil er es versäumt, den Arbeitern in der geschichtlichen Arbeit
die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, weil er nur an das mas-
sige Capital Civilisation, nicht an das immer neue Erwerben, das das
Wesen der Bildung ist, denkt, weil er nicht sieht oder nicht sehen
will, dass in jenem verschwindend kleinen x der ganze und der einzige
Werth der Persönlichkeit liegt, ein Werth, der sich nicht nach dem
Umfang der Wirkungssphäre oder dem Glanz der Erfolge bemisst,
sondern nach der Treue, mit der jeder das ihm anvertraute Pfund
verwaltet.
In diesen Bereichen wieder giebt es Gesetze von ganz anderer
Macht und Unerbittlichkeit, als jene auf dem Wege der Verallgemei-
nerung gefundenen; hier gilt es Pflicht, Tugend, Wahl in den tragischen
Conflicten der sittlichen Mächte, in jenen Collisionen der Pflichten,
die nur durch die Kraft des freien Willens gelöst, in denen wohl die
Freiheit nur durch den Tod gerettet werden kann. Oder sind auch
diese Dinge damit beseitigt, dass „das Dogma vom freien Willen“ für
eine Illusion erklärt wird?
Buckle freilich ist noch nicht so weit fortgeschritten, jenes Dogma
vom freien Willen darum zu verwerfen, weil dasselbe auf der petitio
principii beruhe, dass überhaupt Geist oder Seele sei; wie diejenigen
schliessen würden, welche alle diese Inponderabilien wie Verstand,
Gewissen, Willen u. s. w. für unwillkürliche Functionen des Gehirns,
für Ausschwitzungen ich weiss nicht welcher grauen oder weissen
Materie erklären. Und in der That müssten die grossen Geister, die
so lehren, wohl zuerst den Nachweis liefern, dass solche ihre Lehren
nicht eben auch nur Ausschwitzungen ihres Gehirns seien und zwar
krankhafte. Aber indem Buckle gegen das Vorhandensein des freieu
Willens argumentirt und zwar aus der „Ungewissheit über das Bestehen
des Selbstbewusstseins“, muss er uns entweder gestatten, seine auf
solche Ungewissheit begründete Argumentation selbst für ungewiss zu
halten; oder er hätte uns beweisen müssen, dass er argumentiren könne
auch ohne das Bestehen des Selbstbewusstseins, d. h. des denkenden
Ichs, und dass er, wenn auch ohne Selbstbewusstsein, etwa als ein
Denkautomat das Werk habe zu Stande bringen können, mit dem er
die Geschichte zu dem Rang einer Wissenschaft hat erheben wollen,
— nein, nicht wollen, denn das Wollen läugnet er mit der Freiheit
des Willens; sondern irgend wer müsste irgend welchen aufgehäuften
Stoff von Thatsachen in diese Denkmühle geworfen haben, und die-
selbe hätte denselben verarbeitet und das so Verarbeitete, σόϕισμα,
ϰύρμα, τρίμμα, παιπάλημ᾽ ὅλον, wäre die neue Wissenschaft der Ge-
schichte.
Wenn trotz alledem Buckle den „Fortschritt“ in der Geschichte
erkennt und unermüdlich ist ihn als das eigentliche Wesen in dem
Leben der Menschheit zu bezeichnen, so ist das zwar sehr dankens-
werth, aber weder in der Folgereihe seiner Erörterungen begründet,
noch folgerichtig durchgeführt. Ist da ein Fortschreiten, so muss sich
in der beobachteten Bewegung die Richtung zu dem hin, um des
Willen sie ist, erkennbar machen. Die naturwissenschaftliche Betrach-
tungsweise ist dem Gesichtspunkte nach, unter dem sie die Erschei-
nungen fasst, in anderer Lage. Sie sieht in den Veränderungen, die
sie beobachtet, bis zu den Aequivalenten der Kräfte hinauf nur das
im Wechsel Gleiche und Bleibende, und die vitalen Erscheinungen
interessiren sie nur, in so weit sie entweder in Perioden oder morpho-
logisch sich wiederholen; in dem individuellen Sein sieht und sucht
sie nur entweder den Gattungsbegriff oder den Vermittler des Stoff-
wechsels. Indem sie den Begriff des Fortschrittes — Darwin’s Ent-
wickelungstheorie ist der stärkste Beweis dafür — ihrer Methode nach
von sich ausschiesst, — den Fortschritt nicht in ihrer Erkenntniss,
sondern als Moment in dem, was sie erkennen will, — so hat sie
weder eine Stelle noch einen Ausdruck für den Zweckbegriff, sie stellt
ihn ausser Rechnung, indem sie ihn theils zur Nützlichkeit degradirt
und die alte Lessing’sche Frage offen lässt, was denn der Nutzen des
Nutzens sei, theils unter Formen wie Ewigkeit der Materie, Entwicke-
lung u. s. w. anderen Methoden als Problem überreicht. Wenn Buckle
für die geschichtliche Welt den Begriff des Fortschrittes voranstellt,
so kommt er zu einem Antilogismus sehr bezeichnender Art. Mochte
er bekennen, dass er auf dem Wege der geschichtlichen Forschung
das primum mobile nicht gefunden habe, mochte er erkennen, dass es
dem Wesen der empirischen Methoden nach auf diesem Wege nicht
zu erreichen, mit der Sprache der Wissenschaft, mit ihren Begriffen,
ihrer Art zu denken, nicht adäquat auszudrücken sei; — aber ist da-
mit der Schluss gerechtfertigt, dass es überhaupt nicht sei, dass es
nur in unserm Irrthum eine Stelle habe? Giebt es nicht noch andere
und andere Erkenntnissformen, andere Methoden, die vielleicht eben
das, was die naturwissenschaftliche nicht will und in richtiger Conse-
quenz ihres Gesichtspunktes nicht will, die historische nicht kann oder
in nur unzulänglicher Weise kann, nach ihrer Natur können und wollen?
Gäbe es etwa darum kein ästhetisches Urtheil, weil es auf juristischem
Wege nicht zu finden ist? darum keinen Rechtssatz, weil man einen
solchen auf ästhetischem Wege vergebens suchen würde? Wer der
geschichtlichen Welt den Fortschritt vindicirt, der mag bedauern, dass
nur ein Theil dieser eigenthümlichen Bewegung des Menschengeschlechts
unserem Blick erreichbar, er mag bedauern, dass nur die Richtung
dieser Bewegung, nicht ihr Ziel, nur die Thatsache dieser Bewegung,
nicht das Bewegende erkennbar ist; aber wird er sich dabei beruhigen,
wird er nach dem tiefsten Bedürfniss des Geistes, dem, sich als Totalität
zu empfinden und zu wissen, sich dabei beruhigen können, dass die eine
Form der Empirie ihm ein Räthsel zeigt, welches die andere ihm nicht
löst? wird er, nachdem er erkannt, dass da ein Problem, ein Räthsel
ist, es für nicht vorhanden erklären, weil er es nicht lösen kann?
nicht lösen kann, weil er es entweder als Charade oder als Logogriph,
entweder als Sylben- oder Buchstabenräthsel gelöst sehen will, während
es ein Sinnräthsel ist? Wird man, weil von dem einen Standpunkt
wissenschaftlicher Erkenntniss aus eine gewisse Seite des Allseins und
Alllebens gar nicht sichtbar wird — eben die metaphysische Seite, die
nach dem alten Spiel des Wortes hinter der physikalischen ist, — und
weil von dem Standpunkt der andern aus nur wie perspectivisch ein
wenig davon das Auge streift, wird man darum schliessen müssen,
dass sie nicht vorhanden ist, diese dritte Seite, ausser in unserem
Irrthum? wenn wir das Licht nicht mit den Händen greifen und mit
den Ohren hören können, ist es darum nicht? ist nicht vielmehr
darum „das Auge sonnenhaft“, damit es das Licht fassend uns das
wahrnehmbar mache, was wir mit den Händen nicht greifen und mit
den Ohren nicht hören können?
Doch ich verfolge diese Fragen nicht weiter, da sie über den
Gedankenkreis hinaus liegen, in dem sich Buckle’s Versuch, eine Wissen-
schaftslehre der Geschichte zu begründen, bewegt. Die gegebenen An-
deutungen werden hinreichend sein zu zeigen, dass er die Aufgabe, die
er sich stellt, nicht so gefasst hat, wie nöthig war um sie weiter zu
führen, dass er weder ihren Umfang noch ihr Gewicht gewürdigt hat, —
eine Aufgabe, die, wie mir scheint, ausser der besonderen Bedeutung
für unsere Studien noch eine andere allgemeinere hat und eben darum
die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt zu beschäftigen beginnt.
Sie scheint dazu angethan, den Mittelpunkt der grossen Discussion zu
werden, welche in dem Gesammtleben der Wissenschaften die nächste
bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfrem-
dung zwischen den exacten und speculativen Disciplinen, den täglich
weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen nnd supra-
naturalistischen Weltanschauung wird Niemand für normal und wahr
halten. Diese Gegensätze fordern eine Ausgleichung, und jene Auf-
gabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muss.
Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem
ist, nimmt an beiden Sphären Theil; sie zeigt in jedem Act mensch-
lichen Seins und Thuns, dass jener Gegensatz kein absoluter ist. Es
ist das eigenthümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen
Menschennatur, dass sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch
verhalten muss; es giebt nichts Menschliches, das nicht in diesem
Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick
versöhnt sich jener Gegensatz um sich wieder zu erneuen, erneut er
sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche
Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder nur
doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche
Alternative überwinden, den Dualismus jener Methoden, jener Welt-
anschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negiren
will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der ge-
schichtlichen Welt entsprechend ist, sie zu der Weltanschauung zu
entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos
der sittlichen Mächte ihre Basis hat — das, so dünkt mich, ist der
Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt.
Natur und Geschichte.
Es ist hergebracht, den Ausdruck Geschichte auch auf die Natur
anzuwenden. Man spricht von der Naturgeschichte, von der Entwicke-
lungsgeschichte organischer Existenzen, von der Geschichte des Erd-
körpers u. s. w. Und was war die Oken’sche, was ist die Darwin’sche
Theorie anders als das Hervorkehren des wenn man will geschichtlichen
Moments in dem Bereiche der organischen Natur.
Eben so fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte nach den für
die Natur gefundenen Gesetzen, wenigstens nach der für die Natur-
wissenschaften ausgebildeten Methode zu behandeln, auch für die ge-
schichtliche Welt geltend zu machen, dass vitale Erscheinungen auf
physikalische Gesetze zurückführen, so viel sei als für die Wissen-
schaft eine neue Eroberung machen. Man hat die Gestaltungen und
die Bewegung im Bereich des geschichtlichen Lebens als „organische
Entwickelungen“ bezeichnet; man hat ihre Gesetze durch statistischen
Calcul begründet; ja man hat als einen besonders bedeutsamen Vorzug
in diesen Bereichen die „Naturwüchsigkeit“ zu nennen in Uebung
gebracht.
Unsere Wissenschaft wird wie jede andere die Pflicht und das
Recht haben, die Begriffe, mit denen sie zu thun hat, zu untersuchen
und festzustellen. Wollte sie dieselben aus den Ergebnissen anderer
Wissenschaften entnehmen, so würde sie sich Betrachtungsweisen fügen
und unterordnen müssen, über welche sie keine Controle hat, vielleicht
solchen, von denen sie ihre eigene Selbstständigkeit, ihre Berechtigung
in Frage gestellt sieht; sie würde von daher vielleicht Definitionen des
Wortes Wissenschaft erhalten, gegen die sie sich auflehnen müsste.
Unsere Wissenschaft wird sich den sie angehenden Kreis von Begriffen
auf ihre, d. h. auf empirische Weise zu suchen haben. Sie wird es ver-
suchen dürfen, da ihre Methode wesentlich die des Verstehens ist, des
Verstehens auch dessen, was die Sprache und der Sprachgebrauch in
täglicher Uebung hat und ihrer Empirie darbietet.
Wir finden in unserer Sprache die Worte Natur und Geschichte.
Und Jedermann wird einverstanden sein, dass sich mit dem Wort Ge-
schichte sofort die Vorstellung eines Verlaufs, die Vorstellung des Zeit-
lichen verbindet. Von ewigen, d. h. zeitlosen Dingen, so weit wir Vor-
stellungen der Art fassen können, giebt es keine Geschichte; geschicht-
lich sind sie nur, erscheinen sie uns nur, sofern sie in das Zeitliche
eintreten, sei es durch Offenbarung, oder in Wirkungen oder in dem
ihnen zugekehrten Glauben endlicher, d. h. unter den Bedingungen der
Zeitlichkeit stehenden Geister.
Diese sind „nach Gottes Ebenbild“ Geist; aber Geist in die Bedin-
gungen der Endlichkeit gestellt, d. h. dem Raum nach unzählige, der
Zeit nach rastlos werdende. Die Gegenwart, die ihnen und der sie ge-
hören, ist ein Analogon der Ewigkeit; denn die Ewigkeit, die wir nicht
erfahrungsmässig kennen, die wir aus der Selbstgewissheit unseres gei-
stigen Seins erschliessen, ist Gegenwart wie wir sie haben, aber gedacht
ohne die Schranke, in der wir sie haben, ohne den Wechsel des Kom-
mens und Scheidens, ohne das Dunkel vorwärts und rückwärts.
Geist in die Endlichkeit gebannt, ist das menschliche Sein in un-
scheidbarer Weise geistig und sinnlich zugleich; ein Gegensatz, der sich
in jedem Augenblick versöhnt, um sich wieder zu erneuen, und erneut,
um sich wieder zu versöhnen. Unser Sein, so lange es gesund, wach,
bei sich ist, vermag in keinem Moment nur sinnlich, nur geistig zu sein.
Ein Anderes ist es, dass die geistige Seite unseres Seins die Fä-
higkeit hat, bis zu einem gewissen Grade sich auf sich selbst zu rich-
ten, sich in sich selbst zu vertiefen, sich in sich und von sich aus, als
wäre seine andere Seite nicht, weiter zu bewegen. Denkend, glaubend,
schauend gewinnt der Geist so einen Inhalt, der in gewissem Sinn über
die Schranken der Endlichkeit hinaus liegt. Er bleibt auch dann noch
in diese Endlichkeit, in die Vorstellungsformen, die er von ihr her ge-
wonnen und entwickelt hat, gebannt; aber nur noch mit den Fussspitzen
berührt er die Erde.
Wie nun, wenn sich die gleiche Sammlung und Kraft des Geistes
der anderen Seite seines doppelgestaltigen Seins zuwendet? Ich meine
nicht das practische Wollen und Thun des Menschen. Sein theoreti-
sches Verhalten, sein Forschen und Erkennen nach jenen Richtungen
hin wird dadurch bedingt sein, dass die sinnliche Seite seines Daseins
ihm nicht bloss das bunte Treiben der sinnlich wahrnehmbaren Einzel-
heiten wie einem unbewegten und ungetrübten Spiegel zuführt, sondern
dass er, mit ihr und durch sie, selbst inmitten dieser ihn umgebenden
und umfluthenden Endlichkeiten steht, von ihnen bedingt, bewegt, mit
umgetrieben wird, dass er selbst in dem rastlosen Staubwirbel dieser
rastlos wechselnden Endlichkeiten wie ein mit umgetriebenes Atom sein
würde, wenn er nicht kraft seines geistigen Wesens die Fähigkeit hätte,
in ihnen wie ein fester Punkt zu sein, wenigstens sich in sich selbst
als solchen zu empfinden, zu fassen, zu wissen, denkend und wollend,
mit Bewusstsein und Selbstbestimmung in wie eng umgrenzter Bahn
immer sich zu bewegen, beobachtend, berechnend, begreifend der Dinge
draussen Herr zu werden.
Dass das kleine und dürftige Menschenwesen diese Kraft des Herr-
seins hat und übt, ist zu allen Zeiten das Räthsel der Contemplation
gewesen. Mit naivem Tiefsinn sagt die Genesis: „als Gott gemacht
hatte allerlei Thiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Him-
mel, brachte er sie vor den Menschen, dass er sie sähe wie er sie nen-
nete; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heissen.“
Die Benennung war der Anfang, der Dinge Herr zu werden. Mit dem
Namen war jedem Geschaffenen, Seienden ein geistiges Gegenbild ge-
schaffen; sie waren nicht mehr bloss in der Welt äusserlicher Existenz,
sie waren in die Vorstellung, in die Geistigkeit des mitten unter ihnen
lebenden Menschenwesens versetzt. Sie behielten jedes den gegebenen
Namen, wenn auch die Erscheinungsform für den einmal gegebenen
Namen durch Ernährung oder Erschöpfung, durch Wiederholung in der
Fortpflanzung, in je anderen Thätigkeiten anders sich darstellend, noch
5
so mannigfach wechseln mochte. Der Name war gleichsam die dauernde
und unterscheidende Wesenheit der rastlos wechselnden Erscheinungen;
der Name fasste das im Wechsel Gleiche auf und hielt es als das
Wesentliche fest.
Objectiv oder richtiger thatsächlich und äusserlich sind die unter
gleichem Namen subsumirten Erscheinungen in tausendfacher Verän-
derlichkeit, Vielheit, Verschiedenartigkeit vorhanden; aber dies wüste
Vielerlei beherrscht der Geist, indem er das in gewisser Weise, im
Wesentlichen, für die Vorstellung Gleiche nach dieser seiner Gleichheit
zusammenfasst. Objectiv oder vielmehr äusserlicher Weise sind nur
zahllose Einzelnheiten in zahllosen Berührungen und Trennungen, in
rastlosem Wechsel; aber in der Vorstellung des Menschengeistes stehn
sie nach ihren Gleichheiten, Beziehungen, Verhältnissen fixirt und
classificirt da, die geordneten Gegenbilder der chaotisch uns umfluthen-
den Endlichkeiten, der wirren Vielheit wechselnder und schwankender
Erscheinungen. Und diese Welt von Namen und Begriffen ist dem
Geist das Gegenbild der Welt draussen, ist für uns deren Wahrheit.
So vereinfachend, scheidend und combinirend, ordnend und unter-
ordnend, so der wirren Welt der Endlichkeiten gegenüber einen Kosmos
von Vorstellungen und Begriffen in sich schaffend, macht sich der mensch-
liche Geist sprechend und denkend, theoretisch zum Meister der End-
lichkeiten, in denen und deren Wechseln sein Zeitliches selbst steht;
und zwar jeder Mensch von Neuem, jeder ist ein neuer Anfang, ein
neues Ich-werden.
Er wird dadurch, dass er lernt sich als Totalität in sich zu fühlen
und zu fassen, dass er Alles, was sich zu ihm, wozu er sich verhält,
wie eng oder weit dessen Bereich sein mag, als geschlossenen Kreis
um sich als Mittelpunkt sieht und denkt und so viel an ihm ist ge-
staltet. Er kann es mit jener Gabe, die Einzelheiten nach ihrer We-
senheit zusammenzufassen, mit jener rastlos arbeitenden Gabe des Ver-
einfachens und Verallgemeinerns, des Scheidens und Combinirens, kraft
deren er immer weitere Strecken umfasst, in die Vorstellung aufnimmt,
seinem Geist gleichsam einbildet. Die Rose — Ein Wort für zahllose
Einzelnheiten — unterscheidet er von der Nelke; aber das in ihnen
Gleiche auffassend nennt er sie Blumen; sie sind ihm wie die Sträuche,
die Gräser Pflanzen; die Pflanzen sieht er sehr verschieden vom Thier,
aber sie entstehen, wachsen, vergehen beide in ähnlicher Art; dies ihr
Leben unterscheidet ihm die organische Welt von Stein und Meer und
Flamme u. s. w. Es sind immer umfassendere Formen, immer allge-
meinere Begriffe, die er so entwickelt und anwendet.
Die letzten und allgemeinsten nach der Seite der sinnlichen Wahr-
nehmbarkeiten hin sind Natur und Geschichte. Sie fassen die Erschei-
nungswelt zusammen unter die zwei allgemeinsten Vorstellungen, denen,
wenn auch vielleicht nicht mit Recht, der Vorzug zu Theil geworden
ist, als Anschauungen a priori bezeichnet zu werden.
Die Totalität der Erscheinungen sind wir sicher zu umfassen, wenn
wir sie uns nach Raum und Zeit geordnet denken, wenn wir sagen
Natur und Geschichte.
Freilich wissen wir sofort, dass Alles, was im Raum ist, auch in
der Zeit ist, und umgekehrt. Die Dinge der empirischen Welt sind
nicht entweder dem Raum nach oder der Zeit nach; aber wir fassen
sie so auf, je nachdem uns das eine oder das andere Moment zu über-
wiegen scheint, je nachdem wir das eine oder das andere als das wich-
tigere, bezeichnendere, wesentliche hervorzuheben Anlass sehen.
Freilich viel gesagt ist mit dieser Begriffsbestimmung des Wortes
Geschichte nicht, wenn wir nicht im Stande sind, dieselbe in sich zu
vertiefen.
Raum und Zeit sind die weitesten, d. h. leersten Vorstellungen
unseres Geistes. Einen Inhalt bekommen sie erst in dem Maass, als
wir sie durch das Nacheinander und Nebeneinander bestimmen, das will
sagen, die Einzelnheiten unterscheiden, — nicht bloss sagen, dass sie
sind, sondern was sie sind.
Dass diese Erscheinungen, die wir summarisch als Geschichte, als
Natur zusammenfassen, an sich noch andere Bestimmungen, andere Prä-
dicate haben als die, in Raum und Zeit zu sein, d. h. dass sie im
Raum, in der Zeit unterschieden sind, wissen wir dadurch, dass wir
selbst unserer sinnlichen Existenz nach mitten unter ihnen stehen, von
ihnen bestimmt werden, zu ihnen uns anders und anders verhalten,
d. h. wissen wir empirisch. Ohne diese Empirie würde uns Raum
und Zeit ein leeres x, würde uns die Welt der Erscheinung ein Chaos
5*
bleiben. Erst indem wir mitten unter ihnen stehend uns von ihnen,
sie von uns unterscheiden, uns mit den verschiedenen Seiten und Er-
regbarkeiten unserer sinnlichen Existenz unter andern und andern Ex-
ponenten zu ihnen verhalten, und nach diesen Exponenten sie unter
sich selbst unterscheiden und vergleichen, erst in unserm Ich, durch
unser Erkennen, in unserm Wissen erhält das in Raum und Zeit Seiende
weitere Benennungen, weitere Bestimmtheiten; erst so entwickeln sich
uns die leeren Allgemeinheiten Raum und Zeit, die leeren Zusammen-
fassungen Natur und Geschichte zu discretem Inhalt, zu bestimmten
Vorstellungsreihen, zum Nebeneinander und Nacheinander der Einzeln-
heiten.
Raum und Zeit unterscheiden sich wie Ruhe und Rastlosigkeit, wie
Lässigkeit und Eile, wie Gebundenheit und Lossein. Es sind Gegen-
sätze, aber immer mit einander verbundene; sie sind untrennbar, aber
immer mit einander ringend. Denn Alles ist in Bewegung. Das Selbst-
gefühl unsres Lebens, unsres geistigen und sinnlichen Seins, das, selbst
so in sich polarisirt, weder bloss sinnlich oder bloss geistig, noch ab-
wechselnd das eine oder andere, sondern das lebendige Einssein des
Zwiespaltes ist, giebt uns den Begriff der Bewegung und seiner Mo-
mente Raum und Zeit. Unbewegt wäre uns die Welt der Erscheinun-
gen unfassbar; ohne Bewegung in uns selbst wären wir ausser Stande
sie zu erfassen. Dass die Welt draussen bewegt ist, wie wir in uns,
lässt sie uns unter der Analogie dessen, was in uns selber vorgeht, be-
greifen.
Wir wissen freilich, dass in der Bewegung Raum und Zeit immer
vereint sind, dass die Zeit gleichsam den trägen Raum in immer neuer
Bewegung zu überwinden, die Bewegung immer wieder aus der Unge-
duld der Zeit in die Ruhe des Seins zurückzusinken und sich auszu-
breiten strebt. Wie kommt nun die menschliche Betrachtung dazu, ge-
wisse Erscheinungsreihen in dem rastlos bewegten Sein der Dinge mehr
nach der zeitlichen, andere mehr nach der räumlichen Seite zu be-
trachten, die einen als Natur, die andern als Geschichte zusammen-
zufassen?
Allerdings sehen wir ringsumher stete Bewegung, steten Wechsel.
Aber wir unterscheiden gewisse Erscheinungen, in denen das Zeitliche
zurücktritt, in denen es gleichsam nur vorübergehend erscheint, um in
sich selbst zurückzusinken; Erscheinungen, die sich im Wesentlichen
wiederholen, in denen sich also die unendliche Reihe Zeit zerlegt in
gleiche sich wiederholende Kreise (Perioden), so dass eine solche Ge-
staltung als „nicht der Zahl nach eins, aber der Art nach eins“ erscheint.
In solchen Erscheinungen fasst der Geist das Stetige, das, an dem sich
die Bewegung vollzieht, das im Wechsel Gleiche, auf: die Regel,
das Gesetz, den Stoff, die Raumerfüllung u. s. w. Denn die Formen
wiederholen sich hier, und das Einerlei ihrer periodischen Wiederkehr
setzt das Zeitliche ihrer Bewegung zu einem secundären Moment herab;
nicht für ihr Sein, sondern für unsre Auffassung und Verständniss. Wir
gewinnen für die allgemeine Vorstellung Raum so ihren discreten Inhalt,
und dieser ist es, der von uns mit der Bezeichnung Natur zusammen-
gefasst wird.
In andern Erscheinungen hebt unser Geist das im Gleichen
Wechselnde hervor. Denn er bemerkt, dass sich da in der Bewegung
immer neue Formen gestalten, so neue und so bedingende Formungen,
dass das Stoffliche, an dem sie erscheinen, als ein secundäres Moment
erscheint, während jede neue Form eine individuell andere ist; und
zwar so eine andere, dass jede, der früheren sich anreihend, durch sie
bedingt ist, aus ihr werdend sie ideell in sich aufnimmt, aus ihr ge-
worden sie ideell in sich enthält und bewahrt. Es ist eine Continuität,
in der jedes Frühere sich in dem Späteren fortsetzt, ergänzt, erweitert
(ἐπίδοσις εἰς αὑτὸ), jedes Spätere sich als Ergebniss, Erfüllung, Steigerung
des Früheren darstellt. Es ist nicht die Continuität eines in sich zu-
rückkehrenden Kreises, einer sich wiederholenden Periode, sondern die
einer unendlichen Reihe und zwar so, dass in jedem Neuen schon ein
weiteres Neues keimt und sich herausarbeiten wird: Denn in jedem
Neuen ist die ganze Reihe durchlebter Formen ideell summirt und jede
der durchlebten Formen erscheint als ein Moment, als ein jeweiliger
Ausdruck in der werdenden Summe. In diesem rastlosen Nacheinander,
in dieser sich in sich selbst steigernden Continuität gewinnt die allge-
meine Vorstellung Zeit ihren discreten Inhalt, der von uns mit dem
Ausdruck Geschichte zusammengefasst wird.
Auch diejenigen Erscheinungen, die wir mit dem Ausdruck Natur
zusammenfassen, sind in individuellen Formen da und unterscheiden
sich von einander, wenn wir sie auch als gleichartig und gleich auffas-
sen. Aus jedem Waizenkorn erwächst, wenn es nicht durch anderwei-
tige Verwendung seinem periodischen Leben (Keimung, Halmbildung,
Blüthe, Fruchtreifung) entzogen wird, ein individuell andrer Halm, eine
neue Generation von Körnern. Die Eichen in demselben Walde, jede
wie die andere aus den Eicheln vielleicht derselben Muttereiche er-
wachsen, sind individuell verschieden, nicht bloss dem Raume nach,
sondern nach Alter, Grösse, Verästung, Gruppirung der Laubmassen
u. s. w. Wir nehmen die Unterschiede wohl wahr, aber sie erscheinen
uns nicht als wesentlich; wissenschaftlich wie practisch ist uns ihre
Individualität gleichgültig; für diese Art Existenzen hat unser Geist
kein Verständniss ihres individuellen Seins, wir haben für diese Art
Individuen keinen anderen Namen als den ihrer Gattung. Wir sehen
wohl, dass sie sich verändern; aber in der nur periodischen Wiederkehr
ihres Wechsels haben sie uns keine Geschichte. Wir unterscheiden die
einzelnen wohl, aber ihre Unterschiede zeigen uns keine Folgereihe sich
in sich selbst steigernder Formungen. Wir fassen sie dem Raum, dem
Stoff, dem im Wechsel Gleichen, dem in der Vielheit sich wiederholen-
den Einerlei nach auf; denn nur in diesen Beziehungen hat unser Geist
Kategorien für sie, nur nach diesen Kategorien können wir sie fassen
und verstehen, können wir uns practisch und theoretisch zu ihnen ver-
halten. Und diesen unseren Auffassungen gemäss brauchen und ver-
brauchen wir sie; wir nehmen sie für das, was sie uns sind. Wir
säen diese Waizenkörner, pflegen diese Eichen, um sie ihrer Zeit zu
tödten und als das, was sie uns sind, als brennbaren Stoff, als mehl-
haltige Frucht, zu verbrauchen; wir züchten diese Thiere, um ihnen
täglich die für ihre Jungen sich erzeugende Milch zu rauben, sie
schliesslich zu schlachten u. s. w. Unermüdlich beobachten und for-
schen wir, das Seiende seinen Stoffen, Kräften, Gesetzen nach zu er-
kennen, um es nach den Kategorien, unter denen wir es fassen und be-
greifen können, für unsere Zwecke zu verwenden; es ist uns nur Ma-
terial; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen,
unverständlich, gleichgültig.
Und wenn wir den Fruchtbaum pfropfend, Thiere züchtend,
Racen kreuzend gleichsam Vorsehung spielen, um edlere Erzeugungen
zu veranlassen, so ist es unsere List und Berechnung, nicht das indi-
viduelle Verständniss, das uns solches Ergebnis bringt. Wenn wir
chemisch Körper zerlegen oder verbinden, wenn wir physikalisch sie
so oder so behandeln, gewisse in ihnen vorhandene Functionen zu
isoliren, um sie zu beobachten oder wirken zu lassen, so suchen und
finden wir nicht, was individuell diesem Stein, dieser Flamme, dieser
schwingenden Saite eigen ist, sondern allen gleichartigen. Und wenn
wir die jeweiligen Formen, welche die Thier- oder Pflanzenwelt, die
Landschaft uns bietet, etwa in ästhetischer Weise uns aneignen und ver-
wenden, so wissen wir wohl, dass es nicht die Individualität dieses
Stückes Erdoberfläche, dieses Baumes oder Thieres ist, die wir da-
mit verstanden und dargestellt haben wollen, sondern dass wir in sie
etwas hineinlegen, was nicht in ihnen ist, so nicht in ihnen ist, dass
sie uns nur als Ausdruck unsres Empfindens oder Denkens dienen,
dass wir sie so zu sagen anthropomorphisiren; wie in Dantes Fegefeuer
das ekelhafte Bild der Lust unter dem glühenden Blick des sie in
Begier Anschauenden ein in Schönheit blühendes Weib wird.
Auch in dem Bereich derjenigen Erscheinungen, die wir als Ge-
schichte zusammenfassen, in dem Bereich der sittlichen Welt giebt es
Elemente, die messbar, wägbar, berechenbar sind. Aber am wenigsten
diese materiellen Bedingungen erschöpfen das Leben der sittlichen Welt,
reichen aus sie zu erklären; und wer sie damit erklären zu können
meint, verliert oder verläugnet das hier Wesentliche. Nicht der Trieb
der Begattung erschöpft oder erklärt die sittliche Macht der Ehe; die
gemeinsame Erinnerung des gemeinsam Durchlebten, die gemeinsamen
Hoffnungen und Sorgen, Verluste und Erfüllungen erneuen auch den
alternden Gatten noch die Innigkeit ihres ersten Glückes; ihnen hat
ihre Ehe eine Geschichte, und in dieser Geschichte hat sich ihnen die
sittliche Macht der Ehe begründet, gerechtfertigt, erfüllt.
In dem Bereich der sittlichen Welt ist allerdings nichts, das nicht
unmittelbar oder mittelbar materiell bedingt wäre. Aber diese mate-
riellen Bedingnisse sind weder die einzigen noch die einzig maass-
gebenden; und es ist der Adel des sittlichen Seins, sie nicht etwa zu
missachten und zu verläugnen, wohl aber sie zu durchleuchten und zu
vergeistigen. Denn so, in der Berührung der Geister, in ihrer Arbeit
aneinander und miteinander, in ihrem rastlosen Triebe zu formen, zu
verstehen und verstanden zu werden, wird diese wunderbare Schicht
geistigen Seins, die, immer und immer die natürtiche Welt be-
rührend und doch los von ihr, das Erdrund umfluthet, und deren
Bestandtheile Vorstellungen, Gedanken, Leidenschaften, Irrthümer,
Schuld u. s. w. sind.
Man denkt nicht zu gering von der sittlichen Welt, wenn man ihren
Gestaltungen diese rastlos fluthende und schwellende Schicht geistigen
Seins als ihre Stätte, ihren Boden, als die so zu sagen plastische Masse
ihres Gestaltens zuschreibt. Und sie sind wahrlich darum nicht von
geringerer Realität, von minder objectiver Macht, weil sie wesentlich
nur im Geist und Herzen der Menschen, in ihrem Wissen und Gewissen
lebendig sind, den Körper und das Körperliche nur zu ihrem Ausdruck
und Abdruck verwenden.
Freilich nur in diesen Ausdrücken und Abdrücken werden sie ver-
nehmbar, verstehbar, erforschbar. Sie sind nicht blos dazu da, dass
die historische Methode auf sie angewendet werde; sie können, auch
wissenschaftlich, noch nach anderen Gesichtspunkten als dem historischen
betrachtet werden. Aber wie sie sind, sind sie geworden; und aus ihrem
Sein ihr Werden zu erschliessen, aus ihrem Werden ihr Sein zu ver-
stehen, ist das Wesen der historischen Methode.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Abwehr. Es fällt Niemanden
ein, der Physik den Namen der Wissenschaft zu bestreiten oder an ihren
wissenschaftlichen Ergebnissen zu zweifeln, obschon sie nicht die Natur,
sondern eine Betrachtungsweise der Natur ist, oder der Mathe-
matik daraus einen Vorwurf zu machen, dass ihr ganzes stolzes Gebäude
nur innerhalb des wissenden Geistes steht. Unsere kluge Sprache bildet
aus dem Participium des Wortes „wissen“ die Bezeichnung dessen, was
„gewiss“ ist; sie nennt nicht das äusserliche und sogenannte objective
Sein der Dinge gewiss, sondern das gewusste Seiende, das gewusste Ge-
schehene. Nicht was in sinnlicher Wahrnehmbarkeit an uns herantritt,
ist unsrer Sprache nach wahr; es giebt sich nicht als wahr, sondern
wir nehmen es wahr, und machen es durch unser Wissen gewiss.
Unser Wahrnehmen, unser Wissen; es läge darin der bedenk-
lichste Subjectivismus, wenn die Menschenwelt aus Atomen bestände,
deren jedes seine Spanne Raum und Zeit erfüllte, zusammenhanglos
wie begonnen so zerronnen, — aus atomistischen Menschen, wie der
gerupfte Hahn des alten Philosophen sie exemplificirt und wie sie der
moderne Radicalismus zum Ausgangspunkt seiner Menschenrechte, der
moderne Materialismus zur Basis seiner „Sociologie“ nimmt. Auch nicht
geboren werden, geschweige denn gepflegt, auferzogen, zum Menschen
werden könnte der Einzelne als solcher. Von dem Moment seiner Ge-
burt, seiner Empfängniss an steht er in den sittlichen Gemeinsamkeiten,
in dieser Familie, diesem Volk, Staat, Glauben oder Unglauben u. s. w.
und was er leiblich und geistig ist und hat, empfängt er zunächst aus
ihnen und durch sie.
Man sieht, die Skepsis dieser Betrachtungen wendet sich nicht
gegen die Realität der natürlichen Welt, noch weniger gegen die Ge-
wissheit der geschichtlichen, der sittlichen Gestaltungen. Uns ist die
Natur nicht ein „Gehirnphänomen,“ noch weniger die sittliche Welt
die fadenscheinige „Bejahung des Willens zum Leben.“
Praktisch leben und handeln wir in dem zuversichtlichen Selbst-
gefühl unsres Ich-seins, in der unmittelbaren Empfindung der
Totalität, innerhalb deren wir stehen. Es sind dies die beiden Mo-
mente, die sich aus der Art unsres Seins, das geistig und sinnlich
zugleich ist, ergeben.
Auf dieser unmittelbaren Gewissheit unsrer Selbstempfindung, unsrer
Weltempfindung, auf diesem Glauben, wie hoch oder niedrig der gefun-
dene Ausdruck für seinen letzten Grund, für sein höchstes Ziel sein
mag, ruht unser menschliches Sein und Thun. Dies Unmittelbare haben
wir; die „Wahrheit“ suchen, erarbeiten wir; und mit unserm Suchen
und Arbeiten erwächst, vertieft sie sich uns. In dem Bedürfniss un-
seres Ich-seins oder Ich-werdens — und es ist mit dem ersten gespro-
chenen Wort da und unhemmbar — liegt der Drang, das Empfundene
und Geglaubte uns zum Bewusstsein zu bringen, es zu begreifen, es
gleichsam abzulösen von der Nabelschnur, mit der es an den Unmittel-
barkeiten haftet, es in die Kategorien unseres Denkens einzuordnen;
Kategorien, die sich zu der unmittelbar empfundenen Totalität der Wirk-
lichkeit und unseres Ich-seins in ihnen verhalten wie das Vieleck zum
Kreise: noch so vielseitig und kreisähnlich, bleibt es eckig und gerad-
linicht; Kreis und Vieleck hören nicht auf, gegen einander incommen-
surabel zu sein.
Es ist der irregeleitete Stolz des menschlichen Geistes, den Kreisen
des unmittelbar Empfundenen seine eckigen Constructionen als ihre
Norm oder Beglaubigung zu unterstellen, während sie nur Versuch auf
Versuch sind, jene annähernd zu umschreiben, — die sphärischen Li-
nien des Glaubens zu negiren, weil unser Denken mit seinen gerad-
linichten Constructionen sie nicht erschöpfen kann, — so wenig er-
schöpfen kann, wie jener Augustinische Knabe am Meeressrand in
die Grube, die er in den Sand gegraben, so eifrig er mit seiner
Schaale schöpfen mochte, das Wasser des Meeres hinüberzugiessen im
Stande war.
Kunst und Methode.
Es ist gedichtet worden, ehe es eine Poesie, gesprochen worden,
ehe es eine Grammatik und Rhetorik gab. Und das practische Bedürf-
niss hat Stoffe zu mischen und zu zerlegen, Naturkräfte zu menschlichen
Zwecken zu verwenden gelehrt, bevor Chemie und Physik die Natur
methodisch erforscht und ihre Gesetze in wissenschaftlicher Form aus-
gesprochen haben.
Auch die Erinnerungen gehören zum eigensten Wesen und Bedürf-
niss der Menschheit. Wie enge oder weite Kreise sie umfassen mögen,
sie fehlen den Menschen nie und nirgend; höchst persönlich, wie sie
zunächst erscheinen, sind sie ein Band zwischen den Seelen, die sich
in ihnen begegnen. Keine menschliche Gemeinschaft ist ohne sie; jede
hat in ihrem Gewordensein, ihrer Geschichte das Bild ihres Seins, —
einen Gemeinbesitz der Betheiligten, der ihre Gemeinschaft nur um so
fester und inniger macht.
Begreiflich, dass hochbegabten Völkern sich ihre Erinnerungen in
der Sage verschönen und zu Typen, zum Ausdruck der Ideale werden,
auf die der Volksgeist gerichtet ist. Begreiflich auch, dass sich ihnen
ihr Glaube in der Form heiliger Geschichten, die seinen Inhalt als ein
Geschehniss veranschaulichen, rechtfertigt, und dass solche Mythen mit
der Sage zusammenwachsen. Nur dass sie, wenn sich diese rastlos le-
bendige Verschmelzung, endlich gesättigt, in grossen epischen Gestaltun-
gen abschliesst, nicht mehr dem naiven Glauben allein angehören wollen.
Mit der Sammlung und Sichtung solcher Mythen und Sagen hat
die früheste Historie, die der Griechen, begonnen, — erste Versuche,
Ordnung, Zusammenhang, Uebereinstimmung, ein chronologisches System
in diesen Urwald von Ueberlieferungen zu bringen, erste Versuche
wirklicher Forschung.
Von den Griechen her datirt die Continuität der Wissenschaftn;
fast alle, die noch heute die Geister beschäftigen, haben dort ihre An-
fänge; namentlich das Gebiet, das man wohl als das der moralischen
Wissenschaften bezeichnet, ist mit Vorliebe von ihnen bestellt worden.
Aber neben der Ethik, Politik, Oekonomik u. s. w. haben sie keine
Historik.
Dass nach der genialen Historiographie der Marathonischen, der
Perikleischen Zeit, deren letzter Repräsentant Thucydides ist, Isokrates
und nicht Aristoteles eine historische Schule bildete, hat die Historie
in Bahnen gebracht, von denen Polybius sich vergebens bemüht hat sie
zurückzuführen. Sie wurde und bei den Römern blieb sie, soweit nicht
die Philologie sich ihrer bemächtigte, ein Theil der Rhetorik, der „schö-
nen Literatur“. Und zwischen beiden, der Philologie und der Rhetorik,
gingen die Aufzeichnungen zu praktischen Zwecken, die encyclopädischen
und Schulbücher mit eingeschlossen, allmählig bis zur armseligsten Dürf-
tigkeit hinab.
Weniger noch als in der Historiographie des sinkenden Alterthums
wird man in der des Mittelalters neue Triebe wissenschaftlichen Geistes
entdecken wollen, wenn man nicht den theologisch-constructiven, der
hier und da durchklingt, dafür will gelten lassen. Wohl aber hat der
und jener Historiker der Karolinger-, der Ottonenzeit sich seine stylisti-
schen Muster bei den Alten gesucht und seine Helden mit ihren rhe-
torischen Floskeln geschmückt.
Und wieder, als im ausgehenden Mittelalter der erneute Kampf ge-
gen das Papstthum und die Hierarchie auch die historische Forschung
als Waffe ergriff, und den Untersuchungen über die angebliche Schen-
kung des Constantin historisch-kritische Angriffe auf die falschen Tra-
ditionen, die schriftwidrigen Institutionen, die canonischen Anmaassun-
gen der Kirche Schlag auf Schlag folgten, selbst da gewann über diese
bedeutenden wissenschwaftlichen Anläufe die Rhetorik zunächst in Ita-
lien rasch wieder den Vorsprung; und den letzten grossartigen Versuch
auf deutscher Seite, die gewonnenen Kenntnisse und Uebungen wissen-
schaftlich zusammenzufassen, — den Sebastian Franck’s — übertäubte
der Lärm des schon dogmatistischen Haders der Bekenntnisse.
Erst seit die Naturwissenschaften sicher und ihres Weges bewusst
sich ihre Methode begründeten und damit einen neuen Anfang gewannen,
tauchte der Gedanke auf, auch der ἀμέϑοδος ὕλη der Geschichte eine
methodische Seite abzugewinnen. Der Zeit Galilei’s und Bacon’s
gehört Jean Bodin an, der von Huygens und Newton Pufendorff und
der nach allen Richtungen zugleich Bahn brechende Leibniz. Dann
ergriff die Englische Aufklärung, — wenn es erlaubt ist, die Zeit der
sogenannten Deïsten so zu bezeichnen — auch diese Frage; dort
zuerst versuchte man unsere Wissenschaft nach ihren Aufgaben oder
Gebieten zu gliedern; man sprach von Weltgeschichte, Geschichte der
Menschheit, Universalgeschichte, Staaten- und Völkergeschichte u. s. w.
Voltaire, der Schüler und Fortsetzer dieser Englischen Richtung, warf
den blendenden Namen „philosophie de l’historie“ mit hinein. Die
Göttinger historische Schule entwickelte eine Art Systematik der neuge-
schaffenen Wissenschaften und Hülfswissenschaften und begann auch die
entlegneren Disciplinen mit dem Geist dieses Systems zu erfüllen. Und
während mehr als Einer von den grossen Dichtern und Denkern unserer
Nation sich in die theoretische Frage des historischen Erkennens ver-
senkte, entwickelte sich im historischen Arbeiten und Untersuchen selbst
eine Schärfe und Sicherheit der Kritik, die, auf welches Gebiet der Ge-
schichte sie sich wenden mochte, völlig neue und überraschende Ergeb-
nisse brachte. In dieser historischen Kritik eilte seit Niebuhr unsere
Nation den anderen voraus; und es brauchte, so schien es, die in so
glänzenden Arbeiten bewährte Art oder Technik des Forschens nur in
allgemeinen und theoretischen Sätzen ausgesprochen zu werden, um als
die historische Methode zu gelten.
Freilich dem grossen Publikum war mit dieser Richtung unserer
Historie nicht eben gedient; es wollte lesen, nicht studiren; es beklagte
sich, dass man ihm die Zubereitung der Speise statt der Speise biete;
es nannte wohl die Deutsche Art der Historie pedantisch, ausschliesslich,
ungeniessbar; es wünschte unterhaltende Belehrung und belehrende Un-
terhaltung; wie viel bequemer als die gelehrten und mühsamen For-
schungen liessen sich die Essays Macaulay’s lesen, wie ergriffen die
Erzählungen von der französischen Revolution in Thiers’ glänzender
Schilderung. So hat es geschehen können, dass nicht bloss der histo-
rische Geschmack, sondern das historische und damit zum nicht gerin-
gen Theil das politische Urtheil in Deutschland drei, vier Jahrzehnte
lang von der fremden Historiographie gebildet und geleitet, von ihrer
rhetorischen Ueberlegenheit beherrscht wurde.
Und mehr noch: indem solche rhetorische Kunst die Wucht unge-
heurer Ereignisse, die schwierigen Verwickelungen, in denen sich grosse
Ereignisse zu vollziehen oder doch vorzubereiten pflegen, die Greuel
entfesselter Leidenschaften oder fanatischer Unterdrückungen zu einem
künstlerisch wohl abgetonten Bilde, zu einer spannenden und dramatisch
wirkenden Lectüre verwandelt, ist sie gewiss, um so fasslicher und über-
zeugender zu sein. Sie hat das Mittel gefunden, auch den minder kun-
digen Leser mit Dingen vertraut zu machen, welche in ihrem wirklichen
Verlauf von dem Mitlebenden, der sie auch nur einigermaassen verstehen
wollte, tausend Vorkenntnisse, viele Erfahrung, ein ruhiges und gesam-
meltes Urtheil forderten; das Alles weiss die historische Kunst auf die
erfreulichste Weise zu ersetzen, also dass der aufmerksame Leser, wenn
er seinen Thiers oder Macaulay zu Ende gelesen, sich um die gros-
sen Erfahrungen dieser Revolutionen, dieser Partheikämpfe, dieser Ver-
fassungsentwickelungen reicher glauben darf; — um Erfahrungen freilich,
denen das Beste von dem fehlt, was die Erfahrungen fruchtbar macht,
der Ernst der schwer arbeitenden Wirklichkeiten, die Verantwortlichkeit
des unausweichlichen Entschlusses, die Opfer, die auch der Sieg fordert,
das Misslingen, das auch die gerechte Sache unter die Füsse wirft. Die
Kunst des Historikers überhebt den Leser, an solche Nebendinge zu den-
ken; sie erfüllt seine Phantasie mit Vorstellungen und Anschauungen,
die von der breiten, harten, zäh langsamen Wirklichkeit nur die glän-
zend beleuchteten Spitzen zusammenfassen; sie überzeugt ihn, dass diese
die Summe der Einzelheiten und das Wahre der Wirklichkeiten sind.
Sie hilft an ihrem Theil an jenem unermesslichen Einfluss arbeiten, den
die Meinung der Menschen übt, indem sie an ihren Ideen die Wirk-
lichkeit messen und von dieser fordern, dass sie sich nach jenen ge-
stalte oder umgestalte, — um so ungeduldiger fordern, je leichter sie
sich solche Umkehr der Dinge zu denken gewöhnt sind.
Auch wir in Deutschland rühmen uns bereits einer historischen Li-
teratur, die dem populären Bedürfniss entspricht; auch bei uns ist die
Einsicht gewonnen oder das Zugeständniss gemacht, dass „die Historie
Kunst und Wissenschaft zugleich sei“. Nur dass damit die methodische
Frage — um diese handelt es sich uns — von Neuem ins Unklare
geräth.
Wie verhalten sich in unseren Arbeiten Kunst und Wissenschaft zu
einander? ist etwa „mit Kritik und Gelehrsamkeit“ der wissenschaft-
lichen Seite der Historie genug gethan? ist, was sonst noch dem Histori-
ker zu thun übrig bleibt, der Kunst zustehend? sollten wirklich die Stu-
dien, die der Historiker zu machen hat, keinen anderen Zweck haben,
als ein oder das andere Buch zu schreiben? keine andere Verwendung
haben, als belehrend zu unterhalten und unterhaltend zu belehren?
Es wäre nicht ohne Interesse, zu untersuchen, welchen inneren
Grund es hat, dass von allen Wissenschaften allein der Historie das
zweideutige Glück geworden ist, zugleich auch Kunst sein zu sollen;
ein Glück, dass nicht einmal die Philosophie trotz der Platonischen
Dialoge mit ihr theilt.
Fassen wir eine andere Seite der Frage auf. In künstlerischen
Arbeiten geht — nach einer alten Ausdrucksweise — das Technische
und Musische Hand in Hand. Zum Wesen der Kunst gehört es, dass
sie in ihren Hervorbringungen die Mängel, die durch ihre Mittel bedingt
sind, vergessen macht; und sie kann es in dem Maasse, als die Idee,
der sie in diesen Formen, an diesen Stoffen, mit dieser Technik Aus-
druck geben will, diese belebt und durchleuchtet. Das so Geschaffene
ist eine Totalität, eine Welt in sich; das Musische hat die Macht, in
diesem Ausdruck den Schauenden oder Hörenden voll und ausschliesslich
empfangen und empfinden zu lassen, was es so hat ausdrücken wollen.
Anders die Wissenschaften. Vor Allen die empirischen haben keine
strengere Pflicht, als die Lücken festzustellen, die in den Objecten ihrer
Empirie bedingt sind, die Fehler zu controliren, die sich aus ihrer
Technik ergeben, die Tragweite der Methoden zu untersuchen, die nur
innerhalb der ihnen wesentlichen Schranken richtige Resultate ergeben
können.
Vielleicht das grösste Verdienst der kritischen Schule in unserer
Wissenschaft, wenigstens das in methodischer Hinsicht bedeutendste ist,
die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass die Grundlage unserer Studien
die Prüfung der „Quellen“ ist, aus denen wir schöpfen. Es ist damit
das Verhältniss der Historie zu den Vergangenheiten auf den wissen-
schaftlich maassgebenden Punkt gestellt. Diese kritische Ansicht, dass
uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in ver-
mittelter Weise vorliegen, dass wir nicht „objectiv“ die Vergangenheiten,
sondern nur aus den „Quellen“ eine Auffassung, eine Anschauung, ein
Gegenbild von ihnen herstellen können, dass die so gewinnbaren und
gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von
der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also „die Geschichte“
nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht
und so gewusst da ist — das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt
sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.
Was uns zur Erforschung vorliegt, sind nicht die Vergangenheiten,
sondern theils Ueberreste aus ihnen, theils Auffassungen von ihnen;
Ueberreste, die nur für die historische Betrachtung Ueberreste sind, in
der That aber inmitten der Gegenwart stehen; manche trümmerhaft und
verwittert wie sie sind, sofort daran erinnernd, dass sie einst anders,
lebendiger, bedeutsamer waren, als sie jetzt sind; andere umgeformt und
noch in lebendig praktischer Verwendung; andere auch wohl bis zur
Unkenntlichkeit verändert und eingeschmolzen in das Sein und Leben
der Gegenwart; ja diese selbst ist nichts anderes als die Summe
aller Reste und Ergebnisse der Vergangenheit. Sodann Auffassungen
dessen, was war und geschah, nicht immer von Nahestehenden, Kundi-
gen oder Unbetheiligten, oft Auffassungen von Auffassungen aus dritter,
vierter Hand; und selbst wenn Nahestehende berichten, was ihrer Zeit
geschehen, was haben sie denn selbst davon mit angesehen, mit ange-
hört? und auch das eigene Sehen und Hören fasst doch nur einen Theil,
nur eine Seite, eine Richtung der Geschehnisse auf u. s. w.
Der methodische Charakter dieser beiden Arten von Materialien ist
so ausserordentlich verschieden, dass man wohl thut, ihn auch in der
technischen Bezeichnung zu unterscheiden; und es empfiehlt sich, die-
jenigen, die Quellen sein wollen, auch Quellen zu nennen, wenn sie
auch in anderer Hinsicht gleich den Anderen Ueberreste sind, litera-
rische Ueberreste der Zeit, in der sie entstanden.
Die jetzt übliche Methode oder Technik der historischen Forschung
hat sich aus dem Studium solcher Zeiten entwickelt, aus denen wenig-
stens für die politische Geschichte nichts oder wenig mehr als derartige
Auffassungen von mehr oder minder gleichzeitigen Darstellern vorliegen.
Vieles, wonach wir fragen und forschen möchten, ist da gar nicht
aufgefasst worden; auf die Frage, wie unsere Kaiser bei ihren Rom-
fahrten Tausende von Menschen und Pferden, wenn sie über die Alpen
stiegen, dort verpflegten, auf die Frage, wie sich nach der Revolution,
die Alexander der Grosse über Asien gebracht hat, der Handel des
Mittelmeers gestaltete, geben uns die Quellen keine Auskunft.
Wie oberflächlich, wie unzuverlässig unsere Kunde von früherer Zeit,
wie mit Nothwendigkeit lückenhaft und auf einzelne Punkte beschränkt
die Anschauung ist, die wir von derselben noch gewinnen können, wer-
den wir inne, wenn unser Studium uns zu Zeiten führt, aus welchen
die Archive mehr als blosse „Urkunden“ von abgeschlossenen Rechtsge-
schäften, aus welchen sie gesandschaftliche Berichte, Berichte der Be-
hörden, Geschäftsacten aller Art darbieten. Und weiter, wie lebhaft
tritt da der Unterschied zwischen den „Auffassungen“ der fremden Ge-
sandten oder der heimischen Behörden und den „Ueberresten“ aus dem
geschäftlichen Verlauf, aus den Erwägungen her und hin, aus den Pro-
tokollen der Verhandlungen u. s. w. hervor. Freilich diese Geschäfts-
acten bieten in der Regel nicht, wie jene Relationen, eine schon ge-
formte Auffassung, ein erstes historisches Bild dessen, was soeben ge-
schehen ist; aber sie sind Ueberreste dessen, was da geschehen ist, sie
sind das, was von dem Geschäft und aus seinem Verlauf noch unmittel-
bar vorliegt. Und als Geschäft — wenn ich den Ausdruck in so wei-
tem Umfang brauchen darf — in dem breiten und tausendfach beding-
ten und bedingendem Nebeneinander der Gegenwart vollziehen sich die
Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auf-
fassen, — also in ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der
sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Thun derer hatten,
durch welche sie sich vollzogen. So dass es nicht paradox ist zu fra-
gen, wie aus den Geschäften Geschichte wird, und was mit dieser
Uebertragung gleichsam in ein anderes Medium theils hinzugethan wird,
theils verloren geht.
Zum Schluss mag es gestattet sein, noch einen Punkt zu berühren.
Ich habe an einer anderen Stelle den Anspruch zurückzuweisen ver-
sucht, der an unsere Wissenschaft von Seiten derer gemacht wird, de-
nen die naturwissenschaftliche Methode die einzig wissenschaftliche ist,
und welche meinen, durch die Anwendung derselben müsse die Ge-
schichte zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden.
6
Gleich als ob in dem Bereich des geschichtlichen d. h. sittlichen
Lebens nur die Analogie der Beachtung würdig sei, nicht auch die
Anomalie, das Individuelle, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, der
Genius; als ob es nicht eine wissenschaftliche Aufgabe sei, für die Be-
wegungen und Wirkungen der menschlichen Freiheit, der persönlichen
Eigenartigkeit, wie gross oder klein man sie denn anschlagen mag, Wege
der Erforschung, der Verificirung, des Verständnisses zu suchen.
Denn allerdings haben wir von menschlichen Dingen, von jedem
Ausdruck und Abdruck menschlichen Tichtens und Trachtens, der uns
wahrnehmbar wird, und so weit er wahrnehmbar ist, unmittelbar und
in subjectiver Gewissheit ein Verständniss. Aber es gilt Methoden zu
finden, um für dies unmittelbare und subjective Auffassen — zumal da
von Vergangenem uns nur noch Auffassungen Anderer oder Fragmente
dessen, was einst war, vorliegen — objective Maasse und Controlen
zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen, zu vertiefen. Denn
nur das scheint der Sinn der vielgenannten historischen Objecti-
vität sein zu können.
Methoden gilt es zu finden. Es bedarf deren andere für andere
Aufgaben, und oft zur Lösung Einer Aufgabe einer Combination von
mehreren derselben. So lange man glaubte, dass „die Geschichte“ we-
sentlich die politische Geschichte sei, und dass des Historikers Aufgabe
sei, was von Revolutionen, Kriegen, Staatsactionen u. s. w. überliefert
ist, in neuer Auffassung und Zusammenstellung nachzuerzählen, mochte
es genügen, aus den besten, vielleicht auch den kritisch nachgewiesenen
besten Quellen das Material zu nehmen, das zu einem Buch, einem
Vortrag oder dergleichen verarbeitet werden sollte. Seit die Einsicht
erwacht ist, dass man auch die Künste, die Rechtsbildungen, jedes
menschliche Schaffen, alle Gestaltungen der sittlichen Welt historisch
erforschen kann, erforschen muss, um das, was ist, zu verstehen aus
dem, wie es geworden ist — seitdem treten Forderungen sehr anderer
Art an unsere Wissenschaft heran. Sie hat Gestaltungen nach ihrem
historischen Zusammenhang zu erforschen, von denen vielleicht nur ein-
zelne Ueberreste vorhanden sind, Felder zu erschliessen, die bis dahin
nicht, am wenigsten von denen, die mitten in ihnen lebten, als histo-
risch beachtet und aufgefasst sind. Von allen Seiten drängen sich ihr
da Fragen auf, Fragen nach Dingen, die zum grossen Theil ungleich
wichtiger sind als die oft sehr äusserlichen und zufälligen Nachrichten,
welche bisher für Geschichte gegolten haben. Soll da die Forschung
das Gewehr strecken?
Wir haben wohl, wenn wir in eine Sammlung Aegyptischer Alter-
thümer treten, den besonderen Eindruck, die subjective Anschauung
dieses wunderlichen Alterthums; aber wenigstens in der einen und an-
deren Richtung können wir forschend zu positiveren Ergebnissen kommen.
Da sind diese Syenite, behauen, polirt; da sind diese Farben, diese Ge-
webe; welcher Werkzeuge, welcher Metalle bedurfte es, so harten Stein
zu verarbeiten, welcher mechanischen Constructionen, solche Massen aus
dem Felsen zu heben, auf die Barke zu schaffen? wie wurden chemisch
diese Farben bereitet? aus welchen Stoffen sind diese Gewebe, und
woher kamen sie? Auf dem Wege solcher technologischen Interpretation
der Ueberreste ergeben sich Thatsachen, welche die dürftige Ueberliefe-
rung über das alte Aegypten nach vielen und bedeutenden Richtungen
hin ergänzen, und diese Thatsachen ergeben sich mit einer Sicherheit,
die um so grösser ist, je weniger direct sie gewonnen wurden.
Vielen erscheint es kritisch, etwa von der Verfassung des alten
Rom oder Athens vor den Perserkriegen nur das gelten zu lassen, was
ausdrücklich überliefert und bezeugt ist. Aber die Phantasie des Lesers
wird nicht unterlassen, diese dürftigen Notizen unter sich zu verbinden
und sie so zu einem Bild zu ergänzen; nur dass diese Ergänzung ein
Spiel der Phantasie, dies Bild ein willkürliches oder unwillkürliches ist.
Ist es nicht möglich, Methoden zu finden, die das Verfahren der Ergän-
zung regeln und begründen? In der pragmatischen Natur derartiger
Dinge — denn des Polybius Ausdruck pragmatisch sollte man aufhören
zu missachten — liegen Momente, Bedingungen, Nothwendigkeiten,
deren Spuren sich, wenn man schärfer hinsieht, vielleicht in Dem
wiedererkennen lassen, was uns noch vorliegt; und die hypothetische
Linie, die uns jene pragmatische Natur der Dinge zeichnen liess, be-
stätigt sich dann, indem sich dies oder jenes Bruchstück in diese Linie
genau einfügt.
Als es galt, die Kunstgeschichte der Zeit Raphael’s und Dürer’s zu
erarbeiten, da war mit den „Quellen“ und der Quellenkritik nicht weit
zu kommen, wenn man auch in Vasari u. A. wenigstens für die Italie-
nischen Meister ganz erwünschte äusserliche Nachrichten fand; in ihren
und ihrer Deutschen Zeitgenossen Werken lag ein ganz anderes, das
eigentliche Material der Forschung vor; ein Material freilich, mit dem ins
Reine zu kommen der Forscher ein Rüstzeug besonderer Art brauchte;
er musste die Technik des Malens kennen, um die der verschiedenen
Maler, ihre Tonfarbe, ihr Helldunkel, ihren Pinselstrich zu unterschei-
den; er musste feststellen, wie in Albrecht Dürer’s Auge sich die
menschliche Gestalt darstellte, um nachweisen zu können, ob jenes Cru-
cifix von seiner Hand ist; er musste einen so zu sagen gelehrten Ap-
parat von Radirungen, Handzeichnungen u. s. w. herbeiziehen, um end-
lich zu entscheiden, ob jener bedeutende Portraitkopf von Leonardo da
Vinci oder von Holbein ist; er musste die Anschauungsweise jener Zeit,
den Bereich ihrer allgemeinen Kenntniss, ihre kirchliche und profane
Gemeinüberzeugung, ihre locale und Tagesgeschichte gegenwärtig haben,
um Das, was in den Kunstwerken dargestellt, was etwa in Nebendingen
angedeutet ist, richtig deuten, die tiefere oder flachere Auffassung oder
Intention nicht bloss ästhetisch empfinden, sondern überzeugend nach-
weisen zu können u. s. w.
Wie hier, so überall. Nur die tiefe und vielseitige technische und
Sachkenntniss, je nachdem es die Kunst, das Recht, den Handel, das
Agrarwesen, oder auch den Staat und die Politik geschichtlich zu er-
forschen gilt, wird den Forschenden in den Stand setzen, die für den
gegebenen Fall geforderten Methoden zu finden und mit ihnen zu ar-
beiten; eben so wie in den Naturwissenschaften immer neue Methoden
gefunden werden, um der stummen Natur ihre Geheimnisse zu entlocken.
Alle solche Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien
in Anwendung kommen, bewegen sich innerhalb derselben Peripherie,
haben denselben bestimmenden Mittelpunkt. Sie in ihrem gemeinsamen
Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln
und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des
historischen Forschens und Wissens festzustellen, das ist die Aufgabe
der Historik.