✠ Genf, 26 Dec. In den ersten Tagen des neuen Jahres werden in der hiesigen Buchhandlung von Cherbuliez die zwei letzten Bände der Correspondance du Comte Capodistrias, Prèsident de la Grèce, wovon die zwei ersten im Julius in der Allg. Zeitung besprochen wurden, erscheinen. Hätte zu seiner Zeit Montaigne ein Buch wie dieses kennen gelernt, so würde er ihm seinen Ausruf: voici un livre de bonne foi, zur Empfehlung gegeben haben. In der That,
wem es in der Geschichte um Wahrheit zu thun ist, der wird hier volle Befriedigung erhalten: der Geschichtsfreund, der Geschichtsforscher, der Staatsmann, der Menschenbeobachter. Zwei Gegenstände hauptsächlich treten im hellsten Licht hervor: der Zustand von Griechenland im Anfange seiner Selbstständigkeit und der Charakter des Mannes, der zur Leitung des neuen Staates berufen war. Man kann ohne Bedenken die Behauptung wagen, daß die gegenwärtige Briefsammlung zu den historischen Erscheinungen unserer Zeit zu rechnen ist, vor welchen jene erkünstelten Mémoires, mit denen sie so schonungslos überschwemmt worden ist, erbleichen und in Nebel zerfließen. Hier sieht der Leser die Ereignisse unter seinen Augen sich gestalten; fast jeder Brief, möchte man sagen, ist eine Thatsache, oder ruft eine Thatsache hervor. Aber was noch mehr ist, hier erscheint der Mann, welcher so oft falsch beurtheilt wurde, wie er war, wie er lebte und handelte: seine Grundsätze, sein Herz, sein ganzes Innere spricht sich hier aus; ganz er selbst steht er da, rein und ohne fremde Beimischung, wie er dachte und wirkte für den hohen Zweck, den er rastlos zu erreichen strebte. Wer am Menschen den Menschen zu suchen versteht, wird ihn am Staatsmann, der sich für sein Vaterland hingab, mit Wohlgefallen erkennen. Und vielleicht Mancher, der an dem Höheren in der Menschenbrust zu zweifeln versucht ist, wird sich dem aufgegebenen Glauben wieder zuwenden.
Man schrickt zurück, wenn man den Zustand von Griechenland auffaßt, wie er war, als der Präsident den Fuß auf den vaterländischen Boden setzte, um den hochherzigen Absichten der drei großen Schutzmächte und dem Ruf seines Volks Folge zu leisten. Trotz der Anordnungen der vorhergegangenen Nationalregierung waren wenig Spuren von Ordnung zu finden: alle Elemente, durch welche ein gesellschaftlicher Zustand möglich wird, waren aufgelöst; sie mußten aus dem Chaos hervorgerufen, oder neu geschaffen werden. Der Präsident fand die Cultur des Bodens bis in die Wurzeln vernichtet, Felder in Wüsten, Landbesitzungen in Schutt oder in Aschenhaufen verwandelt, Städte in Trümmer zerworfen, Tausende von Familien ohne Obdach, herumirrend, ohne Brod, ohne Bekleidung; Wittwen, welche um Beistand und Schutz, Schaaren von Kindern, welche um Elternsorge und Pflege flehten. Gränzenlos war das Elend, der Mangel an Mitteln, ihm Schranken zu setzen, unabsehlich; die Wohlthätigkeit der Herzen, welche sich von einem Ende Europa's zum andern dem Präsidenten geöffnet, war fast seine einzige Hülfsquelle, fast nur durch sie war er im Stande die neue Schöpfung zu retten; sie stand in Gefahr, in den Geburtsschmerzen zu sterben. Finanzen waren in Griechenland noch nicht vorhanden: man sieht ihn, durch Palliative die Existenz desselben von einem Tage zum andern fristen. Mitten in dieser Bedrängniß weiß er zwei Gedanken, die ihm hauptsächlich am Herzen liegen, zur Wirklichkeit zu bringen: er errichtet Erziehungsanstalten, um aus den Waisen durch Unterricht und Bildung eine Generation nützlicher Bürger für das Vaterland heranzubilden; er eilt, das Volk durch Arbeit aus der Armuth zu Ordnung und Wohlseyn zu führen, indem er den Brodlosen Ländereien anweist, welche sie für ihre Nahrungsmittel zu besäen und zu bepflanzen gehalten sind. Zu gleicher Zeit muß er die verschiedenartigsten Zweige des Staatswesens ins Leben rufen: er schafft eine Bank; Finanzwesen, Justiz, Landarmee, Marine, Schulwesen, Cultus, jede Verwaltungsmaaßregel nimmt seine Thätigkeit in Anspruch. Sie war unerschöpflich, und sie mußte es seyn, da aus Mangel an Zwischenbeamten das Haupt der Regierung in jedes Detail des Dienstmechanismus selbst eingehen mußte. Ja bis zu Formularen im Rechnungswesen und zur Lehrordnung in den Schulen sieht man den Präsidenten Vorschriften ertheilen. Daher auch die Nothwendigkeit seines unablässigen Ortswechsels. Daher seine Verfügungen, erlassen bald aus Aegina, bald aus Nauplia, bald aus Poros, dann wieder am Bord des russischen Kriegsschiffs Helena oder des englischen Warspite geschrieben, oder wieder aus Kandili oder aus Petalidi datirt. Dieß nennt er in seinen vertrauteren Briefen sein „Bivouacsleben.“ So manche seiner Dienstvorschriften wurden unter freiem Himmel, unter Regen oder Wind ausgefertigt, an Orten, wo es dem Staatsoberhaupt bisweilen an einem Tisch zum Schreiben gebrach. Häufig war er genöthigt, selbst zu sehen, anzuordnen, zu leiten. Mußte er doch in Person zur Armee gehen, um die Operationen zu bewachen; mußte er doch zu den Verwahrungsanstalten gegen die Pest sich selbst begeben, um sich über ihre Ausführung zu beruhigen! Wer dem Präsidenten den Vorwurf macht, daß er zu viel selbst gethan habe, der bedenkt nicht, daß er, in vielen Stücken auf sich selbst beschränkt, Zahlloses zu thun vorfand.
Während der innere Zustand des Landes eine so angestrengte Thätigkeit erheischte, nahmen die Verhältnisse nach außen sie aufs dringendste in Anspruch. Kaum hatte sich auf sein langes Flehen bei den Schutzmächten um die versprochenen Subsidien der schwache Anfang eines Resultats gezeigt, als der Krieg gegen die im Besitz bleibenden Türken, so wie gegen die nach der Schlacht bei Navarin eingedrungenen Aegyptier die einzigen Hülfsmittel verschlang. Zum Krieg gesellte sich noch die Pest, welche die letzteren mit ihren Schrecken und Gräueln auf die griechischen Inseln geschleudert hatten. An diese Plagen schloß sich die größte von allen: der Revolutionsgeist; er kam, alle niedrigen Leidenschaften aufregend, um in Griechenland den alten Parteigeist wieder in Flammen zu setzen; dieß gelang ihm, indem er diejenigen, welche die den Türken entrissene Herrschaft sich zuzueignen strebten, die Primaten und Kapitani, gegen die neue Ordnung der Dinge und gegen den, der sie gründen sollte, zu Felde führte. Der Parteigeist suchte sich Helfershelfer unter denen, welche, mehr um Glück zu machen als um die Zukunft eines ordnungsbedürftigen Volkes zu bereiten, gekommen waren. Der Parteigeist fand sogar seine Beförderer unter einigen europäischen Diplomaten, welche, des Zeitgeistes voll, ihn über den neuen Staat auszugießen sich befugt glaubten. Nun erhob sich vielfach im Volk Anarchie, bei der Armee Undisciplin und Ungehorsam, in verschiedenen Verwaltungszweigen Veruntreuung und Raubsucht, böser Wille und Opposition bis zu den höheren Regionen der Behörden hinauf. Verdächtigungen, Anschuldigungen, Verleumdungen ergossen sich gegen den Mann, der sein ganzes Daseyn opferte, um an die Stelle von Willkür und Gewalt, Recht und Ordnung zu setzen. Ueber diesen Zustand der Demoralisirung sind merkwürdige Aufschlüsse an vielen Orten der Briefsammlung enthalten; man findet sie in der Eröffnung des Präsidenten an das Panhellenion (Thl. II, S. 171 u. f.); in seinen Briefen an den außerordentlichen Commissär Psyllas (II, 366); an den Metropoliten Ignaz in Pisa (II, 185); an Ypsilanti (S. 429); in der sachvollen Auseinandersetzung seines Schreibens an den Grafen Loverdo (S. 454-466) und in seiner Zuschrift an den Obersten Heideck (S. 469) u. a. O.
Im Gedränge so ungeheuer schwieriger Verhältnisse verließ den Grafen Kapodistrias der Muth nicht: unter ihnen entwickelte sich sein Charakter; das Bewußtseyn der Reinheit seiner Absichten, das hohe Gefühl seiner Pflicht und sein festes Vertrauen auf die Leitung der Vorsehung gaben ihm Kraft. Gott war seine Stärke. Schon von Paris aus sagte er der
provisorischen Regierung von Griechenland: mein Vertrauen auf Gott ist, wie das eurige, ohne Gränzen (Thl. I, S. 246 f.). Dieses Gefühl spricht sich seine ganze Correspondenz hindurch aus. „Gott wird mir helfen, schreibt er an Hrn. Crud, und wird mir seinen allmächtigen Beistand durch die Beihülfe rechtlicher Männer gewähren“ (Thl. I, S. 351). „Ich bin nicht leidend (schreibt er, während er in Ancona zu bleiben genöthigt war, dem Ritter Mustoxidi), weil ich glaube, daß ich hier meine Zeit nicht ohne Nutzen verwende, und weil ich in meinem Innern überzeugt bin, daß Alles von oben kommt, und daß dieß immer das Beste ist“ (I, 362). „Ich thue meine Pflicht, sagt er zu seinem Bruder Viaro, Gott wird das Uebrige thun“ (I, 396). Zu den Primaten von Hydra spricht er: „Gott ist mit dem Vaterlande, und die Regierung wird, wenn sie nie von der strengsten Gerechtigkeit abweicht, ihre Pflicht erfüllen“ (I, 435). Seinem Freunde v. Stourdza sagt er: „Gott schützt mich, und ohne diese Ueberzeugung würde ich mir selbst nicht trauen; ich würde nichts hoffen“ (I, 469). „Meine ganze Zuversicht ist auf Gott gesetzt, äußert er gegen den Fürsten Lieven: „Gott hat in seiner Barmherzigkeit Wunder gethan, das griechische Volk während vierhundert Jahren zu erhalten; Gott wird sie noch ferner thun, weil die Vorsehung nichts vergebens beginnt“ (II, 110). „Gott ist mit Griechenland und für Griechenland, sagt er zu Hrn. Mustoxidi, Gott wird Griechenland retten. Aus dieser Ueberzeugung schöpf' ich alle meine Kräfte und meine Hülfsmittel“ (II, 112). „Meine Gesundheit erhält sich, meldet er seinem Freunde, dem Metropoliten, weil mein Gewissen vollkommen ruhig ist, und weil der Segen des Herrn uns begleitet“ (187). Bekannt ist der Wahlspruch, mit welchem Graf Kapodistrias seine Proclamation an die Griechen aus Aegina vom 20 Jan. (1 Febr.) 1828 eröffnet: „Wenn Gott mit uns ist, wer wird wider uns seyn?“ (Thl. I, S. 389).
Graf Kapodistrias hätte, in welchem Zeitalter er auch gelebt haben möchte, für eine nicht gewöhnliche intellectuelle und moralische Erscheinung gegolten. Im neunzehnten Jahrhundert gehört er zu den ausgezeichneten Gestalten, welche auf der großen Weltbühne erschienen sind. Allenthalben, wo er gelebt und gewirkt hat, ist ihm ein reiches Maaß von Hochachtung, von Zutrauen und von Liebe geworden: in St. Petersburg, in Berlin, in London, in Paris, in der Schweiz endlich, wo er Jahre lang von aufmerksamen Blicken umgeben, mit dem Beinamen Aristides bezeichnet ward. Allenthalben wo er sich zeigte, haben sich die Herzen vor ihm geneigt; allenthalben wo er verweilte, blieben ihm Freunde zurück: er gehörte zu den glücklich ausgestatteten Naturen, welche zu dem Vorrecht berufen scheinen, fast nie einen Feind im Leben zu finden. Wenn seine Zeitgenossen ihn nicht gehörig verstanden, so ist es leicht zu begreifen, da das Motiv, welches unser Jahrhundert treibt und drängt, das des persönlichen Vortheils, seiner Seele durchaus fremd war. Es ist zu bedauern, daß manche redliche Männer ihre Federn geübt haben, um den Präsidenten von Griechenland zu verkleinern. Aus ihrer Studirstube oder dem Arbeitszimmer nach Griechenland gekommen, glaubten sie mit dem kleinen Maaßstabe, den sie mitgebracht, die Dinge und die Menschen einer ihnen unbekannten Welt messen zu können. Diese sonst achtbaren Leute ahneten nicht, daß sie das Spiel einer zerstörenden Partei waren. Andere glaubten, um sich einer neuen Regierung gefällig zu machen, die vorhergehende herabsetzen zu müssen. Sie wußten nicht, daß jede rechtliche Regierung das Gute auffaßt, woher es auch stamme, und daß sie von ihrem hohen Standpunkte herab das geschehene Gute erkennt, welches der beschränkte Blick der Unerfahrenheit nicht gewahr wird. Die Geschichte wird den Mann nicht verkennen, der für Griechenlands Wiedergeburt alles, was er war und besaß – sein ganzes Daseyn hingab. Sie wird die edlen Griechen nicht vergessen, welche ihre Pflicht gegen das Vaterland treu und redlich erfüllten. Neben diesen wird sie den achtbaren Ausländern, welche die Sache der Rettung und Erhebung des griechischen Volks mit Begeisterung ergriffen, ihre Stellen anweisen. Sie wird den Namen Eynard's aus Genf aufzeichnen, welcher seinem Vermögen eine ruhmvolle Anwendung in der schönen Sache zu geben verstand, und welcher das Verdienst hat, selbst in den verhängnißvollsten Augenblicken an ihr nicht verzweifelt zu haben. An Eynard's Seite wird sie seinen Landsmann, den biedern Hentsch aufführen, welcher unermüdet mit Rath und That dem edlen Kapodistrias zur Seite ging und seine Dankbarkeit und herzliche Anhänglichkeit erwarb. Sie wird nicht den bayerischen Obristen, nunmehrigen General Heideck, übergehen, welcher des Präsidenten Achtung und Zutrauen im vollsten Maaße besaß, und welcher ihn mit den wichtigsten Operationen treulich unterstützte. Und da der Glanz einer Krone, wenn sie der leidenden Menschheit lindernde Strahlen zusendet, nur erhöht werden kann, so wird die Geschichte den Namen des Monarchen feiern, welcher hochherzig der griechischen Nation zu ihrer Erhebung fortgesetzt die Hand bot.
Die vertrauteren Briefe des Präsidenten, mit welchen man seine amtlichen Anschreiben in dieser Sammlung untermischt findet, sind nicht als entbehrliche Ausdehnungen derselben anzusesehen. So enthalten seine wiederholten Zuschriften an Hrn. Eynard, an den Bruder Viaro, an Hrn. Mustoxidi, an den Metropoliten Ignatius, eine Menge von Zügen, welche das Gemälde von der inneren Lage Griechenlands vervollständigen, so wie sie den inneren Gemüthszustand des Schreibenden schildern, die ganze Reinheit der Absichten und den hohen Seelenadel, womit sein öffentliches wie sein Privatleben bezeichnet war. – Die biographische Notiz, welche der Briefsammlung als Einleitung vorangesendet ist, berührt mit tiefer Sachkenntniß die große Weltepoche, in welche die Thätigkeit des Grafen Kapodistrias fiel, und stammt von einer Hand, welche ihre Meisterschaft schon mehrfach kund gegeben, und sich durch die Anfangsbuchstaben angedeutet hat. Die typographische Ausstattung des Werkes, mit dem ähnlichen Bilde des Gr. Kapodistrias geziert, ist des Gegenstandes und des Zwecks der verdienstlichen Unternehmung würdig.